Impressum

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Világló Részletek» bei Jelenkor Kiadó, Pécs.

Lektorat Delf Schmidt

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Világló Részletek» Copyright © 2017 by Péter Nádas

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-498-04697-2 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-04071-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-04071-7

s gab keinen Pardon, Punkt Mittag hatte das Sonntagsessen fertig zu sein. Die Suppe zum Mittagsläuten dampfend auf dem Tisch zu stehen. Nicht etwa, dass mein Großvater das so haben wollte. Ich meine den Großvater mütterlicherseits, den Großvater Tauber. So wie ich ihn kannte, wäre es ihm auch um eins recht gewesen, lauwarm, ihm waren solche Dinge nicht wichtig. Er aß überhaupt wenig. Sprach auch wenig, und wenn, dann nur das Nötigste. Wenn er vom Tisch aufstand, dankte er mit einem Kopfnicken fürs Essen. Es war aber nicht klar, wem er dankte. Der Dank mochte meiner Großmutter gelten, eventuell dachte er an Gott, an irgendeinen Gott, ich weiß es nicht. Ich habe nie gesehen, dass ihn die eitlen Freuden dieser Welt interessiert hätten. Er war ein Luftwesen, knochendürr, an seinem Brustkasten drückten sich die Rippen durch die Haut. Wenn er mich vorsichtig an sich zog, wenn er mich in die Luft warf, damit ich flog, hui, der Péter fliegt, er fliegt davon, bei meinem Absturz fing er mich im letzten Moment doch noch auf, das Vögelchen stürzt ab, dann kam ich dem nackten Knochengerüst seines Körpers ganz nahe; noch heute spüre ich in den Gliedern seine Armknochen, seine Schlüsselbeine, seine scharfen Rippen.

Aber noch heute verstehe ich nicht, wie ihm, bei aller Vergnügtheit, der Satz vom abstürzenden Vögelchen über die Lippen kommen konnte. Ein Vögelchen stürzt ab, wenn es von den Jägern geschossen wird oder ihm in der großen Winterkälte die Beine erfrieren.

Mit Emotionen ging mein Großvater überaus vorsichtig um, ich habe ihn nie gereizt gesehen. Höchstens, dass er etwas humorvoll

Der Flug dauerte länger als mein Absturz, er fühlte sich an, als würde er nie enden, er nahm mir den Atem; vielleicht deshalb, aus diesem Wunsch zu ersticken, wollte ich, dass er mich fliegen ließ, und erst beim Herunterfallen, schon umschlossen von seinen knochigen Armen, kam ich wieder zu mir. Und noch einmal. Oder er ließ mich auf den Knien reiten, genoss auf einer elementaren Ebene unser Spiel ganz offensichtlich, während es ihn bestimmt auch grässlich langweilte. Der Reiter musste, so das Spiel, sicher im Sattel sitzen, auch wenn das Pferd hüpfte, nieste oder bockte. Mein Großvater imitierte mit den Knien den Zufall, die Unberechenbarkeit des Pferds, und da ich mit richtigem Gefühl und im richtigen Rhythmus darauf reagierte, ich wusste ja, was er machte und worauf er aus war, hatte er seine Freude daran und lachte immer wieder.

Tonlos, seine Lacher waren tonlos, er starrte mit freudig verzogenem Mund zum Himmel. Was für gut funktionierende Reflexe das Kind doch hat. Ich habe nie mehr so etwas gesehen, so ein tonloses Lachen.

Für unser Spiel musste er wohl genauso viel Disziplin aufbringen wie ich, nur bezog sie sich nicht aufs Gleiche. Heute, wenn ich morgens vorsichtig zu den Einzelheiten der Szene zurückkehre, sie wieder durchspiele, sie auf ihren Geschmack prüfe und analysiere, wobei immer neue Einzelheiten auseinander hervorgehen, entsteht in mir der Eindruck, dass mein Großvater vor der Lust wohl eine große Scheu hatte. Er ließ sich ungern auf das Spiel

Dazu kam die Lust am Ertragen. Die Lust am stockenden Atem, am Vorgeschmack des Erstickens, am stummen Lachen meines Großvaters.

