Das Buch

Die »Herren« vom Planeten Sark unterdrücken die Bewohner des Planeten Florina, einer Agrarwelt, und beuten sie erbarmungslos aus. Die Floriner produzieren Kyrt, eine besondere Faser, die nirgendwo sonst im Universum hergestellt werden kann. Als ein Weltraumanalytiker von der Erde herausfindet, dass Florinas Sonne kurz davor steht, zu einer Supernova zu werden, wird er zu einem Risiko für die »Herren«. Sie verwandeln ihn mit einer Psychosonde in einen hilflosen Idioten und setzen ihn auf Florina aus. Den »närrischen Rik« nennen ihn die Dorfbewohner, die ihn aufnehmen. Doch nach und nach kehrt seine Erinnerung zurück, und er beginnt, zusammen mit seiner Freundin Valona, sich auf die Suche nach den Ursprüngen seiner scheinbar irrationalen Ängste zu machen …

Ströme im All ist, wie auch Sterne wie Staub und Ein Sandkorn am Himmel, der sogenannten »Frühen Foundation« Isaac Asimovs zuzurechnen: Viele Welten sind bereits kolonisiert, und Trantor ist bereits zum Zentrum eines galaktischen Imperiums aufgestiegen, hat den Zenit seiner Macht aber noch lange nicht erreicht – ganz zu schweigen vom Zerfall des Imperiums, der den Ausgangspunkt für die Foundation-Trilogie bildet.

»Wer immer sich an der nie endenden Diskussion über die Zukunft beteiligt, weiß, was wir Isaac Asimov zu verdanken haben.«

The New Yorker

Der Autor

Isaac Asimov zählt gemeinsam mit Arthur C. Clarke und Robert A. Heinlein zu den bedeutendsten SF-Autoren, die je gelebt haben. Er wurde 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, in der Sowjetunion geboren. 1923 wanderten seine Eltern in die USA aus und ließen sich in New York nieder. Während seines Chemiestudiums an der Columbia University begann er, SF-Geschichten zu schreiben. Seine erste Story erschien im Juli 1939, und in den folgenden Jahren veröffentlichte er in rascher Folge die Erzählungen und Romane, die ihn weltberühmt machten. Neben der Science Fiction schrieb Asimov auch zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen. Er starb im April 1992.

Mehr über Isaac Asimov und seine Romane auf:

ISAAC ASIMOV

STRÖME
IM ALL

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE CURRENTS OF SPACE

Deutsche Übersetzung von Irene Holicki


Copyright © 1952 by Nightfall Inc.

Mit freundlicher Genehmigung der Erben des Autors

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock 90250351

Umsetzung E-Book: Schaber Datentechnik, Wels

978-3-641-13204-0
V001


diezukunft.de

Prolog

Ein Jahr zuvor

Der Mann von der Erde war zu einer Entscheidung gelangt. Ein langwieriger Entstehungs- und Reifungsprozess war abgeschlossen. Nun war es so weit.

Wochen waren vergangen, seit er in der Geborgenheit seines geliebten Schiffs durch das kühle Dunkel des Alls geflogen war. Eigentlich hatte er dem Interstellaren Amt für Weltraumanalyse nur kurz Bericht erstatten wollen, um dann so rasch wie möglich wieder in den Weltraum zu entschwinden. Stattdessen wurde er hier festgehalten.

Fast wie ein Gefangener.

Er trank seinen Tee aus, sah den Mann auf der anderen Seite des Tisches an und sagte: »Ich bleibe nicht länger hier.«

Auch der andere war zu einer Entscheidung gelangt. Ein langwieriger Entstehungs- und Reifungsprozess war abgeschlossen. Nun war es so weit. Er brauchte Zeit, sehr viel Zeit. Auf seine ersten Briefe war so gut wie keine Reaktion erfolgt. Er hätte sie ebenso gut in die Sonne werfen können. Erreicht hatte er damit jedenfalls nichts.

Er hatte auch nicht mehr oder vielmehr nichts anderes erwartet. Dies war schließlich erst der Eröffnungszug.

Eins war sicher: Wenn sich das Spiel weiter entwickeln sollte, durfte er den Mann von der Erde nicht entwischen lassen. Er tastete nach dem glatten, schwarzen Stab in seiner Tasche.

»Die Sache ist heikler, als Sie denken, und erfordert viel Fingerspitzengefühl«, sagte er.

