Cover

Philip Oltermann

Dichter und Denker, Spinner und Banker

Eine deutsch-englische Beziehungsgeschichte

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Philip Oltermann

Philip Oltermann, Jahrgang 1981, wuchs in Norderstedt bei Hamburg auf und lebt seit 1997 in England. Er studierte in Oxford und ist heute Redakteur beim «Guardian».

Über dieses Buch

Deutschland – England, das ist mehr, als die ständigen Verweise auf zwei Weltkriege und eine ausgeprägte Fußballrivalität glauben lassen. Philip Oltermann erzählt die Geschichte beider Länder anhand von Begegnungen: wie Heinrich Heine im Pub seinen Schriftstellerkollegen William Cobbett traf, Helmut Kohl Maggie Thatcher zum Saumagen-Essen einlud und zwei NDR-Mitarbeiter in Blackpool «Dinner for One» entdeckten. Lebendig und unterhaltsam zeigt er, dass Deutsche und Engländer zwar verschieden sind, es aber auch jede Menge Zuneigung, ja Bewunderung, auf beiden Seiten füreinander gibt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Keeping Up with the Germans» bei Faber and Faber Limited, Bloomsbury House, London.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2013

Copyright © 2012 by Philip Oltermann

Copyright der deutschen Erstausgabe © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Umschlagabbildungen: Martin O’Neill / début art ltd.)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62523-7 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-49261-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-49261-5

Für meine Eltern

Einleitung

«Du bist sehr schön,
but we haven’t been introduced.»
Blur, «Girls and Boys»

Einen Augenblick lang wusste ich nicht, ob das leise Rauschen aus dem Fernseher kam oder von den Kohlensäurebläschen, die auf der Oberfläche meines Wasserglases zerplatzten. Es war der 26. Juni 1996. Deutschland spielte im Wembley-Stadion im EM-Halbfinale gegen England, und ich saß auf unserem blauen Wohnzimmersofa in Norderstedt. Links und rechts von mir saßen meine Eltern. Auf dem Tisch vor uns standen drei Gläser Selters. Vor ungefähr einer Minute hatte mein Vater mir erzählt, dass seine Firma ihm eine neue Stelle in ihrem Londoner Büro angeboten hätte und dass er sich entschieden habe, dieses Angebot anzunehmen. Meine Mutter und er würden sich in den nächsten Wochen nach einer Wohnung umschauen.

Ich war damals 15 Jahre alt. Es war klar, dass ich noch zu jung war, um in Norderstedt alleine zu wohnen, und schon zu alt, um bei meiner Oma einzuziehen.

«Schmoll jetzt nicht. Du bist doch sonst immer so vernünftig für dein Alter. Wir dachten, wir könnten das vielleicht wie Erwachsene besprechen …»

«Ich weiß ja, dass du hier so viele Freunde hast, aber …»

«Du kennst doch Lena aus der Elften, die hat auch ein Auslandsjahr in Amerika gemacht, und jetzt ist sie Klassenbeste …»

«Wie wär’s denn hiermit: Du gehst ein Jahr lang auf eine englische Schule, und wenn’s dir nicht gefällt, kannst du nach einem Jahr wieder zurückkommen.»

Meine Eltern warteten immer noch auf eine Antwort von mir, als sich die Spieler am Mittelkreis versammelten. Am Bildschirmrand stand der Spielstand: 1:1.

Ich sollte vielleicht schon im Voraus erklären, dass ich mich als Kind nie besonders für Fußball begeistern konnte. Im Gegenteil: Seit der Grundschule war ich dem Kicker-Fanatismus meiner Mitschüler aktiv aus dem Weg gegangen. An diesem Abend aber sah ich diesen Sport plötzlich mit neuen Augen. England war schon früh durch den späteren Turnier-Torschützenkönig Alan Shearer in Führung gegangen, Deutschland gelang kaum zehn Minuten später der Ausgleich durch Kaiserslauterns Stefan Kuntz. Kuntz erzielte in der zweiten Hälfte auch fast den Siegtreffer für Deutschland, allerdings wurde sein Kopfballtor wegen eines angeblichen Fouls aberkannt. In der Nachspielzeit war wiederum England einem zweiten Treffer näher, als Paul Gascoigne vor dem leeren deutschen Tor den Ball nur um eine Zehenspitze verpasste. Da das Spiel nach 120 Minuten immer noch unentschieden stand, erklärte der Kommentator, würde es jetzt zu einem Elfmeterschießen kommen.

Mein Vater goss sich ein zweites Glas Wasser ein. Ich beäugte die Spieler am Mittelkreis etwas genauer. Die englische Mannschaft trug graue Trikots, die anscheinend mit Absicht gebleichten Jeansstoff imitierten. Auf ihren Mienen zeichnete sich Anspannung ab. Jedes Mal, wenn es ihnen gelang, den Ball in das gegnerische Tor zu schießen, verzerrten sich ihre Gesichtsausdrücke vor Erleichterung. Stuart Pearce, ein Verteidiger mit stechendem Blick und blondem Wuschelkopf, zwinkerte dem Publikum zu und zeigte seinen Fans so emphatisch den Daumen wie Arthur Fonzarelli in der Fernsehserie Happy Days. Der rundliche Paul Gascoigne mit den blond gefärbten Haaren machte eine noch merkwürdigere Bewegung, wobei er seine geballten Fäuste nach unten schnellen ließ und seine Brust stolz nach vorne schob.

Die Gesichter der deutschen Spieler verrieten weder übertriebene Freude noch unmäßige Sorge. Thomas Häßler traf links unten, Thomas Strunz hämmerte den Ball in den linken oberen Winkel, Stefan Kuntz platzierte seinen Schuss oben rechts, und sowohl bei Stefan Reuter als auch Christian Ziege segelte der Ball rechts an der Hand von David Seaman vorbei. Jeder Spieler vollzog seine Aufgabe mit allerhöchster Präzision und Konzentration, wie eine Gruppe von Wissenschaftlern, die unter Zeitdruck ein unglaublich wichtiges Experiment ausführten.

Als Nächstes war Gareth Southgate an der Reihe. War da wirklich ein Anflug von einem Runzeln auf seiner Stirn, als er sich den Ball auf dem Elfmeterpunkt zurechtlegte? «In diesem Team noch ein relativer Frischling», sagte Gerd Rubenbauer im Fernsehen. «Der sanfteste Abwehrspieler, den England hat», und, als Southgate anlief: «damit muss es jetzt vorbei sein». Köpke blockte Southgates Schuss souverän. Nun zeigte auch Rubenbauer langsam Nerven: «Und jetzt Möller! Andi Möller kann der Größte bei dieser Europameisterschaft sein, wenn er den versenkt!»