Er lachte in die Luft hinaus, aber sein Lachen war luftleer, was an seinem starken Asthma liegen mochte. Schon bei der kleinsten Anstrengung atmete er schwerer, Dyspnoe, Atemnot, nennen die Ärzte das Phänomen, sein Atem ging pfeifend. Asthma ist die Krankheit der Verneinung, des Verzichts, der Selbstverneinung, heißt es. Marcel Proust hatte Asthma, auch wenn man damals den bronchialen, neuralgischen und allergischen Aspekt der Krankheit in keinen Zusammenhang brachte. Und wenn schon Proust und mein Großvater an dieser Krankheit litten, wie ist dann wohl der sich nicht verneinende, von jeglicher Tücke und Mimesis freie Mensch. Bestimmt mimt ein solcher Mensch ausschließlich seine ureigensten, bis aufs Mark durchleuchteten Eigenschaften. Aber was bringt das. Vielleicht war mein Großvater in seinen letzten zehn Jahren aber tatsächlich so. Nach einer Zeit hat man auch auf die Lust keine Lust mehr, es fehlt die Variation. An seinem Stirnknochen, an seinen Schläfen glänzte die gespannte Haut, an seinen Händen wanden sich dicke Adern. Die fand ich äußerst attraktiv.

Für Großvater war das bestimmt wie eine Falle, er wird die eine lästige Pflicht los, das Spiel, und gleich beginnt ein anderes Spiel.

Karten spielte er nicht, Schach auch nicht. Wenn wir bei ihnen draußen waren, an der Donau bei Göd, im berühmten Fészek, dem Nest von Göd, in der Feriensiedlung des Arbeitersportvereins, in ihrem alten kleinen Holzhaus, das sie zusammen mit anderen gekauft hatten und das von ihren alten Freunden Tauber-Villa genannt wurde, unter schallendem Gelächter, sie selbst hatten ja einmal zum Spaß die Aufschrift an die Front des auf hohen Stelzenbeinen auf dem Ufersand stehenden Häuschens geschraubt, und wenn sie mit den Jungen hier nachmittags Volleyball spielten, saß er da, in

Auch zum Schwimmen kam er nur selten mit.

Das Häuschen stand auf Pfählen, wegen des Hochwassers. Dadurch wirkte es wie ein Verstärker. Man konnte keine Bewegung machen, ohne dass es laut wurde, es rumste und polterte, und da lange Reihen solcher Häuser am Ufer standen, war von morgens früh bis abends spät ein Gepolter zu hören.

Sie sagten nicht, ich gehe schwimmen, sondern ich gehe mich tunken.

Wir tunkten uns.

Sie marschierten auf dem Vácer Ufer über einen gründlich ausgetretenen Pfad durch Gras und Gestrüpp, dann ließen sie sich mit ein paar wenigen Schwimmstößen von der trägen Strömung zurückbringen. Dabei plauderten sie laut und geruhsam über die besonnte Wasseroberfläche hinweg; das Wasser trug ihre Stimmen weit.

Wir rinnen zurück, das war das Wort dafür.

Und doch war es Großvater, der mir an einem Winternachmittag das Mikadospielen beibrachte. Das war vielleicht das einzige Spiel, das ihn wirklich interessierte: die je nach Streifen gewerteten Stäbchen, den Mandarin, die Bonzen, die Samurai und die Kuli aus unseren Händen auseinanderfallen lassen, sie dann einzeln, mit Hilfe zweier anderer aus dem Haufen heben, sie ganz vorsichtig rollen, sie mit dem auf ihre Spitze gepressten Finger aufstellen, ohne dass es die anderen Stäbchen spürten, ohne dass sie sich verschoben, ohne dass die Veränderung sie auch nur erschütterte. Die Position des ins Auge gefassten Stäbchens zwischen den anderen nicht nur sehen, sondern gewissermaßen auch fühlen. Auf unsere Atmung achten, damit das Manöver ohne Erschütterung gelinge. Auch das hat er mir als Erster beigebracht, dass man die Luft zuerst hinauslassen muss, um den Atem problemlos anzuhalten. Tut

Da kannte ich schon die Regel.

Auch das Dominospiel lernte ich von ihm. Also zwei stille Spiele.

Damit ich mich beruhigte, ertrug er eine Weile stumm auch das stillste der Spiele, mein Experimentieren mit seinen Adern. Ich hörte damit jeweils nur auf, weil ich seinen Widerwillen spürte.

