Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel «Half Asleep in Frog Pajamas» bei Bantam Books, a division of Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc., New York.
Walter Hartmann übersetzte den ersten Teil, Pociao den zweiten.
Die Übersetzer danken dem Erfinder des Faxgeräts und Joe Eddy Brown aus Illinois für ihre tatkräftige Hilfe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2014
Copyright © 1998 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Half Asleep in Frog Pajamas» Copyright © 1994 by Tom Robbins
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther/Walter Hellmann
Umschlagabbildung Claudia Reinhardt
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-499-22442-3 (4. Auflage 2007)
ISBN E-Book 978-3-644-03251-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-03251-4
Für Maestro Rudolpho.
Für unseren Mann im Nirwana.
Und für die «Fakultät auf Visite».
Es wurde nachgewiesen, dass manche Amphibien in der Lage sind, Himmelskörper zur Orientierung zu benutzen.
The Encyclopaedia Britannica
Ohne Zweifel ist die Welt eine vollkommen imaginäre, aber eng verwandt mit der wirklichen Welt.
Isaac Bashevis Singer
Donnerstagabend
5. April
•••—
16:00 —•••–• Der Tag, an dem der Aktienmarkt aus dem Bett fällt und sich das Genick bricht, ist der schlimmste Tag deines Lebens. Zumindest kommt es dir so vor. Es ist zwar nicht wirklich der schlimmste Tag deines Lebens, aber du hast ganz den Eindruck. Und wenn du diesen Eindruck in Worte fasst, geschieht es mit voller Überzeugung und einem Minimum an rhetorischem Zierrat.
«Das ist der schlimmste Tag meines Lebens», sagst du, lässt eine gesalzene Erdnuss in deinen doppelten Martini plumpsen – an besseren Tagen trinkst du Weißwein – und schaust zu, wie sie nach unten sinkt. Sie trudelt abwärts, träger und graziöser als deine abstürzenden Anlagewerte, und die hübschen kleinen Ginbläschen, die rings an der Nuss haften, stehen im deutlichen Kontrast zu den Klumpen und Kletten und stachligen Dingern, die sich an dein Herz heften.
Ungefähr vier Stunden sind vergangen, seit die Kurse in den Keller fielen, und das erschütterte, bisweilen hysterische Stimmengewirr, das noch am frühen Nachmittag im Bull & Bear herrschte, beginnt einer gedämpfteren Geräuschkulisse raffinierter Überlebensstrategien und zynischer Witzchen zu weichen. Du beteiligst dich weder an den verzweifelt ausgeheckten Schachzügen noch an der falschen Heiterkeit. Du hältst deinen vorzeitig ergrauten Kopf in den Händen und sagst zum zweiten Mal: «Das ist der schlimmste Tag meines Lebens.»
«Ach was, Mädchen», meint Phil Craddock. «Der Markt erholt sich schon wieder.»
«Der Markt erholt sich vielleicht wieder. Aber ich nicht. Ich hab meine Kunden so tief ins kalte Wasser fallen lassen, dass sie zum Atmen Kiemen brauchen.» Du schluckst einen Feuerball aus dem Martiniglas. «Und Posner weiß das auch. Als er nach Börsenschluss in der Lobby an mir vorbeirauschte, fragte er mich, ob ich nicht fände, dass Krankenpflege eine noble Tätigkeit sei.»
«Vielleicht hat er ja sich selbst gemeint.»
Du lachst, auch wenn dir nicht danach zumute ist. «Posner und Bettschüsseln ausleeren? Eher tritt der Papst in einem Porno auf. Nee, Phil, was mir der Alte damit sagen wollte, ist: ‹Stoß deinen Porsche ab, Baby, und stell dich für die Lebensmittelmarken an.› Wenn bis Montag kein Wunder geschieht, bin ich Hundefutter.»
«Bis Montag sind es noch vier Tage.»
«Danke, dass du mich daran erinnerst. Ein freier Tag zusätzlich, um sich die Haare zu raufen. Nun, als Tag für Hinrichtungen ist der Karfreitag ja berühmt.»
«Immer mit der Ruhe, Süße», sagt Phil. «Jetzt wird’s Zeit für den kugelsicheren BH.»
Bei der Anspielung auf ein so intimes Wäschestück wirst du prompt rot. Einen Scherz über Pornos zu machen war völlig okay für dich, weil du noch nie einen gesehen hast; Pornos existieren nicht in deiner Welt. Doch wenn dir ein Mann, selbst einer wie Phil Craddock, in die Augen schaut und von persönlichen, ja privaten und etwas anzüglichen Dingen spricht, dann malt dir deine unvermeidliche Nervosität so dicke Pigmentkleckse auf die olivfarbenen Wangen, dass man einen Martini damit garnieren könnte – in diesem Fall den dritten für heute, lauter doppelte –, und sobald du es zu unterdrücken versuchst, schießt dir das Rot umso heftiger in die Wangen. Dass du dazu neigst, beim geringsten Anlass vor Scham zu erröten, ist eins von etlichen Dingen, die du an deinem Los auf dieser Welt als lästig empfindest, und ein weiteres Beispiel dafür, wie gern dir die Parzen in die Consommé spucken. Ein weiteres ist dein Gesellschafter hier am Tisch.
Phil Craddock handelt mit Sojabohnen und Schweinebäuchen und erweckt – abgesehen von dem locker gebundenen Schlips – den Eindruck, als würde er die auch auf seiner Farm produzieren. Wenn man es recht bedenkt, passt diese Krawatte tatsächlich zu einem Farmer, eine chronisch unmodische Sorte Schlips, wie man sie beim ländlichen Kirchgang trägt, derb und rustikal, und die Spitze hat sich ein bisschen nach oben gebogen. (Nur ein Mensch im Bull & Bear ist schlampiger gekleidet als Phil, und zwar der Mann, den Ann Louise, deine Tischgenossin neben Phil, schon die ganze Zeit anstarrt.) Eigentlich ist Phil ein freundlicher und rücksichtsvoller Mensch, aber das nervt dich erst recht, weil es dich an den nervtötenden Belford Dunn erinnert, deinen angeblichen Boyfriend. Phil und Belford sind sich wirklich sehr ähnlich, bloß dass Belford zehn Jahre jünger ist und man sich natürlich kaum vorstellen könnte, dass Phil seine Wohnung mit einem wiedergeborenen Affen teilt.
Was Ann Louise betrifft, die kennst du nicht näher. Sie hat vor etwa sechs Monaten bei Posner, Lampard, McEvoy & Jacobsen angefangen und kam aus New York, wo sie sich einen Namen als risikofreudige Brokerin machte, Gerüchten zufolge einer hemmungslosen Vorliebe für Analsex frönte und es praktisch mit jedem großen Tier an der Wall Street trieb, darunter ein paar, deren Namen wirklich jeder kennt. Ann Louise ist mittleren Alters, untersetzt, aber nicht unattraktiv, und du hast den Verdacht, dass du einiges von ihr lernen könntest – in geschäftlichen Dingen –, doch Ann Louise ist wer und hat von deiner Anwesenheit ohnehin kaum Notiz genommen, weil sie die letzte halbe Stunde damit zubrachte, auf den Rücken dieses langmähnigen Fremdlings zu starren (das heißt, dir ist er fremd), der da an der Bar Hof zu halten scheint. Du hast nicht den geeigneten Blickwinkel und die nötige Sehschärfe, um ihn dir genauer anzuschauen.