»Es geht um die Zerstörung eines Planeten, was soll daran so heikel sein?«, fragte der Mann von der Erde. »Ich möchte doch nur, dass Sie die Nachricht auf ganz Sark und an alle Bewohner des Planeten verbreiten.«

»Das können wir nicht tun. Damit würden wir eine allgemeine Panik auslösen.«

»Sie hatten es mir aber versprochen.«

»Ich habe es mir anders überlegt. Es ist einfach nicht machbar.«

Der Mann von der Erde ging zum nächsten Punkt über. »Der I.A.W.-Vertreter ist immer noch nicht eingetroffen.«

»Ich weiß. Man hat dort alle Hände voll zu tun, eine Strategie zur Bewältigung dieser Krise auszuarbeiten. Sie müssen sich noch ein bis zwei Tage gedulden.«

»Ein bis zwei Tage! Immer heißt es ein bis zwei Tage! Sind die Leute denn wirklich so beschäftigt, dass sie nicht wenigstens ein paar Minuten für mich erübrigen können? Sie haben sich nicht einmal meine Berechnungen angesehen.«

»Ich hatte mich erboten, Ihre Berechnungen dort abzuliefern, aber das wollten Sie ja nicht.«

»Und dabei bleibt es. Entweder das Amt kommt zu mir, oder ich gehe hin.« Er wurde heftig. »Ich habe den Eindruck, Sie glauben mir nicht. Sie glauben nicht, dass Florina vor der Vernichtung steht.«

»Ich glaube Ihnen.«

»Nein. Meinen Sie denn, ich merke das nicht? Ich sehe es Ihnen doch an. Sie wollen mich nur beschwichtigen. Meine Zahlen sagen Ihnen gar nichts. Sie sind kein Weltraumanalytiker. Ich glaube, Sie sind nicht einmal das, wofür Sie sich ausgeben. Wer sind Sie wirklich?«

»Jetzt ereifern Sie sich.«

»Richtig, ich ereifere mich. Ist das ein Wunder? Sie denken vielleicht: Armer Teufel, das All war zu viel für ihn. Sie halten mich für verrückt.«

»Unsinn.«

»Aber natürlich. Aus diesem Grunde möchte ich ja jemanden vom I.A.W. sprechen. Dort kann man nämlich beurteilen, ob ich bei Verstand bin oder nicht. Dort, und nur dort.«

Der andere dachte wieder an seine Entscheidung. »Sie sind nicht in besonders guter Verfassung«, sagte er. »Ich werde Ihnen helfen.«

»Nein, das werden Sie nicht!« Der Mann von der Erde wurde hysterisch. »Ich spiele nämlich nicht länger mit. Wenn Sie mich aufhalten wollen, müssen Sie mich schon umbringen, aber das wagen Sie nicht, denn wenn Sie das tun, klebt das Blut einer ganzen Weltbevölkerung an Ihren Händen.«

Nun musste auch der andere schreien, um sich verständlich zu machen. »Ich werde Sie nicht töten. Hören Sie doch! Ich werde Sie nicht töten! Es ist nicht erforderlich, Sie zu töten.«

»Sie wollen mich fesseln«, sagte der Mann von der Erde. »Um mich am Weggehen zu hindern. So stellen Sie sich das wohl vor. Und was machen Sie, wenn das I.A.W. anfängt, nach mir zu suchen? Schließlich erwartet man, dass ich mich regelmäßig melde.«

»Das Amt weiß, dass Sie bei mir in Sicherheit sind.«

»Tatsächlich? Ich frage mich allmählich, ob das Amt überhaupt weiß, dass ich gelandet bin. Ob es meine erste Nachricht erhalten hat.« Dem Mann von der Erde war schwindlig geworden, und seine Gliedmaßen fühlten sich an, als seien sie aus Blei.

Der andere stand auf. Seine Entscheidung war keinen Augenblick zu früh gefallen, so viel war klar. Langsam ging er um den langen Tisch herum und näherte sich seinem Gegenüber.

»Es ist nur zu Ihrem Besten«, tröstete er und zog den schwarzen Stab aus der Tasche.

»Das ist eine Psychosonde«, lallte der Mann von der Erde heiser. Das Sprechen fiel ihm schwer, und als er aufstehen wollte, versagten ihm Arme und Beine den Dienst.

»Betäubt!«, presste er mühsam hervor. Er brachte kaum noch die Zähne auseinander.

»Betäubt«, bestätigte der andere. »Passen Sie auf, ich will Ihnen nicht wehtun. Aber Sie sind völlig außer sich vor Sorge, und in diesem Zustand können Sie nicht abschätzen, wie heikel die ganze Sache wirklich ist. Ich will Ihnen nur die Unruhe nehmen. Nur die Unruhe, sonst nichts.«

Jetzt konnte der Mann von der Erde gar nicht mehr sprechen. Er saß da wie gelähmt und dachte nur immer wieder: Beim endlosen All, er hat mich betäubt. Dabei hätte er am liebsten geschrien und getobt und wäre einfach weggelaufen.

Dann hatte ihn der andere erreicht, blieb vor ihm stehen, schaute auf ihn herab. Der Mann von der Erde sah zu ihm empor. Die Augäpfel konnte er noch bewegen.

Die Psychosonde brauchte nirgendwo angeschlossen zu werden. Es genügte, die Drähte an bestimmten Stellen am Schädel zu befestigen. Der Mann von der Erde war jetzt in heller Panik, aber er musste tatenlos zusehen, bis auch seine Augenmuskeln erlahmten. Den feinen Stich, mit dem die scharfen, dünnen Leitungen Haut und Fleisch durchbohrten und sich an die Schädelnähte hefteten, spürte er nicht.

