Auf dass uns vergeben werde

Inhaltsverzeichnis

Für

 

 

 

 

»Möge

Wollen Sie mein Katastrophenrezept haben?

Das Warnsignal: letztes Jahr, Thanksgiving bei ihnen zu Hause. Zwanzig oder dreißig Leute saßen an den Tischen, die sich vom Esszimmer ins Wohnzimmer zogen und an der Klavierbank abrupt endeten. Er saß am Kopf der großen Tafel, pulte Truthahn aus den Zähnen und redete über sich. Ich beobachtete ihn die ganze Zeit, während ich Teller in die Küche brachte – und meine Finger in unsägliche Schmiere tauchten –, Cranberrysoße, Süßkartoffelbrei, eine kalte Perlzwiebel, Knorpel. Bei jedem Gang vom Esszimmer in die Küche hasste ich ihn mehr. Jede Sünde unserer Kindheit, angefangen mit seiner Geburt, kam wieder hoch. Er kam elf Monate nach mir auf die Welt, war zuerst kränklich, weil er unterwegs zu wenig Sauerstoff bekommen hatte, und kriegte viel zu viel Aufmerksamkeit. Und obwohl ich ihm wiederholt klarzumachen versuchte, wie abscheulich er war, benahm er sich bald, als hielte er sich für ein Gottesgeschenk. Sie gaben ihm den Namen George. Geo ließ er sich gern nennen, als wäre das etwas Cooles, Physikalisches, Mathematisches, Analytisches. Ich nannte ihn Geode – wie das Sedimentgestein. Sein übernatürliches Selbstbewusstsein, sein göttlich arrogantes, hocherhobenes Haupt, gekrönt mit blonden Strähnen, zog immer

Ich schleppte die schweren Teller und Platten, die mit Essensresten verklebten Töpfe nach draußen, und niemand merkte, dass Hilfe benötigt wurde – weder George noch seine beiden Kinder noch seine lachhaften Freunde, die in Wirklichkeit seine Angestellten waren, darunter eine Wetteransagerin und verschiedene Nachrichtensprecher und -sprecherinnen, die mit steifem Rückgrat und starr gesprayter Frisur wie Ken und Barbie dasaßen, noch auch meine chinesisch-amerikanische Frau Claire, die Truthahn nicht ausstehen kann und uns ständig daran erinnerte, dass es in ihrer Familie zum Fest gebratene Ente und Klebreis gab. Georges Frau Jane hatte den ganzen Tag geschuftet, gekocht, geputzt und aufgetragen, und jetzt schob sie Knochen und Reste in den riesigen Mülleimer.

Jane säuberte die Teller, stapelte schmutziges Geschirr aufeinander und warf das glitschige Tafelsilber ins dampfende Seifenwasser der Spüle. Sie warf mir einen Blick zu, wischte sich die Haare mit dem Handrücken aus dem Gesicht und lächelte. Ich ging noch mehr holen.

Ich schaute ihre Kinder an und stellte sie mir in der Kleidung der Pilgerväter vor, mit schwarzen Schnallenschuhen, bei den Verrichtungen der Pilgerkinder, Milcheimer schleppend, wie menschliche Ochsen. Nathaniel, zwölf, und Ashley, elf, saßen am Tisch wie Klopse, gekrümmt oder eher zusammengerollt, als hätte man sie auf die Stühle gegossen, buchstäblich ohne Rückgrat, die Augen auf ihre kleinen Bildschirme gerichtet, nur ihre Daumen in Bewegung – eine schrieb SMS an Freunde, die niemand je gesehen hat, der andere tötete digitalisierte Terroristen. Sie waren abwesende Kinder – geistig, seelisch und, abgesehen von den Ferien, auch körperlich weitgehend abwesend von ihrem

Im Hintergrund buhlten zwei Fernseher lautstark um Aufmerksamkeit – auf dem einen lief Football, auf dem anderen der Film Mighty Joe Young.

»Ich gehöre dem Sender, mit Leib und Seele«, sagt George. »Ich bin sein Unterhaltungschef. Das ist mir immer bewusst, 24/7.«

In jedem Zimmer steht ein Fernseher; tatsächlich erträgt es George nicht, allein zu sein, nicht mal im Badezimmer.

Genauso wenig erträgt er offenbar, wenn ihm sein Erfolg nicht ständig bestätigt wird. Seine Emmys – mehr als ein Dutzend – sind aus seinem Büro allmählich ins Haus gewandert, neben weiteren Auszeichnungen und lobenden Erwähnungen in geschliffenem Kristall. Jeder Preis feiert Georges Fähigkeit, populäre Kultur unter die Leute zu bringen, uns also unsere eigenen Schwächen zu verkaufen – mit ganz leichtem Spott, in den Formaten, die man gemeinhin Sitcom oder Nachrichtenshow nennt.

Die Truthahnplatte stand in der Mitte der Tafel. Ich griff meiner Frau über die Schulter und hob sie an – sie war schwer und schwankte. Mit schierer Willensanstrengung blieb ich stark und vollbrachte die Aufgabe, während ich gleichzeitig einen Topf mit Rosenkohl und Speck in der anderen Armbeuge balancierte.

Der Truthahn, von »alter Rasse«, was auch immer das heißt, war so lange massiert, entspannt, mit Kräutern besänftigt worden, bis er es für keine so schlechte Idee hielt, bei einem alljährlichen Ritual geköpft zu werden und Brotkrumen und Cranberrys in den Hintern gestopft zu kriegen. Der Vogel war auf ein bestimmtes Ziel hin gezüchtet worden, mit einem festen Datum, an dem seine Stunde schlagen würde.

Ich stand in der Küche und pulte an den Knochen herum, während

Der Nachtisch wurde serviert. Jane fragte, ob irgendjemand Kaffee wolle, und ging wieder in die Küche. Ich folgte ihr wie ein Hund, wollte mehr.

Sie ignorierte mich.