Jedenfalls ist es kein Wunder, dass du dich grämst. Warum musstest du – bei all den Wertpapierhändlern, Managern und Investmentbankern hier im Bull & Bear, mit denen du in diesem kritischen, sogar historischen Moment mental Händchen halten, vor denen du die Jammeroper deiner persönlichen Niederlage aufführen könntest – ausgerechnet bei diesen zwei … Parias am Tisch landen? Es ist nicht fair, wenn auch nicht untypisch, eine mitten auf deine Wunde gepappte Schmähung und, wie du findest, ein weiterer Beleg dafür, dass dies der schlimmste Tag deines Lebens ist.
Schlimmster Tag? Gwendolyn, du vergisst offenbar den Tag – wie lang ist es her, acht Jahre? –, als dir mit gleicher Post von Stanford, Harvard, Yale und der Wharton School of Business der Uni von Pennsylvania die Ablehnung deiner Bewerbung zum Studium zugestellt wurde; alles am gleichen Tag im Briefkasten, bei all deinen Top-Adressen abgeblitzt, du als Angehörige einer ethnischen Minderheit, und das zu einem Zeitpunkt, wo solche Institutionen in ihrem unbeholfenen, konfusen Bestreben, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu kompensieren, und in ihrer fast panischen Eile, als soziologisch korrekt dazustehen, sich schier umbrachten, Leute deines Schlags in ihrer Mitte aufzunehmen.
Dein schlimmster Tag? Es gehört bestimmt mehr dazu als der freie Fall des Aktienmarkts mit dir in den Armen, um den Tag zu überbieten, als deine Mutter ein allerletztes Sonett in ihr lavendelblaues Notizbuch kritzelte und den Kopf in die Backröhre steckte.
Dein schlimmster Tag? Du bist gerade mal neunundzwanzig. Es wird andere Tage geben, andere Katastrophen. Vielleicht schon in nächster Zukunft. In der Tat könnte sich da bereits in diesem Augenblick etwas zusammenbrauen, etwas, das mit dem wiedergeborenen Affen zu tun hat, wenn nicht gar von ihm selbst ausgelöst wurde.
16:50 —•••–• Das im stehengebliebenen Herzen von Seattles Finanzviertel gelegene Bear & Bull Restaurant & Lounge ist ein patriarchalisches Etablissement alter Schule mit ornamentalen Zinkdecken, dunkler Holztäfelung und Durchgängen, deren kastanienbraune Samttapete mit Reihen stilisierter goldener Lilienblüten getüpfelt ist, in denen manche Stammgäste nach einigen Cocktails gern mutierte Dollarzeichen erblicken, glänzende, knackige und – wie sie hoffen – prophetische Währungssymbole. Freitagnachmittags ist die Bar des Bear & Bull stets bevölkert von lärmenden «bookies», wie sie sich selber nennen, die am Ende einer stressigen Woche ein bisschen von einem stressigen Job entspannen, doch an diesem «Freitag», der in Wirklichkeit ein Donnerstag ist, hat sich die Zahl der Trinker nahezu verdoppelt – und nichts deutet darauf hin, dass es weniger werden. In der Tat werden viele der Broker im Bull & Bear ausharren, bis man sie um zwei Uhr früh an die Luft setzt. Es geht nicht allein darum, Alkohol auf die Wunden zu gießen, es ist nicht bloß der Unwille, heimzufahren und der Familie ins Auge zu blicken. Es gibt praktische Gründe. Jeder sitzt wie auf heißen Kohlen (oder spitzen Lilien) und wartet auf die Reaktion der Auslandsmärkte. Dann und nur dann wird sich zeigen, ob dieser Sturz wirklich einer in den Keller ist, der tödliche Crash, jene Apokalypse der Finanzwelt, die ein für alle Mal klarmacht, dass «Broker» von «broke», also «pleite», kommt, und die den Vereinigten Staaten von Amerika in der weltökonomischen Rangliste einen Platz zwischen Portugal und der Mongolei bescheren wird.
Aus diesem Grund sind alle Augen auf Tokio gerichtet, wo – bedingt durch sechzehn Stunden Zeitunterschied, internationale Datumsgrenze und Sommerzeit – der Nikkei-Index in diesem Moment gerade dabei ist, Feuer unter dem Wasserkessel seines Morgentees zu machen. Jede Maklerfirma in der City von Seattle hat einen Scout oder zwei im Büro sitzen, die das Telex im Auge behalten, und den ganzen Abend über werden die Späher den letzten Lagebericht in Sachen Nikkei telefonisch ins Bull & Bear melden oder ihn zuweilen gar persönlich überbringen. In Europa ist bereits Karfreitag, dort hatten die Märkte schon lange geschlossen, bevor sich abzeichnete, wie gewaltig in den USA der Misthaufen dampfte, und sie werden auch erst Sonntagnacht, Seattle-Zeit, wieder öffnen.
Als ein Barmann ruft: «Gwen Mati! Telefon für Gwen Mati!», wird es kurz still im Raum. Ob es die erste Meldung von der Front ist? Während du deinen Stuhl zurückschiebst und aufstehst, starren dich die Leute von Merrill Lynch, Prudential Securities und anderen prominenten Firmen gespannt, beinahe eifersüchtig an, ohne dabei zu vergessen, dass du, wenn du wirklich ein Ass wärst, dein eigenes Handy neben dem Martiniglas liegen hättest. Deine Kollegen bei Posner, McEvoy & Jacobsen machen sich keine Illusionen über deine Bedeutsamkeit, aber weil sie deinen Ehrgeiz kennen, halten sie kurz im Gespräch inne und fragen sich im Stillen, ob du womöglich den Scout im Büro bestochen hast, damit er dich statt Posner anruft, wenn er die ersten Notierungen aus Tokio durchgibt.
«Hier!», rufst du und winkst mit beiden Armen. Das Telefon hängt an der Wand am anderen Ende der Bar, und du machst dich auf den Weg dorthin, schlängelst dich behutsam durch den Mob. Sobald du außer Hörweite bist, eine Sache von wenigen Zentimetern, dreht sich Ann Louise zu Phil hin und sagt: «Dieses Girl ist in der Branche erledigt.»
«Wie kommst du darauf? Hast du irgendwas läuten hören?»
«Sagen wir mal, ich hab da so ein untrügliches Gefühl im Hosenboden.» Ann Louise setzt ein laszives Grinsen auf.
