Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Világló Részletek» bei Jelenkor Kiadó, Pécs.
Lektorat Delf Schmidt
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2017
Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Világló Részletek» Copyright © 2017 by Péter Nádas
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen
ISBN Printausgabe 978-3-498-04697-2 (1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-04071-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-04071-7
Es gab keinen Pardon, Punkt Mittag hatte das Sonntagsessen fertig zu sein. Die Suppe zum Mittagsläuten dampfend auf dem Tisch zu stehen. Nicht etwa, dass mein Großvater das so haben wollte. Ich meine den Großvater mütterlicherseits, den Großvater Tauber. So wie ich ihn kannte, wäre es ihm auch um eins recht gewesen, lauwarm, ihm waren solche Dinge nicht wichtig. Er aß überhaupt wenig. Sprach auch wenig, und wenn, dann nur das Nötigste. Wenn er vom Tisch aufstand, dankte er mit einem Kopfnicken fürs Essen. Es war aber nicht klar, wem er dankte. Der Dank mochte meiner Großmutter gelten, eventuell dachte er an Gott, an irgendeinen Gott, ich weiß es nicht. Ich habe nie gesehen, dass ihn die eitlen Freuden dieser Welt interessiert hätten. Er war ein Luftwesen, knochendürr, an seinem Brustkasten drückten sich die Rippen durch die Haut. Wenn er mich vorsichtig an sich zog, wenn er mich in die Luft warf, damit ich flog, hui, der Péter fliegt, er fliegt davon, bei meinem Absturz fing er mich im letzten Moment doch noch auf, das Vögelchen stürzt ab, dann kam ich dem nackten Knochengerüst seines Körpers ganz nahe; noch heute spüre ich in den Gliedern seine Armknochen, seine Schlüsselbeine, seine scharfen Rippen.
Aber noch heute verstehe ich nicht, wie ihm, bei aller Vergnügtheit, der Satz vom abstürzenden Vögelchen über die Lippen kommen konnte. Ein Vögelchen stürzt ab, wenn es von den Jägern geschossen wird oder ihm in der großen Winterkälte die Beine erfrieren.
Mit Emotionen ging mein Großvater überaus vorsichtig um, ich habe ihn nie gereizt gesehen. Höchstens, dass er etwas humorvoll unterstrich. Aber auf dem Grund seiner stoischen Ruhe schlief doch etwas Bedrohliches, Beängstigendes, seine Töchter hatten Angst vor ihm, auch ich hatte einen Heidenrespekt, trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er einmal die Geduld wirklich verloren hätte. Wenn er jemandem grollte, schaltete sein Blick gleich auf Sturm, er lief sogar rot an, aber der Sturm brach nie los. Eher versteckte er seinen Zorn hinter geschlossenen Augen, wie jemand, der sogleich in sich geht und rücksichtsvoll die Lider über seine inneren Vorgänge senkt.
Der Flug dauerte länger als mein Absturz, er fühlte sich an, als würde er nie enden, er nahm mir den Atem; vielleicht deshalb, aus diesem Wunsch zu ersticken, wollte ich, dass er mich fliegen ließ, und erst beim Herunterfallen, schon umschlossen von seinen knochigen Armen, kam ich wieder zu mir. Und noch einmal. Oder er ließ mich auf den Knien reiten, genoss auf einer elementaren Ebene unser Spiel ganz offensichtlich, während es ihn bestimmt auch grässlich langweilte. Der Reiter musste, so das Spiel, sicher im Sattel sitzen, auch wenn das Pferd hüpfte, nieste oder bockte. Mein Großvater imitierte mit den Knien den Zufall, die Unberechenbarkeit des Pferds, und da ich mit richtigem Gefühl und im richtigen Rhythmus darauf reagierte, ich wusste ja, was er machte und worauf er aus war, hatte er seine Freude daran und lachte immer wieder.
Tonlos, seine Lacher waren tonlos, er starrte mit freudig verzogenem Mund zum Himmel. Was für gut funktionierende Reflexe das Kind doch hat. Ich habe nie mehr so etwas gesehen, so ein tonloses Lachen.
Für unser Spiel musste er wohl genauso viel Disziplin aufbringen wie ich, nur bezog sie sich nicht aufs Gleiche. Heute, wenn ich morgens vorsichtig zu den Einzelheiten der Szene zurückkehre, sie wieder durchspiele, sie auf ihren Geschmack prüfe und analysiere, wobei immer neue Einzelheiten auseinander hervorgehen, entsteht in mir der Eindruck, dass mein Großvater vor der Lust wohl eine große Scheu hatte. Er ließ sich ungern auf das Spiel ein, man musste darum betteln, sich zwischen seine Knie drängen, und wenn er endlich nachgab, wenn ich in die Wärmeströmung seines Körpers eintrat, wenn er nicht mehr widerstand, hob er mich auf die Knie, geriet aber auch dann nicht leicht in Schwung, er zögerte und überließ sich der Nähe nur sehr zurückhaltend. Bestimmt langweilte ihn die Monotonie des Spiels, sein theatralischer Aspekt, seine Ritualität, was ich heute ja sehr gut verstehe; ich meinerseits musste die scharfen Kanten seiner Knie, seine hervorstehenden Knochen ertragen. Es tat weh. Der Lust halber den Schmerz ertragen. Auch mich langweilt die Nachahmung. Zu ihr gehört die Tücke, mitsamt ihren halbgaren Elementen. Trotzdem war die Freude am Spiel größer als die mit der Mimesis einhergehende Scham.
Dazu kam die Lust am Ertragen. Die Lust am stockenden Atem, am Vorgeschmack des Erstickens, am stummen Lachen meines Großvaters.