»Ignorierst du mich?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht, reichte mir dann den Kaffee. »Kannst du mir nicht ein kleines Vergnügen gönnen, das nur mir gehört?« Sie schwieg einen Augenblick. »Milch und Zucker?«

 

Von Thanksgiving bis Weihnachten und bis ins neue Jahr hinein konnte ich an nichts anderes denken als George und Jane beim Ficken. George auf ihr oder, aus besonderem Anlass, George unter ihr und einmal George, ganz fantastisch, der sie von hinten nahm – den Blick auf den Fernseher an der Wand gerichtet –, am unteren Bildschirmrand tröpfelte das Nachrichtenband vorbei. Ich musste unablässig daran denken. Ich war überzeugt, dass George trotz seiner Anziehungskraft, trotz seiner übermäßigen beruflichen Erfolge, nicht besonders gut im Bett war und dass er alles, was er über Sex wusste, aus einem Magazin hatte, das er heimlich beim Scheißen las. Ich dachte an meinen Bruder, der seine Frau fickt – ständig. Immer wenn ich Jane sah, bekam ich einen Ständer. Ich trug weite Bundfaltenhosen und zwei

 

Es ist fast acht Uhr an einem Abend Ende Februar, als Jane anruft. Claire ist noch im Büro; sie ist immer im Büro. Ein anderer Mann würde vermuten, seine Frau habe eine Affäre; ich glaube bloß, dass Claire klug ist.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagt Jane.

»Kein Problem«, sage ich, ehe ich noch weiß, was das Problem ist. Ich stelle mir vor, dass sie vom Küchentelefon anruft, dass sie das lange Spiralkabel um ihren Körper windet.

»Er ist auf der Polizeiwache.«

Ich schaue auf die Skyline New Yorks; unser Apartmenthaus ist hässlich, weißer Nachkriegsklinker, langweilig, aber wir wohnen weit oben, die Fenster sind breit, und wir haben eine kleine Terrasse, auf der wir früher immer unseren morgendlichen Toast eingenommen haben. »Hat er irgendwas angestellt?«

»Anscheinend«, sagt sie. »Sie wollen, dass ich ihn abhole. Kannst du das? Kannst du deinen Bruder abholen?«

»Kein Problem«, wiederhole ich mich.

Wenige Minuten später bin ich auf dem Weg von Manhattan in das kleine Dorf in Westchester, in dem George und Jane zu Hause sind. Ich rufe Claire aus dem Auto an; ihre Mailbox ist dran. »George hat irgendwelchen Ärger, ich muss ihn abholen und zu Jane nach Hause bringen. Ich habe schon zu Abend gegessen – ich habe dir was übrig gelassen, es steht im Kühlschrank. Rufe nachher mal an.«

 

Eine Schlägerei. Das denke ich auf dem Weg zur Polizeiwache. George ist das zuzutrauen: so eine Art nukleare Reaktion, die unter der Oberfläche bleibt, bis ihn irgendwas reizt und zum Ausbruch bringt, sodass er einen Tisch umwirft, mit der Faust durch die Wand haut oder … Mehr als einmal habe ich seinen Frust

 

Dreiunddreißig Minuten später parke ich vor einer kleinstädtischen Polizeiwache, ein weißer Schuhkarton, Baujahr etwa 1970. Drinnen finden sich ein Kalender mit großen Oberweiten, der eigentlich in einer Polizeiwache nichts zu suchen hat, und ein Glas Lutschbonbons sowie zwei Metallschreibtische, die sich anhören wie ein Autounfall, wenn man wie ich versehentlich dagegentritt, wobei ich eine leere Flasche Diätlimonade umstoße. »Ich bin der Bruder des Mannes, dessen Frau Sie angerufen haben«, verkünde ich. »Ich bin wegen George Silver hier.«

»Sie sind der Bruder?«

»Ja.«

»Wir haben seine Frau angerufen, sie kommt ihn abholen.«

»Sie hat mich angerufen, ich soll ihn nach Hause bringen.«

»Wir wollten ihn ins Krankenhaus bringen, aber er wollte nicht; er sagte immer wieder, er sei ein gefährlicher Mann, und wir sollten ihn in die Stadt bringen, ihn wegschließen und fertig. Ich persönlich glaube, der Mann braucht einen Arzt – so etwas steckt man nicht unversehrt weg.«

»Es gab also einen Streit?«

»Einen Autounfall; schwer. Er stand offenbar nicht unter Alkoholeinfluss, Atemtest war negativ, und er hat auch eine Urinprobe abgegeben, aber er sollte wirklich ärztlich untersucht werden.«

»Hatte er Schuld?«

»Hat eine rote Ampel überfahren und einen Minivan gerammt. Der Mann war sofort tot, die Frau beim Eintreffen der Rettungskräfte noch am Leben – auf dem Rücksitz, neben dem überlebenden

»Ihre Beine sind aus dem Wagen gefallen«, ruft jemand aus dem Hinterzimmer. »Der Zustand des Jungen ist gut. Er wird durchkommen«, sagt der jüngere Polizist. »Ihr Bruder ist hinten, ich hole ihn.«

»Wird meinem Bruder eine Straftat zur Last gelegt?«

»Im Augenblick nicht. Es wird natürlich eine umfassende Untersuchung geben. Die Kollegen haben festgestellt, dass er am Unfallort desorientiert wirkte. Bringen Sie ihn nach Hause, besorgen Sie ihm einen Arzt und einen Anwalt – so was kann sehr unangenehm werden.«

»Er will nicht rauskommen«, sagt der jüngere Polizist.

»Sag ihm, wir haben keinen Platz für ihn«, sagt der Ältere. »Sag ihm, bald kommen die richtigen Verbrecher, und wenn er jetzt nicht rauskommt, dann stecken sie ihm heute Nacht was ins Spundloch.«

George kommt heraus, derangiert. »Warum bist du hier?«, fragt er mich.

»Jane hat angerufen, und außerdem hattest du ja das Auto.«

»Sie hätte doch ein Taxi nehmen können.«

»Es ist schon spät.«

Ich geleite George über den kleinen Parkplatz in die Nacht, fühle mich veranlasst, seinen Arm zu nehmen, ihn am Ellbogen zu führen – ich weiß nicht genau, ob ich seine Flucht verhindern oder ihn nur stützen will. Jedenfalls reißt George sich nicht los, sondern lässt sich führen.

»Wo ist Jane?«

»Zu Hause.«

»Weiß sie Bescheid?«

Ich schüttele den Kopf.