Du arbeitest dich voran, nimmst hin und wieder einen Ellbogenstoß an die Brust in Kauf, eine ins Gesicht geblasene Wolke Zigarettenqualm. Trunkenheit nimmt überhand. Gläser schwappen über. Gehen zu Bruch. Bekenntnisse werden ausgetauscht. Kokain – wann hast du in diesem Milieu zum letzten Mal Kokain gesehen? – wird geschnupft. Broker schäkern ungeniert mit ihrer Assistentin, Manager streicheln die Schenkel ihrer Sekretärin. Es ist wie bei einem jähen Kriegsausbruch, wenn alle gesellschaftlichen Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Als du dich am Tisch vorbeiquetschst, an dem Sol, der Chefanalytiker deiner Firma, sitzt, schenkt er dir ein schwaches, wehmütiges Lächeln und sagt: «Après nous le déluge. Der Spaß ist vorbei, mon amie.» Du tätschelst ihm die Schulter und schiebst dich weiter, doch während du dich dem Telefon näherst, hörst du, wie er hinter dir wiederholt: «Der Spaß ist vorbei.»
Du greifst nach dem Hörer. Es wird keiner aus dem Büro dran sein, keine exklusive Blitzmeldung vom Nikkei-Telex. Vielmehr wird es Q-Jo Huffington sein, deine angeblich beste Freundin, die dich anruft und dir mitteilen will, dass sie im Virginia Inn auf dich wartet. Dass Q-Jo auf dich wartet, ist dir bewusst. Du hattest dich um halb fünf mit ihr in dieser Künstlerkneipe verabredet, unter deren Boheme-Publikum Q-Jo sich wie zu Hause fühlt. Dir gefällt es dort nicht so besonders, weil es dich an deine angeblichen Eltern erinnert und genau die Sorte Kneipe ist, in die sie gegangen wären, was aber immer noch besser ist, als Q-Jo mit ihren 300 peinlichen Pfund Lebendgewicht hier ins Bull & Bear kommen zu lassen. Ihre Ungeduld nervt dich. Erwartet sie allen Ernstes, dass du an einem Tag wie diesem deine Verabredung einhältst? Das würde sie wohl kaum, wenn sie die Nachrichten gehört hätte, doch leider ist die Musik der Sphären das Einzige, dem Q-Jo zu lauschen pflegt.
«Hallo», bellst du so ruppig in den Hörer, wie es deine zuckersüße kleine Schulmädchenstimme zulässt. Die Stimme am anderen Ende gehört Belford Dunn, deinem angeblichen Beau. «Auweia, Schatz», sagt er, «tut mir ja leid, dich an diesem furchtbaren Tag mit so was zu nerven» – Belford hat also die Nachrichten gehört –, «aber André ist weg. Er ist entlaufen!»
Belford ist praktisch am Heulen. Trotzdem löst das bei dir eher Ärger als Mitgefühl aus. Soll er doch selber zusehen, wie er klarkommt! Deine Karriere fährt wie ein geölter Blitz zur Hölle, die komplette amerikanische Wirtschaft geht zum Teufel, und Belford jammert und heult wegen seines entlaufenen Haustiers. Andererseits ist André kein gewöhnliches Haustier. André ist ein Affe mit Vergangenheit.
Und er ist nicht entlaufen, sondern regelrecht ausgebrochen.
«Belford, bitte», hörst du dich flehen. Irgendwie hat der Alkohol dich gerade genug von deiner Stimme distanziert, dass du ihr zuhören kannst, als ob sie vom Tonband käme. Trotzdem bist du nicht vollkommen objektiv. Nichts an dir stört dich so furchtbar wie deine Stimme. Genau so, findest du, würde eine Packung Ferrero-Küsschen klingen, wenn eine Packung Ferrero-Küsschen sprechen könnte. Q-Jo hingegen behauptet, deine Stimme sei deine einzige seligmachende Gnade. Sie ist der Meinung, du bist die einzige ihr bekannte Karrierefrau, die nicht mit zusammengebissenen Zähnen redet. Du erklärst ihr, dass Geschäftsfrauen eine gewisse Schroffheit in der Sprache an den Tag legen müssen, wenn sie mit den Männern mithalten wollen. Und wenn deine Stimme so lebhaft und warm und verletzlich klingt, wie Q-Jo behauptet, dann nur deshalb, weil es dir nie gelang, das zu ändern. Du hast mal angefangen zu rauchen, in der Hoffnung, davon eine tiefere Stimme zu kriegen, aber von den Zigaretten wurde dir immer nur schlecht. Was Q-Jo als sexy empfindet, ist für dich quieksig. Was dir als Kind auch den bedauernswerten Spitznamen «Quieks» einbrachte. Deine Mutter nannte dich stets nur «Gwendolyn», aber bei deinem Vater und allen anderen hieß es immer nur «Quieks»-dies und «Quieks»-das. Du kamst dir wie eine gottverdammte Maus vor.
«Bitte, Belford …» Du stellst klar, dass du, obwohl die Börse seit ein Uhr geschlossen ist, obwohl der jähe Fall des Index um 900 Punkte deine Karriere vermutlich zu einem einzigen Risk-Limit werden lässt, obwohl du hier in einem vornehmen Salon hockst und Gin säufst, technisch gesehen trotz allem immer noch im Dienst bist. Du bist es deinen Kunden ebenso schuldig wie dir selbst – denn auch dein Privatkonto hat ziemlich schwer bluten müssen –, unter diesen Umständen am Ball zu bleiben, bis sich zeigen wird, ob die unchristlichen Japse, bei denen der Feiertag der Kreuzigung unseres Herrn ein stinknormaler Arbeitstag ist, uns auf den Grund des Ozeans folgen oder nicht. Weil du jedoch in Anbetracht von Belfords Misere nicht unsensibel erscheinen willst, bietest du ihm trotz deiner Verpflichtungen und Nöte einen Deal an. Nämlich: Wenn André bis zur Abendessenszeit nicht wieder aufgetaucht ist – und du gehst davon aus, dass er nicht auf sein Rosinenbrot und sein Bananeneis am Stiel verzichten wird –, dann wirst du dich an der Suche beteiligen. Außerdem wirst du Q-Jo mitbringen, damit sie nötigenfalls ihre bemerkenswerten telepathischen Kräfte einsetzt, um den Aufenthaltsort des Affen zu ergründen.
Überschwänglich bedankt sich der erleichterte Belford. So überschwänglich, dass es dich nervt. «Unterdessen», sagst du in auf größtmögliche Wirksamkeit bedachtem Ton, «kannst du schon mal die Nachbarschaft abklappern. Und melde es lieber der Polizei.»
«Tja, das mach ich dann wohl besser mal», stimmt er niedergeschlagen zu. «Ich glaube nicht, dass André … einen Rückfall kriegt oder so was. Aber ich bin wohl moralisch verpflichtet, es zu melden.»
