Sabine Lenz
Die Fähigkeit zu sterben
Meine psychologische Arbeit mit Krebskranken
Rowohlt E-Book
Sabine Lenz ist 1951 geboren und aufgewachsen in Deutschland. Nach verschiedenen Studien in Hamburg kam sie 1975 in die Schweiz, wo sie in Zürich ein Psychologie-Studium und eine Psychotherapie-Ausbildung absolvierte. Sie arbeitet seit vielen Jahren in der onkologischen Abteilung eines Schweizer Krankenhauses.
Wie gehen Menschen mit der Diagnose Krebs um – zu einem Zeitpunkt, wo der Tod noch weit weg scheint, lange, bevor die Krankheit ihren körperlichen Tribut fordert?
Sabine Lenz arbeitet seit vielen Jahren als Psychoonkologin; sie betreut Krebspatienten und weiß, welchen seelischen Belastungen sie ausgesetzt sind. Und sie weiß auch, welche Fragen die Menschen in dieser Situation umtreiben: Warum hat es gerade mich getroffen? Kann ich das Unausweichliche wirklich annehmen? Hat diese Erkrankung vielleicht sogar einen Sinn?
In Sabine Lenz‘ Buch werden Krankheits- zu Lebensgeschichten. Mit viel literarischem Feingefühl zeigt sie, wie unterschiedlich Menschen reagieren, die sich mit dem Ende ihres Lebens auseinandersetzen – es geht um Verleugnung, Angst, Auflehnung und Erschöpfung wie auch um die Fähigkeit, sein Schicksal anzunehmen. Die Annäherung an den Tod, das zeigt jede ihrer Geschichten, ist einmalig und persönlich, so wie jedes Leben es gewesen ist.
«Ich erzähle Geschichten von den Lebensrändern, weil ich Psychoonkologin bin. Seit ich Menschen begegne, denke ich in Geschichten. Und seit ich mich erinnern kann, frage ich nach dem Wie. Geschichten sind das Gegenteil von Reportage, Analyse und Diskurs. Sie sind, wie sie sind, weil jemand sie so und nicht anders erzählen wollte. Es gibt Geschichten, die man über sich selbst erzählt, und solche, die man über andere erzählt. Beides kann gelingen oder nicht. Dies hier ist das Wagnis, aus der Psychoonkologie auf eine sehr persönliche Weise zu berichten, und mehr als irgendjemanden sonst werden die Texte vor allem mich selbst sowohl bedecken wie entblößen.»
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2014
Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Lektorat Susanne Frank
Umschlaggestaltung ANZINGER/WÜSCHNER/RASP, München
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-498-03803-8 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978-3-644-02871-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-02871-5
Für krebskranke Menschen steht das organische Geschehen im Mittelpunkt all ihrer Befürchtungen und Hoffnungen. Daher sprechen sie, auch wenn sie zur Psychologin kommen, zunächst über ihre Krankheit. Sie bewegen sich in ihren Chemotherapie-Zyklen wie Fische in heilsam-giftigen Gewässern, während mir die Finger steif bleiben beim Notieren der komplizierten Behandlungsschemata. Die Menschen leiden unter den chirurgischen, zytostatischen und radiotherapeutischen Nebenwirkungen und wollen psychoonkologische Hilfe wegen des Haarverlusts, gegen die Zerschlagenheit, für den Durchhaltewillen. Und immer wieder gegen dieses Meer aus Angst, das sie hinaus und in die Tiefe zöge, wenn wir nicht Strände, Dünen und Wälle, so weit das Auge reicht, davor lagern würden. In der Psychoonkologie werden allgemein menschliche bestürzende Vorstellungen in persönlich besänftigende Vorstellungen verwandelt. Aber immer wieder kämpfen wir uns auch an der Seite unserer PatientInnen durch ein Stück Leben, welches unsäglich flach und leer vor ihnen liegt, eine Todeslandschaft ohne jede Erhebung, nichts, woran das Lebendige in ihnen sich festmachen kann.