Er lachte in die Luft hinaus, aber sein Lachen war luftleer, was an seinem starken Asthma liegen mochte. Schon bei der kleinsten Anstrengung atmete er schwerer, Dyspnoe, Atemnot, nennen die Ärzte das Phänomen, sein Atem ging pfeifend. Asthma ist die Krankheit der Verneinung, des Verzichts, der Selbstverneinung, heißt es. Marcel Proust hatte Asthma, auch wenn man damals den bronchialen, neuralgischen und allergischen Aspekt der Krankheit in keinen Zusammenhang brachte. Und wenn schon Proust und mein Großvater an dieser Krankheit litten, wie ist dann wohl der sich nicht verneinende, von jeglicher Tücke und Mimesis freie Mensch. Bestimmt mimt ein solcher Mensch ausschließlich seine ureigensten, bis aufs Mark durchleuchteten Eigenschaften. Aber was bringt das. Vielleicht war mein Großvater in seinen letzten zehn Jahren aber tatsächlich so. Nach einer Zeit hat man auch auf die Lust keine Lust mehr, es fehlt die Variation. An seinem Stirnknochen, an seinen Schläfen glänzte die gespannte Haut, an seinen Händen wanden sich dicke Adern. Die fand ich äußerst attraktiv. Ihr Verlauf und ihre Funktion beschäftigten mich noch als jungen Mann; um ehrlich zu sein, sie stießen mich ab. Ich wagte mir kaum auszudenken, was im Organismus unter der Hülle alles abläuft, in den Adern, im Herzen, in der Lende, in der Lunge, in den Därmen, mir grauste vor der regelmäßigen Funktion, das Wunder der kontinuierlichen Funktionalität machte mich schaudern, der Schauder aber erregte mich stark und unziemlich. Ich musste aufpassen, nicht von der Spirale der Schwärmerei fürs Organische erwischt zu werden; der Weg der romantischen Selbstanbetung war unserer Familie verschlossen. Ich solle vorsichtig den Finger daraufdrücken, fühlen, wie das Herz schlägt. Großvater und ich folgten ehrfürchtig dem Puls. Mit diesem Trick, dem Herzschlag oder mit seiner Taschenuhr und dem Puls, mit dem nadelfeinen Ticktack, dem rhythmischen Klopfen, lenkte er mich erfolgreich ab. Wir beobachteten den Sekundenzeiger, zählten seine Herzschläge, bis ich Ruhe gab. Bei mir fanden wir die Hauptschlagader nicht. Ich glaube, bis zehn zählen lernte ich auf diese Art, mit Hilfe meiner Hauptschlagader oder der meines Großvaters; aufhören herumzutoben, sich abkühlen, so rasch wie möglich den Dampf ablassen. Er erlaubte es nicht immer, aber an seinen Schläfen konnte man die knotigen Adern ein wenig verschieben, nachher rutschten sie nur sehr langsam zurück.
Für Großvater war das bestimmt wie eine Falle, er wird die eine lästige Pflicht los, das Spiel, und gleich beginnt ein anderes Spiel.
Karten spielte er nicht, Schach auch nicht. Wenn wir bei ihnen draußen waren, an der Donau bei Göd, im berühmten Fészek, dem Nest von Göd, in der Feriensiedlung des Arbeitersportvereins, in ihrem alten kleinen Holzhaus, das sie zusammen mit anderen gekauft hatten und das von ihren alten Freunden Tauber-Villa genannt wurde, unter schallendem Gelächter, sie selbst hatten ja einmal zum Spaß die Aufschrift an die Front des auf hohen Stelzenbeinen auf dem Ufersand stehenden Häuschens geschraubt, und wenn sie mit den Jungen hier nachmittags Volleyball spielten, saß er da, in seinem geschlossenen Badeanzug im Jahrhundertwende-Stil, mit seinem ewigen Lächeln, das ihm selbst galt, und schaute im Schatten des wilden Weins von seiner grob gezimmerten Terrasse aus zu.
Auch zum Schwimmen kam er nur selten mit.
Das Häuschen stand auf Pfählen, wegen des Hochwassers. Dadurch wirkte es wie ein Verstärker. Man konnte keine Bewegung machen, ohne dass es laut wurde, es rumste und polterte, und da lange Reihen solcher Häuser am Ufer standen, war von morgens früh bis abends spät ein Gepolter zu hören.
Sie sagten nicht, ich gehe schwimmen, sondern ich gehe mich tunken.
Wir tunkten uns.
Sie marschierten auf dem Vácer Ufer über einen gründlich ausgetretenen Pfad durch Gras und Gestrüpp, dann ließen sie sich mit ein paar wenigen Schwimmstößen von der trägen Strömung zurückbringen. Dabei plauderten sie laut und geruhsam über die besonnte Wasseroberfläche hinweg; das Wasser trug ihre Stimmen weit.
Wir rinnen zurück, das war das Wort dafür.
Und doch war es Großvater, der mir an einem Winternachmittag das Mikadospielen beibrachte. Das war vielleicht das einzige Spiel, das ihn wirklich interessierte: die je nach Streifen gewerteten Stäbchen, den Mandarin, die Bonzen, die Samurai und die Kuli aus unseren Händen auseinanderfallen lassen, sie dann einzeln, mit Hilfe zweier anderer aus dem Haufen heben, sie ganz vorsichtig rollen, sie mit dem auf ihre Spitze gepressten Finger aufstellen, ohne dass es die anderen Stäbchen spürten, ohne dass sie sich verschoben, ohne dass die Veränderung sie auch nur erschütterte. Die Position des ins Auge gefassten Stäbchens zwischen den anderen nicht nur sehen, sondern gewissermaßen auch fühlen. Auf unsere Atmung achten, damit das Manöver ohne Erschütterung gelinge. Auch das hat er mir als Erster beigebracht, dass man die Luft zuerst hinauslassen muss, um den Atem problemlos anzuhalten. Tut man es mit voller Lunge, zittert die Hand vor Anstrengung. Diese Erfahrung kam mir anderthalb Jahrzehnte später zugute, als ich fotografieren lernte und mit der Handkamera ohne Stativ oder Stütze lange belichten musste.
Da kannte ich schon die Regel.
Auch das Dominospiel lernte ich von ihm. Also zwei stille Spiele.
Damit ich mich beruhigte, ertrug er eine Weile stumm auch das stillste der Spiele, mein Experimentieren mit seinen Adern. Ich hörte damit jeweils nur auf, weil ich seinen Widerwillen spürte.