Innerlich schrie er sich förmlich die Seele aus dem Leib: Nein, schrie er, Sie haben mich nicht verstanden! Der Planet ist doch voller Menschen! Sehen Sie denn nicht ein, dass Sie nicht Millionen von Menschenleben aufs Spiel setzen dürfen?

Ganz schwach, wie vom anderen Ende eines langen Tunnels, durch den der Wind pfiff, drang die Stimme des anderen zu ihm: »Es tut nicht weh. Ich verspreche Ihnen, in einer Stunde fühlen Sie sich rundum wohl. Dann werden wir gemeinsam über die ganze Geschichte lachen.«

Der Mann von der Erde spürte noch, wie die Drähte an seinem Schädel zu vibrieren begannen, dann spürte er gar nichts mehr.

Eine allumfassende Finsternis brach über ihn herein, die sich nie wieder vollends lichten sollte. Und bis auch nur Teile davon sich auflösten, verging ein ganzes Jahr.

1   Der Findling

Rik legte sein Essgerät beiseite und sprang auf. Er zitterte so heftig, dass er sich gegen die kahle, milchweiße Wand lehnen musste.

»Ich erinnere mich!«, rief er.

Alle Köpfe gingen in die Höhe, und das dumpfe Stimmengemurmel an den Tischen wurde etwas leiser. Im matten Schein der Wandleuchten sahen ihn aus halbwegs sauberen, halbwegs glatt rasierten Gesichtern helle, glänzende Augen an. Sie spiegelten jedoch nicht etwa lebhaftes Interesse, höchstens eine gewisse Aufmerksamkeit, die unwillkürliche Reaktion auf einen jähen, unerwarteten Aufschrei.

Wieder erhob Rik die Stimme. »Ich erinnere mich an meinen Beruf! Ich hatte einen Beruf!«

Jemand rief: »Schnauze!«, und aus einer anderen Ecke schallte es: »Hinsetzen!«

Die Köpfe senkten sich, das Gemurmel schwoll wieder an. Blicklos starrte Rik den Tisch entlang. Er hörte die Bemerkung: »Der närrische Rik« und sah auch das dazugehörige Achselzucken. Ein Mann tippte sich sogar mit dem Finger an die Schläfe. Nichts von alledem hatte etwas zu bedeuten. Nichts davon drang zu ihm durch.

Langsam setzte er sich und griff wieder nach seinem Essgerät, einem löffelähnlichen Gegenstand mit scharfen Kanten und kleinen Zinken im vorderen Teil der Wölbung. Man konnte damit schneiden, schaufeln und aufspießen, alles gleich schlecht. Aber für einen Fabrikarbeiter gut genug. Er drehte das Ding um und starrte die Nummer auf der Rückseite des Griffs an, ohne sie wahrzunehmen. Wozu auch, er kannte sie auswendig. Die anderen hatten ebenfalls eine Kennzahl, genau wie er, nur hatten die anderen auch einen Namen. Er aber nicht. Er wurde nur Rik genannt, was im Jargon der Kyrtfabriken so viel wie »Schwachkopf« bedeutete. Und oft genug hieß es auch »der närrische Rik«.

Vielleicht würde von nun an immer mehr von seinem Gedächtnis zurückkehren. Seit seinem Eintritt in die Fabrik war dies das erste Mal überhaupt, dass er sich an etwas aus der Zeit davor erinnert hatte. Vielleicht, wenn er sich sehr anstrengte! Wenn er seinen ganzen Verstand zusammennahm!

Mit einem Mal hatte er keinen Hunger mehr, der Appetit war ihm vergangen. Mit einer heftigen Bewegung stieß er das Essgerät in den Glibberwürfel mit Fleisch- und Gemüsestückchen und schob den Teller weg. Dann hielt er sich mit beiden Händen die Augen zu, wühlte mit den Fingern in seinem Haar und versuchte mit aller Kraft, noch einmal in den schwarzen Sumpf seines Geistes hinabzusteigen, aus dem er eine Vorstellung – ein einziges, undeutliches, kaum zu entschlüsselndes Bild herausgezogen hatte.

Beim Schrillen der Glocke, die das Ende seiner Mittagspause verkündete, brach er in Tränen aus.

Als er an diesem Abend die Fabrik verließ, war plötzlich Valona March an seiner Seite. Anfangs nahm er sie kaum wahr, wenigstens nicht als Individuum. Er hörte nur, dass jemand im Gleichschritt neben ihm ging. Dann blieb er stehen und sah sie an. Ihr aschblondes Haar war zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die von kleinen, mit grünen Steinen verzierten Magnetspangen zusammengehalten wurden. Es waren billige Spangen, und sie wirkten schon sehr abgegriffen. Sie trug nur ein schlichtes Baumwollkleid, mehr war in diesem milden Klima nicht nötig. Rik selbst begnügte sich mit einem offenen, ärmellosen Hemd und einer Baumwollhose.