Eine kleine Erläuterung zur Person Andi Möllers. Andi Möller war ein schneller, dribbelstarker Mittelfeldspieler, der bei der deutschen Presse zu diesem Zeitpunkt besonders unbeliebt war und in der Bild-Zeitung nur «Heulsuse» genannt wurde, nachdem er einmal in einem Interview am Spielfeldrand geweint hatte. In den Achtzigern und Neunzigern spielte Möller bei Eintracht Frankfurt, Juventus Turin, Borussia Dortmund und Schalke 04, und an diesem Abend führte er die deutsche Mannschaft als Kapitän aufs Feld. Möller hatte braune Locken und den Anflug einer Vokuhila-Tolle, ein Haarschnitt, der unter deutschen Fußballern auch dann noch große Beliebtheit genoss, als englische Kicker schon längst aerodynamische Kurzhaarfrisuren trugen. Am 26. Juni 1996, ungefähr um 22 Uhr, knallte Andi Möller im Wembley-Stadion einen Elfmeter – einen wuchtigen, unstoppbaren, perfekten Elfmeter – unter die Latte von David Seamans Tor. Durch Möllers Elfmeter flog England im eigenen Land aus dem Turnier, und Deutschland befand sich im Finale. Trotz all dem war ich weder entspannt noch glücklich. Der Grund dafür war Andi Möllers Torjubel.

Die Geschichte des Torjubels im internationalen Fußball ist ebenso seltsam wie kurz. Richtet man sich nach Fernsehbildern bis ca. 1990, so zeigten Torschützen ihre Freude höchstens dadurch, dass sie in ihre eigene Spielhälfte zurückliefen und ihre Mitspieler umarmten. Bei besonders dramatischen Treffern sprang ein Spieler vielleicht einmal in die Luft oder wirbelte seine Arme durch die Gegend. Wenn Kevin Keegan zum Beispiel ein Tor schoss, blieb er einfach auf einem Fleck stehen und stieß seine Fäuste so druckvoll in den Himmel, dass sich seine Wirbelsäule krümmte wie ein umgekehrtes C. Keegan jubelte nur für sich, nicht für die Leute, die um ihn herumstanden.

Im modernen Fußball ist das alles anders. Die Bewegung geht nach außen, nicht nach innen – in Richtung der Fanblöcke bei den Eckfahnen oder direkt zu den Kameras an der Seitenlinie. Dazu sind die Darbietungen oft auf selbstbewusste Weise theatralisch. So hatte Paul Gascoigne sein Tor im Gruppenspiel gegen Schottland bejubelt, indem er sich rücklings auf den Rasen warf und sich von seinen Mitspielern aus einer Plastikflasche Wasser in den Rachen spritzen ließ – ein zwinkernder Verweis auf die berüchtigten Trinkspiele, die angeblich im englischen Trainingscamp praktiziert wurden. So schwer man es sich vorstellen mag: Der deutsche Torjubel war noch viel, viel schlimmer.

Der Ball war noch nicht ganz zum Stillstand gekommen, als Andi Möller bereits nach rechts abdrehte, in Richtung des deutschen Blocks. Neben der Eckfahne blieb Möller abrupt stehen, blähte seine Brust auf und legte seine Hände so auf die Hüfte, dass die Ellenbogen jeweils zwei perfekte dreieckige Flügelchen bildeten. Andi Möller sah aus wie der eitelste Hahn auf dem Bauernhof. Es war der arroganteste, bizarrste Torjubel, den ein englisches Fernsehpublikum je gesehen hatte.

Ich wusste zu diesem Zeitpunkt weder, dass das englische Wort für «Hahn» ein genauso beliebtes Schimpfwort ist wie der Nachname von Stefan Kuntz. Trotzdem konnte ich mir gut vorstellen, dass in den Pubs auf der Insel an diesem Abend mit Schimpfwörtern nicht gegeizt wurde. Vor allem aber hatte ich das klamme Gefühl, dass Andi Möllers Torjubel die Anwohner Großbritanniens denkbar schlecht auf den Besuch der Familie Oltermann vorbereiten würde.

*

Ich frage mich manchmal, ob Deutschland in meiner eigenen Lebenszeit mit mehr Leidenschaft gehasst wurde als in den 1910ern oder 1940ern. Das hört sich vielleicht provokativ an, ist aber doch nur schlüssig. Nimmt man die Welt des Sports als eine Art Projektionsfläche, auf der Nationen ihren echten Gefühlen freien Lauf lassen können, so gibt es hier Indizien, die sich nur schwer ignorieren lassen. Die Ungarn hassten uns beim Fußball, weil wir angeblich gedopt waren, als wir sie im Finale von 1954 besiegten. Die Franzosen hassten uns, weil unser Torwart Harald «Toni» Schumacher bei der WM 1982 den Verteidiger Patrick Battiston mit einem Bodycheck fast ums Leben gebracht hätte. Als Battiston blutend und ohnmächtig am Boden lag und Millionen von Fernsehzuschauern um das Leben des Franzosen fürchteten, lehnte Schumacher an seinem Pfosten und kaute mit kaum versteckter Verachtung Kaugummi (sowieso waren es oft die Torhüter, denen es gelang, Erinnerungen an Deutschlands Ruf als «Madman of Europe» wachzurufen). Die Algerier hassten uns auch, nicht nur wegen unserer Torhüter, sondern weil wir sie 1982 mit einem abgekarteten 1:0 gegen Österreich aus der WM geworfen hatten. Die Argentinier hassten uns, weil wir im Finale von 1990 gegen sie gewonnen hatten. Bei den Spaniern wiederum war es etwas komplizierter, weil sie uns einerseits heimlich für unsere Erfolge beneideten, uns andererseits aber von Grund auf unsympathisch fanden (ich stieß einst auf eine alte Ausgabe von El País, in der ein Foto von zwei deutschen Fußballern mit der folgenden sachlichen Bildunterschrift versehen war: «Paul Breitner und Uli Stielike, zwei hässliche Deutsche»). Die Holländer? Die Holländer hassten uns unverhohlener als alle anderen. So sehr hassten sie uns, dass ein holländischer Nationalspieler seinem deutschen Gegenspieler in die Vokuhila-Frisur spuckte – nicht nur einmal, sondern gleich zweimal in einem Spiel. So sehr, dass ein holländischer Spieler nach einem Spiel im Jahre 1988 so tat, als würde er sich mit dem Trikot seines deutschen Gegenspielers den Hintern abwischen. Das logische Ergebnis dieses Trends: Mitte der Neunziger hasste man uns Deutsche auf der ganzen Welt. Für die Deutschen Sympathie zu spüren wäre in etwa so, als würde man weinen, wenn am Ende von Star Wars der Todesstern explodiert: eine nicht nur unwahrscheinliche Reaktion, sondern auch ganz und gar unnatürlich.