Seine Haltung war gerade, aber auch wenn er saß, hielt er den Kopf gesenkt, bescheiden, fast verschämt, als wollte er dauernd signalisieren, nein, ich will niemandem über sein. Nicht einmal recht wollte er haben, und doch kann ich nicht behaupten, dass mein Großvater ein nachgiebiger Mensch gewesen sei; es war eher so, dass er unter seinem dicken, sorgfältig gestutzten Schnurrbart, hinter der Drahtbrille sich selbst zulächelte. Heute würde ich sagen, er lächelte ermutigend aus seiner Unerbittlichkeit heraus. Mit dem ausdauernden Lächeln festigte er seine Geduld, damit sie ihm nicht ausging. Er konnte wunderbar für sich auf dem Rücken liegen, im Gras, auf dem Bett, auf dem leicht feuchten Schotter des Ufers oder in der Hängematte im lockeren Schatten der Akazien und wassernahen Weiden und Espen von Göd oder Dömsöd. Ich beneidete ihn, versuchte ihn nachzuahmen, er hatte die Füße übereinandergeschlagen, seine Hände wie zum Gebet über der Brust verschränkt. Er machte immer den Eindruck, als sinne er leichthin, gewissermaßen schwebend gewichtigen Dingen nach, und da durften wir ihn nicht stören. Es vergingen fast fünfzig Jahre, bis ich mit einem Mal gewahr wurde, dass auch ich schon seit langem gern auf diese Art unter freiem Himmel liege. Über dem Sinnieren schlief er manchmal ein, auch ich schlafe manchmal ein, und wenn er länger so dalag, auf dem Gesicht das reine Lächeln, kam auch seine asthmatische Atmung zur Ruhe. Das ist vielleicht die schlichte Erklärung. Dass er am ehesten in dieser Position die ermüdende Atemnot vermeiden konnte. Er lächelte auch während der Arbeit, er nahm die Drahtbrille ab, ohne Brille wirkte sein Gesicht nackt, fremd, wehrlos; er beugte sich mit einer in die Augenhöhle geklemmten Lupe über die Arbeit oder mit einem noch stärkeren Vergrößerungsglas. Diese aus ihrem Etui herausklappbare, eine sechsfache Vergrößerung gewährleistende Rodenstock ist der einzige Gegenstand, den ich von ihm geerbt habe; er hatte eine ganze Serie davon. Er musste sich ja mit Teilen von Teilen beschäftigen, die für das bloße Auge unsichtbar waren. In unmittelbarer Nähe seines Kopfes flackerte und zischte eine einzelne, nadelspitze Gasflamme, ein Bunsenbrenner. Ich saß wahrscheinlich stundenlang in der Werkstatt seiner Schwester in der Holló-Straße, Rabenstraße, auf einem hohen Hocker neben ihm, sage ich jetzt, das mit den Stunden ist vielleicht nicht so sicher, bestimmt aber halbe Stunden, vierzig Minuten lang, bis mich jemand abholen kam. Die Großmutter kam, die Mutter meiner Mutter, Cecília Nussbaum, die von hier aus in die halb zerstörte Markthalle auf dem Klauzál-Platz ging. Ich weiß nicht, warum, ich weiß nicht, warum gerade dann, wenn sie doch sonst auf dem Markt auf dem Garay-Platz einkaufte. Dort waren ihre Marktfrau und ihre koschere Metzgerei. Aber an diesen städtischen Frühsommermorgen erinnere ich mich genau, an die nassgespritzten Straßen, an den vom Klauzál-Platz nach Hause geschleppten vollen Korb. Wie sie uns, und bestimmt auch sich selbst, das Drama der Korbschlepperei vorspielt. Oder mein Vater kam mich abholen, er arbeitete in der Nähe, im fünften Stock eines riesigen, sonnendurchfluteten Hauses; bis sie kamen, durfte ich zuschauen, auf welche Art mein Großvater Dinge herstellte. Und musste nur aufpassen, nicht vom Hocker zu fallen und nichts zu verschieben. In seinen kurzen, maschinengeschriebenen Erinnerungen war mein Vater bemüht, alles, aber auch alles über unsere tote Mutter aufzuschreiben, er schrieb es für seine beiden Söhne auf, bevor auch er ging; er muss es Monate zuvor beschlossen haben, gehen, diesen verschämten Ausdruck gebrauchte er in seinem weit im Voraus geschriebenen Abschiedsbrief, noch bevor ich gehe, aber mitten in einem Satz brechen die Aufzeichnungen plötzlich ab. Wahrscheinlich in dem Moment, als er beschloss, uns sozusagen mitzunehmen. Auch das war sein Wort, mitnehmen. Verzeiht, aber auch sie muss ich mitnehmen. Das schrieb er in seinem Abschiedsbrief, den er sehr viel früher verfasst haben muss als die krakeliger geschriebenen, für uns zwei bestimmten zusätzlichen Abschlusszeilen. Mit der geladenen Pistole in der Hand hatte er über meinem schlafenden Bruder gestanden und war unfähig gewesen abzudrücken. Das schrieb er dann zum Abschluss. Wenn er mit mir angefangen hätte, hätte er es vielleicht geschafft. Oder er brach seine Aufzeichnungen mitten im Satz ab, weil er eingesehen hatte, wie schwierig es ist, ein Porträt von jemandem zu verfertigen, der durchaus Wichtiges geleistet hat, während gerade solche unbeholfenen Verewigungsversuche seine Leistungen auf ein Maß schrumpfen lassen, das die Wirklichkeit noch untertreibt. Er wollte von unserer Mutter eine Heldensaga entwerfen, vielleicht in der Hoffnung, dass jemand die Saga eines Tages dann wirklich schreiben würde. Nur war den Familiengeboten gemäß jegliche Prahlerei untersagt, nur ja keine Helden- oder Opferpose. Höchstens in der Selbstdisziplin hatte man heroisch zu sein. Du tust, was du tust, und tust es nicht, damit jemand dankbar sei. Er wolle uns, schrieb er im Abschiedsbrief, niemandem aufhalsen. Aber wem und wozu schrieb er dann diese mäßig wichtigen Mitteilungen über seine tote Frau an seine beiden Söhne, Péter und Pál, die er ja mitnehmen musste, um niemanden mit ihrer Existenz zu belasten. In seinen Aufzeichnungen verschiebt er die Werkstatt meines Großvaters in die Dob-Straße, Trommelstraße.