Du willst gerade auflegen – bei Ausdrücken wie ‹moralisch verpflichtet› kriegst du zu viel –, als er sagt: «Als du davon sprachst, dass du auf ‹Neuigkeiten aus Japan› wartest, dachte ich erst, du meinst Dr. Yamaguchi.»
«Wen?»
«Du weißt schon. Dr. Yamaguchi. Dessen Ankunft man heute Abend hier in Seattle erwartet.»
«Ach so, dieser Krebstyp. Was hat der damit zu tun?»
«Nun», sagt Belford, «weil er aus Japan kommt. Und gute Neuigkeiten bringt. Was sich positiv auf die Kurse auswirken könnte.»
Du gibst deinen tiefsten Stoßseufzer zum Besten und legst auf. Weil du gerade in der Nähe bist, gehst du aufs Damenklo und pinkelst so heftig, wie du kannst, lässt einen Strahl ans Porzellan pladdern, der ein kleineres Tier von den Beinen geholt oder einem Zyklopen die Optik ruiniert hätte. Dann kämpfst du dich wieder zurück durchs Gedränge. Auf dem Weg an der Bar entlang stehst du plötzlich direkt hinter dem Mann, den Ann Louise schon die ganze Zeit über anstarrt: ein großer, schlanker Typ mit sonnengebleichtem, strähnigem Haar, das ihm bis halb über die abgewetzte Lederjacke herabhängt. Er trägt enge, ausgefranste Jeans, und du registrierst einen Goldring am linken Ohrläppchen und irgendeine Tätowierung auf dem Handrücken. Es ist ein Unding, dass ein Kerl in so ungebührlichem Aufzug an der Bar des Bull & Bear steht, und von daher umso unbegreiflicher, dass im Laufe des Nachmittags andere, akzeptabler gekleidete Leute, Leute aus der Branche (sogar Posner!) stehen blieben, um mit ihm zu plaudern. Momentan ist er von einigen Brokern umringt, die ihn vollquatschen, und du denkst: In den Achtzigern hätte es das nicht gegeben. So was ist bloß am schlimmsten Tag meines Lebens möglich.
Als der Fremde, einer jähen Eingebung folgend, herumfährt und dich dreckig angrinst, entfährt dir ungewollt ein spitzer kleiner Jauler, und du fährst zusammen wie eine reife Tomate, die das Gartentor quietschen hört. Kein Wunder, dass du perplex bist. Das Grinsen, das sich über die hagere Ebene seiner stoppeligen Visage zieht, ist so fies wie der Schnitt einer messerscharfen Papierkante, und seine Augen sind rot unterlaufen wie wundgelegene Stellen, sondieren wie stochernde Kleiderbügel. Du spürst diesen Blick bis in die Gebärmutter. Ehe du dich weiterschieben kannst, legt er dir einen knochigen Finger aufs Handgelenk und nickt zu Sol, dem Finanzanalytiker, hin. «Jetzt fängt der Spaß erst an», flüstert er vertraulich, und sein fieses Grinsen weitet sich wie der Riss in einem Taucheranzug.
Wieder an deinem Tisch angelangt, lässt du dich mit übertriebener Hilflosigkeit auf deinen Stuhl gleiten und sackst in dich zusammen. «Meine Güte!», rufst du laut. «Wer ist dieser Widerling?»
«Na, das ist Larry Diamond», sagt Phil.
Und Ann Louise setzt hinzu, als würde das alles erklären: «Der kommt gerade aus Timbuktu.»
17:15 —•••–• Weil dich nach deinem dritten Martini ein leichtes Unwohlsein überkommt, beschließt du, dir etwas zu essen zu bestellen. Du hast dich seit Jahren größtenteils von grünen Salaten ernährt, die aus exotischen Pflanzen mit strengem Geschmack und unaussprechlichen Namen (versuch mal, «Rucola» oder «Radicchio» zu sagen nach einem harten Tag im Ring) zubereitet und mit Essigsorten besprenkelt werden, die mehr kosten als ein anständiger Schampus. Heute jedoch sind alle Regeln außer Kraft, und dein flacher Bauch schreit nach tierischem Eiweiß. Da das Bull & Bear eine traditionelle Fleisch-und-Kartoffel-Küche pflegt, ist es durchaus in der Lage, deinen Wunsch nach geschnetzeltem Beefsteak mit glacierten Zwiebeln und gedünstetem Spargel zu erfüllen.
Während die Kellnerin dein Besteck zurechtlegt, dir den Brotkorb und das Butterschälchen hinstellt, rückt Phil mit einigen Fakten über den abstoßenden Kerl namens Larry Diamond heraus. Es hat den Anschein, als sei dieser Diamond mal ein Ass gewesen, so ziemlich der heißeste Broker an der pazifischen Nordwestküste, doch er warf seine Pfeile ein bisschen sorglos, was ihn beim letzten Crash, dem von ’87, seinen Job und sämtliche Anlagewerte kostete.
«Selbst in New York haben wir von dem gehört», wirft Ann Louise ein. «Für ’n Kaff wie das hier machte der enorme Umsätze. Aber im Grunde war das ein Provisionsschneider. Und wer nur immerzu am Telefon hockt und die Kunden keilt, ist irgendwann weg vom Fenster.» Wobei sie dir einen beziehungsreichen Blick zuwirft. Dir bleibt nichts übrig, als zu erbleichen.
«Yep», sagt Phil und fährt sich mit den klobigen Bauernfingern durchs weiße Haar. «Der alte Larry neigte dazu, sich die Finger nach Dollars wund zu wählen. Möchte mal wissen, was der heute so treibt.»
«Er kommt gerade aus Timbuktu.»
«Ja, Ann Louise, das erwähntest du bereits. Aber wieso?», fragst du. «Was treibt einen aus der Branche dorthin?»
Es ist Phil, der die Frage beantwortet. «Vielleicht weiß er was, das wir nicht wissen.»
«Über Timbuktu?»
«Hey, schon mal was von globalen Märkten gehört?»
«Aber Timbuktu? Ich meine, das liegt doch für allgemeine Begriffe am Ende der Welt.»
«Nun, anderswo ist schon alles erschlossen. Thailand. Argentinien. Jetzt die Türkei und Vietnam. Vielleicht ist Timbuktu die Chance.»
«Wie sehen denn dort die ökonomischen Grundlagen aus?», fragt Ann Louise. «Ich glaub ja nicht, dass es da was zu holen gibt.»
Und du sagst: «Mr. Diamond sieht mir nicht so aus wie einer, der auf Geschäfte an Auslandsmärkten scharf ist. Eher wie ein Biker, wie ein … wie so ein wilder … Rockmusiker oder so was.» Gib dir keine Mühe, das Wort Musiker geht dir nicht über die Lippen, ohne dass dir dabei dein Vater einfällt – aber das ist eine andere Geschichte.