Bei den meisten springen die Krankheitsgeschichten irgendwann von selbst in größere Zusammenhänge und werden zu Lebensgeschichten. Dann bedeutet psychoonkologische Arbeit nichts anderes, als dass man als Psychotherapeutin in der Onkologie arbeitet. Es geht um vielfältige Entwicklungs- und Lösungsprozesse, allerdings ausgehend von einer erschreckenden Erfahrung und der Unruhe, die nicht aufhört, unterschwellig mitzulaufen, auch wenn es gegenwärtig keinen Anlass dafür gibt. Aber plötzlich ist sie wieder da und nimmt in einem Bild, in einem Traum Gestalt an: Ein Wolf hetzt durch einen unendlichen Wald. Er jagt dahin mit aufgerissenen Augen und in wilder Kraft, seine Reißzähne ragen scharf aus den dunkelroten Lefzen. Der Wolf jagt niemandem hinterher, er selbst wird gejagt, von einem räudigen Stück Fell, das auf seinem Rücken sitzt. Er will es verzweifelt abschütteln, aber das fremde Fell ist verwachsen mit seinem eigenen, es rennt mit, egal wie schnell und wie lange der Wolf rennt. Er rennt umsonst, aber er kann trotzdem nicht aufhören zu rennen.
Wenn die Menschen um ihr Leben rennen, dann kehren wir aus den großen biographischen Geschichten zurück zu den akuten onkologischen Geschichten. Wenn die Frist des Lebens, der Grund des Sterbens erschreckend deutlich Gestalt annimmt, treten alle anderen Probleme in den Hintergrund. Dann arbeiten wir an dem Schrecken, der immer ein Zeitschrecken ist: Wie lange lebe ich noch? Wann muss ich sterben? Die Zeitachse endet für uns alle beim Tod. Man kann als gesunder Mensch darüber philosophieren oder melancholisch gestimmt sein – für Krebsbetroffene ist die Frage nach der Zeit die gefährliche Frage schlechthin. Sie lädt ein zu Angst- und Stressmustern, diese auf einmal kürzer gewordene Zeit. Das, was von ihr noch bleibt und genutzt werden könnte, wird verschattet vom Ende der Zeit.
In den vorliegenden Geschichten wird am Ende fast immer gestorben, nicht weil in der Onkologie immer, sondern weil in der Onkologie auch gestorben wird. Dieser Aspekt bewegt die Betroffenen und Angehörigen am meisten, auch mich bewegt er am meisten. Während die Patienten verständlicherweise nach rettenden Alternativen in der Realität und in der Phantasie suchen, erzählen die meisten meiner Geschichten von der langsamen Annäherung an den Tod. Es gibt genügend Ratgeber- und Hoffnungslektüre zu diesem Thema; dies hier ist eine Requiem-Sammlung, in der ich nicht nur Krebsbetroffener gedenke, deren Leben ich im Angesicht des Sterbens begleiten durfte, sondern auch des Lebens selbst gedenke, das sich auf seiner letzten Strecke ein letztes Mal als ein so eigenes zeigt, dass der uns alle gleichmachende Tod weit entfernt ist. Auch wenn die Geschichten mehrheitlich Sterbegeschichten sind, enthalten sie, wie ich glaube, dennoch Hoffnung. Sie bezieht sich aber nicht darauf, einer unheilbaren Krankheit eine Lebensverlängerung jenseits der medizinischen Möglichkeiten abzutrotzen, sondern darauf, dass das Leben, unabhängig von seiner Dauer, eine gewaltige existenzielle Angelegenheit ist, die gestaltet werden kann, auch in ihren allerengsten Passagen.
Ich bin Psychoonkologin und keine Sterbebegleiterin, daher handeln meine Texte von den alltagsklaren Bewusstseinsprozessen, die sich zu einer Zeit des Sterbens annehmen, in der es gedacht und gefühlt, aber noch nicht durchlebt wird. Die letzten Dinge des Lebens werden im reflektierten Nahkampf mit einer todbringenden Krankheit abgehandelt, und am Ende gewinnen die Betroffenen, indem sie sich ergeben. Es wird erträglicher, sobald sie lernen, sich anzupassen an das, was ist, aber nirgendwo ist die Schere zwischen Müssen und Wollen weiter geöffnet als beim Sterbenmüssen und Nicht-sterben-Wollen.