Kann sein, dass sie früher, vor der Belagerung, tatsächlich dort gewesen war, in der Dob-Straße. Ich jedenfalls ging in den Jahren nach der Belagerung immer nur in die Holló-Straße. Soweit ich mich erinnere, gab es in der Dob-Straße die Werkstatt eines Silberschmieds, in der meine Großmutter als junges Mädchen als Schleiferin gearbeitet hatte. Gerade bei einem solchen unüblichen Gang zum Markt auf dem Klauzál-Platz hatte sie mir gezeigt, wo sie Großvater kennengelernt hatte. Beide Straßen lagen im dichtesten Dickicht der Stadt. Ich musste dann oft darüber nachdenken, wie es gewesen wäre, wenn meine Großmutter meinen Großvater nicht kennengelernt hätte, meine Mutter also nicht geboren worden wäre und meinen Vater nicht kennengelernt hätte, und was wohl dabei herausgekommen wäre. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich habe mein ganzes Leben lang fast immer über dieselben Dinge nachgedacht, viel ist dabei nicht herausgekommen, höchstens, dass mich das Denken als Denken nie verließ, sondern immer tiefere Furchen zog. Die Holló-Straße war eine enge, kurze, dunkle Straße, man sah den Himmel kaum. Vor ein paar Tagen machte ich hier eine Runde, um die Straße wiederzusehen und das Haus zu suchen. Sie ist gar nicht so eng. Gar nicht so dunkel. Ich hatte sie anders in Erinnerung, aber das Haus war bestimmt die Nummer eins, zumindest identifizierte ich in meiner Erinnerung am ehesten dieses Haus mit dem damaligen. Der Eingang zur Werkstatt ging nicht auf die Straße, sondern auf den Hof. Kaum war man eingetreten, ging in dem fensterlosen Raum die automatische Tür hinter einem zu. War sie einmal zu, konnte man nicht mehr hinaus, die Tür hatte innen keine Klinke. Was zum organischen Bestandteil meiner wiederkehrenden Albträume wurde. Man musste an einer anderen Tür klingeln, die ebenfalls keine Klinke hatte, durch deren Milchglas aber die friedliche Werkstatt vage sichtbar war. Leider erinnere ich mich nicht mehr, wie oft mich mein Großvater in die Holló-Straße mitnahm, zweimal, dreimal, öfter wahrscheinlich nicht. Schon das Wort überraschte mich, Holló, Rabe, die Straße war eine Überraschung, so viel ist sicher. Sie war mindestens ein Jahrhundert lang die Straße der Goldschmiede gewesen. Vorher hatte ich nicht gewusst, dass der Holló ein großer Vogel ist, mein Großvater erklärte es mir in seiner Werkstatt, ganz leise, er ahmte ihn nach, knarrte und krächzte, mimte ihn mit den Händen, erzählte von seinem schwarzen, glänzenden Gefieder, vielleicht deswegen war die Straße für mich jahrzehntelang dunkel, so hüpft er, auf dem Wappen des Königs Mátyás hält er einen Ring im Schnabel. Wir zeichneten ihn. Wir zeichneten seinen goldenen Ring. Wir zeichneten das Wappen des gerechten Königs Mátyás. Ich verstand nicht, was das heißt, gerechter König. Ich verstand überhaupt nur wenig. In der Werkstatt war es still, auch ich musste still sein. Nicht einmal flüstern. Wenn sie unbedingt etwas sagen mussten, sprachen sie gedämpft, drosselten das Volumen. So machten sie deutlich, dass sie nicht etwa voreinander etwas verschweigen, sondern zuvorkommend sein wollten. Ich nehme an, dass sie wegen der Wertsachen, die hier in Arbeit waren, keine Geheimnisse voreinander haben durften, dass alles vor den Augen und in Hörweite des anderen geschehen musste. Bestimmt war mangelndes Vertrauen ihr Schreckgespenst. Oder das unbegründete Vertrauen. Lautes Reden hätte das nicht ersetzt, sie mussten ja auf jede Bewegung achten. Kein lautes Wort durfte das Instrument in ihrer Hand verrutschen lassen. Sie arbeiteten zu viert, der Meister und seine drei Gehilfen, jeder über seinen Tisch gebeugt, alles Männer, nur die nadelspitzen Flammen zischten in der Stille. Die Werkstatt ging auf den Hof. Von dort drangen nur die stärkeren Töne herein. Teppichklopfen. Oder der Hauswart spritzte mit einem Schlauch den Hof ab, überschwemmte ihn geradezu, auf dem Gang im ersten Stock und im hinteren Treppenhaus jagten sich Kinder, eine Tür schlug zu, ein Fenster ging auf.
Mein Großvater flickte oder stellte winzige Gegenstände her, wohl die Bestandteile von Schmuck, abgebrochene Nadeln, Schnallen, kaputte Fassungen. Großvater arbeitete mit Schmuckstücken. Er weitete Ringe oder machte sie enger, er ersetzte die verlorenen oder herausgefallenen Edelsteine von Halsschmuck. Auch das war ein großes Wort, neue Wörter aus der Werkstatt; Schmuckstein, Fassung, Halsschmuck, Edelstein und vor allem Halbedelstein. Halbwahrheit. Zu Hause hörte ich das oft, Halbwahrheit, sie fuhren auch gleich mit ihrer Missbilligung auf diese Halbwahrheiten nieder. Und noch jahrzehntelang verstand ich nicht, was für eine Hälfte mit dem Wort gemeint war. Das da ist ein Edelstein, Diamant. Brilli. Ja, man sagt auch so, aber wir sagen nicht so. Großvater sagte trotzdem einmal Diamant, einmal Brilli. Er wird es ja wissen, er arbeitet damit. Das hingegen sind Halbedelsteine. Sie lagen in einer langen, mit Samt ausgeschlagenen Schatulle, wurden mit der Pinzette herausgeholt. Sie sahen gar nicht aus, als wären sie nur zur Hälfte echt und ihre andere Hälfte wäre falsch. Nicht die Hälfte ist wahr. Was aber nicht das Gleiche war wie Halbwahrheit. Sie sagten auch, die volle Wahrheit, auch das verstand ich nicht. Das war ein langes Wort, Halbedelstein, schön gegliedert durch die Vokale. Und dann die Fassung. Das klang für mich flach, war ein Flachwort. Seltsam war auch und erfüllte mich mit einem gewissen Misstrauen, dass nur die sichtbare Hälfte des Steins bearbeitet wurde, geschliffen oder poliert. Deswegen Halbedelstein. Der Stein wurde flach ins Wort eingepasst. Zuweilen stand einer auf, spazierte mit einem kleinen Tablett und so einem ganz kleinen Gegenstand darauf zu einem anderen hin, zeigte ihn ihm, der schaute ihn sich an oder legte ihn sich in die Hand, hob ihn vor die Lupe, die in sein Auge geklemmt war. Da konnten sie ganz sicher deutlich sehen, was an dem Stein edel und wo seine falsche Hälfte war. Auch darüber sprachen sie nicht viel, sie berieten sich stumm, verstanden sich mit kaum merklichen Bewegungen, einem Nicken, einzelnen Silben. Aber seltsamerweise erinnere ich mich nicht an diese Gehilfen, nur an ihre Plätze, an ihre Gesichter nicht, auch nicht an ihre Gestalt, nicht an ihr Alter. Ich erinnere mich an ihren physischen Ort in der Werkstatt beziehungsweise an die Lichtverhältnisse. In dem geräumigen Lokal war es ziemlich hell, die Fenster waren hoch, aber nur die oberen Scheiben durchsichtig, die anderen waren sogenanntes Mattglas, die Fensterlaibungen tief und bis zur Decke reichend; die riesigen Läden ließen sich aus der Laibung herausfälteln und bei zu direktem Sonneneinfall schließen, woraus ich folgere, dass es sich um ein dickwandiges klassizistisches Gebäude gehandelt haben muss.