»Wie ich höre, hat es beim Mittagessen einen Zwischenfall gegeben«, sagte sie.

Sie hatte, wie nicht anders zu erwarten, einen harten, bäuerlichen Akzent, während Riks Aussprache von flachen Vokalen geprägt war. Außerdem näselte er ein wenig. Im Dorf lachte man ihn deshalb aus und äffte ihn nach, aber Valona tröstete ihn, die Leute wüssten es eben nicht besser.

»Alles in Ordnung, Lona«, murmelte er jetzt.

Sie ließ nicht locker. »Du sollst gesagt haben, du erinnerst dich an etwas. Ist das wahr, Rik?«

Auch sie nannte ihn Rik. Wie hätte sie ihn auch sonst nennen sollen? Er hatte sich nie an seinen richtigen Namen erinnern können. Dabei hatte er sich verzweifelt bemüht, und auch Valona hatte versucht, ihm zu helfen. Eines Tages hatte sie sogar irgendwo ein zerfleddertes Adressbuch aufgetrieben und ihm daraus alle Vornamen vorgelesen. Doch sie waren ihm alle gleich fremd vorgekommen.

Nun sah er sie offen an und sagte: »Ich werde die Fabrik verlassen müssen.«

Valona zog die Stirn in Falten. Ihr rundes, breites Gesicht mit den flachen, hoch angesetzten Backenknochen verdüsterte sich. »Das kannst du nicht machen. Das wäre nicht recht.«

»Ich muss mehr über mich in Erfahrung bringen.«

Valona fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Lass das lieber bleiben.«

Rik wandte sich ab. Er wusste ja, dass sie sich nur Sorgen um ihn machte. Sie hatte ihm damals den Posten in der Fabrik verschafft. Er hatte mit solchen Maschinen keinerlei Erfahrung gehabt. Vielleicht hatte er es auch nur vergessen. Jedenfalls hatte Lona so lange darauf bestanden, dass er für die schweren Arbeiten nicht kräftig genug sei, bis die Verantwortlichen ihm eine kostenlose Ausbildung zum Techniker genehmigten. Und vorher, in den grauenhaften Tagen, als er kaum einen Laut herausbrachte und nicht wusste, was er mit dem Essen anfangen sollte, das man ihm hinstellte, hatte sie unermüdlich auf ihn aufgepasst und ihn gefüttert. Ohne sie hätte er nicht überlebt.

»Es muss aber sein«, sagte er.

»Sind es wieder diese Kopfschmerzen, Rik?«

»Nein. Ich habe mich wirklich an etwas erinnert. Ich weiß jetzt, was ich für einen Beruf hatte – vorher!«

Eigentlich wollte er ihr gar nicht mehr erzählen. Er schaute in die Ferne. Die wärmende Sonne würde noch mindestens zwei Stunden über dem Horizont stehen. Rings um die Fabriken lagen die Arbeiterhütten, eine Reihe wie die andere, kein schöner Anblick, doch Rik wusste, dass sie nur die Anhöhe zu ersteigen brauchten, um die Felder in all ihrer rotgoldenen Pracht vor sich liegen zu sehen.

Er liebte den Blick über die Felder, hatte ihn von Anfang an als beruhigend, geradezu beglückend empfunden. Schon bevor er wusste, dass die Farben Rot und Gold hießen oder dass es so etwas wie Farben überhaupt gab, damals, als er seiner Freude nur mit einem leisen Glucksen Ausdruck verleihen konnte, waren seine Kopfschmerzen schneller abgeklungen, wenn er auf den Feldern war. Seinerzeit hatte sich Valona an jedem Mußetag einen Diamagnetschweber ausgeliehen und zusammen mit ihm das Dorf verlassen. Meile um Meile sausten sie dann eine Handbreit über der Straße auf dem Antigrav-Feld dahin wie auf einem weichen Kissen, bis kein Haus mehr zu sehen war und ihm nur noch der Wind über das Gesicht strich und den Duft der Kyrtblüten zutrug.

Irgendwann setzten sie sich inmitten dieses duftenden Farbenmeers an den Straßenrand, teilten sich einen Nahrungswürfel und ließen sich von der Sonne bescheinen, bis es Zeit war für die Rückfahrt.

Rik fand die Erinnerung verlockend. »Ich möchte auf die Felder, Lona«, sagte er.

»Es ist schon spät.«

»Bitte. Wenigstens aus dem Dorf hinaus.«

Sie tastete nach dem dünnen Geldbeutel, den sie unter ihrem weichen, blauen Ledergürtel – dem einzigen Luxus, den sie sich gestattete – zu tragen pflegte.