Je schwächer man wird, desto leichter lässt sich Schicksal akzeptieren. Bei den meisten Menschen gehen die körperlichen Prozesse voraus und zeigen den psychischen den Weg. Alt werden heißt schwach werden, schwach werden heißt lebensmüde werden. Die psychoonkologische Herausforderung besteht darin, Menschen zu begleiten und zu betreuen, die körperlich noch gar nicht oder kaum geschwächt sind von der Krankheit, bei denen das unmittelbare körperliche Befinden keinen Halt und Rahmen bietet, in dem Schicksal akzeptiert werden kann, sondern Psychisches sich ganz allein auf den Weg macht, kopfvoran, orientierungslos, absturzgefährdet. Unheilbare Krankheiten sind deshalb so schrecklich, weil man den Tod vorhersagen kann, ohne dass der Körper davon weiß. Von weitem sieht der Tod viel schlimmer aus als aus der Nähe. Das Schwächerwerden geht Hand in Hand mit der Fähigkeit zu sterben.
Das Todesthema unterscheidet psychoonkologische von anderen psychotherapeutischen Prozessen. Es geht um reale Ängste, deren Ursache nicht zu beheben ist. Wir müssen zu reagieren wissen, wenn ein Patient erfährt, dass er an Krebs erkrankt ist, dass seine Prognose sich verschlechtert hat oder dass es keine medizinische Rettung mehr gibt. Wir arbeiten mit Menschen, die sich in einem Zustand akuter psychischer Traumatisierung befinden, und mit solchen, die realitätsflüchtig sind, weil sie sonst zusammenbrechen würden. Mit den psychischen Folgen tatsächlicher Todesgefahr müssen wir nicht nur menschlich, sondern auch fachlich umgehen können. Wir verfügen über Methoden, mit denen unsere Patienten Todesangst mindern und Erlebensmöglichkeiten in sich entdecken können, die ihnen erlauben, weiterzuatmen, weiterzudenken, weiterzugehen. Dort, wo Krebs zu einer Aufgabe der Akzeptanz von Schicksal wird, helfen wir, innere Einschränkungen zu beheben, die den Weg um ein Vielfaches schwerer machen, als er ist. Die Methoden, die ich praktiziere, entstammen tiefenpsychologischen, lösungsorientierten, trauma- und hypnotherapeutischen Konzepten sowie dem, was ich von der Philosophie der Lebenskunst auf meinem eigenen Weg verstanden habe.
Weil Krebsbetroffene Zeitbetroffene sind, ist es gerade in der Psychoonkologie so wichtig, dass wir von der Zeit- in die Raumdimension kommen. In imaginativen und Trancezuständen steht die Zeit still und dehnen Körpergrenzen sich aus, Bilder tauchen aus dem Unbewussten auf und besänftigen mit ihrer lebendigen Fülle oder weiten Leere den hadernden Geist. Dann werden sowohl Furcht als auch Hoffnung entbehrlich, denn beide sind assoziiert mit der Zeit. Psychoonkologische Therapie ist sehr oft eine Raumoase in fürchterlicher Zeit. Aus der gegenwärtigen Zeit wird nicht die Hoffnung auf zukünftige Zeit herausgeholt, sondern ein Erleben, das nicht mehr nötig hat, nach der Zeit zu fragen. Über diese punktuellen Erfahrungen, die eine einzige Therapiestunde zu einem Universum an Grund- und Absichtslosigkeit machen, ist allerdings schwerer zu berichten als über die prozesshaften Therapiegeschichten. Sprache kann schlecht erfassen, was jenseits von Sprache geschieht.
So handeln die vorliegenden Geschichten mehr davon, was sich erzählen lässt. Sie verbinden Krebs- mit Lebensgeschichten. Denn immer kreuzt die Krankheit eine Biographie, durchschneidet das Thema des Todes ein Lebensband, das sich zuvor um andere Themen gewunden hat, die nun nicht auf einmal hinfällig geworden sind, sondern im Licht des letzten Kapitels noch einmal mit persönlicher Wahrhaftigkeit vorgetragen werden, bevor die Stimme des authentischen Erzählers für immer verstummt.