Und so, auf den Spuren meiner Erinnerung, habe ich es denn auch gefunden. Es ist im zurückhaltenden, unerbittlich symmetrischen, klassizistischen Kasernenstil gebaut, wie er für die Pester Innenstadt typisch ist. Das ist die älteste Schicht der Pester Architektur, womit auch gesagt ist, dass Pest zu den neueren Städten gehört und sich schon deswegen vom alten, gotischen und barocken Buda absetzt. Meine eigentliche Geburtsstadt ist Pest.
Auf Drehgestellen brannten starke Glühbirnen unter Vergrößerungsgläsern, weniger über den Tischen als über den bearbeiteten Gegenständen, alle hatten dem natürlichen Licht den Rücken zugewandt. Mein Großvater arbeitete mit kleinen Instrumenten, kleinen Feilen, kleinen Messingwaagen, die von einer Glasglocke abgedeckt waren, damit nicht einmal der Staub auf ihren Tellern liegen blieb, diese Waagen standen an verschiedenen Punkten der Werkstatt, er arbeitete mit kleinen Pinzetten, kleinen Sägen, kleinen Schraubstöcken, kleinen Polierern, winzigen Tongefäßen, Gussformen, Tiegeln, verschiedenen großen Stielgefäßen, in denen er vom Kamin, der in der Tiefe der Werkstatt glühte, das geschmolzene Blei brachte, das Zink, die Edelmetalle, vielleicht auch Gold, ich weiß nicht, er arbeitete mit Zangen, einer ganzen Serie von Sticheln, er vernickelte, er machte mit Hilfe von Klemmen mit Holzgriff über der scharf zischenden Flamme Silberfäden und Goldfäden geschmeidig; er war Goldschmied. Damals gab es auch noch Silberschmiede, die stellten Geschirr her, Taufteller, die innen dann noch vergoldet wurden, Tabaksdosen, Saucenschüsseln, vollständige Besteckservices mitsamt dem ganzen Tischzubehör, wie man sich damals ausdrückte, und zu einem herrschaftlichen Haus gehörten in der Tat eine Menge Dinge, Kerzenhalter, Serviettenringe, Tabletts und ausgeklügelte Servierzangen, Tortenschaufeln, Bratengabeln, Etageren fürs Obst, Kannen, Salzbehälter, innen aus geschliffenem Kristall, einer fürs gewöhnliche Salz, ein anderer fürs Riechsalz, verschieden geformte Körbe aus Silbergeflecht für Brot und Backwaren, Aschenbecher, Löschhütchen und was der Dinge mehr waren. Mein Großvater, denke ich, lächelte vor sich hin, weil er an der Feinarbeit seine Freude hatte und auch, um die Anspannung der dauernden Konzentration zu lockern. Oder ich weiß nicht, aus welchen anderen Gründen, von welchen Gefühlen geleitet, er sich durch sein ganzes versunkenes Goldschmiedleben hindurchlächelte.
In der ganzen Stadt, im ganzen Land, im ganzen kaiserlich-königlichen Reich war es so Sitte. Fürs Sonntagsessen gab das Mittagsläuten das Zeichen. Die Suppe hatte heiß zu sein, zu dampfen. Den Usancen gemäß durfte der Hausherr nicht tolerieren, dass die Hausfrau die Suppe lauwarm auftrug. Bei meinen Großeltern mütterlicherseits wurde das Essen aufgetragen, bei den Großeltern väterlicherseits wurde es serviert. Es ist serviert. Zu Tisch. Wenn sie etwas in einer fremden Sprache sagten, erhielt es einen scherzhaften oder ironischen Klang. À table. Die Suppe meiner Großmutter dampfte, sie war heiß, wo aber war die von ihren Kronländern gezierte Doppelmonarchie mit den fremden Wörtern und den dazugehörigen rangmäßigen und sprachlichen Unterschieden. Verpufft. Die Hausherren hatten zwei Weltkriege verloren, waren in zwei Weltkriegen gefallen. Es gab keinen Menschen in der Stadt, der nicht jemanden oder etwas verloren hätte. Zur Zeit unserer Sonntagsessen stand die Stadt ausgeweidet, in sich zusammengesackt, in Trümmern um uns herum, sie rang mit ihren Lücken und Verlusten. Einmal krachte ein stark beschädigtes Haus mit allen seinen Stockwerken unter Getöse zusammen, irgendwo in der Nähe des Stadtwäldchens, ich erinnere mich an das Bild, an das typische, endlose Getöse des Einsturzes und, ja, an den Geruch, während mein Großvater und ich dahinspazierten, vielleicht auf der István-Straße, es war Friede, es war Sonntag, am Ende des Einsturzes war immer ein Klirren zu hören, die Menschen rannten kreischend aus den Häusern, und wir standen einfach da, vielleicht wollten wir ins Stadtwäldchen, doch dann sahen wir wegen des vielen Staubs auf der anderen Straßenseite nichts mehr. Vor dem Staub war da immer zuerst der Geruch des Einsturzes. Ich wusste das, alle, die in der Stadt die Belagerung mitgemacht haben, wissen das. Alle husteten, alle rannten davon. Am nächsten Tag kam es in der Zeitung. Am Samstag faltete die Großmutter die Zeitung auseinander, die Népszava, Volksstimme, sie zeigte darauf, hier steht’s, ich sag’s doch, es ist darin gekommen. So hieß das im Budapester Jargon. Handelte es sich um die Namen von Personen, wurden sie hineingenommen oder aufgenommen. Ich lebte lange in der Überzeugung, dass das immer so sein würde, jederzeit so sein konnte, Häuser stürzen ein, sie kommen als Nachricht in der Zeitung, kommen darin. Das