Rik hielt sie zurück. »Wir gehen zu Fuß.«

Eine halbe Stunde später bogen sie von der Hauptstraße auf einen der vielfach gewundenen, staubfreien Sandwege ab. Beide schwiegen bedrückt, in Valona regte sich eine Angst, die ihr inzwischen wohlvertraut war. Sie hatte keine Worte, um auszudrücken, was sie für ihn empfand, und deshalb hatte sie es auch nie versucht.

Wenn er sie nun verließ? Er war klein für einen Mann, nicht größer als sie selbst und sogar etwas leichter. In vieler Hinsicht war er immer noch so hilflos wie ein Kind. Aber bevor jemand seinen Verstand abgeschaltet hatte, musste er ein gebildeter Mann gewesen sein. Ein sehr wichtiger, gebildeter Mann.

Valona selbst hatte keine besondere Erziehung genossen. Sie hatte nur lesen und schreiben gelernt und danach auf der Berufsschule gerade so viel an technischen Fertigkeiten vermittelt bekommen, dass sie imstande war, die Maschinen in der Fabrik zu bedienen. Aber sie wusste immerhin, dass nicht alle Menschen einen so beschränkten Horizont hatten. So verfügte etwa der Schultheiß über ein umfangreiches Wissen, von dem sie alle profitierten. Gelegentlich kamen auch »Herren« auf Inspektionsbesuch ins Dorf. Valona hatte sie nie aus der Nähe gesehen, doch als sie einmal an einem Festtag die Stadt besuchte, hatte sie von ferne eine ganze Gruppe dieser prächtig gekleideten Überwesen bestaunen können. Gelegentlich durften die Fabrikarbeiter auch zuhören, wenn sich gebildete Leute unterhielten. Es klang anders, flüssiger, der Tonfall war weniger hart, dafür verwendeten sie längere Worte. Auch Rik sprach immer öfter so, seit sein Gedächtnis allmählich zurückkehrte.

Seine ersten Worte hatten sie erschreckt. Sie waren ganz plötzlich gekommen, nach einem Kopfschmerzanfall, bei dem er lange vor sich hingewimmert hatte. Seine Aussprache war sonderbar, und sie hatte versucht, ihn zu verbessern, aber er war nicht darauf eingegangen.

Schon damals hatte sie befürchtet, er würde sie verlassen, wenn er sich an zu vieles erinnerte. Sie war doch nur Valona March, von allen »die Starke Lona« genannt. Sie war nicht verheiratet und würde auch nie heiraten. Eine Riesin mit großen Füßen und schwieligen, roten Händen fand keinen Mann. Wenn die Jungen beim Festschmaus an den Mußetagen einfach über sie hinwegschauten, pflegte sie sich mit grollenden Blicken zu revanchieren. Backfischhaft zu kichern oder ihnen schöne Augen zu machen, war ihr nicht gegeben.

Sie würde niemals ein Baby in den Armen halten. Von den Mädchen im Dorf bekam eins nach dem anderen ein Kind, und sie drängte sich jedes Mal wieder heran, um sich das rotgesichtige, kahlköpfige Etwas anzusehen, die zusammengekniffenen Augen, die ohnmächtig geballten Fäuste, das zahnlose Mündchen …

»Als Nächste bist du dran, Lona.«

»Wann kriegst du denn endlich ein Baby, Lona?«

Sie konnte sich nur stumm abwenden.

Doch dann kam Rik, und er war so gut wie ein Baby. Er musste gefüttert und versorgt, in die Sonne gebracht und in den Schlaf gewiegt werden, wenn ihn wieder einmal seine Kopfschmerzen peinigten.

Die Kinder rannten hinter ihr her, lachten sie aus und schrien: »Lona hat ’nen Liebhaber. Die Starke Lona hat ’nen närrischen Liebhaber. Lonas Liebhaber ist ein Rik.«

Und später, als Rik allein gehen konnte (an dem Tag, als er seine ersten Schritte machte, war sie so stolz auf ihn gewesen, als sei er wirklich erst ein Jahr alt und nicht um die dreißig) und sich ohne Begleitung auf die Dorfstraßen hinauswagte, da liefen sie ihm nach, umringten ihn und quälten ihn mit schrillem Gelächter und dummen Spottversen, nur um zu erleben, wie ein erwachsener Mann vor ihnen zurückschreckte, verängstigt die Hände vors Gesicht schlug und nur noch leise wimmern konnte. Dutzende Male war sie damals aus dem Haus gestürmt, hatte die Gören angeschrien und sie mit ihren großen Fäusten bedroht.

Diese Fäuste fürchteten sogar erwachsene Männer. Am ersten Tag, als sie Rik zur Arbeit in die Fabrik brachte, hatte sie ihren Abteilungsleiter mit einem einzigen Hieb zu Boden gestreckt, weil sie mitbekam, wie er hämisch eine zweideutige Anspielung über sie beide vom Stapel ließ. Der Fabrikrat zog ihr zur Strafe einen vollen Wochenlohn ab und hätte sie vielleicht sogar in die Stadt geschickt, um sie bei den »Herren« vor Gericht zu stellen, wenn sich nicht der Schultheiß mit der Begründung, man habe sie provoziert, für sie eingesetzt hätte.