Seine Haltung war gerade, aber auch wenn er saß, hielt er den Kopf gesenkt, bescheiden, fast verschämt, als wollte er dauernd signalisieren, nein, ich will niemandem über sein. Nicht einmal recht wollte er haben, und doch kann ich nicht behaupten, dass mein Großvater ein nachgiebiger Mensch gewesen sei; es war eher so, dass er unter seinem dicken, sorgfältig gestutzten Schnurrbart, hinter der Drahtbrille sich selbst zulächelte. Heute würde ich sagen, er lächelte ermutigend aus seiner Unerbittlichkeit heraus. Mit dem ausdauernden Lächeln festigte er seine Geduld, damit sie ihm nicht ausging. Er konnte wunderbar für sich auf dem Rücken liegen, im Gras, auf dem Bett, auf dem leicht feuchten Schotter des Ufers oder in der Hängematte im lockeren Schatten der Akazien und wassernahen Weiden und Espen von Göd oder Dömsöd. Ich beneidete ihn, versuchte ihn nachzuahmen, er hatte die Füße übereinandergeschlagen, seine Hände wie zum Gebet über der Brust verschränkt. Er machte immer den Eindruck, als sinne er leichthin, gewissermaßen schwebend gewichtigen Dingen nach, und da durften wir ihn nicht stören. Es vergingen fast fünfzig Jahre, bis ich mit einem Mal gewahr wurde, dass auch ich schon seit langem gern auf diese Art unter freiem Himmel liege. Über dem Sinnieren schlief er manchmal ein, auch ich schlafe manchmal ein, und wenn er länger so dalag, auf dem Gesicht das reine Lächeln, kam auch seine asthmatische Atmung zur Ruhe. Das ist vielleicht die schlichte

Kann sein, dass sie früher, vor der Belagerung, tatsächlich dort gewesen war, in der Dob-Straße. Ich jedenfalls ging in den Jahren nach der Belagerung immer nur in die Holló-Straße. Soweit ich mich erinnere, gab es in der Dob-Straße die Werkstatt eines

Mein Großvater flickte oder stellte winzige Gegenstände her, wohl die Bestandteile von Schmuck, abgebrochene Nadeln, Schnallen, kaputte Fassungen. Großvater arbeitete mit Schmuckstücken. Er weitete Ringe oder machte sie enger, er ersetzte die verlorenen oder herausgefallenen Edelsteine von Halsschmuck. Auch das war ein großes Wort, neue Wörter aus der Werkstatt; Schmuckstein, Fassung, Halsschmuck, Edelstein und vor allem Halbedelstein.

Und so, auf den Spuren meiner Erinnerung, habe ich es denn auch gefunden. Es ist im zurückhaltenden, unerbittlich symmetrischen, klassizistischen Kasernenstil gebaut, wie er für die Pester Innenstadt typisch ist. Das ist die älteste Schicht der Pester Architektur, womit auch gesagt ist, dass Pest zu den neueren Städten gehört und sich schon deswegen vom alten, gotischen und barocken Buda absetzt. Meine eigentliche Geburtsstadt ist Pest.

Auf Drehgestellen brannten starke Glühbirnen unter Vergrößerungsgläsern, weniger über den Tischen als über den bearbeiteten Gegenständen, alle hatten dem natürlichen Licht den Rücken zugewandt. Mein Großvater arbeitete mit kleinen Instrumenten, kleinen Feilen, kleinen Messingwaagen, die von einer Glasglocke abgedeckt waren, damit nicht einmal der Staub auf ihren Tellern liegen blieb, diese Waagen standen an verschiedenen Punkten der Werkstatt, er arbeitete mit kleinen Pinzetten, kleinen Sägen, kleinen Schraubstöcken, kleinen Polierern, winzigen Tongefäßen, Gussformen, Tiegeln, verschiedenen großen Stielgefäßen, in denen er vom Kamin, der in der Tiefe der Werkstatt glühte, das geschmolzene Blei brachte, das Zink, die Edelmetalle, vielleicht auch Gold, ich weiß nicht, er arbeitete mit Zangen, einer ganzen Serie von Sticheln, er vernickelte, er machte mit Hilfe von Klemmen mit Holzgriff über der scharf zischenden Flamme Silberfäden und Goldfäden geschmeidig; er war Goldschmied. Damals gab es auch noch Silberschmiede, die stellten Geschirr her, Taufteller, die innen dann noch vergoldet wurden, Tabaksdosen, Saucenschüsseln, vollständige Besteckservices mitsamt dem ganzen Tischzubehör, wie man sich damals ausdrückte, und zu einem herrschaftlichen Haus gehörten in der Tat eine Menge Dinge, Kerzenhalter, Serviettenringe, Tabletts und ausgeklügelte Servierzangen, Tortenschaufeln, Bratengabeln, Etageren fürs Obst, Kannen, Salzbehälter, innen aus