ist die Ordnung der Dinge. Komm ja nicht in der Zeitung, Gott behüte. So geht es in der Welt um uns herum zu. Jetzt ist doch der Elemér in der Zeitung gekommen. Die Stümpfe der gesprengten Brücken ragen aus der Donau heraus. So ist mein Leben. Ich sehe sie als gestutzte Flügel eines gezausten Vogels, die kaputten Brücken auf dem damals entstandenen Foto, wobei ich damals weder an Vögel noch an gestutzte Flügel dachte. Ich dachte nicht an Vernichtung, sie war einfach die unmissverständliche Form der Existenz. Wie könnte eine Brücke anders sein. Das ist das Schicksal der Brücken. Das konnte man nicht so oder anders verstehen. Es gibt die, die sie sprengen, es gibt die, die sie bauen, das hatte ich begriffen, nach der Belagerung wurde ja die neue Brücke vor meiner Nase gebaut. Der eine Steinlöwe der Kettenbrücke lag noch jahrelang auf dem unteren Kai, auf den Trümmern des Brückenzollhauses und seines eigenen Postaments. Die Brückenzollhäuser wurden später nicht überall wieder aufgebaut, weder auf der Kettenbrücke noch auf der Margaretenbrücke, es war ja schon nach den Ersten Weltkrieg kein Zoll mehr erhoben worden.
Um nach Buda hinüberzugelangen, bauten die Pioniere der russischen Armee zuerst eine Pfahlbrücke, aber die wurde bald vom Eisgang mitgerissen. Noch im Frühling desselben Jahrs wurde unter endlosem Gedröhne eine Pontonbrücke gebaut, auf der gelangte man auf die Margareteninsel, über sie dann durch Matsch, Schlamm, Pfützen, durch alles, was die vor einem Gehenden zertrampelten, über zugefrorene Bombenkrater, am eingestürzten Zierbrunnen und an verstümmelt sterbenden Bäumen vorbei zum schmaleren Donau-Arm, dann über eine zweite Pontonbrücke nach Buda hinüber. Wenn es eine unendliche Ödnis gibt, dann war und bleibt für mich dieses kurze Wegstück das Unendliche und das Öde. In meiner Erinnerung heben sie mich nur selten auf den Arm. Das ist aber unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass das Gehen zu etwas allumfassend Natürlichem wurde. Alle marschierten, alle gingen. In meiner Erinnerung marschiere und marschiere ich, ohne Ende. Bestimmt hob mich meine Mutter auf den Arm, bestimmt ließ mich mein Vater auf den Schultern reiten, schon um nicht im Schneckentempo voranzukommen. Wir hatten zwar zwei Kinderwagen, den großen Wagen mit seinem Rollladen und meinen offenen Sportwagen, ich war auch stolz darauf, dass wir zwei hatten, keine Ahnung, warum, vielleicht sagten sie, ich solle stolz sein, andere haben nicht einmal einen, die armen Prolokinder, ich hingegen habe gleich zwei, aber auf dem wechselvollen Kriegsterrain waren die eher nur für Warentransporte geeignet.
Um die Atmosphäre der Zeit fühlbar zu machen, wie meine Tante Magda zehn Jahre später, im Februar 1955, schrieb, auf Aufforderung der Redakteurin der Irodalmi Újság, Literaturzeitung, und wie ich es aus ihrem datiert erhaltenen Manuskript zitiere, um zu zeigen, wie ein Erwachsener aus unserer Familie dieses allumfassende Gehen erlebte.
Wir gingen und gingen.
Wo hätten sie mich denn lassen sollen, bei wem, sie nahmen mich schon in den ersten Tagen nach der Belagerung mit, und überhaupt, alle waren auf der Straße, endlich, endlich, man konnte aus den Kellern heraufkommen, alle gingen, alle schleppten etwas.
Die Atmosphäre der Zeit, sagte ich vor mich hin, aber liebe Sarolta, wir konnten doch damals nicht die Atmosphäre aufnehmen, sondern mussten schauen, wo wir hintraten, während wir von der einen gerade entstehenden Frauengruppe zur anderen eilten, schreibt meine Tante, ich habe aber nie herausgefunden, wer diese Sarolta gewesen sein mag, vielleicht die Dichterin Sarolta Lányi, vielleicht hatte die sie zum Schreiben aufgefordert. Selbstverständlich gingen wir, mangels eines jeglichen Verkehrsmittels, zu Fuß. Man musste strikt vor sich auf den Boden schauen, um nicht unglücklich auf eine nicht explodierte Mine zu treten, um nicht in der Tiefe eines Bombenkraters zu verschwinden, um nicht über eine Leiche zu stolpern, über einen Tierkadaver oder auch über ein Klavier, ein aus einem Schießstand herausgekipptes Maschinengewehr, über eingestürzte Hauswände, über fremde Gegenstände, schreibt meine Tante, über nicht hierher passende Dinge, wie sie die einstigen Straßen der Trümmerstadt in dicker Schicht bedeckten und versperrten. Die tödliche Gefahr lauerte nicht nur unter unseren Füßen. Wir mussten verzweifelten Müttern, unterernährten Säuglingen, verlassenen Kindern beistehen. So war die Zeit, so ihre Atmosphäre, in die noch Schüsse platzten. Deutsche Einheiten hielten von Buda aus Pest unter Geschützfeuer, aber auch aus den Häusern von Pest wurde noch da und dort geschossen.
Die sowjetische Artillerie antwortete. Kamen wir den sowjetischen Stellungen zu nahe, begannen die Soldaten wütend zu schreien, was diese Weiber hier wollten.