Manchmal ist es aber auch nur meine eigene Stimme, die, besessen von einer Lebenslogik, die es so nicht gibt, ein Ganzes in einem Netz von Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit zu bergen versucht. Aus Trauer über das Zufällige und zufällig Böse des Lebens konstruiere ich aus den Fund- und Bruchstücken, die mir zugetragen werden, menschenmögliche Zusammenhänge und schreibe Seelenmessen, bevor sie mir zu Staub zerfallen. Denen, die es nicht mehr lesen können, ist dieses Buch gewidmet.
Psychotherapie ist der Umgang mit Geschichten, die Patienten uns erzählen. Als Psychotherapeutin nehme ich Einfluss auf diese Geschichten. Ich versuche, die Patienten dahingehend zu beeinflussen, dass aus einer unguten Geschichte eine gute Geschichte wird.
Wir sind uns alle einig, dass Krebs ein schlechter Stoff für gute Geschichten ist. Und dennoch: Ich würde nicht in der Onkologie arbeiten, wenn ich es nicht für möglich hielte.
Im therapeutischen Veränderungsprozess entsteht so etwas wie eine neue Fassung der ursprünglichen Geschichte. Ich helfe den Patienten, eine bessere Version zu finden; manchmal müssen wir sie auch erfinden. Es ist wie ein Drehbuch, an dem wir gemeinsam von Sitzung zu Sitzung arbeiten.
Der Stoff ist vorgegeben: Da gibt es die Krankheit Krebs, in der vorliegenden Geschichte einen ausgedehnten Ovarialkrebs. An diesem medizinischen Befund ist nicht zu rütteln, die medizinischen Drehbücher werden von der Natur und nicht vom Menschen geschrieben.
Die Ärzte versorgen die Patientin mit einer starken Chemotherapie, die sie erstaunlich gut verträgt. Sie ist Chemikerin und kann zu Beginn der Therapie noch ein teilweises Arbeitspensum bei einer pharmazeutischen Firma bewältigen.
Der Stoff der Geschichte ist erbarmungslos. Die Krankheit breitet sich immer mehr aus im Bauchraum der 56-jährigen Frau, und jeder weiß, warum die Geschichte, an der die Patientin und ich arbeiten, eines Tages abbrechen wird.
Es ist jedoch ausgeschlossen, dass sie und ich das mögliche Ende thematisieren. Auch der behandelnde Onkologe darf es auf keinen Fall tun.
Nun ist der Moment gekommen, wo aus einer medizinischen Geschichte eine psychologische Geschichte wird. Ich fürchte ihn immer ein wenig, diesen Moment, weil ich nie sicher bin, wie ich den Sprung von der einen Ebene auf die andere schaffe. Da ich in einem Krankenhaus arbeite und meine PatientInnen an einer körperlichen Krankheit leiden, beginnen die Geschichten immer im Somatischen. Und dann kommt der Moment, in dem ich springen muss. Ich hole also ein letztes Mal Anlauf auf medizinischem Terrain: Es handelt sich um eine 56-jährige Patientin mit einem metastasierenden Ovarialkarzinom – und springe mit einem Satz hinüber auf die psychische Seite der Krankheit: Niemand darf der Patientin gegenüber die Möglichkeit ihres Krebstodes ansprechen. Es ist immer wieder ein bizarrer Moment, dieser Wechsel von der medizinischen auf die psychologische Seite, und ich kann ihn nicht genug mit fürsorglichen Kommentaren begleiten.
Niemand darf es für möglich halten, dass die Patientin an ihrem Tumor sterben könnte; dabei hält es der Onkologe nicht nur für möglich, sondern für sicher. Auf der psychologischen Seite begegnet mir ein Tabu. Das ist nicht ungewöhnlich; viele unheilbar Krebskranke verleugnen das Sterbenmüssen, manche sogar bis zum Tod. Das Tabu dieser Patientin ist aber ein besonderes. Sie war wegen Suizidgefahr zu mir überwiesen worden, und der Arzt gab mir bei der Überweisung ein Rätsel mit auf den Weg: Die Patientin drohe sich selbst zu töten, bevor sie an dieser Krankheit stürbe. Nicht der Tod war das Tabu, sondern der Krebs. Und es bestand eine Dringlichkeit zu helfen, denn die Gewissheit, dass die Patientin an dieser Krankheit sterben würde, nahm von Monat zu Monat zu.