Was hielten die Engländer von uns? Fairerweise muss man sagen, dass die Deutschen auf den Britischen Inseln anfänglich etwas zurückhaltender gehasst wurden als anderswo. Ein fast schon versöhnlicher Ton klang bei der ersten ernsten Fußballbegegnung der Nachkriegszeit an. Vor dem WM-Finale von 1966 in Wembley berichteten deutsche Zeitungen von der bemerkenswerten «Fair-Play-Haltung» der englischen Fans. Das Ausbuhen der deutschen Nationalhymne, welches später zum Repertoire der deutsch-englischen Fußballrivalität gehören sollte, gab es 1966 noch nicht. Nur die Daily Mail konnte sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: «Falls Deutschland uns heute in Wembley in unserem Nationalsport schlägt, können wir sie immer noch daran erinnern, dass wir sie erst vor kurzer Zeit zweimal in ihrem geschlagen haben.» Vierzig Jahre später war der Ton in der englischen Presse weniger freundlich. Die Titelseite des Daily Mirror ist weit bekannt: «Achtung! Surrender!» stand neben einer Fotomontage von Paul Gascoigne und Stuart Pearce mit Stahlhelmen. Der Daily Star gab «Watch out Krauts. England are going to bomb you to bits» zum Besten, der Sun fiel «Let’s Blitz Fritz» ein.

Deutsche erschrecken leicht vor englischen Schlagzeilen. Es herrscht hier ein direkter Ton und egalitärer Ethos, nach dem man in der deutschen Presse lange suchen muss: Jeder wird angemotzt, ob Freund, ob Feind, ob reich, ob arm. Aber vielleicht sind das Ausreden. Und dafür, was nach dem EM-Finale von 1996 geschah, reichen Ausreden leider nicht. In der Nacht vom 26. auf den 27. Juni 1996 wurden auf den Britischen Inseln über 200 Menschen wegen antideutscher Gewalttaten festgenommen. In London wurden sechs Leute während Unruhen am Trafalgar Square festgenommen; einem Mann Mitte dreißig wurde dabei mit einer abgebrochenen Flasche der Hals aufgeschlitzt. In dem Hafenort Exmouth in der Grafschaft Devon wurde ein Volkswagen von einer Gruppe Jugendlicher demoliert, die man vorher rufen hörte: «Guckt mal, ein deutsches Auto.» In Birmingham wurden die Schaufenster eines BMW-Händlers zerschmettert. In einem Park in Hove, Sussex, wurde ein Jugendlicher fünfmal ins Gesicht und in den Hals gestochen, weil er deutsch aussah. Der Junge war ungefähr so alt wie ich. Wie sich später herausstellte, war er in Wirklichkeit Russe.

Es wäre einfach, die Schuld für diese Gewalttaten dem Fußball zuzuschreiben, mit seiner explosiven Mischung aus Gruppenzwang, Endorphinen und Enttäuschung. In Wirklichkeit hatte die Verschlechterung in den deutsch-englischen Beziehungen in den Neunzigern aber wenig mit Sport zu tun. Auch zwischen Männern und Frauen in grauen Anzügen herrschte plötzlich Funkstille. Dass West- und Ostdeutschland seit 1990 wieder ein Land waren, erklärt diesen Stimmungswechsel zumindest teilweise. Was auf dem Festland und vor allem in Osteuropa größtenteils begrüßt wurde, beobachtete man von Westminster aus mit Skepsis. Am 23. September 1989, nur wenige Wochen bevor Ossis und Wessis auf der bröckelnden Berliner Mauer tanzten, sagte Premierministerin Margaret Thatcher zu Michail Gorbatschow: «Großbritannien und Westeuropa haben kein Interesse an der Wiedervereinigung Deutschlands.» Dass Thatcher aus ihrer Deutschlandskepsis keinen Hehl machte, wirkte sich wiederum unvorteilhaft auf das britische Image in Deutschland aus. Großbritanniens Botschafter in Berlin meldete um diese Zeit, dass sein Heimatland in Deutschland nicht nur als das negativste der drei ehemaligen alliierten Westmächte betrachtet wurde, sondern auch als das Land, dessen Meinung man am wenigsten Bedeutung schenkte. Der Ruf der Britischen Inseln, sagte er seinen Kollegen im Regierungsviertel Whitehall am 22. Februar 1990, «war so tief gesunken wie seit Jahren nicht mehr».

Was den Ruf Deutschlands in Großbritannien anging, so ging es auch hier beängstigend steil bergab. In der Presse war man sich einig, dass die Schuld für den britischen Rauswurf aus dem europäischen Wechselkursmechanismus am «Schwarzen Mittwoch» vom 16. September 1992 hauptsächlich bei der deutschen Bundesbank lag. Hatten sich 1977 nur 23 Prozent der Bevölkerung Sorgen über ein Wiederaufleben des deutschen Nationalsozialismus gemacht, so fürchteten sich 1992 einer Umfrage nach ganze 53 Prozent vor deutscher Vorherrschaft. Genauer gesagt hatten viele Briten besonders Angst davor, dass die Nazis ihren Racheplan hinter der Fahne der Europäischen Union verbergen wollten – eine Meinung, die im Laufe der nächsten zehn Jahre auf der Insel immer salonfähiger wurde. Nach Experten, die solche Thesen bekräftigten, brauchte man nicht lange zu suchen. An einem Wochenende im März 1990 lud Margaret Thatcher die führenden Historiker der Nation auf den Landsitz von Chequers ein, um deren Meinungen über Deutschlands Geist und Geschichte zu hören. Einem Memorandum nach, welches später der Presse zugespielt wurde, diskutierte man auf dem Landsitz typisch deutsche Eigenschaften wie «neurotische Angst, Aggressivität, Rechthaberei, Schikaniererei, Egotismus, Minderwertigkeitskomplexe und Sentimentalität». Im Juli 1990 schrieb der damalige Staatssekretär für Handel und Industrie, Nicholas Ridley, einen Artikel für die Politikzeitschrift The Spectator, in welchem er die Währungsunion als «deutsches Schwindelgeschäft» bezeichnete, mit dem die «deutsche Übernahme von ganz Europa» vorbereitet werden sollte. Im Jahr 1995 malte der Historiker Andrew Roberts in seinem Roman The Aachen Memorandum eine düstere Zukunftsvision aus: Im Europa von 2045 werden die «United States of Europe» von deutschen Bürokraten kontrolliert, Margaret Thatcher ist ermordet worden, die Waterloo Station wurde in «Maastricht Station» umbenannt, und der Staat verfolgt Frauen, die sich nicht ihre Achseln rasieren. Am 26. Juni 1996, dem Tag des EM-Halbfinales in Wembley, konnte man in der Times einen Gastbeitrag des konservativen Ministers John Redwood lesen, der die Briten dazu ermutigte, «das Problem Deutschland neu zu überdenken», nachdem Helmut Kohl das Vereinigte Königreich gedrängt hatte, eine aktivere Rolle in der EU zu spielen. Sein Fazit hätte sich sicherlich nicht schlecht auf einem jener Poster gemacht, mit denen im Ersten Weltkrieg für Kriegsanleihen geworben wurde: «Tretet den Deutschen mutig entgegen, sowohl auf dem Spielfeld als auch im Leben.» Leider gingen die Deutschen in den Neunzigern meistens als Sieger vom Platz – nicht nur in Wembley, sondern auch in Wimbledon: Zwischen 1985 und 1996 gab es nicht weniger als 14 deutsche Endspielsieger bei dem traditionellsten aller Tennisturniere. Großbritannien hingegen ging leer aus. Die Premierministerin irritierte dies auf zunehmend spürbare Weise: «Falls Boris Becker dieses Jahr wieder gewinnt», flüsterte ein Kabinettsminister einem Journalisten im Jahr 1990 zu, «wird Margaret in der Sitzung morgen unerträglich sein.»