»Es war furchtbar. Da war eine Ampel.«

»Hast du die Ampel gesehen?«

»Ich glaube, ich habe sie womöglich gesehen, aber irgendwie ergab sie keinen Sinn.«

»So

»So als wüsste ich es nicht.« Er steigt ein. »Wo ist Jane?«, fragt er erneut.

»Zu Hause«, wiederhole ich. »Schnall dich an.«

 

Als ich in die Auffahrt biege, strahlen die Scheinwerfer durchs Haus und erwischen Jane in der Küche, eine Kaffeekanne in der Hand.

»Alles okay bei dir?«, fragt sie, als wir drinnen sind.

»Wie das denn?«, fragt George zurück. Er leert seine Taschen auf die Küchenarbeitsfläche. Er zieht Schuhe, Socken, Hose, Boxershorts, Jacke, Hemd, Unterhemd aus und stopft alles in den Küchenmülleimer.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragt Jane.

George steht nackt in der Küche, den Kopf leicht geneigt, als lausche er.

»Kaffee?«, fragt sie erneut und hebt die Kanne.

Er antwortet nicht. Er geht von der Küche durchs Esszimmer ins Wohnzimmer und setzt sich dort – im Dunkeln – nackt in einen Sessel.

»Hatte er Streit?«, fragt Jane.

»Autounfall. Du solltest die Versicherung und euren Anwalt anrufen. Habt ihr einen Anwalt?«

»George, haben wir einen Anwalt?«

»Brauche ich einen?«, fragt er. »Wenn ja, ruf Rutkowsky an.«

»Irgendwas stimmt nicht mit ihm«, sagt Jane.

»Er hat Menschen umgebracht.«

Einen Moment herrscht Schweigen.

Sie schenkt George eine Tasse Kaffee ein und bringt sie ins Wohnzimmer, zusammen mit einem Geschirrhandtuch, das sie ihm über die Genitalien breitet, wie man eine Serviette auf den Schoß legt.

Das Telefon klingelt.

»Geh nicht ran«, sagt George.

»Hallo«, sagt sie.

»Tut

»Wer war das?«, frage ich.

»Freund der Familie«, sagt sie und meint eindeutig die Familie, die umgekommen ist.

Lange Zeit sitzt er im Sessel, das Geschirrhandtuch vorm Geschlechtsteil, die Kaffeetasse elegant auf dem Schoß. Unter ihm bildet sich eine Pfütze.

»George«, drängt Jane, als sie so etwas wie Wassertröpfeln hört, »dir passiert gerade ein Malheur.«

Tessie, die alte Hündin, steht von ihrem Lager auf, geht zu ihm und schnüffelt.

Jane hastet in die Küche und kommt mit einem Ballen Papiertücher zurück. »Das frisst den ganzen Lack vom Fußboden«, sagt sie.

Die ganze Zeit schaut George völlig ausdruckslos, wie die leere Haut, die ein Reptil gerade abgeworfen hat. Jane nimmt George die Kaffeetasse ab und reicht sie mir. Sie nimmt das nasse Geschirrhandtuch von seinem Schoß, hilft ihm hoch, wischt ihm dann mit den Papiertüchern die Beine hinten und den Arsch ab. »Komm, ich helfe dir nach oben.«

 

Ich schaue hinterher, wie sie die Treppe hochsteigen. Ich sehe den schlaffen Körper meines Bruders, seinen leicht hängenden Bauch, die Hüftknochen, das Becken, den flachen Hintern – alles so weiß, dass es im Dunkeln beinah leuchtet. Beim Hochgehen sehe ich unter seinem Hintern, zwischen den Beinen eingeklemmt, seinen tief hängenden rosavioletten Sack, der hin- und herschaukelt wie bei einem alten Löwen.

Ich setze mich auf ihre Couch. Wo ist meine Frau? Will Claire gar nicht wissen, was passiert ist? Fragt sie sich nicht, warum ich nicht zu Hause bin?

Das

Ich starre ins Dunkel, auf eine alte hölzerne Stammesmaske mit Hanfhaaren, mit einer Feder und mit primitiven Perlen besetzt. Ich starre das unbekannte Gesicht an, das Nate von einem Schüleraustausch nach Südafrika mitgebracht hat, und die Maske scheint meinen Blick zu erwidern, als sei sie belebt und wolle etwas sagen – sie verhöhnt mich mit ihrem Schweigen.

Ich hasse dieses Wohnzimmer. Ich hasse dieses Haus. Ich will nach Hause.

Ich schicke Claire eine erklärende SMS. Sie schreibt zurück: »Ich habe deine Abwesenheit ausgenutzt und bin immer noch im Büro; hört sich so an, als solltest du über Nacht dortbleiben, falls sich die Lage noch verschlimmert.«

Pflichtbewusst schlafe ich auf der Couch, eine kleine, stinkende Sofadecke über den Schultern. Tessie, die Hündin, legt sich zu mir und wärmt mir die Füße.

 

Morgens wird hektisch telefoniert und gedämpft gesprochen; eine Kopie des Unfallberichts kriecht aus dem Faxgerät. Wir werden George ins Krankenhaus bringen, und dort werden sie etwas suchen, irgendeine unsichtbare Erklärung, die ihn seiner Verantwortung enthebt.

»Werde ich taub, oder was ist hier los, verdammte Scheiße?«, will George wissen.

»George«, sagt Jane. »Wir müssen ins Krankenhaus. Pack deine Tasche.«

Das tut er.

Ich fahre sie. Er sitzt neben mir, hat eine abgetragene Cordhose und ein Flanellhemd an, das er schon seit fünfzehn Jahren besitzt. Er ist unregelmäßig rasiert.

Ich fahre sehr bewusst, mache mir Sorgen, dass seine zufriedene Laune umschlagen könnte, dass er zurückfällt in sein gestriges Verhalten,

»Simon Simpel sah den Bäcker Brot zum Markte führen. Simon Simpel sagt zum Bäcker: ›Lass mich doch probieren‹«, intoniert George. »Simon Simpel wollte angeln, viele große Wale; doch er hatte nicht mehr Wasser als in Mutters Schale. Sieh dich vor«, sagt er zu mir, »sonst kriegst du, worum du gebeten hast.«

 

In der Notaufnahme geht Jane mit ihren Versicherungsunterlagen und dem Polizeibericht zum Tresen und erklärt, dass ihr Mann am Abend zuvor in einen tödlichen Autounfall verwickelt war und am Unfallort desorientiert wirkte.