In der Psychotherapie haben wir es nicht mit Tatsachen zu tun, sondern mit Bedeutungen. Die Psyche besitzt die phantastische und zugleich gefährliche Fähigkeit, objektive Tatsachen in subjektives Erleben zu verwandeln. Sie unterteilt das Endlosband der Zeit in persönliche Abschnitte und versieht jeden mit einem Anfang, einem Ende und einer Bedeutung. So entsteht individuelle Lebensgeschichte, indem das wie eine Sanduhr rinnende Lebensganze in willkürliche, subjektiv bedeutsame Lebenssequenzen unterteilt wird. Die Psyche ist ein durch und durch narratives Gebilde, sie kann nicht sein ohne ihre Geschichten, ständig rankt sie Bedeutungen um Geschehnisse, und lieber stellt sie etwas in einen schlimmen Zusammenhang als in gar keinen.
Die Patientin verleiht dem Ereignis Eierstockkrebs eine Bedeutung, die für sie existenziell bedrohlich ist. Wir wissen zwar nicht, welche Bedeutung es ist, aber wir wissen, dass sie sich ihretwegen suizidieren will. Warum tut sie sich eine solche Interpretation an? Weil sie nicht anders kann, lautet die kurze Antwort. Die längere: weil offenbar keine andere Bedeutung in ihrem subjektiven Erleben sinnstiftend wäre.
Der Sinn oder die Bedeutungszuschreibung kann so belastend sein, dass die Psyche ihre eigene Geschichte nicht mehr verkraftet; sie flüchtet sich in Neurose, in Sucht, in Somatisierung oder in Selbstmord. Manche Menschen, die ihre eigenen Geschichten nicht mehr aushalten, kommen in psychotherapeutische Behandlung. Dann versucht die Psychotherapeutin zusammen mit der Patientin eine belastende Bedeutung so zu verändern, dass aus der schlimmen Geschichte eine weniger schlimme oder sogar eine gute Geschichte wird. Psychotherapie ist das Verändern von sich selbst erzählten Geschichten, von inneren Drehbüchern, von zugeschriebenen Bedeutungen. Indem man die Dinge anders ansieht, werden sie anders.
Die schreckliche Bedeutung, welche die Patientin ihrer Krankheit gibt, ist die: Der Krebs verfolgt, demütigt, verlacht und verhöhnt sie. Der Krebs ist gemein, niederträchtig und infam. Er grinst, er höhnt, er blamiert sie. Er will sie bloßstellen und zur Kapitulation zwingen. Ich kann mich inhaltlich noch nicht mit dem Erleben der Patientin verbinden, weil ich den Sinn nicht verstehe, aber ich nehme ihre Scham wahr, ihre Scham und das verzweifelte Bedecken der Blöße vor meinen Augen. Der Krebs verhöhnt mich auf infame Weise, sagt sie, und niemand wird mich vom Suizid abhalten, falls er weiter fortschreitet. Sie sagt es distanziert, ohne Affekt, ich höre keine Einladung, näher nachzufragen, sondern sehe eine Tür, die zuschlägt, wenn ich es wagen würde.
Wir befinden uns nicht nur auf der psychologischen Seite der Krankheit, sondern bereits im Dickicht von Information, Verhüllung, Mitteilung und Warnung. Es gibt artikuliertes und verschwiegenes Wissen, Gefühle an vorderster Front und emotionales Hinterland, und es gibt körperliche Signale, die man beachten sollte. Die Patientin sitzt kerzengerade, kühl blickt sie mich aus grauen Augen an, ihre Stimme ist klar, sachlich und entschlossen. Frage nicht weiter, bohre nicht tiefer, sondern sieh, wie du mir unter meinen Bedingungen helfen kannst – das höre, sehe, verstehe ich.