In der ganzen Stadt, im ganzen Land, im ganzen kaiserlich-königlichen Reich war es so Sitte. Fürs Sonntagsessen gab das Mittagsläuten das Zeichen. Die Suppe hatte heiß zu sein, zu dampfen. Den Usancen gemäß durfte der Hausherr nicht tolerieren, dass die Hausfrau die Suppe lauwarm auftrug. Bei meinen Großeltern mütterlicherseits wurde das Essen aufgetragen, bei den Großeltern väterlicherseits wurde es serviert. Es ist serviert. Zu Tisch. Wenn sie etwas in einer fremden Sprache sagten, erhielt es einen scherzhaften oder ironischen Klang. À table. Die Suppe meiner Großmutter dampfte, sie war heiß, wo aber war die von ihren Kronländern gezierte Doppelmonarchie mit den fremden Wörtern und den dazugehörigen rangmäßigen und sprachlichen Unterschieden. Verpufft. Die Hausherren hatten zwei Weltkriege verloren, waren in zwei Weltkriegen gefallen. Es gab keinen Menschen in der Stadt, der nicht jemanden oder etwas verloren hätte. Zur Zeit unserer Sonntagsessen stand die Stadt ausgeweidet, in sich zusammengesackt, in Trümmern um uns herum, sie rang mit ihren Lücken und Verlusten. Einmal krachte ein stark beschädigtes Haus mit allen seinen Stockwerken unter Getöse zusammen, irgendwo in der Nähe des Stadtwäldchens, ich erinnere mich an das Bild, an das typische, endlose Getöse des Einsturzes und, ja, an den Geruch, während mein Großvater und ich dahinspazierten, vielleicht auf der István-Straße, es war Friede, es war Sonntag, am Ende des Einsturzes war immer ein Klirren zu hören, die Menschen rannten

Um nach Buda hinüberzugelangen, bauten die Pioniere der russischen Armee zuerst eine Pfahlbrücke, aber die wurde bald

Um die Atmosphäre der Zeit fühlbar zu machen, wie meine Tante Magda zehn Jahre später, im Februar 1955, schrieb, auf Aufforderung der Redakteurin der Irodalmi Újság, Literaturzeitung, und wie ich es aus ihrem datiert erhaltenen Manuskript zitiere, um zu zeigen, wie ein Erwachsener aus unserer Familie dieses allumfassende Gehen erlebte.

Wir gingen und gingen.

Wo hätten sie mich denn lassen sollen, bei wem, sie nahmen mich schon in den ersten Tagen nach der Belagerung mit, und überhaupt, alle waren auf der Straße, endlich, endlich, man konnte aus den Kellern heraufkommen, alle gingen, alle schleppten etwas.

Die sowjetische Artillerie antwortete. Kamen wir den sowjetischen Stellungen zu nahe, begannen die Soldaten wütend zu schreien, was diese Weiber hier wollten.

Ich musste marschieren, die Hindernisse überwinden, mit ihnen nach Möglichkeit Schritt halten. Auch ich schaute vor mich auf den Boden, anderswohin konnte man nicht schauen, ich musste den Trümmerhaufen ausweichen. Meine Tante erinnerte sich vielleicht anders daran, aber in den Familienaufzeichnungen kann man nachlesen, dass uns unser erster Weg zum Tisza-Kálmán-Platz führte, sie und auch mich, und tatsächlich wurde Pest da noch von Buda aus beschossen. Meine Eltern hatten erfahren, dass der Sitz des

Die Pfahlbrücke war die schönere gewesen, die, die vom Eisgang bald mitgerissen wurde. Überhaupt gefielen mir die Wörter, auf die wir stießen, der Eisgang tost, Zierbrunnen, der Eisgang machte wirklich einen tosenden Lärm, Fliegerangriff, Halsschmuck, Halbedelstein, Bombenkrater, Fassung, Pfahlbrücke. Mein Vater stand am Geländer des oberen Kais im kältefunkelnden Sonnenschein und erklärte ins scharfe Knirschen und Dröhnen der Eisschollen hinein, was geschieht, wenn der Fluss vereist oder wenn gesprengt wird, um das Eis endlich in Gang zu bringen, woher die Möwen kommen, anhand deren Bewegungen wir die Strömung beobachteten, wieso man in der Kälte den eigenen Atem sieht, was Temperatur ist, was Temperaturunterschiede mit dem Dunstgehalt der Luft tun, was Wasserdampf ist, wie ein Ponton entsteht, warum er obenauf schwimmt und warum unser Körper untergeht. Also, was heißt spezifisches Gewicht, was richtet der Unterschied zwischend den spezifischen Gewichten in der gravitationsgeplagten Welt an. Was heißt Volumen, was ist der Zusammenhang zwischen Gravitation und physikalischer Kraft, was ist das Geheimnis schwimmender Körper, welches sind die beiden Voraussetzungen, damit etwas über Wasser bleibt, und so weiter.