»So war es überhaupt nicht«, dröhnt George. »Der Scheißgeländewagen hing wie eine dicke weiße Wolke vor mir, ich konnte nicht drüber weggucken, nicht drumrum, ich musste einfach mittendurch wie durch billiges Weißblech, wie durch ein dickes Scheißkissen. Der Airbag hat mich zurückgehauen, mich gerammt, mir die Luft aus der Lunge gepresst, und als ich endlich rauskam, sah ich Leute im anderen Wagen, zusammengequetscht wie Lasagne. Der Junge auf dem Rücksitz hörte gar nicht auf zu weinen. Ich wollte ihm eine reinhauen, aber seine Mutter schaute mich an, die Augen platzten ihr fast aus dem Kopf.«

Während George redet, treten zwei große Männer von hinten an ihn heran. Er sieht sie nicht kommen. Sie packen ihn. Er ist stark und wehrt sich.

Das nächste Mal sehen wir George in einer kleinen Zelle am hinteren Ende der Notaufnahme, mit Armen und Beinen an eine Trage geschnallt.

»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«, fragt ihn ein Arzt.

»Ich habe schlecht gezielt«, sagt George.

»Erinnern Sie sich, was passiert ist?«

»Ich werde es wohl eher niemals vergessen. Ich bin etwa um halb sieben von der Arbeit weg und nach Hause gefahren, habe beschlossen, unterwegs einen Happen zu essen, was ich normalerweise

»Was redet er da?«, frage ich und überlege, ob ich durcheinander bin oder George komplett orientierungslos. »Das ist ganz und gar nicht passiert, das war nicht sein Unfall, vielleicht ein anderer, aber nicht seiner.«

»George«, sagt Jane, »ich habe den Polizeibericht gelesen – so war es überhaupt nicht. Denkst du gerade an irgendwas anderes? Was du geträumt hast oder im Fernsehen gesehen?«

George bietet keine Erklärung an.

»Irgendeine Vorgeschichte psychischer oder neurologischer Symptome?«, fragt der Arzt. Wir schütteln alle den Kopf. »Auf welchem Gebiet arbeiten Sie denn?«

»Recht«, sagt George. »Ich habe Jura studiert.«

»Bitte überlassen Sie ihn uns eine Weile. Wir werden ein paar Tests durchführen«, sagt der Arzt, »und dann reden wir weiter.«

Wieder übernachte ich bei Jane und George.

 

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Krankenhaus, überlege ich laut: »Ist das wohl der richtige Ort für ihn, eine Psycho-Station?«

»Wir sind hier in der Vorstadt«, sagt sie. »Wie gefährlich kann da wohl eine Psycho-Station sein?«

Er ist allein in seinem Zimmer.

»Guten Morgen«, sagt Jane.

»Ist

»Hattest du schon Frühstück?«, fragt sie, als sie das Tablett vor ihm sieht.

»Das ist Hundefutter«, sagt er. »Nimm es mit, für Tessie.«

»Du riechst aus dem Mund – hast du dir die Zähne geputzt?«, frage ich.

»Kriegt man die nicht geputzt?«, entgegnet George. »Ich war noch nie in einer Nervenklinik.«

»Das ist keine Nervenklinik«, sagt Jane. »Du bist bloß in der psychiatrischen Abteilung.«

»Ich kann nicht ins Bad«, sagt er. »Ich kann mich nicht im Spiegel ansehen – ich kann einfach nicht.« Allmählich klingt er hysterisch.

»Brauchst du meine Hilfe? Ich kann dir beim Frischmachen helfen«, sagt Jane und öffnet das Waschset, das sie ihm dagelassen haben.

»Lass sie das nicht machen«, sage ich. »Du bist doch kein Kleinkind – jetzt hör mal auf, dich wie ein Zombie aufzuführen.«

Er fängt an zu weinen. Der Ton, den ich ihm gegenüber anschlage, überrascht mich selbst. Ich gehe aus dem Zimmer und sehe, wie Jane Wasser auf einen Waschlappen laufen lässt.

 

Abends nach der Arbeit kommt Claire ins Krankenhaus und bringt für uns vier chinesisches Essen aus der Stadt mit. Für jemand chinesischer Abstammung ist Claire überraschend unkritisch, was chinesische Küche angeht – ihrer Meinung nach schmeckt alles gleich, alles Variationen desselben Themas. Wir machen es in der Mikrowelle heiß, auf der ein Aufkleber verkündet: »Für den Patientengebrauch – keine medizinischen Produkte«. Wir waschen uns die Hände mit dem Reinigungsschaum, der in Spendern in jedem Zimmer an der Wand hängt. Ich scheue mich, Sachen irgendwohin zu stellen, irgendwelche Oberflächen zu berühren – ich habe plötzlich Angst, ich könnte tödliche Keime zu mir nehmen. Ich schaue das chinesische Essen an und sehe einen Wurm, den ich Claire unauffällig zeige.

»Das

»Es ist eine Larve«, flüstere ich.

»Du bist verrückt.« Mit einer Gabel pult sie das Reiskorn heraus.

»Hat Reis etwa Augen?«, frage ich.

»Das ist Pfeffer«, sagt sie und wischt die Augen ab.

»Wo kommt das Essen her?«, frage ich.

»Von dem Laden auf der Third Avenue, den du immer gut fandst«, sagt sie.

»Den das Gesundheitsamt geschlossen hat?«, frage ich ziemlich alarmiert.

»Du hast ja eine große Reise vor dir.« Jane lenkt uns ab.

»Ich fliege für ein paar Tage nach China«, sagt Claire.

»Niemand reist bloß ›ein paar Tage‹ nach China«, grollt George.

Claire schon.

George verweigert das Essen und gestattet sich nur, den scharfen Senf direkt aus den Plastiktütchen zu saugen – Selbstgeißelung. Niemand hindert ihn daran. »Bleibt mehr für mich«, bin ich versucht zu sagen, lasse es aber.

»Wann fliegst du denn?«, fragt Jane.

»Morgen.«

Ich reiche George eine weitere Senftüte.