Auf Ann Louises Gesicht erscheint ein mildes Lächeln. Sie ist gerade im Begriff, etwas zu erwidern, als eine lärmende Aufgeregtheit durchs Lokal brandet. Die Leute werden unruhig, sie drehen sich erst in die eine Richtung, dann in die andere, so als würde gleich ein berühmter Hollywoodstar nackt zur Tür hereinkommen, und keiner wüsste, durch welche. Doch lässt der Ausdruck auf manchen Gesichtern eher vermuten, dass sie einen bewaffneten Terroristen erwarten anstelle einer Berühmtheit. Offenbar macht ein Gerücht im Raum die Runde, läuft Amok, greift den Leuten von hinten zwischen die Beine, beißt ihnen in die Waden. Das Stimmengewirr schwillt an, verebbt dann in einem Smorzando, pellt weg wie eine Schallstrumpfhose, als ein älterer Herr, ein Senior Vice President vom Merrill Lynch, unsicher auf einen Tisch steigt und krächzend mit seiner heiseren alten Stimme verkündet, dass der Nikkei-Index mit deutlich gefallenen Kursen eröffnete, allerdings nicht so niedrig wie von vielen befürchtet, und dass er Anzeichen der Stabilisierung zeigt.
Es gibt vereinzelte Hurrarufe, es gibt zaghaften Applaus. Dann ergehen sich alle sofort in Spekulationen. Dein Essen wird serviert, und deine Backenzähne wollen gerade zaghaft die erste Gabel voll Fleisch zermahlen, aber die Kiefermuskeln verkrampfen sich, als du von einem Nachbartisch die Bemerkung hörst: «Soll ich dir mal verraten, wieso der Nikkei das verkraftet? Ich glaube, das hat mit Dr. Yamaguchi zu tun.»
18:10 —•••–• Bis du mit deinem Essen fertig bist, sind zwei neue Meldungen aus Tokio eingetroffen. Der ersten zufolge fällt der japanische Index wie aus dem Fenster gepisst. Die Nachricht vom Absturz wird im Bull & Bear mit Ernüchterung, wenn nicht mit ungeschminktem Fatalismus aufgenommen. Der zweite Bericht über einen erneuten Anstieg des Nikkei wird, je nach individuellem Temperament, entweder mit Optimismus oder Zweifel registriert.
Weil du nicht weißt, wie du darauf reagieren sollst, bestellst du ein Glas Portwein, bloß damit du ein bisschen Zucker im Tank hast, und rückst deinen Stuhl zurecht, um gemeinsam mit Ann Louise diesen Larry Diamond zu mustern. «So ergeht es also Brokern, wenn sie gefeuert werden?», fragst du. «Werd ich etwa in ein paar Jahren ebenso als Penner enden?»
Es ist eine rhetorische Frage, doch Phil geht darauf ein. «Larry, das war schon ein Genie», sagt er leise. Ann Louise nickt, schaut dich an und grinst.
Also entschuldigt mal, sagst du in Gedanken. Aber das «Genie» betrachtest du jetzt etwas vorsichtiger. Was sollte das heißen, als er sagte, jetzt finge der Spaß erst an? Und wo wir schon dabei sind, was meinte Sol damit, als er sagte, der Spaß sei vorbei? Soweit es dich betrifft, war es mit dem richtigen Spaß schon in den Achtzigern vorbei. Vor deiner Zeit. In jenen Tagen konnte jemand in deiner Position noch den großen Reibach machen. Das Geld lag auf der Straße. Du hast davon gelesen, hast während deiner ganzen College-Zeit davon geträumt. Wie bezeichnend für dein Schicksal, dass gerade dann, als du endlich in der Position warst, dir die goldenen Eier in die Pfanne zu hauen, die Gans reif für eine Hysterektomie war. Es scheint, als hätte die Talfahrt von Amerikas Wirtschaft just an dem Tag begonnen, als du deine Maklerzulassung bekamst. Na ja, die Talfahrt muss ja irgendwann zu Ende sein, und dann geht’s wieder bergauf, oder? Nee, du erinnerst dich dumpf, irgendwo gehört zu haben, da solle man lieber nicht drauf bauen. In dem Fall hast du nicht die geringste Chance. Und schon gar nicht als Filipina. Ach je, Gwen, das bringt dich jetzt auch nicht weiter. Wenn du dich weigerst, die Zugehörigkeit zu deiner Rasse zu akzeptieren, wie kannst du ihr dann dein Missgeschick in die Schuhe schieben?
Ziemlich angeschickert sinnierst du über den schlechten Stern, unter dem du – das steht für dich fest – geboren bist. Obwohl dir Selbstmitleid im Allgemeinen auf den Geist geht, verpasst du dir eine große Veterinärspritze voll davon, bis du merkst, dass Larry Diamond seinen Platz an der Bar verlassen hat und auf deinen Tisch zugeschlurft kommt. Wie ekelhaft, denkst du. Er läuft sogar wie ein Penner.
«Wie geht’s, Larry?», fragt ihn Phil.
«Mr. Diamond, nehme ich an», sprudelt Ann Louise hervor. Plötzlich glüht sie wie die Spitze ihres Zigarillos.
Mr. Diamond schenkt keinem der beiden Beachtung. Eine Weile steht er einfach bloß da, scharrt mit den Füßen und wirkt dabei so locker wie der Kragen am Hals der Ewigkeit. Dann sagt er zu dir: «Ich wette, wir haben was gemeinsam.»
«Oh, das möchte ich bezweifeln», erwiderst du. «Ich hab meinen Job noch. Noch.»
Sein Grinsen wirkt beängstigend, weil es zugleich aggressiv und großmütig, feindselig und bewundernd ist. Seine roten Augen, die spanischen Erdnüssen ähneln, tanzen dämonisch, als sie dich von Kopf bis Fuß mustern.
«Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu fachsimpeln», sagt er. Dann, noch immer grinsend, nickt er zu der Stelle hin, wo vorhin dein Teller stand. «Ich hatte auch Spargel», gesteht er. «Wussten Sie, dass unser Urin in den nächsten fünf Stunden genau den gleichen Geruch haben wird?»
18:30 —•••–• Wenigstens ist das Wetter erträglich. Die Winterregen von Seattle – die gewöhnlich den Herbstregen hart auf den pilzbefallenen, brombeersaftversauten, von gewaltigen Stockflecken gezeichneten Fersen folgen – hatten sich in der letzten Woche erschöpft, und mit jedem Tag, der ins Land geht, erscheint der Himmel nun leichter und höher, als hätte er sich von seiner Vertäuung gelöst und würde von der Erde forttreiben: die Umkehrung des Symptoms, wenn einer meint, ihm fällt der Himmel auf den Kopf. Es heißt, beim Crash von ’29 sei der Himmel schwarz gewesen von Exmillionären, die sich aus den Fenstern stürzten, aber wenn du heute Abend hinaufschaust, landet nicht mal der Knopf eines Brooks-Brothers-Anzuges auf deinem hübschen Gesicht.