Für diese Erklärungen hatte er einen besonders leisen, einschmeichelnden Ton, der aber dem geistigen Niveau eines Drei-

Offen zugeben, wenn man etwas nicht weiß. Und wie viel gibt es doch, das man nicht weiß. Auch von den dem Wissen zugänglichen Dingen weiß man kaum etwas. Das gehörte auch zu Vaters Prinzipien. Und wahrscheinlich merkte er nicht, dass er, im Bann der modernen Vorstellungen, seine Stimme von ihrem Ort hob.

Die Entwicklung meines Bruders Pali verfolgten sie mit Hilfe eines Tagebuchs, eines großformatigen Hefts mit karierten Seiten, sie widmeten seinen Bewegungen eine besondere Aufmerksamkeit, ließen ihn ohne Windeln frei strampeln, woraus ich nachträglich ersah, dass sie im Namen der modernen Vorstellungen auch schon mit mir so verfahren waren. Ja, sie waren Anhänger von Emmi Piklers Methoden der Säuglingsbetreuung. Überhaupt waren die Namen Pikler und Popper in der Familie in verschiedenen Zusammenhängen präsent, und es wurden auch noch weitere Piklers und Poppers erwähnt. Nicht nur Emmi, die unter dem Namen Emilie Madeleine Reich in Wien das Licht der Welt erblickt, Medizin studiert und auf der Universität einen ungarischen Mathematikstudenten kennengelernt hatte, ihren nachmaligen Ehemann György Pikler, Sohn eines georgistischen Soziologen und Galileisten, an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, in den unendlich fernen Zeiten vor der Belagerung, ein angesehenes Mitglied des Galilei-Kreises, der hochbedeutenden Budapester intellektuellen Vereinigung, dazu einer der gründlichsten theoretischen Vorbereiter der damals schon seit hundert Jahren brennend

Wenn sie etwas nicht wussten, antworteten beide, meine Mutter wie mein Vater, der agnostizistisch-modernistischen Manier entsprechend, ich werde dem nachgehen, es nachsehen, nachschlagen, es gab ja für alles eine rationale Erklärung, nur ja nicht ans Göttliche hinanreichen. Höchstens meine zum Nihilismus neigende Mutter sagte etwa, sie habe nicht die leiseste Ahnung, sie habe keinen bloßen Dunst, so sagte sie es. Beide Ausdrücke waren spielerisch, reine Stilübungen. Sie hätte auch blassen Dunst sagen können, aber sie sagte bloßen. Bei diesen ihren abweichenden sprachlichen Gesten spitzte ich immer die Ohren. Hier gab es also irgendwie ein Geheimnis. Oder sie beschimpfte mich zum Spaß, auch eine Gewohnheit von ihr, rief, sie sei doch kein Orakel. Es bedeutete, dass niemand allwissend ist, höchstens ein Budenzauberer. Ich werde dann das einschlägige Wissen suchen, werde es im großen weisen Lexikon nachschlagen, und das bedeutete, dass ausschließlich das Wissen zählte, die sachbezogene Bildung. Irgendwelchen Gerüchten, Vermutungen, Aberglauben gehen wir nicht auf den Leim. Oder sie sagte, ach, ich bitte dich, lassen wir das jetzt, lass mich in Ruhe mit deiner Fragerei, sei so gut. Wir haben nicht für alle Fragen Zeit. Alles können auch wir nicht wissen. Ich bin kein weiser Baba, du kannst ihn dann in Konstantinopel fragen. Konstantinopel wurde zur Stadt der Wunder, dort sagte einem der Baba alles. Nur wusste ich nicht, was ein Baba war und was er mit dem Baba au rhum zu tun hatte. Deine Frage läuft nicht davon, keine Angst, und wenn doch und sie dir morgen nicht mehr einfällt, dann war sie auch nicht mehr wert. Nichts war sie wert. Die ironische, selbstironische, skeptische, nihilistische Spitze dieser Verlautbarungen, Aufforderungen und Versprechen keilte sich in mir fest. Ich akzeptierte sie, weil ein Menschenkind von seiner Mutter ja so gut wie alles akzeptiert, aber ich war