War Maggie Thatcher also daran schuld, dass wir Deutschen so verhasst waren? Es wäre schön, wenn alles nur so einfach wäre. Das Problem mit Deutschland in den Neunzigern war schließlich, dass uns nicht nur unsere europäischen Nachbarn nicht mochten. Der amerikanische Dichter C.K. Williams beschrieb es in der Zeit einmal so: Aus Deutschland wurde im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts eine «symbolische Nation», eine leere Fläche, auf die jeder seinen Frust mit der ganzen Welt projektieren konnte. Deutschland war ein so perfekter symbolischer Bösewicht, dass sogar wir Deutschen selbst damit angefangen hatten, Deutschland zu hassen. Als ich vor rund zwanzig Jahren das erste Mal in Berlin war, fiel mir in der Nähe vom Bahnhof Warschauer Straße ein Graffito mit dem Schriftzug «Deutschland verrecke» auf. Jedes Mal, wenn ich seitdem in Berlin gewesen bin, habe ich diese Worte wieder gesehen: Entweder hat keiner den Willen, sie wegzuwischen, oder es gibt genug Willige, die sie immer wieder neu an die Wand sprayen. Anfang der Neunziger war es nicht nur Maggie Thatcher, die sich Sorgen um die Wiederkehr rechtsradikalen Gedankenguts machte, sondern auch wir Deutschen selbst. Nach den Anschlägen von Rostock und Mölln waren wir uns plötzlich nicht mehr so sicher, dass es den «bösen Deutschen» wirklich nicht gab. Ich erinnere mich, wie meine Eltern, meine Geschwister und ich bei der Lichterkette in Hamburg teilnahmen und wie dort an der Alster Aufkleber verteilt wurden, auf denen stand: «Ausländer, lasst uns nicht mit den Deutschen alleine.» Denn in dem Jahrzehnt, in dem wir Deutschen mehr verhasst waren als je zuvor, wollten wir auch mehr als je zuvor geliebt werden.

Natürlich gab es 1996 finanzielle Gründe, weshalb mein Vater das Angebot aus London angenommen hatte. Aber rückblickend frage ich mich, ob die echten Beweggründe eher psychologischer Natur waren. Mehr als jede andere Stadt in Europa erschien London uns damals als ein Ort, in dem Nationalität nur Nebensache war. London, das versprach Multikulturalismus, Weltoffenheit und persönliche Freiheit. Ich kann mir auch heute kaum so etwas wie «Deutschland verrecke» in London vorstellen. «I’ll dance on Thatcher’s grave» oder auch «Fuck off Blair»: Das ist durchaus möglich. Sogar «Shoot the Queen» ist vorstellbar. Aber «Die, Great Britain, die!»? «Fuck England»? Das ganze Land mit seinen Gegensätzen? Cream Teas und Fry-Up? Elgar und The Smiths? Enid Blyton und Harold Pinter? Der britische Nationalcharakter lässt sich gerade deshalb so schwer zusammenfassen, weil er so breit gefächert ist. Sowohl offizielle als auch alternative Vorstellungen dessen, was «typisch britisch» ist, passen in dieses Spektrum. Es gibt so viele verschiedene Versionen von Großbritannien – das konservative Großbritannien Middle Englands, das romantische Großbritannien der walisischen Täler, das rustikale Großbritannien der schottischen Highlands, das multikulturelle Großbritannien Londons, dass sich jeder Brite schwertun würde, seine patriotischen Gefühle komplett zu unterdrücken.

Meine Eltern und ich waren nicht die einzigen Deutschen, die 1996 mit einem Transfer auf die Insel liebäugelten. 1997 stieg die Zahl derer, die im Vereinigten Königreich wohnten, aber in Deutschland geboren waren, auf 227900: Deutsche bildeten die drittgrößte im Ausland geborene Bevölkerungsgruppe, weit vor den Pakistanis, Polen, Jamaikanern, Ghanaern, Australiern und Amerikanern. (Eine Fußnote dazu: Ein unspezifizierter Teil dieser Gruppe besteht aus Briten, deren Eltern durch die Armee in Deutschland stationiert waren.) Wir waren drei dieser 227900. Denn nachdem Andi Möller seinen Elfmeter versenkt, Paul Gascoigne den weinenden Gareth Southgate umarmt und Hunderte englischer Fans ihre Pubs auf der Suche nach deutschen Autos verlassen hatten, beantwortete ich schließlich die Frage, die meine Eltern mir gestellt hatten. Ja, ich wollte es mit England versuchen. Aber wenn es mir nicht gefiel, dann durfte ich nach einem Jahr wieder zurück. So oder gar nicht. Wir schüttelten Hände und stießen mit unseren Gläsern Selters an.