Meine erste Intervention, die ich der Patientin nicht ersparen kann, ist, ihr Erleben mit dem Siegel des Subjektiven zu versehen. Das ist sozusagen meine Bedingung. Das, was sie mir berichtet, ist Inneres, Psychisches, von ihr bewusst oder unbewusst in die Krebstatsache Hineininterpretiertes. Ich sage es nicht so. Ich sage: Auf Ihrer inneren Bühne gibt es eine bösartige, infame Gestalt, die Sie in den Selbstmord treiben wird, wenn Sie nicht entschieden gegen sie vorgehen, mit allen Mitteln gegen sie vorgehen und sie rasch und wirksam entschärfen. Das ist der erste und grundlegende Schritt zur gemeinsamen Orientierung. Die Patientin leidet nicht unter etwas, was ist, sondern unter etwas, was für sie so ist. Dafür steht das Bild der inneren Bühne. Indirekt sage ich ihr auch, dass sie es ist, die Regie führt auf dieser inneren Bühne, dass sie das Stück, das da gespielt wird, aus eigenem Vermögen verändern kann. Die Patientin reagiert hellhörig.
Eine schlimme Geschichte wird nur anders, wenn man sie erfolgreich beeinflusst. Das, was beeinflusst und verändert werden soll, ist meist aus Granit. In der Psychotherapie haben wir es mit unsichtbaren Gegnern zu tun: mit starren Erlebensmustern und felsenfesten Überzeugungen. Solche Gegner sind nicht vernünftig, Logik und gesunder Menschenverstand bringen sie selten ins Wanken. Man muss ihnen anders beikommen, zum Beispiel mit suggestiven Mitteln. Schlimme und schlechte Geschichten sind durch implizite Bemerkungen oft besser zu beeinflussen als durch explizite. Die Mittel stehen im Dienst der therapeutischen Wirksamkeit, das Ziel der Therapie aber wird von der Patientin definiert. Ich frage nach, um sicher zu sein: Möchten Sie, dass diese infame Gestalt von Ihrer inneren Bühne verschwindet?
Die Patientin sagt ja, wer würde das nicht tun? Aber sie sagt auch: Die Gestalt ist mächtig, sie wird nicht einfach verschwinden. Davon gehe ich aus, das gehört zur Hartnäckigkeit von psychischen Problemen, aber mich interessiert mehr, wie sie verschwinden wird, als ob sie verschwinden wird. Ich nähere mich der Gestalt mit der Unbefangenheit einer Außenstehenden. Wie sieht sie denn aus, ist sie groß, riesengroß, oder eher klein und geduckt? Riesengroß ist sie, meterhoch, nicht Mann noch Frau, ein teuflisches Wesen, das höhnisch grinst und entsetzliche Dinge sagt. Was denn für Dinge zum Beispiel?
Die Patientin ist von Natur aus fein und zartgliedrig. Der Krebs hat sie so ausgezehrt, dass sie nicht viel mehr ist als eine verletzliche kleine Handvoll Mensch. Nur der Bauch ist gewölbt, er ist voll Wasser. Wenn die Patientin abends auf dem Sofa sitzt und liest, dann drängen sich auf einmal folgende Sätze in ihr Bewusstsein: «Zwei dünne Ärmchen, zwei dünne Beinchen, in der Mitte ein dicker Bauch. Fehlen noch vier Beinchen in der Mitte, dann siehst du aus wie eine Spinne. Los, beweg dich mal wie eine Spinne.» Und unter einem inneren Zwang muss die Patientin sich vorstellen, wie sie mit ihrem angeschwollenen Bauch und den mageren Gliedmaßen spinnengleich durchs Zimmer krabbelt. Solche Dinge macht die Gestalt mit ihr. Wir nennen sie in der Psychotherapie nicht mehr anders als die höhnische Gestalt. Ich weiß nicht, warum sie da ist und was sie bedeutet.
Die Patientin zeigt mir nicht nur innere Bedrohung, sondern auch äußere. Sie meidet die Menschen. Außer mit ihrem Vater pflegt sie keinen Kontakt. Ihre Mutter ist vor einigen Jahren gestorben. Andere Kontakte in ihrem Leben waren unfreiwillig, das heißt berufsbedingt, aber inzwischen arbeitet sie nicht mehr, sie ist zu schwach geworden. Die beruflichen Begegnungen waren nie herzlich, manchmal waren sie feindselig, Verletzungen aus dem Hinterhalt. Sie selbst verhielt sich stets sachlich, wollte keine Nähe und Vertraulichkeit, aber Korrektheit. Die Kollegen und Kolleginnen waren nicht immer korrekt, Unberührbarkeit provoziert. An ein einziges Lebewesen hat sie sich gefühlsmäßig gebunden, das ist ihre Katze. Sie spricht viel von ihr, von der grazilen Abessinierkatze mit den seltsam hohen Beinen und dem überschmalen Kopf. Sie heißt Suleika, sie könnte auch Ichselbst heißen. Anderes Gefühlsauslösendes gibt es nicht. Der Vater in seinen männlichen Rechthabereien, in seinen unsachlichen Ereiferungen wird kühl auf Distanz gehalten.