Später, als wir allein sind, fragt Claire mich, ob George und Jane eine Waffe besitzen. »Wenn nicht, sollten sie sich eine besorgen«, sagt sie.

»Was redest du denn da? Sie sollten sich eine Waffe besorgen? So kommt man ums Leben: Man holt sich eine Waffe, und dann wird man erschossen.«

»Ich will nur sagen, ich wäre nicht überrascht, wenn Jane eines Abends nach Hause kommt und die Familie der Leute, die George angefahren hat, auf sie wartet. Er hat ihr Leben zerstört, da werden sie Vergeltung wollen. Bleib bei ihr, lass sie nicht allein; Jane ist gefährdet«, sagt Claire. »Stell dir vor, es wäre dir passiert; solltest du den Verstand verlieren, würdest du dir nicht auch wünschen, dass jemand bei mir bleibt und auf das Haus aufpasst?«

»Wir

»Das stimmt. Wenn dir etwas zustößt, komme ich sehr gut zurecht, aber Jane ist nicht ich. Sie braucht jemanden. Außerdem solltest du den überlebenden Jungen besuchen. Der Anwalt wird dir davon abraten, aber tu es trotzdem – George und Jane müssen wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ich bin nicht umsonst für Asien verantwortlich«, sagt Claire. »Ich denke immer nach.« Sie tippt sich an die Schläfe. Denken. Denken. Denken.

 

Am nächsten Tag besuche ich also den Jungen, eher aus einem schlechten Familiengewissen, als um die unglaublichen Kosten einzuschätzen, den Jungen »wiederherzustellen«. Auf dem Weg gehe ich in den Geschenkladen, wo nur leuchtend bunte Nelken, religiöse Halsketten und Süßigkeiten zur Auswahl stehen. Ich nehme eine Schachtel Pralinen und einen Strauß himmelblauer Nelken. Der Junge liegt im selben Krankenhaus wie George, in der Kinderstation – zwei Stockwerke höher. Er sitzt im Bett und isst Eis, den Blick auf den Fernseher gerichtet – SpongeBob SquarePants. Er ist ungefähr neun Jahre alt, dicklich, hat zusammengewachsene Augenbrauen, die ihm ein »M« auf die Stirn schreiben. Sein linkes Auge ist blau unterlaufen, an der Seite des Kopfes ist ein großes Stück kahl rasiert, eine dicke lila Narbe liegt frei. Ich gebe meine Mitbringsel der Frau, die am Bett des Jungen sitzt und mir erzählt, dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht, dass immer jemand bei ihm ist, ein Verwandter oder eine Krankenschwester.

»An wie viel kann er sich erinnern?«, frage ich.

»An alles«, antwortet die Frau. »Sind Sie von der Versicherung?«

Ich nicke – ist ein Nicken schon eine Lüge?

»Hast du alles, was du brauchst?«, frage ich den Jungen.

Er antwortet nicht.

»Ich komme in ein paar Tagen wieder«, sage ich und will unbedingt weg. »Wenn dir irgendwas einfällt, lass es mich wissen.«

 

Komisch,

Der Unfall passiert, und dann passiert es. Nicht in der Nacht des Unfalls oder an dem Abend, als wir ihn alle besuchen. Sondern am Abend darauf, nachdem Claire mir gesagt hat, ich soll Jane nicht allein lassen, nachdem Claire nach China aufgebrochen ist. Claire geht auf Reisen, mit George geht es bergab, und dann passiert es. Was nie passieren sollte.

Der abendliche Besuch im Krankenhaus läuft schlecht. Aus unklaren Gründen wird George in ein gepolstertes Zimmer gesperrt, die Arme an den Körper gefesselt. Jane und ich schauen abwechselnd durch das kleine Fenster. Er sieht elend aus. Jane bittet, zu ihm hineingelassen zu werden, die Krankenschwester rät ihr davon ab, aber Jane besteht darauf. Sie geht zu ihm, ruft seinen Namen. George schaut zu ihr hoch; sie streicht ihm die Haare aus dem Gesicht, wischt ihm die zerfurchte Stirn ab; dann geht er auf sie los, drückt sie mit seinem Körper an die Wand und beißt sie, wieder und immer wieder, ins Gesicht, in den Hals, in die Hände, sodass sie an mehreren Stellen blutet. Die Pfleger stürmen hinein und reißen ihn von ihr weg. Jane wird nach unten gebracht und in der Notaufnahme behandelt; ihre Wunden werden gesäubert und verbunden, und sie bekommt irgendeine Spritze, wie eine Tollwutimpfung.

Wir fahren zu ihr nach Hause. Jane macht in der Mikrowelle Hundert-Kalorien-Brownies heiß, ich löffele fettfreies Eis drauf, sie sprüht kalorienfreie Sahne darüber, und ich muntere das Ganze mit ein paar Schokostreuseln auf. Wir essen schweigend.

Ich nehme sie in den Arm. Ich will sie trösten. Ich habe seinen Pyjama an, sie ist noch angezogen. Ich rechne nicht damit, dass irgendwas passiert. »Ich entschuldige mich«, sage ich, ohne richtig zu merken, was ich sage. Und dann presst sie sich an mich, steckt die Hände in ihren Rock und schiebt ihn nach unten. Sie zieht mich an sich.

Irgendwann hätte ich Claire fast erzählt, was an Thanksgiving geschehen war – tatsächlich habe ich sogar versucht, es ihr zu erzählen, eines Nachts nach dem Sex, als ich mich ihr besonders nah fühlte. Doch als ich mit der Geschichte anfing, setzte Claire sich kerzengerade hin und zog sich die Decke über, und dann schreckte ich vor dem zurück, was ich sagen wollte. Ich änderte es. Ich ließ den Kuss weg und erwähnte nur, dass Jane mich gestreift habe.

»Du standst ihr im Weg, sie wollte vorbei, das war kein Annäherungsversuch«, sagte Claire.

Ich ließ unerwähnt, wie meine Eichel an die Hüften meiner Schwägerin drückte, wie ihre Schenkel aneinandergepresst waren.

»Nur du würdest darauf kommen, dass sie dich anmachen will«, sagte Claire angewidert.