*

Nachdem man die Engländer im Elfmeterschießen abgefertigt hatte, gewann die deutsche Nationalmannschaft auch das Finale gegen Tschechien. Nach dem Schlusspfiff ging Spielführer Jürgen Klinsmann zur «Royal Box» auf der Tribüne und nahm den Pokal von Queen Elizabeth persönlich in Empfang. Mir schien dies ein vielversprechendes Zeichen zu sein, denn Klinsmann – ehemaliger Stürmer der Tottenham Hotspurs und der erste ausländische «Spieler des Jahres» in der Premier League – verkörperte ein anderes, weniger ernstes Deutschland. Bei seiner ersten Londoner Pressekonferenz hatte Klinsmann eine Taucherbrille getragen, eine ironische Hommage an seinen Ruf als «Diver» oder Schwalbenkönig. Ganz sicher, ob meine neuen Mitschüler diesen feinen Unterschied bemerken würden, war ich mir trotzdem nicht. Wenn mein Lehrer den deutschen Neuankömmling vorstellte, würden meine Klassenkameraden nicht automatisch an Andi Möllers arrogante Gockelpose denken?

Man sagt den Deutschen nach, sie wären in sozialen Situationen oft unterkühlt und unangenehm direkt. In Wirklichkeit sehnt sich der Deutsche permanent nach menschlicher Nähe, ob beim obsessiven Hang zum Händeschütteln oder dem albernen Bestehen aufs Sich-in-die-Augen-Gucken beim Anstoßen. Im Vergleich zu den Briten ist die deutsche Vorstellung von Freundschaft fast schon unverschämt romantisch. Der deutsche «Freund» ist mehr als der mate, pal oder chum: Freundschaft ist eine ideologische Kategorie, ein «heiliges deutsches Konzept», wie der englische Schriftsteller Christopher Isherwood es einmal beschrieb. «Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt», besagt ein beliebtes Lied aus den dreißiger Jahren. Der deutsche Freundschaftskult steht nicht nur hinter dem ewigen Erfolg von Karl Mays Blutsbrüderschaftsromanen, sondern auch der Wertschätzung «deutscher Tugenden» im Fußball. Während das englische «Fair Play»-Ethos vorschreibt, dass ein jeder Spieler auf dem Platz jedem anderen Spieler die gleiche Menge Respekt gebühren soll, schwebt den Deutschen das Ideal der «Mannschaft» vor, einer eng geschnürten emotionalen Einheit, in der aus vielen einer wird. «Elf Freunde müsst ihr sein, wenn ihr Siege wollt erringen» steht auf der Bundesliga-Meisterschale. Ich war in dieser Hinsicht zweifellos typisch deutsch. Wenn ich über unseren Umzug nach England nachdachte, kam ich an einem Gedanken nicht vorbei: Würde ich in London Freunde finden?

Auch die folgende Geschichte sagt etwas über deutsche Freundschaftsromantik aus. Man sagt, kurze Zeit vor dem Mauerfall habe der deutsche Bundeskanzler die britische Premierministerin in seine Lieblingskneipe in Rheinland-Pfalz eingeladen. Helmut Kohl war es offensichtlich wichtig, seine Beziehung zur für ihre Streitlustigkeit berühmten «Iron Lady» aufzubessern. Da persönlich ausgewählte Geschenke bei vergangenen Staatstreffen keinen besonderen Eindruck hinterlassen hatten, entschloss sich Kohl, Thatcher diesmal eine exklusive Führung durch die Geheimnisse deutscher Kochkunst zu schenken. Die beiden Staatshäupter setzten sich zu Tisch und entfalteten ihre Servietten. Kurz vor dem Hauptgericht fragte Thatcher provozierend, ob es sich bei der Serviette vielleicht in Wirklichkeit um eine weiße Fahne handele. Als das Essen serviert wurde, verstummte Thatcher. Kohl hatte sich für einen deutschen Klassiker entschieden, der seinem Gegenüber lange in Erinnerung bleiben sollte: In Innereien gewickeltes Schweinefleisch, Brät und gedünstete Kartoffeln, mit einer Portion Karotten und Sauerkraut als Beilage – Saumagen, das Leibgericht des Kanzlers. Thatchers Berater Charles Powell erinnerte sich später daran, dass die Premierministerin das Essen so lange mit ihrem Besteck auf dem Teller herumschob, bis es wenigstens so aussah, als hätte sie ein Paar Bissen verzehrt.

Direkt nach dem gemeinsamen Mahl gab es eine Führung durch den Speyerer Dom. Für den deutschen Kanzler hätte es zu dieser Gelegenheit keinen symbolischeren Ort geben können, lagen doch in den Katakomben der eindrucksvollen romanischen Kirche die Gebeine der römisch-deutschen Kaiser, jener Pioniere europäischer Vereinigung. Während Thatcher durch die Kathedrale wanderte, zog Kohl Powell plötzlich hinter eine Säule und sagte: «Jetzt, wo sie mich hier in meiner Heimat gesehen hat, mitten im Herzen von Europa, so nah an Frankreich, wird sie doch sicherlich bald merken, dass ich weniger Deutscher bin als Europäer.» Kurz später verabschiedeten sich die beiden Staatshäupter. Thatchers Auto fuhr zum Frankfurter Flughafen, wo die Iron Lady in ihren Charterflug einstieg, sich in ihren Sitz fallen ließ und ihren Berater anguckte: «Charles, dieser Mann ist so deutsch!»

*

Ich mag diese Geschichte deshalb so gerne, weil sie die diversen komplizierten Faktoren andeutet, die ins Spiel kommen, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen treffen. Für Kohl war die Darbietung seines Lieblingsessens so etwas wie ein Freundschaftsangebot, eine unterwürfige Geste. In Shakespeares Othello gibt es eine Stelle, an der der «Mohr von Venedig» dem Edelmann Brabantio gesteht: «Ich bin von rauhem Wort, / Und schlecht begabt mit milder Friedensrede.» Dies sind meine Schwächen, zeig mir deine: Das war auch die Geste hinter dem Saumagen. Für Thatcher wiederum war diese Kalorienbombe einfach ein Symbol für Deutschlands monsterhaften Appetit. Wer weiß, vielleicht wollte dieser Riese ja Großbritannien zum Nachtisch vernaschen.

Anekdoten über Begegnungen dieser Art faszinieren mich, seit ich in England wohne. Durch sie entsteht ein Bild deutsch-englischer Beziehungen, das nicht nur nuancierter ist, als Umfragen oder Statistiken es jemals sein können, sondern auch ehrlicher. Wenn sich zwei Menschen verschiedener Herkunft treffen, ist das immer auch ein Test für Klischees und Stereotype, die wir mit diesen Ländern assoziieren. Manchmal entpuppen sich diese Klischees als eben das: antiquierte Vorurteile, die eher auf Filmen und Büchern basieren als auf der Wirklichkeit. Manchmal, wie es bei Kohl und Thatcher der Fall war oder bei England–Deutschland in Wembley, bestätigen und verhärten sich diese Vorurteile nur.