Ja, Gwendolyn, du bist hübsch, eine Tatsache, die dir in regelmäßigen Zeitabständen zu schaffen macht, weil es zu Situationen führen kann wie jener, die dich zur überstürzten Flucht aus dem Bull & Bear veranlasste. Natürlich hast du nie zuvor einen derart ekelhaften Bewunderer wie Larry Diamond angelockt. Nach seiner perversen Bemerkung, die Ann Louise und Phil erstaunlich amüsant fanden, griffst du nach deiner Handtasche, erhobst dich mit hochrotem Kopf und all der Würde, die du aufbringen konntest, um in Richtung Damenklo davonzustolzieren. Er trat dir in den Weg. Vielleicht wollte er sich ja entschuldigen, aber du gabst ihm keine Chance. «Aus dem Weg, Bozo», sagtest du zu ihm.
Natürlich hattest du die Absicht, ihm das eiskalt hinzuwerfen, und mit gutem Grund. Andererseits, wie viel Eiseskälte kann in einer Stimme mitschwingen, die dazu gemacht scheint, kleine Drosseln auszubrüten? Trotzdem reagierte Diamond, als ob du ihm gleichzeitig eine Ohrfeige verpasst und den Schlüssel zur Schatzkammer überreicht hättest. Sein Grinsen ging schneller bankrott als ein Rasensprenger-Reparaturdienst in Bangladesch, und der Blick seiner diabolisch glitzernden Augen wurde plötzlich nüchtern, misstrauisch und forschend. «Bozo wie der Stamm», fragte er leise, «oder Bozo wie der Clown?»
Darauf wusstest du keine Antwort. Aus irgendeinem Grund jagte er dir damit mehr Angst ein als zuvor in der Rolle des Lustmolchs. Du standest da wie betäubt, bis er dich hart an den Schultern packte und sein stoppeliges Gesicht dicht an deins heranschob. Seiner Erscheinung nach hattest du erwartet, dass er stinken würde, doch als du nach Luft schnapptest und unfreiwillig sein Aroma einsogst, entdecktest du, dass er metallisch und zuckrig roch, beinahe wie eine Dose Frucht-Cocktail. Beruhigte dich das? Keineswegs. Er schüttelte dich sanft. «Bozo wie der Stamm oder Bozo wie der Clown?»
«Clown», stießest du hervor, darauf gefasst, dass er dir die Beleidigung mit physischer Gewalt heimzahlen würde. Doch er ließ dich mit einem enttäuschten kleinen Lächeln auf der Stelle los und trat zur Seite, um dich vorbeizulassen. Mit weichen Knien gingst du an ihm vorbei zum Ausgang und zur Tür hinaus auf die Straße. Wo du jetzt stehst und dir die milde Aprilbrise ins Haar und in den Rock fahren lässt, während du zuschaust, wie der Himmel davontreibt bis weit hinter die Sterne.
18:40 —•••–• Klugerweise ziehst du es vor, lieber nicht mit dem Auto zu fahren. Für den Porsche sind noch 30 Mille abzustottern, und bei deiner momentanen Pechsträhne kannst du davon ausgehen, dass du ihn gegen irgendwas Solides rammst – und dir zu allem Überfluss eine Vorladung wegen Trunkenheit am Steuer einhandelst. Zum Virginia Inn ist es nicht weit zu laufen, doch nach einer näheren Begutachtung deiner Umgebung beschließt du, dass per pedes ebenfalls nicht in Frage kommt.
Die Innenstadt von Seattle gleicht mittlerweile immer mehr den Slums von Kalkutta, so dicht bevölkert ist sie von Bettlern, Vagabunden, Strichern, Durchgedrehten, Straßensängern, Ganoven, Schnapsleichen, Süchtigen, körperlich und geistig Behinderten. Nun, wo der Regen vorbei ist, sind sie wieder aus Türeingängen, Unterführungen, Abbruchhäusern, Abzugskanälen und brach liegenden Grundstücken in die vornehmsten Straßen der Stadt gewankt, gekrochen und gehumpelt. Dort verhökern sie ihre Waren, spielen Akkordeon und bitten, per Zuruf oder schweigsamem Pappdeckelschild, um Gaben, Gaben, Gaben.
Manche dieser abgewrackten Gestalten wirken bedrohlich, andere eher mitleiderregend. Wie etwa die Familie, die im Halbkreis vor einem Käseladen sitzt: Schnorrer-Papa, Schnorrer-Mama, Schnorrer-Junior und Schnorrer-Baby, in Lumpen drapiert und mit glitzernden Rotzschlieren behängt, hocken sie am Boden, verwittert und krätzig, dennoch hoffnungsvoll; sie warten auf den guten Samariter (von der Kirche oder den Behörden entsandt), der, wie sie unerschütterlich glauben, früher oder später aufkreuzen, ihnen die gefurchte Stirn abwischen und einen Farbfernseher kaufen wird. Es spricht für dich, Gwendolyn, dass du ein kurz aufflackerndes Mitgefühl hegst. Im Wesentlichen jedoch ist es Bestürzung, was du empfindest. «Was ist mit diesen Leuten los?», fragst du dich. «Wie konnten sie nur so tief sinken? Wo sind ihre adretten Häuschen, wo ihre niedlichen Farmen? Wo, ach wo ist das ganze Geld bloß hin?»
Das Geld. Das herrliche Geld. Q-Jo behauptet, es sei dein Streben nach materiellem Wohlstand, was dir die 23 grauen Haare einbrachte (sie hat sie gezählt), die in deinem schwarzen Filipinaschopf sprießen – du aber weißt, das stimmt nicht: Die hast du dem Waliser Blut des mütterlichen Zweigs deiner Familie zu verdanken. Jedenfalls kannst du bei dir keine Raffzahnmentalität entdecken, keine vulgäre Gier. Vielmehr ist es ein biologischer Trieb. Wirklich. Du gehst auf die dreißig zu und hörst, wie die Uhr tickt. Nur willst du kein Baby, sondern Cash. Du sehnst dich danach, mit Kohle schwanger zu gehen, die klimpernden Silberdollars auszuspucken wie ein Spielautomat.
Leider wird das Geld immer knapper. Es macht sich rar, es verschwindet aus Amerika, so fix es die kleinen grünen Stummelbeinchen tragen. Aus Amerika, das es so ins Herz geschlossen hat! Die Faulen und die Doofen hat es längst im Stich gelassen – und nun, Gwen, lässt es dich sitzen. Es macht dich todunglücklich, und du willst verdammt sein, wenn du diesem Schnorrer-Baby den 5-Dollar-Schein gibst, den du halb betrunken, halb schuldbewusst aus deiner Börse gefischt hast. Aber hallo! Schließlich bist du selber knapp bei Kasse. Oder nicht? Immerhin brauchen sich die Leutchen hier keine Sorgen um die Abzahlung eines Porsche und die Hypothek auf eine Eigentumswohnung zu machen.