»Nur ich«, wiederholte ich. »Nur ich.«

Jane zieht mich an sich; ihre Hüften sind schmal. Meine Hand gleitet in ihren Slip. Ein neuer Dschungel. Sie seufzt. Wie sie sich anfühlt, diese ganz private Weichheit, das ist unglaublich. Und ich denke, das passiert doch nicht wirklich – oder?

Sie nimmt mich in den Mund; sie greift nach etwas, eine Art Creme, zuerst kalt, dann wird sie warm. Sie massiert mich und schaut mir dabei in die Augen. Dann nimmt sie mich wieder in den Mund, und es ist unmöglich, Nein zu sagen. Sie zieht mir den Pyjama unterm Hintern weg, rasch sitzt sie auf mir, reitet mich. Ich explodiere.

Ich bin in ihren Duft gehüllt, aber viel zu erschüttert, duschen zu

Jane fängt an zu weinen.

»Du siehst furchtbar aus«, sagt er. »Ruh dich mal aus.«

»Es waren aufreibende Tage«, sage ich.

An dem Abend machen wir ein Flasche Wein auf und tun es wieder, langsamer, bewusster, vorsätzlicher.

 

Das Krankenhaus lässt ihn raus, oder wahrscheinlicher: Er beschließt einfach zu gehen. Unerklärlicherweise kann er einfach mitten in der Nacht unbemerkt abhauen. Er kommt mit einem Taxi nach Hause, bezahlt mit Geld, dass er in der Hosentasche entdeckt hat. Er findet seinen Hausschlüssel nicht, also klingelt er, und der Hund bellt.

Das habe ich vielleicht gehört – das Hundebellen.

Vielleicht hat er auch gar nicht geklingelt, und vielleicht hat der Hund auch gar nicht gebellt. Vielleicht hat George den Ersatzschlüssel unter dem künstlichen Felsen neben der Haustür hervorgeholt und ist dann leise wie ein Eindringling ins eigene Haus geschlichen.

Vielleicht ist er nach oben gekommen und hat gedacht, er könne in sein eigenes Bett kriechen, aber dann war sein Platz besetzt. Ich weiß nicht, wie lange er da gestanden hat. Ich weiß nicht, wie lange er gewartet hat, ehe er die Lampe von ihrem Nachttisch genommen und auf ihren Kopf geschmettert hat.

Davon bin ich aufgewacht.

 

Sie

»Melde es«, sagt er.

Ich stehe vor ihm, in seinem Pyjama. Wir sind gleich, wie zwei Pantomimen, wir haben die gleichen Gesten, die gleichen Gesichter, das Familienkinn, die Stirn meines Vaters, die gleichen schlecht zusammenpassenden Persönlichkeiten. Ich starre ihn an und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ein verstörendes Gurgeln lässt mich nach dem Telefon greifen.

Versehentlich lasse ich das Telefon fallen. Ich bücke mich, um es aufzuheben, und der Fuß meines Bruders trifft mich unterm Kinn, er tritt mich heftig; mein Kopf fliegt nach hinten. Als er hinausgeht, liege ich immer noch am Boden. Ich sehe das Krankenhausnachthemd, das wie ein Schwanz aus seiner Hose hängt. Ich höre Georges schwere Schritte die Treppe hinuntergehen. Jane gibt erschreckende Geräusche von sich. Ich ziehe das Telefon zu mir und wähle die 0. Als wäre ich im Hotel, als könnte ich damit rechnen, dass sich jemand meldet. Ich höre eine lange Bandaufnahme, eine Art Essay darüber, was die »0«-Taste alles für einen tun kann, und mir wird klar, dass es ewig dauern wird, bis tatsächlich jemand rangeht. Ich lege wieder auf, und nach einigen zittrigen Versuchen wähle ich 911.

»Eine Frau ist zusammengeschlagen worden. Beeilen Sie sich«, sage ich und nenne die Adresse.

Ich richte mich mühsam auf, gehe ins Bad und hole einen Waschlappen, als könnte der irgendwie helfen, als könnte ich das Blut wegwischen. Ich finde nicht mal die Stelle; ihr Kopf ist ein einziger Brei aus Blut und Haaren und Knochen und Lampe, also halte ich bloß den Waschlappen in der Hand und warte.

 

Es

Ich weiß nicht, ob er die Tür öffnet oder ob sie sich selbst Zutritt verschafft haben.

»Oben«, rufe ich.

Rasch sind sie bei ihr. Einer steht abseits und redet, als würde er in ein Funkgerät sprechen. »Wir haben eine Frau mittleren Alters, offene Schädelverletzung, frei liegende Hirnmasse; lange Trage mitbringen, volles Beatmungsgerät, Notfallkoffer; Rettungskräfte und polizeiliche Unterstützung anfordern. Wer ist diese Frau?«, fragt der Sprecher.

»Jane. Die Frau meines Bruders.«

»Haben Sie einen Führerschein oder sonst ein Ausweispapier von ihr?«

»Ihre Handtasche ist unten.«

»Irgendwelche wichtigen medizinischen Informationen, Allergien, chronische Erkrankungen?«

»Hat Jane irgendwelche Gesundheitsprobleme?«, rufe ich nach unten.

»Eine Lampe hat sie am Kopf getroffen«, sagt mein Bruder.

»Sonst noch was?«

»Sie nimmt scheißviele Vitamine«, sagt George.

»Ist sie schwanger?«, fragt der Sprecher.

Allein die Frage macht mich schwach.

»Dürfte sie nicht«, sagt George, und ich kann nicht anders, als eine gewisse Schärfe herauszuhören.

»Stabilisiert den Hals«, sagt einer der Feuerwehrmänner.

»Es ist nicht der Hals, sondern der Kopf«, sage ich.

»Halten Sie Abstand«, sagt der Sprecher.

 

Die Rettungssanitäter kommen, schieben Jane eine orange Trage unter, schnallen sie mit Gurten fest, die wie Gaffertape aussehen, und

Jane stößt ein tiefes, kehliges Grollen aus, als fünf Männer sie hochheben und nach draußen tragen, wobei sie eine Spur von Sterilmüll und kräftigen Fußabdrücken hinterlassen. Als sie um die Ecke biegen, stoßen sie gegen das Treppengeländer, und es bricht mit einem Knacks. »’tschuldigung.« Schneller, als man glauben sollte, sind sie durch die Hintertür raus und im Rettungswagen verschwunden.