Ich musste marschieren, die Hindernisse überwinden, mit ihnen nach Möglichkeit Schritt halten. Auch ich schaute vor mich auf den Boden, anderswohin konnte man nicht schauen, ich musste den Trümmerhaufen ausweichen. Meine Tante erinnerte sich vielleicht anders daran, aber in den Familienaufzeichnungen kann man nachlesen, dass uns unser erster Weg zum Tisza-Kálmán-Platz führte, sie und auch mich, und tatsächlich wurde Pest da noch von Buda aus beschossen. Meine Eltern hatten erfahren, dass der Sitz des Volksbundes auf dem Tisza-Kálmán-Platz von der Ungarischen Kommunistischen Partei besetzt worden war, wie und von wem sie es erfahren hatten, weiß ich nicht, sie versammeln sich dort, ihre seit einem Vierteljahrhundert illegale Partei wird sich dort legal neu formieren. Die Gruppe, in der wir marschierten, wurde immer größer. Aus der Damjanich-Straße kam Tante Magda mit uns, in ihrem Kaschmirturban, um die Schultern den unverzichtbaren Silberfuchs, und mein Onkel Pali kam, er in seinem pelzbesetzten Mantel und mit Fellmütze. Auf diesem Marsch saß ich auch auf seinen Schultern. Ich saß auch auf den Schultern von Lombos, die Lombos schlossen sich uns in der Rottenbiller-Straße an, ich saß auch auf den Schultern von Kerekes, dem bestaussehenden Mann unter ihnen, einem berühmten Arbeitersport-Geräteturner, der mir sehr imponierte, ein bisschen hinkte er, ich holperte auf seinen Schultern im Takt seiner Schritte mit. In meinen Träumen kehrt die Trümmerstadt häufig wieder, aber aufgrund der Träume könnte ich heute ihre Muster und Schauplätze nicht mehr benennen. Da ist zum Beispiel eine Újpester Gegend in meinem Kopf, ich habe mehrmals versucht, sie in Újpest, Neupest, wiederzufinden, aber dort gibt es nichts dergleichen, nicht einmal etwas Ähnliches. Es sind Traumorte, wie sie in meinem Bewusstsein aus der Erfahrung der Trümmerstadt entstanden sind. Daraus oder aus einem existierenden Wort entsteht der Ort, oder ein wirklicher Ort ist die Erklärung für ein unverständliches Wort. Müdigkeit spürte ich erst, wenn es vorbei war. Wir waren da. Wir waren dort. Wir waren angekommen. Jedes Mal war es plötzlich vorbei. Ich schlief in der Wärme übergangslos ein, manchmal im Stehen. Manchmal im Gehen. Richtig schön wurde das Einschlafen dadurch, dass sie es guthießen. Heute noch schlafe ich sofort ein. Von ihrer Freude umhüllt, kehrte ich in eine ätherische Ruhe zurück; der Traum belohnt den Körper für seine Müdigkeit, ergreift ihn, trägt ihn, nimmt ihn in Besitz und gibt ihm einen Schubs, um ihn mitsamt seinem Selbstgefühl in den schützenden Mutterschoß zurückgleiten zu lassen. Manchmal wachte ich auf der Fensterbank eines halb zerstörten, mit Brettern vernagelten Kaffeehauses auf, in der Tiefe dunkler kleiner Konditoreien, auf einem von Tabakrauch stinkenden Plüschkanapee, ein süßes Erwachen, ich wusste nicht, wie wir hierhergeraten waren und wo wir uns befanden in diesem großen Gesumme, unter so vielen lachenden und lebhaft gestikulierenden Frauen, sie gingen ja tatsächlich ihre Frauengruppen organisieren, und von da an gibt es in meiner Erinnerung nur lauter Frauen, während die rote Glut eines bauchigen Koksofens durch gewölbte Marienglasscheiben hindurchschimmert und mir ins Gesicht leuchtet, in dieser Wiedergeburt des Alltags nach der Belagerung.
Die Pfahlbrücke war die schönere gewesen, die, die vom Eisgang bald mitgerissen wurde. Überhaupt gefielen mir die Wörter, auf die wir stießen, der Eisgang tost, Zierbrunnen, der Eisgang machte wirklich einen tosenden Lärm, Fliegerangriff, Halsschmuck, Halbedelstein, Bombenkrater, Fassung, Pfahlbrücke. Mein Vater stand am Geländer des oberen Kais im kältefunkelnden Sonnenschein und erklärte ins scharfe Knirschen und Dröhnen der Eisschollen hinein, was geschieht, wenn der Fluss vereist oder wenn gesprengt wird, um das Eis endlich in Gang zu bringen, woher die Möwen kommen, anhand deren Bewegungen wir die Strömung beobachteten, wieso man in der Kälte den eigenen Atem sieht, was Temperatur ist, was Temperaturunterschiede mit dem Dunstgehalt der Luft tun, was Wasserdampf ist, wie ein Ponton entsteht, warum er obenauf schwimmt und warum unser Körper untergeht. Also, was heißt spezifisches Gewicht, was richtet der Unterschied zwischend den spezifischen Gewichten in der gravitationsgeplagten Welt an. Was heißt Volumen, was ist der Zusammenhang zwischen Gravitation und physikalischer Kraft, was ist das Geheimnis schwimmender Körper, welches sind die beiden Voraussetzungen, damit etwas über Wasser bleibt, und so weiter.