In diesem Buch will ich anhand einer Reihe von historischen Begegnungen erforschen, was es heißt, deutsch oder englisch zu sein. Manche dieser Begegnungen sind öffentliche Angelegenheiten, also Staatsbesuche oder Veranstaltungen vor großem Publikum. Andere sind weniger spektakulär: Zufälle, Menschen, die in den Fluren der Geschichte aneinander vorbeistreifen, Begegnungen, die hätten sein sollen, aber nie stattfanden. Einige sind erfolgreich, andere verlaufen katastrophal. Einige von ihnen bedeuten etwas, andere eher nicht. Nur wenige setzen sich direkt mit den zwei Weltkriegen auseinander. Der Grund dafür ist einfach. Im dunkelsten Kapitel in Europas Geschichte wurden viel mehr intime Kontakte gekappt als geknüpft. Dabei war der Austausch von Ideen, Waren und Menschen zwischen den beiden Ländern davor und danach viel spannender.

eins Heinrich Heine kann William Cobbett nicht beim Schimpfen zuhören

Ich kann mich nicht besonders gut an unsere Ankunft in England erinnern. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, ob wir an einem Morgen ankamen oder einem Abend, ob es regnete oder ob es sonnig war, kalt oder warm, ob wir einen Zug vom Flughafen in die Stadt nahmen oder uns gleich in ein Taxi setzten. Ich weiß allerdings noch, dass ich an diesem Tag schlechte Laune hatte und dass der Tag unserer Ankunft ein Sonntag war. Eine Kollegin meines Vaters hatte uns zu einer kleinen Begrüßungsfeier bei sich zu Hause eingeladen, und als sie uns die Tür öffnete, sagte sie, dass das «Sunday Roast» schon fast fertig sei. Sie untermalte die Worte «Sunday Roast» mit einer theatralischen Geste, als wäre sie ein Diener, der den Deckel einer silbernen Servierschüssel hob. Der englische Sonntagsbraten, wollte diese Geste sagen, war keine normale Mahlzeit.

Nachdem wir uns an den Esszimmertisch gesetzt hatten, versuchten meine Eltern mit ihrem gebrochenen Englisch eine Unterhaltung anzukurbeln. Ich saß still auf meinem Platz und beäugte kritisch das, was sich nach und nach auf der Tischplatte häufte. Der «Sunday Roast» sah in etwa so aus: drei dünne, gargekochte Scheiben Rindfleisch, vier Brokkolistängel und acht Bratkartoffeln. Alles lag kraftlos übereinandergetürmt wie müde Wanderer nach einer langen Pilgerfahrt. Fleisch und Gemüse siechten in einer Lache wässrig-brauner Soße. Unsere Gastgeber nachahmend, hatten wir jeweils einen Esslöffel grellgelben Senf und weißen Meerrettich auf die rechte und linke Tellerseite geschaufelt. Das direkte Vermischen dieser Pasten (man nannte sie «Condiments») mit dem Hauptgericht war allerdings keine gute Idee, wie mein Vater durch Selbstversuch am eigenen Leib herausfand. Als er endlich aufhörte zu husten, tränten seine blutunterlaufenen Augen. Paradoxerweise bedeutete die Schärfe der Condiments nicht automatisch, dass das Gericht an sich besonders würzig war. Im Gegenteil war es eher so, als würde der Sonntagsbraten umso milder schmecken, desto tiefer wir uns in sein Inneres vorarbeiteten. Ganze fünf Minuten nachdem der Tisch abgeräumt war, kaute ich noch unsicher auf einem faserigen Bissen Fleisch herum, bevor ich mich endlich zu schlucken traute. Vielleicht war dies kein Zufall, denn unser Koch hatte anscheinend weder Anstalten gemacht, die natürlichen Säfte des Fleisches durch Anbraten zu konservieren, noch, den ursprünglichen Biss des Gemüses festzuhalten. Die englische Soße, «Gravy» genannt, war weniger Soße als Wasser – ganz so, als ob man hier versucht hatte, den Geschmack unseres Mahls bis in die Unkenntlichkeit zu verdünnen. Das künstlerische Äquivalent des Sunday Roast wäre ein Aquarell in Graubraun oder eine Sonate auf einem ausgestöpselten Synthesizer.

Unseren Gastgebern schien dies nichts auszumachen. «Yummy yummy in my tummy», sagte der Sohn der Familie, nachdem er sich die erste Gabelvoll in den Mund gestopft hatte. Wie ich den Jungen beim Schaufeln beobachtete, fiel mir auf, dass seine Haut seltsam blutarm und schwammig war. War dies die Wirkung einer langjährigen englischen Diät? Ich wandte mich dem Vater der Familie zu. Auch hier war der korrodierende Effekt der einheimischen Küche ganz offensichtlich. Der Mann hatte eine rote, scheinbar entzündete Nase, eine Halbglatze und schiefe gelbe Zähne. Plötzlich bemerkte ich auch die merkwürdigen Tischmanieren der Engländer. In Deutschland benutzten wir unsere Gabel in der linken Hand wie eine Kehrschaufel, auf die wir das Essen mit dem Messer in der rechten schoben. Die Engländer aber benutzten die Gabel als einen Spieß, auf dem sie mit ihrem Messer einen Mini-Schaschlik aus Roastbeef, Kartoffel und Brokkoli bauten. Man aß mit Wut im Bauch und anscheinend ohne jegliche Freude am Verzehrungsvorgang. Jeder Bissen wurde mit einem Schluck Flüssigkeit heruntergespült, als wäre der Geschmack sonst unerträglich. Dabei handelte es sich nicht einmal um Apfelschorle oder Spezi, sondern um ein Getränk, welches mir den englischen Nationalcharakter symbolisch auf den Punkt zu bringen schien: ein lauwarmes Glas Wasser.