 

George trinkt in der Küche eine Tasse Kaffee. An seinen Händen klebt Blut, in seinem Gesicht hängen irgendwelche Krümel, Lampenstücke – Splitter. »Nicht auf dem Rasen parken«, sagt er zum ersten eintreffenden Polizisten. »Bitte informieren Sie Ihre Truppe.«

»Wer von Ihnen ist Mr Silver?«, fragt der Polizist. Ich nehme an, er ist Kommissar, weil er keine Uniform trägt.

Wir heben beide gleichzeitig die Hand: »Ich.«

»Kann ich mal Ihre Ausweise sehen?«

George tastet sich ab, als suche er danach, sein Krankenhaushemd flattert.

»Wir sind Brüder«, sage ich. »Ich bin der ältere.«

»Also – wer hat wem was getan?« Er hat sein Notizbuch herausgeholt.

George nippt an seinem Kaffee.

Ich sage nichts.

»Das ist doch keine komplizierte Frage; wir werden die Lampe sowieso nach Fingerabdrücken untersuchen. Ruß«, ruft der Kommissar. »Die volle Spurensicherung.« Er hustet. »Also – ist noch jemand zu Hause, irgendwer, nach dem wir suchen sollten? Wenn keiner von Ihnen ihr eins mit der Lampe übergezogen hat, ist die Person, die es getan hat, vielleicht noch im Haus, vielleicht findet sich noch ein weiteres Opfer.« Er macht eine Pause, wartet, dass jemand etwas sagt.

Das

Er wendet sich wieder uns zu. »Es ist Montagmorgen, und ich bin extra aufgestanden, um hierherzukommen. Meine Frau besorgt es mir jeden Montagmorgen, ganz ungefragt, sie möchte, dass ich gut gelaunt in die Woche starte. Ich bin also nicht gerade gut auf Sie zu sprechen.«

»Was denkst du dir eigentlich für ’ne verfickte Scheiße, du Scheißwichser«, spuckt George.

Zwei große Polizisten blockieren die Küchentür. Plötzlich gibt es keinen Ausweg mehr.

»Handschellen«, sagt der Kommissar.

»Ich habe gar nicht mit Ihnen geredet«, sagt George. »Sondern mit meinem Bruder.« George sieht mich an. »Und das ist mein Pyjama«, sagt er. »Jetzt hast du es also getan.«

»Diesmal werde ich dir nicht helfen können«, sage ich.

»Habe ich ein Verbrechen begangen?«, fragt George.

»Schwer zu sagen, was?«, sagt einer der Polizisten und legt ihm Handschellen an.

»Wo bringen Sie ihn hin?«, frage ich.

»Wo möchten Sie ihn denn am liebsten hinhaben?«

»Er war im Krankenhaus. Er muss gestern Nacht dort weg sein – sehen Sie das Krankenhaushemd unter seinen Sachen?«

»Er ist also abgehauen?«

Ich nicke.

»Und wie ist er nach Hause gekommen?«

»Weiß ich nicht.«

»Ich bin gelaufen, verfluchte Scheiße, im Scheißdunkeln. Muschilutscher.«

 

Der

»Kleidung«, sage ich und wedele mit meiner Pyjamahose – oder vielmehr Georges Pyjamahose.

Er geleitet mich nach oben ins Schlafzimmer, das aussieht, als sei eine Bombe eingeschlagen – die Lampe zerschmettert auf dem Boden, Blut, das Bett zerwühlt. Ich ziehe den Pyjama meines Bruders aus und leihe mir, ohne es zu kommentieren, Georges saubere Sachen, die noch im Plastiküberzug von der Reinigung an der Schranktür hängen.

»Lassen Sie die schmutzigen Kleider im Zimmer«, sagt der Polizist. »Man weiß nie, was eine Rolle spielen könnte.«

»Da haben Sie recht«, sage ich, und wir gehen wieder nach unten.

Als der Polizist mir nach unten folgt, habe ich das seltsame Gefühl, unter Verdacht zu stehen. Mir fällt auf, dass es schlau wäre, Georges Anwalt anzurufen und ihn auf den neusten Stand zu bringen, aber ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern. Außerdem frage ich mich, ob der Polizist mich beobachtet, ob ich mir Sorgen machen sollte, falsche Bewegungen zu machen, zu schnell nach irgendwas zu greifen und so weiter. Außerdem: Wie kann ich mich von ihm entfernen, um ungestört zu telefonieren?

»Ich glaube, ich stecke mal die Wäsche in den Trockner.«

»Moment«, sagt der Polizist. »Das können Sie auch später noch. Nasse Sachen bleiben nass.«

»Okay.« Ich setze mich an den Küchentisch und nehme wie nebenbei das Telefon in die Hand; ich gehe die gespeicherten Nummern durch und hoffe, der Name des Anwalts wird auftauchen und mir bekannt vorkommen. Bingo – Rutkowsky.

»In Ordnung, wenn ich telefoniere?«

»Ist Ihr Geld.«

»In Ordnung, wenn ich nach draußen gehe?«

Er

»Erreiche ich Sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt?«, frage ich, als der Anwalt Rutkowsky sich meldet.

»Wer ist denn da?«

»Silver, Harry Silver, der Bruder von George Silver.«

»Ich bin auf dem Weg ins Gericht«, sagt der Anwalt.