Für diese Erklärungen hatte er einen besonders leisen, einschmeichelnden Ton, der aber dem geistigen Niveau eines Drei- oder Vierjährigen bei weitem nicht angepasst war. Höchstens, dass er seine Mitteilungen skandierte, verlangsamte, gewissermaßen in verständliche Abschnitte aufteilte. Noch heute höre ich diese in eine höhere Tonlage gehobene und deswegen etwas unangenehme Stimme. Jahrzehnte später hörte ich vom Theaterkritiker Péter Molnár Gál zum ersten Mal den Ausdruck, jemand habe seine Stimme nicht am richtigen Ort. Der Sprechlehrer müsse die Stimme dieses Jemands in Ordnung bringen. Die Intonation der Erklärungen meines Vaters, jener meinem langsamen Auffassungsvermögen angepasste Satzrhythmus, hinterließ bei mir ein physisches Gefühl. Seine Stimme war nicht an ihrem Ort, wenn er dozierte. Zu der Zeit herrschten modern angehauchte Vorstellungen von Pädagogie, inspiriert von Imre Hermann und Emmi Pikler, denen gemäß man einem Kind alles so oft wie nötig erklären muss. Nie von oben herab, nie überheblich, aber auch ohne das intellektuelle Niveau hinunterzuschrauben. Es ist kein Idiot, kein Behinderter, dem wir etwas erklären, sondern ein Kind. Dass es das Phänomen oder den Vorgang in vollem Umfang oder in seiner ganzen Tiefe versteht, ist nicht so wichtig, wenn es sie nicht versteht, dann eben nicht, es wird sie irgendwann schon verstehen, oder nie verstehen, vielleicht missverstehen, das ist ganz gleichgültig, auch wir verstehen es ja nicht oder kaum, viel wichtiger ist das Vertrauen, das es uns und vor allem dem Wissen entgegenbringt. Die Erklärung muss korrekt sein. Selbst wenn sie über den Verstand des Kindes gehen, sollen die Kausalzusammenhänge transparent werden. Die Erklärung soll auf sicherem methodologischem Boden stehen. Wer was wann wo. Diese Fragenliste sagten sie auch auf, einfach so, separat, ohne Zusammenhang, und sie lachten dazu, es musste ein Privatwitz sein, und es war nicht das Einzige, das ich auswendig lernen musste; derselben rigorosen, ironisch verknappten Reihenfolge begegnete ich Jahrzehnte später in der Journalistenschule, als der alte Redakteur des Esti Hírlap, Abendnachrichten, Aladár Ritter, er war schon vor der Belagerung Redakteur der Est-Blätter, Abendblätter, gewesen, vor der Belagerung, nach der Belagerung, das war die Zeitengrenze, die notwendigen und unverzichtbaren Elemente einer Nachricht oder eines Berichts erklärte und dabei außer sich geriet. Wer in einem Bericht diese Fragen, wer, was, wann, wo, nicht beantwortet, wer auch nur eine einzige weglässt, der kann bei mir den Hut nehmen, der ist für mich ein Dilettant, eine Null, ein Niemand, der soll über gar nichts berichten, der soll sich eine andere Beschäftigung suchen, bei einer Zeitung hat er nichts verloren.
Offen zugeben, wenn man etwas nicht weiß. Und wie viel gibt es doch, das man nicht weiß. Auch von den dem Wissen zugänglichen Dingen weiß man kaum etwas. Das gehörte auch zu Vaters Prinzipien. Und wahrscheinlich merkte er nicht, dass er, im Bann der modernen Vorstellungen, seine Stimme von ihrem Ort hob.
Die Entwicklung meines Bruders Pali verfolgten sie mit Hilfe eines Tagebuchs, eines großformatigen Hefts mit karierten Seiten, sie widmeten seinen Bewegungen eine besondere Aufmerksamkeit, ließen ihn ohne Windeln frei strampeln, woraus ich nachträglich ersah, dass sie im Namen der modernen Vorstellungen auch schon mit mir so verfahren waren. Ja, sie waren Anhänger von Emmi Piklers Methoden der Säuglingsbetreuung. Überhaupt waren die Namen Pikler und Popper in der Familie in verschiedenen Zusammenhängen präsent, und es wurden auch noch weitere Piklers und Poppers erwähnt. Nicht nur Emmi, die unter dem Namen Emilie Madeleine Reich in Wien das Licht der Welt erblickt, Medizin studiert und auf der Universität einen ungarischen Mathematikstudenten kennengelernt hatte, ihren nachmaligen Ehemann György Pikler, Sohn eines georgistischen Soziologen und Galileisten, an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, in den unendlich fernen Zeiten vor der Belagerung, ein angesehenes Mitglied des Galilei-Kreises, der hochbedeutenden Budapester intellektuellen Vereinigung, dazu einer der gründlichsten theoretischen Vorbereiter der damals schon seit hundert Jahren brennend nötigen ungarischen Bodenreform, auch wenn von dem, was er in seiner Eigenschaft als hochangesehene Kapazität geplant hatte, gar nichts realisiert wurde.
Wenn sie etwas nicht wussten, antworteten beide, meine Mutter wie mein Vater, der agnostizistisch-modernistischen Manier entsprechend, ich werde dem nachgehen, es nachsehen, nachschlagen, es gab ja für alles eine rationale Erklärung, nur ja nicht ans Göttliche hinanreichen. Höchstens meine zum Nihilismus neigende Mutter sagte etwa, sie habe nicht die leiseste Ahnung, sie habe keinen bloßen Dunst, so sagte sie es. Beide Ausdrücke waren spielerisch, reine Stilübungen. Sie hätte auch blassen Dunst sagen können, aber sie sagte bloßen. Bei diesen ihren abweichenden sprachlichen Gesten spitzte ich immer die Ohren. Hier gab es also irgendwie ein Geheimnis. Oder sie beschimpfte mich zum Spaß, auch eine Gewohnheit von ihr, rief, sie sei doch kein Orakel. Es bedeutete, dass niemand allwissend ist, höchstens ein Budenzauberer. Ich werde dann das einschlägige Wissen suchen, werde es im großen weisen Lexikon nachschlagen, und das bedeutete, dass ausschließlich das Wissen zählte, die sachbezogene Bildung. Irgendwelchen Gerüchten, Vermutungen, Aberglauben gehen wir nicht auf den Leim. Oder sie sagte, ach, ich bitte dich, lassen wir das jetzt, lass mich in Ruhe mit deiner Fragerei, sei so gut. Wir haben nicht für alle Fragen Zeit. Alles können auch wir nicht wissen. Ich bin kein weiser Baba, du kannst ihn dann in Konstantinopel fragen. Konstantinopel wurde zur Stadt der Wunder, dort sagte einem der Baba alles. Nur wusste ich nicht, was ein Baba war und was er mit dem Baba au rhum zu tun hatte. Deine Frage läuft nicht davon, keine Angst, und wenn doch und sie dir morgen nicht mehr einfällt, dann war sie auch nicht mehr wert. Nichts war sie wert. Die ironische, selbstironische, skeptische, nihilistische Spitze dieser Verlautbarungen, Aufforderungen und Versprechen keilte sich in mir fest. Ich akzeptierte sie, weil ein Menschenkind von seiner Mutter ja so gut wie alles akzeptiert, aber ich war