Deutsche erzählen gerne Horrorgeschichten über englisches Essen. Macht sich eine englische Boulevardzeitung einmal über «typisch deutsche» Eigenschaften lustig, spielt man hierzulande gerne das Opfer. Geht es aber umgekehrt um die Kochkünste der Briten, wird fröhlich in die Klischeekiste gegriffen. Bei der Vorbereitung auf meinen Schulwechsel war ich so manch einem Schauermärchen über den Weg gelaufen. In der Literatur über Schüleraustauschprogramme las man Geschichte von wächsernen Kartoffeln und schleimigen Bohnen, von gefüllten Schafsmägen («Haggis») und frittierten Mars-Riegeln im Land der Schotten. Manch einer hatte Erfahrungen mit «Chicken Kievs», «Pork Scratchings» oder «Turkey Twizzlers» gemacht und die Eltern um die Zusendung von Vollkornbrot, Kohlrabi und Lakritze angebettelt. Schon Friedrich Engels berichtete ca. 1840 mit Entsetzen über die katastrophalen Zustände in englischen Küchen: In den Arbeitervierteln von Manchester gab es zum Abendbrot gammelige Kartoffeln, verwelktes Gemüse und ranzigen Schinken. Essen aus der Dose, in Deutschland eher ein Symbol der sparsamen Nachkriegsjahre, genoss auf der Insel viel früher Beliebtheit. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war Großbritannien der weltweit eifrigste Dosenimporteur: Bis zu 60 Prozent der Nahrungsmittel kamen aus der Konserve. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts änderte sich wenig. Großbritannien, die Arbeiternation, aß auch so: «Ready Meals» von Marks & Spencer oder «Takeaways» vom Inder um die Ecke bestimmten die Hauptmahlzeiten. Für «Slow Food» hatte man keine Zeit.

Sich als Deutscher darüber lustig zu machen mag etwas naiv erscheinen, ist der internationale Ruf der deutschen Küche doch kaum positiver. Handelt es sich hier nicht schlicht um zwei nordeuropäische Länder, denen es einfach an Sonne fehlt, um in der Küche mit wirklich spannenden Zutaten zaubern zu können? Und trotzdem: Als ich auf meinem Sonntagsbraten kaute, sehnte ich mich nach würzigen deutschen Bratwürsten. Egal ob majorangespickte Nürnberger, Kümmel-und-Knoblauch-infizierte Thüringer oder Weißwurst mit Petersilie und Ingwer: Hauptsache Geschmack. Es mögen vielleicht britische Fregatten gewesen sein, die Currypulver im 18. Jahrhundert nach Europa brachten, doch anscheinend hatte man nur in Deutschland den Mut, diese feurige Würze zur Erfindung der Currywurst zu benutzen. Zu Hause in Hamburg gab es solch waghalsige Kombination wie Birnen, Bohnen und Speck, aber hier? Als Kind erzählte mein Großvater mir einmal, dass es sich bei der Hamburger Spezialität Labskaus um ein echtes Produkt deutsch-englischer Freundschaft handelte: So war Labskaus angeblich ein traditionelles Matrosenmahl («lobscouse»), welches ursprünglich aus der Hafenstadt Liverpool stammte, dessen Anwohner auch «Scousers» genannt wurde. Der Vergleich zwischen deutschem und englischem Labskaus aber entpuppte sich leider als vernichtend: Was in deutschen Küchen eine gewagte Fusion aus Pökelfleisch, roter Beete und Spiegelei versprach, war auf der britischen Insel ein Brei aus unkenntlichen Zutaten, der ähnlich unbefriedigend schmeckte wie der sagenumworbene Sunday Roast.

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Meine Eltern wollten davon nichts hören. Während wir nach dem Abendessen zurück in unser Hotel fuhren, schwärmten sie in den überschwänglichsten Tönen von den knusprigen englischen Bratkartoffeln und dieser «fabelhaften» Meerrettichsoße. Kritik am Sonntagsbraten war schlicht verboten.

In Wirklichkeit hatten meine Eltern sich schon Jahre vor unserem Umzug heimlich in England verliebt. Ein kleiner Kratzer an der Oberfläche reichte, um die Erkrankung wiederzuerwecken und die anglophile Grundhaltung in ein anglomanisches Fieber zu steigern. Innerhalb der nächsten paar Tage stapelten sich Salt-and-Vinegar-Chipstüten und Dosen mit englischem Bitter in unserem Hotelzimmer. Zum Frühstück schleppten meine Eltern mich in Cafés, in denen «Cooked Breakfast» serviert wurde, welches natürlich nie gekocht, sondern in heißem Fett gebraten war: Schinken, Würste, Blutwurst, Spiegelei und Bohnen in Tomatensoße. Jedes authentische englische Gericht mussten meine Eltern zumindest einmal probieren, egal ob «Shepherds Pie», «Fish and Chips» oder «Toad in the Hole», eine Art Lasagne mit Würsten und Kartoffelbrei anstelle von Pasta und Hack.

Vielleicht war es gar nicht das Essen an sich, was mich irritierte, sondern der Aufwand, den meine Eltern dabei betrieben. Dieses genießerische Gehabe – die geschlossenen Augen beim Biss in eine Scheibe Toast mit Marmite-Aufstrich, Ausrufe wie «Delicious!» und «How tasty» – kam mir aufgesetzt vor. Was war aus meiner sonst so norddeutsch-unterkühlten Familie geworden? Aber vielleicht war auch einfach nur die Nähe zu meinen Eltern das Problem. In Norderstedt war ich das jüngste von vier Geschwistern gewesen – jetzt war ich plötzlich mit meiner Mutter und meinem Vater allein. Unser Plan war, uns für zwei Monate eine Wohnung zu mieten, während wir uns nach einer neuen Schule umschauten. Das erstbeste Apartment, das mein Vater finden konnte, lag in Mortlake, einem vorörtlichen Stadtteil in einem toten Winkel zwischen der A205 und der Themse: ein für London unerwartet langweiliger Stadtteil, dessen größte Attraktion eine Budweiser-Brauerei und ein verwitterter viktorianischer Friedhof waren. Trotzdem waren die Mietpreise astronomisch hoch: Die beste Wohnung, die meine Eltern sich leisten konnten, war winzig und roch wie das Schlafzimmer meiner Oma.

Meine Mutter und mein Vater wuchsen in benachbarten Dörfern im niedersächsischen Alten Land auf. Trotz der geographischen Nähe ihrer Geburtsstätten hätten ihre Persönlichkeiten unterschiedlicher nicht sein können. Meine Mutter wuchs in einer Großfamilie mit sieben Geschwistern auf und schloss eine Ausbildung zur Erzieherin ab, bevor sie ihr erstes Kind bekam: Im Umgang mit großen Gruppen hatte sie ein Feingefühl, das meinem Vater komplett abging. Mein Großvater war einst Elblotse und deshalb eher einzelgängerisch veranlagt: Sein Sohn war zwar der erste Oltermann in der Familiengeschichte, der nicht zur See fahren wollte und zur Universität ging, der sture Sinn für den richtigen Weg durchs Fahrwasser vererbte sich trotzdem: Gerd Oltermann wusste immer genau, wie er von A nach B kommen wollte, ob bei einer Dünenwanderung im Dänemarkurlaub oder bei Vertragsverhandlungen mit seiner Firma. In London vereinigten sich die unterschiedlichen Persönlichkeiten meiner Eltern zu einer merkwürdigen, mir bis dahin unbekannten Mischung: einer toleranten Haltung gegenüber englischem Spinnertum, gekoppelt mit einer beharrlichen Entschlossenheit, dieses selbe Spinnertum zur Grundlage einer neuen Lebensphilosophie zu machen.