Deshalb wollte sie nicht, dass Rik sein Gedächtnis wiederfand. Sie wusste ja, dass sie ihm nichts zu bieten hatte; es war selbstsüchtig, sich zu wünschen, er möge immer ein hilfloser Schwachsinniger bleiben. Aber sie hatte eben noch nie erlebt, dass jemand so vollständig auf sie angewiesen war. Und sie hatte Angst davor, wieder einsam zu sein.

»Bist du sicher, dass deine Erinnerungen echt sind, Rik?«, fragte sie.

»Ja.«

Inmitten der Felder blieben sie stehen. Florinas Sonne übergoss alles mit ihrem rötlichen Schein. Bald würde der laue Abendwind den Duft der Kyrtblüten überall verbreiten. Die schachbrettförmig angeordneten Bewässerungskanäle färbten sich bereits violett.

»Wenn eine Erinnerung kommt, ist sie auch zuverlässig, Lona«, sagte er. »Das müsstest du eigentlich wissen. Zum Beispiel hast du mich nicht sprechen gelehrt. Ich selbst habe mich an die Worte erinnert. So war es doch? Oder?«

»Ja«, gab sie widerstrebend zu.

»Ich kann mich sogar erinnern, wie du mich mit auf die Felder genommen hast, bevor ich sprechen konnte. Und es kommt ständig etwas Neues hinzu. Gestern fiel mir ein, wie du mir einmal einen Kyrtkäfer gefangen hast. Du hattest ihn zwischen deinen Händen eingesperrt, und ich musste mein Auge an den Spalt zwischen den Daumen legen, um sehen zu können, wie er im Dunkeln orange und violett leuchtete. Ich habe gelacht und mit den Fingern deine Hände auseinandergedrückt, um ihn zu erhaschen. Da ist er weggeflogen, und ich habe geweint. Damals wusste ich nicht, dass es ein Kyrtkäfer war, auch sonst wusste ich nichts darüber, aber jetzt sehe ich alles ganz deutlich vor mir. Und du hast mir nie davon erzählt, Lona, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber es war doch so? Ich habe mich richtig erinnert, oder?«

»Ja, Rik.«

»Und jetzt ist etwas über mich selbst aufgetaucht, aus der Zeit vorher. Es muss ein Vorher gegeben haben, Lona.«

Er hatte recht, auch wenn ihr der Gedanke daran schier das Herz zerriss. Es war ein anderes »Vorher«, nicht zu vergleichen mit dem »Jetzt«, in dem sie lebten. Und es musste auf einer anderen Welt gewesen sein, denn ein Wort, an das er sich nicht erinnert hatte, war »Kyrt«. Sie hatte ihm erst beibringen müssen, wie man das nannte, worum sich auf Florina alles drehte.

»Was ist denn nun aufgetaucht?«, fragte sie.

Riks Begeisterung schien jäh zu erlöschen. Er blieb ein paar Schritte zurück. »Es ergibt nicht viel Sinn, Lona. Ich weiß nur, dass ich einen Beruf hatte, und ich weiß auch, was ich tat. Ungefähr jedenfalls.«

»Und was hast du gemacht?«

»Ich habe Nichts analysiert.«

Sie fuhr herum und sah ihm in die Augen. Dann legte sie ihm die flache Hand auf die Stirn, bis er gereizt zurückwich. »Sind das etwa wieder diese Kopfschmerzen, Rik?«, fragte sie. »Du hattest sie seit Wochen nicht mehr.«

»Es geht mir gut. Und jetzt lass mich in Ruhe.«

Sie senkte den Blick, und er entschuldigte sich sofort. »Das soll nicht heißen, dass du mir lästig wärst, Lona. Aber ich fühle mich wohl, und ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst.«

Ihre Miene hellte sich auf. »Was bedeutet ›analysiert‹?« Er kannte viele Worte, die ihr fremd waren, und wenn sie sich vorstellte, wie gebildet er einmal gewesen sein musste, wurde sie richtiggehend verlegen.

Er überlegte kurz. »›Analysieren‹ bedeutet – es bedeutet ›auseinandernehmen‹ oder ›zerlegen‹. Wie wir eine Sortiermaschine zerlegen würden, um festzustellen, warum der Abtaststrahl nicht mehr richtig funktioniert.«

»Aha. Aber Rik, wie kann man davon leben, nichts zu analysieren? Das ist doch kein Beruf.«

»Ich habe nicht gesagt, ich hätte nichts analysiert. Ich meinte Nichts, das Nichts, mit einem großen N.«

»Ist das nicht dasselbe?« Bald war es so weit, dachte sie. Erst würde er finden, dass sie dummes Zeug redete, und dann würde er sich abgestoßen fühlen und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.