Bevor du den Taxistand an der Ecke erreichst, trennst du dich dennoch von deinem Fünfer. Du gibst ihn einem alten Knacker, dessen Bart wie eine Handvoll äußerst ungesunder Asbestwolle im Wind flattert. Der Gentleman hat ein Schild um den Hals. Auf dem steht in grotesk hingemalten Lettern: MEIN RUIN HAT VIELE GRÜNDE. Damit kannst du dich identifizieren.
18:50 —•••–• Dein Taxifahrer trägt sein Haar nach jamaikanischer Art, hat unzählige produktive Stunden darauf verschwendet, es zu kämmen und einzudrehen, bis sein Kopf aussieht wie von langen wolligen Würmern befallen. Und schlimmer noch: Er riecht wie dein Dad. Will heißen, er stinkt nach frisch verbranntem Marihuana. O Gott! Warum immer du? Was hast du bloß an dir, das solche Leute anzieht? Na ja, wenn man schon so unklug ist, sich mit Q-Jo Huffington zu verabreden, dann passt es durchaus, dass man sich von einem Freak zu dieser Verabredung kutschieren lässt.
Du erwägst kurz, dem Fahrer zu sagen, dass er dich gleich zu Belford Dunn bringen soll, aber dann fällt dir rechtzeitig ein, dass nur der Gin deinen Hormonhaushalt so anheizt und an dieser nervenden Triebhaftigkeit schuld ist. Es gab mal ein Jahr, wo du ein ziemliches Pensum an Scotch zu dir nahmst in der Hoffnung, es werde dir zu einer wunderschön tiefen Whiskeystimme verhelfen. Leider musstest du entdecken, dass hochprozentige Drinks bei dir zu sexueller Erregung führen, also bist du wieder auf Weißwein umgestiegen, was sonst. Lieber eine quieksige Stimme als geil. «Herr Chauffeur!»
«Ja, Schwestah?»
«Ach, vergessen Sie’s.» Wie dem auch sei, Belford wäre ohnehin nur mit dem Aufstöbern und Heimholen des rückfällig gewordenen Primaten beschäftigt.
Der Fahrer, der trotz karibischen Akzents ein besseres Englisch spricht als der durchschnittliche amerikanische Verbindungsstudent, beginnt, dir vom Rastafarikult zu erzählen. Lediglich aus Höflichkeit fragst du, wie zum Teufel es kommt, dass Haile Selassie, ein neuzeitlicher, aber ziemlich toter äthiopischer Kaiser, von den Rastas als Hohepriester und oberster Heiliger verehrt wird? Worauf er dir erklärt, dass irgendwann mal – er glaubt, es war in den Fünfzigern – Jamaika von einer schrecklichen Dürre heimgesucht wurde. Die Leute wussten schon gar nicht mehr, wie ein Regentropfen aussieht. Da kam Selassie nach Jamaika geflogen, zu einem Staatsbesuch. Im gleichen Augenblick, als die Maschine aufsetzte, gab es einen unerwarteten Wolkenbruch. Und es hörte keine Sekunde auf zu regnen, solange Haile Selassie im Lande weilte. Drei Tage lang goss es in Strömen. Als sein Flugzeug wieder abhob, hörte es auf. «Und das is’ der Grund, Schwestah.»
Du kannst nur den Kopf schütteln. Meine Güte!, denkst du. Dem Kerl verregnet es den Urlaub, und die machen ’ne Religion draus! Wieder schüttelst du den Kopf. Die 23 grauen Haare wippen mit.
In der Tat, Gwendolyn, es ist schon eine seltsame Welt. Und sie wird mit jeder Minute seltsamer.
Donnerstagnacht
5. April
•••—
21:00 —•••–• Nun ist es Nacht. Nicht mehr Abend, sondern richtig Nacht wie in «so schwarz wie», wenn auch nicht ganz «mitten in». Dem Abend hängt ja gewöhnlich der Nachmittag an den Jackenschößen, ihm haften noch ein paar richtige Spritzer Tageslicht wie Flusen am Revers, die Nacht jedoch ist einsam, wahrt Distanz, ist kompromisslos, radikal. Die sicheren Grenzen des Tages, zur Abendzeit noch schwach erkennbar, sind ausgelöscht vom harten Radiergummi der Nacht, getrübt von ihrem Schleier aus Tintenfischspritzern, Pyjamasoße und dem blauen Honig, den die Motten absondern. Ist die Nacht eine Maske, oder ist der Tag nur eine spröde Verkleidung der Nacht? Die meisten von uns sind in der Nacht geboren, und bei Nacht werden die meisten sterben. Nachts, wenn im Radio der Krankenschwester Tangomusik spielt und das Rattengift sein heißes Lied hinter der Kellertür singt. Nachts, wenn die lange Schlange auf Nahrungssuche geht, wenn die schwarze Limousine durch die Vergnügungsviertel rollt, das flackernde Neon sein «Endlich frei» in einem Dutzend vergessener Sprachen buchstabiert und die übrig gebliebenen Figuren aus deiner Kindheit verstohlen hinter den mondtrunkenen Ästen der Fichte umhergeistern.
Es ist die Nacht des angeblich schlimmsten Tages in deinem Leben. Hat sich irgendwas gebessert? Nicht wirklich. Während der amerikanische Adler wie ein geköpftes Huhn durch die Börsenmärkte des Orients flattert und die Händler mit einem Schauer von Blutperlen in Panik versetzt, hältst du kleinmädchenhaft die Luft an, drückst ihm die Daumen – und schaust zu, wie Q-Jo Huffington Schweinekoteletts in sich hineinschlingt, als wären die bald ebenso rar wie die Dollars.
Du sitzt in einer gepolsterten Plastiknische im Dog House, einem weniger feinen Restaurant mit dem Slogan «Wir schließen nie», eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt sich in der müden Pantomime der Serviererinnen spiegelt, von denen manche hier schon seit der Eröffnung des Restaurants anno 1934 rund um die Uhr zu bedienen scheinen. Die Gäste des Dog House sind größtenteils ältere Malocher, obwohl es in den schrägen Stunden nach Mitternacht von radikaleren Elementen der Jugendkultur infiltriert wird, von Punks und Grungetten, Metalheads, Trashern und Ninjaboys, und von den Highschool-Kids aus Hunts Point, Mercer Island und ähnlich feudalen Vororten, die es auf der Suche nach Nervenkitzel in diese Slumgegend zieht. Die schlachterprobten Serviererinnen wissen, wie man die aufmüpfigen Kids in Schach hält; trotzdem bist du erleichtert, dass es noch relativ früh am Abend ist und dass es sich bei den Gästen zwar um Angehörige der Unterschicht handelt, aber wenigstens nicht um Randalierer. Was keineswegs heißt, dass du es deswegen weniger nervend findest, hier zu sitzen.