Ich stehe im Vorgarten, barfuß im nassen Gras. »Es gab bestimmte Entwicklungen.« Ich überlege. »George hat sich gestern aus dem Krankenhaus entfernt, und jetzt ist Jane verletzt worden, eine Lampe hat sie am Kopf getroffen. Die Polizei ist hier, sie warten auf die Spurensicherung, und …«

»Und warum sind Sie dort?«

»Ich wurde gebeten, Jane Gesellschaft zu leisten, während mein Bruder im Krankenhaus war.«

»Wo ist Jane jetzt?«

»Auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Und George?«

»Den haben sie ebenfalls mitgenommen.«

»Haben Sie den Eindruck, dass es sich um eine ernsthafte Straftat handelt?«

»Ja.«

»Wenn die Polizei kommt, folgen Sie den Leuten, selbst wenn man sie auffordert wegzugehen, gehen Sie überallhin, wo die hingehen. Erlauben Sie ihnen nicht, irgendwas zu bewegen, und wenn die Polizei Sie bittet, irgendwas anzufassen oder zu bewegen, stecken Sie die Hände in die Hosentaschen. Sie dürfen Fotos machen, sie können Sachen mit Pinzetten aufheben und in Plastiktüten stecken.«

»Die Nachbarn schauen aus den Fenstern her.«

»Wir treffen uns um 16 Uhr 30 im Haus; verändern Sie bis dahin nichts am Tatort.«

»Ich lege einen Schlüssel unter den künstlichen Felsen neben der Eingangstür, falls ich noch nicht wieder da bin.«

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Ins Krankenhaus.«

»Geben

Ich gebe ihm die Nummer, und er legt auf. Im Kopf höre ich Janes Stimme: »Kondome?«.

 

Ja. Und wo sind sie jetzt? Weg, benutzt, verbraucht, in den Küchenmülleimer geworfen, voll mit Sperma.

Ich gehe zurück ins Haus. »Was dagegen, wenn ich frischen Kaffee mache?«

»Ich werde Sie nicht davon abhalten«, sagt der Polizist. »War der Hund die ganze Zeit hier?« Er zeigt auf Tessie, die das Wasser von meinen Füßen leckt. Ihre Schüssel ist trocken.

»Das ist Tessie.«

Ich gebe dem Hund frisches Wasser und Trockenfutter.

Die Spurensicherung versammelt sich auf dem Rasen vorm Haus, sie breiten weiße Tyvek-Einteiler aus und steigen dann hinein, als wollten sie Gefahrgut bergen – inklusive Stiefel und Gummihandschuhen. »Also wirklich, ist nicht nötig«, sage ich. »Wir sind nicht ansteckend, und der Teppich ist sowieso hin.« Sie reagieren nicht. »Jemand Kaffee?«, frage ich und halte meinen Becher hoch. Normalerweise trinke ich keinen Kaffee, aber heute Morgen bin ich schon beim vierten Becher; ich habe meine Gründe. Wie angeordnet folge ich ihnen von Zimmer zu Zimmer. »Sie benutzen also Filme und Digitalfotos?«

»Ja«, sagt der Fotograf und knipst weiter.

»Das ist ja interessant. Und woher wissen Sie, was Sie fotografieren sollen?«

»Könnten Sie bitte zurücktreten, Sir.«

 

Ehe sie abziehen, zieht der Polizist noch sein Notizbuch aus der Tasche. »Ein paar Fragen noch, bevor ich gehe. Es gibt da einige Leerstellen, Löcher in der Geschichte.«

»Zum Beispiel?«

»Hatten Sie Sex mit ihr, als Ihr Bruder nach Hause kam?«

»Ich habe geschlafen.«

»Hatten Sie eine intime Beziehung zur Frau Ihres Bruders?«

»Ich

»Und Ihre Frau?«

»Die ist in China. Mein Frau hat selbst vorgeschlagen, dass ich bei meiner Schwägerin bleibe.«

»Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Ihrem Bruder beschreiben?«

»Eng. Ich weiß noch, wie sie dieses Haus gekauft haben; ich habe ihnen geholfen, Sachen auszusuchen – die Küchenfliesen. Nach dem Unfall habe ich Jane getröstet.«

Der Polizist klappt das Notizbuch zu. »Na gut, wir wissen ja, wo wir Sie finden.«

Als er geht, entdecke ich Janes Handtasche auf dem Tisch im Flur und durchsuche sie. Ich stecke ihr Handy ein, ihre Hausschlüssel und – unerklärlicherweise – ihren Lippenstift. Ehe ich den in die Hosentasche schiebe, drehe ich ihn auf und streiche mir »Sweet Fuchsia« über die Lippen.

 

Aus dem Auto rufe ich Claire in China an. »Es gab einen Unfall; Jane ist verletzt.«

»Soll ich morgen zurückkommen?«

In China ist morgen heute, und wo wir heute sind, ist dort morgen. »Bleib, wo du bist«, sage ich. »Das ist zu kompliziert.«

Warum ließ Claire mich so bereitwillig ziehen? Wieso trieb sie mich Jane in die Arme? Wollte sie mich testen? Vertraute sie mir wirklich so sehr?

»Ich fahre jetzt ins Krankenhaus und rufe wieder an, wenn ich mehr weiß.« Pause. »Wie läuft die Arbeit?«

»Gut. Ich fühle mich ein bisschen unwohl, ich habe was Seltsames gegessen.«

»Vielleicht einen Wurm?«

»Ruf mich später wieder an.«

 

Im Krankenhaus sagt man mir, Jane werde operiert und George liege immer noch in der Notaufnahme, hinten an einer Trage festgeschnallt.

»Du

»Was ist mit deinem Gesicht passiert?« Ich zeige auf eine Reihe frischer Stiche über seinem Auge.

»Nennen wir es ein Wiedersehensgeschenk.«

»Ich habe den Hund gefüttert und bin dageblieben, bis die Polizei fertig war, dann habe ich deinen Anwalt angerufen – er kommt später vorbei.«

»Sie wollen mich nicht wieder aufnehmen, weil ich ›weggelaufen bin‹. Dabei hat mir ja niemand erzählt, wie man hier auscheckt und dass man eine Erlaubnis braucht, um das Krankenhaus zu verlassen.«

Eine Putzkraft des Krankenhauses kommt vorbei, mit einem metallenen Wischmopp und Eimer.

»Ist er ansteckend?«

»Nein, bloß gewalttätig; kommen Sie rein«, sage ich.

Ein junger Arzt braust herein, mit einer riesigen Leuchtlupe. »Ich heiße Chin Chow, und ich will Ihnen was aus dem Gesicht zupfen.« Der Arzt beugt sich über ihn und pflückt ihm Splitter aus der Gesichtshaut. »Sie haben keine Titten«, sagt George zum Arzt.

»Und das ist auch gut so«, sagt Chin Chow.

Ich gehe ins Schwesternzimmer. »Mein Bruder hat eine Naht am Kopf – die war heute Morgen noch nicht da, als er das Haus verließ.«