Ich stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag und war mir ziemlich sicher, worauf ich im Leben Wert legte: coole Freunde, coole Musik, coole Kleidung und Mädchen, die ich mit meinen coolen Freunden, cooler Kleidung und coolem Musikgeschmack beeindrucken konnte. Mit 15 hatte ich schon angefangen, wochenendenlang mit Freunden durch das Hamburger Schanzenviertel zu streifen; über die Ferien verbrachte man ganze Wochen bei Mitschülern, deren Eltern gerade verreist waren. Jetzt aber fand ich mich plötzlich auf engstem Raum mit meinen Eltern wieder – ohne Brüder und Schwestern, an denen wir unsere Früste ablassen könnten. Dass der Hausfrieden irgendwann bröckeln würde, schien nur eine Frage der Zeit zu sein.

Nach unserer abenteuerlichen Begegnung mit dem englischen Sonntagsbraten entschlossen wir uns, am nächsten Tag auf Nummer sicher zu gehen. Ein paar Schritte von unserem Apartment fanden wir ein winziges indisches Restaurant, in dem uns ein runzeliger kleiner Kellner eine halbe Stunde lang gekünstelt ignorierte, bevor er endlich unsere Bestellung aufnahm. Während mein Vater sich auf eine ausgedehnte Diskussion über die Aussprache von «Vindaloo» und «Jarlfrezi» einließ, rollte ich mit den Augen und drehte mich gelangweilt in Richtung Wand ab. In den indischen Restaurants Londons sind die Wände oft verspiegelt, damit die Räume größer – und voller – erscheinen, als sie es wirklich sind. Vor mir sah ich ein jämmerliches Bild: ein deutsches Paar Mitte fünfzig, ein ältlicher Kellner aus Bangladesch und ein schlaksiger Teenager mit einer pubertären Miesepetermiene.

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Was Nordeuropa betrifft, so war die Englandliebe meiner Eltern kaum außergewöhnlich. Besonders in der Hansestadt Hamburg hat man in der Vergangenheit keinen Hehl aus seiner Verehrung für die Insel in der Nordsee gemacht. So fühlte man hier schon länger eine tiefere Verbundenheit zum englischen Handelswesen als zu der bäuerlichen (und später industriellen) Selbstsicherheit Deutschlands. Nachdem die Stadt im 13. Jahrhundert zum Gründungsmitglied des Hanseatischen Verbundes wurde, entwickelte Hamburg enge kommerzielle Beziehungen mit Brügge, Amsterdam und eben London. Als sich Englands Royal Navy im Laufe des 17. Jahrhunderts zur Weltmacht aufschwang, lugten Hamburgs Kaufmänner neidisch über den Ärmelkanal. Während der Napoleonischen Kriege verscherzte es sich Hamburg mit dem französischen Kaiser, indem es seinen probritischen Instinkten traute und eine Gruppe irischer Rebellen, die in der Stadt Unterkunft suchten, prompt an die englische Krone aushändigte. Als die Grande Armée 1806 in Hamburg einmarschierte, verbrannte sie britische Güter, verbot jeglichen Handel mit dem Erzfeind Frankreichs und brachte die Hansestadt damit an den Rand des Bankrotts. Erst nach Napoleons Niederlage, als britische Kaufmänner wieder in Hamburgs Hafen einkehren konnten, gelang der Stadt erneut der Aufschwung zum Wohlstand.

Solche Erinnerungen lassen sich nicht leicht löschen: Wenn man in meiner Kindheit über England oder Großbritannien redete, dann normalerweise in einem ehrfürchtigen Ton, als handelte es sich hier nicht nur um Nachbarn, sondern um Vorfahren. Mit dem Unterschied zwischen England und «Great Britain» nahm man es dabei meistens nicht so genau. Freilich begeisterte England tendenziell eher die konservative Seite der Deutschen: Man sprach vom «guten englischen Stil» oder der «feinen englischen Art». Großbritannien sprach eher den rebellischen Geist in der deutschen Psyche an, was sich zum Beispiel am begeisterten Konsum britischer Popkultur ausdrückte: In der deutschen Ausgabe des Rolling Stone, die ich jede Woche las, füllten lange Interviews mit Damon Albarn, Paul Weller und den Gallagher-Brüdern Zeile um Zeile. Selbst jene Brit-Rocker, die von der englischen Musikpresse schon längst in Rente geschickt worden waren, empfing man in Deutschland mit offenen Armen. Phil Collins lief bei Radio Hamburg in der Endlosschleife, Eric Clapton füllte noch Stadien, und Joe Cocker bekam stehenden Applaus, wenn er alle paar Jahre wieder bei Wetten, dass..? auftrat. Wir taten so, als wären diese Männer alte Meister im Kanon der Popmusik: Cocker, Collins und Clapton waren für uns, was Bach, Beethoven und Brahms für die Engländer waren.

Was Film und Fernsehen anging, so zollten wir Deutschen britischen Importen ähnlich viel Respekt. Während im deutschen Fernsehen sonst rücksichtslos synchronisiert wurde, bekamen englische Serien oft eine Sonderbehandlung und wurden mit Untertiteln gesendet. Monty Python wurde so sehr verehrt, dass die Gruppe Anfang der Siebziger vom WDR nach Deutschland eingeladen wurde, um zwei Sonderausgaben auf Deutsch aufzunehmen, Monty Python’s Fliegender Zirkus. Bei so viel Respekt war selbst das schlechte englische Essen irgendwie verzeihbar. Auf seine eigene Art passte es zu diesem Land voll kultiger Künstler und Komiker, dass hier mit schwarzem Humor gekocht wurde. Wer in den Neunzigern in Norddeutschland aufwuchs, erkannte einen Funken Wahrheit in den Worten von Adolf Loos, der die Engländer 1898 als «unsere Hellenen» bezeichnet hatte: «Von ihnen erhalten wir unsere Cultur, von ihnen ergiesst sie über den ganzen Erdball.»

Was diesen Englandkult umso bemerkenswerter machte, war, dass man von den Einwohnern der Stadt Hamburg eigentlich eine gewisse Kühle gegenüber der Inselnation erwarten könnte. Im Sommer des Jahres 1943900032 und 00019432004