Als dir Q-Jo das Dog House als Restaurant ihrer Wahl nannte, hieltest du es erst für einen Witz, ein albernes Wortspiel, angeregt von dem Umstand, dass so viele Leute im Virginia Inn bellten. Jawohl, bellten! Da waren sie nun, die Dichter, Maler, Musiker und Filmemacher von Seattle, alles Leute, die man wohl als kultiviert und anspruchsvoll eingeschätzt hätte; aber debattierten sie über Gödel, Escher, Bach, warfen sie ein sonderlich erhellendes Licht auf den Börsenkrach, brachten ihn mit McLuhans Technologie-Theorie oder dem «Fall des Hauses Usher» in Zusammenhang? Vielleicht taten sie es. Es ließ sich schwerlich jede einzelne Nuance der vielen Gespräche in der Kneipe verfolgen, nicht zuletzt deswegen, weil die Aufnahmen afroamerikanischer Bluessänger mit solcher Lautstärke liefen, dass die alten Neger ihre selbstgebaute Gitarre hätten fallen lassen und, sich die Ohren zuhaltend, in den Wald geflüchtet wären. Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass möglicherweise an jedem x-beliebigen Tisch ein intellektueller Disput von erfrischender Qualität im Gange war. Du weißt nur eins: dass du nie die Worte «Dow Jones», «Deutsche Mark» oder «Michel Foucault» über jemandes Lippen kommen hörtest – dafür aber eine Unmenge Gebell.
Sobald eine bebrillte, durch seine scharlachrote Baskenmütze als hip ausgewiesene Galerieschwuchtel einen kleinen Beller losließ, fielen sogleich etliche reihum ein. Dann, und das war das Merkwürdigste an der ganzen Sache, strahlten sie allesamt gedankenverloren vor sich hin, als seien sie entzückt, ohne freilich im Entferntesten zu begreifen, was sie denn nun so entzückte. Meine Güte! War das irgendeine neue Mode? Als du dich bei Q-Jo danach erkundigtest, zuckte sie die Achseln, meinte: «Oh, Dr. Yamaguchi», und schlug das Dog House vor.
Natürlich hast du ständig darauf gewartet, dass sich dir die verborgenen Zusammenhänge erschließen. Mit der Zeit würden sie das auch, ganz synchronistisch. Aber im Augenblick waren erst mal Schweinekoteletts angesagt.
«Gwendolyn, du gedankenlose bürgerliche Schlampe hast einfach ohne mich gegessen. Und jetzt wirst du gefälligst warten und zusehen, wie der große Hund sein Fressen vertilgt.»
Fürwahr ein Anblick. Q-Jo taucht in den Teller Schweinekoteletts ein wie ein Killerwal, der in einen Lachsschwarm vorstößt; geschmeidig, aber tödlich beißt sie erst aus einem Kotelett ein Stück heraus, dann aus dem nächsten, knöpft sie sich nacheinander vor und lässt sie halb zerfleischt liegen, unfähig, ihr zu entkommen; umkreist sie dann von neuem und gibt ihnen den Rest, vertilgt eins nach dem andern, inklusive der speckigen Schwarten, und lutscht am Ende auch noch den allerletzten Tropfen Bratensaft von den Knochen, bis die Reste so sauber und weiß glänzen wie die Spielmarken eines chinesischen Brettspiels.
Und als du den Tisch verlässt und telefonieren gehst, bestellt sie sich eine zweite Portion.
Eine Badezimmerwaage, deren Mechanik in der Lage wäre, es mit Q-Jo Huffingtons Körpergewicht aufzunehmen, gibt es nicht. Bei ihr schwenkt die Nadel sofort ans äußerste Ende der Skala; sie müsste auf eine Industriewaage umsteigen, um festzustellen, wie weit ihr Gewicht die von den Schranken der Mechanik und öffentlichen Anstandsregeln gesetzte 300-Pfund-Grenze tatsächlich überschreitet. Was ihren Cholesterinspiegel angeht, so hat er noch keinen vierstelligen Wert erreicht, ist jedoch auf dem besten Weg dahin. Überdies raucht sie in ruinösem Ausmaß Zigaretten, die sie sich selber aus schwarzem, kratzigem, finster aussehendem indonesischem Grobschnitt dreht; sie pafft sie nacheinander weg, dass dir schwindlig wird und du dich fragst, inwiefern ihre Lungen – abgesehen von der Größe – sich eigentlich noch von den Teerseen des Mesozoikums unterscheiden.
Man würde annehmen, dass eine sensible und hellwache Frau wie Q-Jo, eine Frau, deren präkognitive Fähigkeiten so überzeugend wirken, dass sie aus einer so skeptischen Skeptikerin wie dir eine Gläubige machten; man würde annehmen, dass so eine Frau – eine professionelle Tarotleserin, verdammt noch mal – ein besonderes Interesse in puncto Ernährung und Gesundheit an den Tag legt. Das tut sie auch, solange es um die Gesundheit anderer geht. Sie leugnet jedoch, dass hier Altruismus oder Heuchelei im Spiel ist. Es stimmt, sie ist ein Mensch, der viel gibt, und Essen ist eine Methode, sich einiges davon zurückzuholen, das Verlorene wieder einzuspeisen; doch es steckt mehr dahinter. «Ich rauche und esse, damit ich nicht wegfliege», erklärt sie, womit sie ein mentales Wegfliegen meint, obwohl du dabei ihren massigen Leib wie einen Goodyear-Zeppelin über der Stadt schweben siehst. «Wenn du dich so viel auf der Astralebene bewegst wie ich, dann brauchst du entsprechend Nahrung und Tabak, damit du wieder in deinen Körper zurückkommst. Für mich sind das Mittel zum Andocken.» Außerdem sind sie ein Schutz. Anscheinend ist Q-Jo ein emotionaler Schwamm, eine wandelnde telepathische Antenne, die, auch wenn sie ein Kotelett nach dem andern verdrückt, alle Mühe hat, die unterschwelligen Botschaften anderer Gäste im Dog House von ihrem Empfangsschirm abzublocken. Die Fettleibigkeit verleiht ihr eine gewisse Isolierung, eine Art Schutzmantel, mit dem sie ihre Feinnervigkeit reduziert. Eingemummelt in ein Sanktuarium aus Fett, fühlt sich ihre Psyche nicht ganz so nackt.
Rein privat hast du Q-Jos körperliche Dimensionen immer anziehend gefunden. Vom Tag an, als ihr euch kennenlerntet, hast du den starken Drang gespürt – und rigoros unterdrückt –, ihr auf den breiten, parfümierten Schoß zu hüpfen, dich an die Buddhas ihrer Brüste zu schmiegen und in ihren Affenbrotarmen zu wiegen. Doch während auch andere Leute von ihr fasziniert sind, von ihren violetten Turbanen, ihren bunten Kaftanen, ihren funkensprühenden Augen und tiefen Grübchen, ihrem Nikolausgelächter, der Patschuli-Ausdünstung, der Zi