»Nein, natürlich nicht.« Er holte tief Atem. »Aber ich kann dir den Unterschied leider nicht erklären. An mehr erinnere ich mich nämlich nicht. Aber es muss eine wichtige Aufgabe gewesen sein. Das habe ich im Gefühl. Jedenfalls war ich kein Verbrecher.«

Valona zuckte zusammen. Das hätte sie ihm nie verraten dürfen. Sie hatte sich eingeredet, sie müsse ihn warnen, es sei nur zu seinem Besten, aber jetzt erkannte sie, dass sie ihn nur noch fester an sich hatte binden wollen.

Damals hatte er zum ersten Mal gesprochen. Es hatte sie erschreckt, weil es so plötzlich gekommen war. Sie hatte nicht einmal gewagt, dem Schultheiß davon zu erzählen. Am nächsten Mußetag hatte sie fünf Credits von ihrer Aussteuerrücklage abgehoben – da es ohnehin nie einen Mann geben würde, der sich für ihre Mitgift interessierte, kam es weiter nicht darauf an – und war mit Rik in die Stadt zu einem Arzt gefahren. Obwohl sie Namen und Adresse auf einem Stück Papier bei sich trug, hatte sie zwei grauenvolle Stunden lang gebraucht, um zwischen den mächtigen Pfeilern, auf denen die Obere Stadt im Licht der Sonne ruhte, das richtige Gebäude zu finden.

Sie hatte darauf bestanden, bei der Untersuchung zugegen sein zu dürfen. Der Arzt hatte mit sonderbaren Instrumenten alle möglichen, furchteinflößenden Dinge angestellt. Als er Riks Kopf zwischen zwei Metallplatten steckte und ihn aufleuchten ließ wie einen Kyrtkäfer in der Nacht, war sie aufgesprungen und ihm in den Arm gefallen. Daraufhin hatte er zwei Männer gerufen, und die hatten sie hinausgeschleppt, so heftig sie sich auch dagegen wehrte.

Eine halbe Stunde später war der Arzt, ein großer, ernster Mann, zu ihr gekommen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, denn er war ein »Herr«, auch wenn seine Praxis in der Unteren Stadt lag. Aber er hatte freundliche, ja, gütige Augen. Er trocknete sich die Hände an einem kleinen Handtuch ab und warf es, obwohl es ihrer Meinung nach vollkommen sauber war, in einen Abfallbehälter.

»Wo hast du diesen Mann kennengelernt?«, fragte er.

Sie hatte sich sehr zurückgehalten und ihm nur das Nötigste erzählt. Den Schultheiß und die Gendarmen hatte sie mit keinem Wort erwähnt.

»Dann weißt du nichts über ihn?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts, was vorher war.«

»Der Mann wurde mit einer Psychosonde behandelt«, sagte er. »Weißt du, was das ist?«

Zuerst hatte sie wieder den Kopf geschüttelt, um dann, kaum hörbar, zu flüstern: »Macht man das nicht mit Verrückten, Doktor?«

»Und mit Verbrechern. Um ihnen zu helfen, indem man ihr Bewusstsein verändert. Die Psychosonde macht sie geistig gesund, das heißt, sie wirkt auf die Teile ihres Gehirns, die sie zum Stehlen oder zum Töten drängen. Verstehst du das?«

Sie verstand. Sie wurde knallrot im Gesicht und sagte: »Rik hat nie etwas gestohlen, und er hat nie jemandem wehgetan.«

»Du nennst ihn Rik?«, fragte er belustigt. »Aber hör mal, woher willst du wissen, was er getan hat, bevor du ihn kennengelernt hast? Aus seiner jetzigen Verfassung ist kaum noch etwas abzulesen. Es war eine gründliche, um nicht zu sagen brutale Sondierung. Wie viel von seinen Erinnerungen unwiderruflich gelöscht wurde und was er nur vorübergehend durch den Schock verloren hat, kann ich nicht sagen. Ein Teil davon wird mit der Zeit wiederkommen, so, wie er wieder sprechen gelernt hat, aber nicht alles. Man sollte ihn unter Beobachtung stellen.«

»Nein, nein. Er muss bei mir bleiben. Bei mir ist er in guten Händen, Doktor.«

Er legte die Stirn in Falten, dann wurde seine Stimme sanft. »Kind, ich denke dabei nur an dich. Vielleicht hat man nicht alles Schlechte aus seinem Gehirn getilgt. Du willst doch sicher nicht, dass er dir eines Tages etwas antut.«

In diesem Augenblick war eine Pflegerin mit Rik ins Zimmer gekommen. Sie redete leise, mit beruhigender Stimme auf ihn ein wie auf ein kleines Kind. Rik hielt sich den Kopf und starrte ins Leere. Erst als er Valona erkannte, fand sein Blick ein Ziel, er streckte ihr die Hände entgegen und jammerte: »Lona …«

Sie stürzte auf ihn zu, zog seinen Kopf an ihre Schulter und hielt ihn ganz fest. »Er würde mir nie etwas antun«, erklärte sie dem Arzt. »Ganz gleich, was geschieht.«