Der Krebs hat sie dort erwischt, wo kein Mensch sie mehr treffen konnte. Sie war wachsam gegenüber allen Personen der Außenwelt, aber sie hat nicht mit dem Auftauchen eines inneren Feindes gerechnet. Für die Patientin ist der Krebs trotz ihres naturwissenschaftlichen Denkens kein karzinomatöses Gewebe in ihren Eierstöcken, sondern eine mit menschlichen Zügen ausgestattete Bedrohung. Der Krebs wartet darauf, dass sie kapituliert.
Wir sind auf der psychologischen Seite der Krankheit, da, wo Gegenwärtiges sich mit Vergangenem verbindet. Die schlimmen Geschichten sind alte Geschichten. Auf der inneren Bühne der Patientin hat die Krankheit ein grausames Stück zur Wiederaufführung gebracht. Es geht darin um Erniedrigung, Demütigung, Kapitulation. Bislang konnte sie sich den Erinnerungen entziehen, indem sie die Menschen mied. Aber jetzt hat die alte Geschichte sie eingeholt. Und es sieht in der Therapie manchmal so aus, als ob die alte Geschichte gewinnen würde. Es gibt Sitzungen, in denen ihr Selbst auseinanderbrechen will, in denen sie zitternd festhält an ihrem Recht auf Selbsttötung. Es ist der einzige Fluchtpunkt in ihrer Qual. Die Patientin hat einen Verfolger auf den Fersen, im Genick, in den Eierstöcken, der immer näher kommt. Der Tumormarker steigt.
Warum erzähle ich von solchem psychologischem Stoff? Es gibt andere Geschichten, die weniger befremdlich sind. Diese ist deshalb wichtig, weil sie von der Krankheit Krebs als einer menschlichen Extremsituation handelt, in der nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Vorgänge entgleisen. Seelisches Material kann ebenso außer Kontrolle geraten wie die Zellteilung des Körpers. Während einer aktuellen Belastung können Erlebnisbrücken zu früheren belastenden Ereignissen entstehen, und es werden Erinnerungen freigesetzt, die bis dahin im Gedächtnis eingefroren waren. Gerade einer körperlichen Krankheit wohnt ein besonderes Aktivierungspotenzial inne. Der schwerkranke Mensch ist auf der elementarsten Ebene seines Seins getroffen, und genau auf dieser Ebene werden unerträgliche Erinnerungen gespeichert. The body keeps the score, sagen die Traumatherapeuten. Das Bewusstsein kann sich durch Nichterinnern schützen, aber das Körpergedächtnis merkt sich jede Kerbe. So weckt in der Onkologie nicht selten eine gegenwärtige Bestürzung eine längst vergangene aus ihrem Erinnerungsschlaf.
Davon handelt diese Geschichte, vom Erscheinen der Vergangenheit in der Gegenwart. Sie handelt vom psychotherapeutischen Umgang mit Erinnerungsmaterial, das sich durch das Ereignis Krebs ins Bewusstsein drängt.
Wir alle besitzen Bilder und Vorstellungen über uns selbst, auch über unser körperliches Selbst. Sie spiegeln den Blick wider, mit dem Mutter und Vater sich über unsere Wiege beugten, entzückt oder achtlos unseren ersten Geh- und Sprechversuchen beiwohnten, den Blick, den sie dem kecken oder schüchternen Schulkind schenkten, der linkischen oder blühenden Jugendlichen. Güte oder Mangel unseres äußeren und inneren Wesens sind durch den Blick, der in früher Zeit auf uns fiel, in unsere psychophysische Existenz eingraviert.
Welcher elterliche Blick ruhte auf der Patientin?