Der Arzt war nachdenklich geworden. »Ich werde den Fall natürlich melden müssen. Er muss in einem erbarmungswürdigen Zustand gewesen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ihm gelungen ist, den Behörden zu entwischen.«

»Heißt das, dass man ihn mir wegnehmen wird, Doktor?«

»Ich fürchte, ja.«

»Bitte, Doktor, tun Sie das nicht.« Sie zerrte an dem Taschentuch, in das sie die fünf blanken Creditmünzen geknüpft hatte. »Sie können sie alle behalten, Doktor«, sagte sie. »Ich werde gut auf ihn aufpassen. Er wird niemandem etwas zuleide tun.«

Der Arzt betrachtete die Münzen in seiner Hand. »Du bist Fabrikarbeiterin?«

Sie nickte.

»Wie viel bezahlt man dir in der Woche?«

»Zwei Komma acht Credit.«

Er warf die Münzen in die Luft, fing sie mit beiden Händen auf und klimperte damit herum. Dann gab er sie ihr zurück. »Nimm nur, Mädchen. Die Untersuchung ist kostenlos.«

Sie konnte so viel Großzügigkeit kaum fassen. »Sie werden ihn nicht verraten, Doktor?«

Doch er sagte: »Ich habe keine andere Wahl. Gesetz ist Gesetz.«

Sie hatte Rik verzweifelt an sich gedrückt und war schweren Herzens und wie blind mit ihm ins Dorf zurückgefahren.

Eine Woche darauf wurde in den Hypervideo-Nachrichten gemeldet, durch das kurzzeitige Versagen eines örtlichen Leitstrahls sei es zu einem Gyrounfall gekommen, bei dem ein Arzt getötet worden sei. Der Name kam ihr bekannt vor, und noch am gleichen Abend verglich sie ihn in ihrem Zimmer mit dem Namen auf dem Stück Papier. Die beiden waren identisch.

Sie war traurig, der »Herren«-Arzt war ein guter Mensch gewesen. Ein Mitarbeiter hatte ihr vor langer Zeit den Zettel mit seinem Namen zugesteckt und ihr gesagt, dieser Doktor habe ein Herz für die Fabrikarbeiter. Sie hatte sich den Fetzen für Notfälle aufgehoben, und als sie in Not war, hatte der Arzt sich tatsächlich sehr anständig verhalten. Dennoch überwog nun die Freude. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, Rik den Behörden zu melden. Jedenfalls kam nie jemand ins Dorf, um Erkundigungen einzuziehen.

Später, als Rik vernünftiger war, hatte sie ihm erzählt, was der Arzt ihr gesagt hatte, um zu erreichen, dass er im Dorf blieb, wo ihm nichts geschehen konnte.

Rik schüttelte sie und riss sie damit jäh aus ihren Gedanken.

»Hörst du nicht?«, sagte er. »Wie kann ich ein Verbrecher gewesen sein, wenn ich einen wichtigen Posten hatte?«

»Könntest du nicht trotzdem ein Unrecht begangen haben?«, fragte sie schüchtern. »Selbst wenn du ein großer Mann gewesen wärst? Sogar die ›Herren‹ …«

»Ich bin mir ganz sicher. Aber ich muss mehr wissen, um auch anderen diese Gewissheit zu geben, das siehst du doch ein? Es ist die einzige Möglichkeit. Ich muss die Fabrik und das Dorf verlassen, um herauszufinden, was mit mir geschehen ist.«

Die Panik drohte sie zu überwältigen. »Rik! Das wäre gefährlich. Und wozu auch? Selbst wenn du Nichts analysiert haben solltest, warum ist es so wichtig, mehr darüber zu erfahren?«

»Weil es noch etwas gibt, woran ich mich erinnere.«

»Und was ist das?«

»Das möchte ich dir nicht sagen«, flüsterte er.

»Du solltest es aber jemandem sagen. Am Ende vergisst du es wieder.«

Er ergriff ihren Arm. »Du hast recht. Versprichst du mir, sonst mit keinem Menschen darüber zu sprechen, Lona? Du bist jetzt mein zweites Gedächtnis, für den Fall, dass ich das erste wieder verliere.«

»Klar, Rik.«

Rik sah sich um. Die Welt war so wunderschön. Valona hatte ihm einmal erzählt, in der Oberen Stadt, ja, viele Meilen darüber hänge ein riesiges, leuchtendes Schild mit der Aufschrift:

Von allen Planeten in der Galaxis

ist Florina der schönste.

Und wenn er sich so umsah, glaubte er das sofort.

»Es ist eine schlimme Erinnerung«, sagte er, »aber wenn ich mich an etwas erinnere, ist es immer wahr. Es kam mir heute Nachmittag.«

»Ja?«

In seinen Augen stand das nackte Grauen. »Florina muss sterben, die ganze Welt, mit allen, die auf ihr leben.«