Michael Honig

Mächtig senil

Die unglaublichen Pflegejahre des Wladimir P.

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Michael Honig

Michael Honig ist das Pseudonym eines ehemaligen Arztes, der mit Ehefrau und Sohn in London lebt. Für seinen satirischen Debütroman »Goldblatt's Descent«, der über das britische Gesundheitssystem handelt und 2013 bei Atlantic Books erschien, heimste er in seiner britischen Heimat bereits viel Lob ein. Mit seiner Satire »Mächtig senil« über Russlands Präsidenten Wladimir Putin erscheint er erstmals auf Deutsch.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Senility of Vladimir P« bei Atlantic Books.

 

© 2016 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2016 Michael Honig

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Antje Steinhäuser

Covergestaltung: Andy Jörder, München

Coverabbildung: Andy Jörder, München

ISBN 978-3-426-43831-2

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Kapitel 1

Er wusste nicht, wie lange er schon so dagesessen hatte. Es konnten zwei Stunden gewesen sein. Oder zwei Jahre.

Plötzlich erwachte eine Verbindung in seinem Hirn zum Leben und löste eine Kettenreaktion aus. Wie ein momentanes Aufflackern von Sternen einer sich verdunkelnden sterbenden Galaxie.

»Warum bin ich hier?«, brüllte er zornig. »Was mache ich überhaupt?«

»Warten«, sagte Scheremetew, während er eines der Kissen auf seinem Bett aufschüttelte.

»Worauf?«

»Auf die Besprechung.«

Wladimirs Augen wurden schmal. »Hat man mich gebrieft?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Scheremetew gelassen.

»Gut.« Wladimir nickte. Seine Miene veränderte sich, sein Zorn verschwand. Er hatte bereits wieder vergessen, was ihn geärgert hatte. Die Verbindung, wo auch immer in seinem Hirn, war unterbrochen und würde vielleicht nie wieder hergestellt. Und die zeitweise aufflackernde Selbstwahrnehmung in seinem Bewusstsein war wieder vorbei. Er saß still da und beobachtete Scheremetew bei der Arbeit. Wladimir hätte nicht sagen können, wer genau der andere Mann war, aber er fühlte sich wohl mit ihm. Es kam ihm nicht ungewöhnlich vor, dass er ihm beim Machen des Betts zusah und dass das vielleicht schon öfter vorgekommen war.

Scheremetew war ein kleiner Mann, der ein einfaches weißes Hemd und eine dunkle Hose trug. Er hatte noch nie eine Uniform getragen, wenn er nach Wladimir sah, aber die Geschicklichkeit und Ökonomie seiner Bewegungen beim Bettenmachen verrieten, dass er ein erfahrener Krankenpfleger war. Vor knapp sechs Jahren hatte der bekannte Neurologe Professor W. N. Kalin ihn gebeten, Wladimirs persönlicher Betreuer zu werden. Das war kurz nachdem Wladimir bekannt gegeben hatte, er würde das Präsidentenamt niederlegen. Damals war sein Zustand für die engsten Mitarbeiter zwar unübersehbar gewesen, aber es ging ihm noch gut genug, sodass er exakt choreografierte öffentliche Auftritte, auf die man ihn sorgsam vorbereitete, hatte absolvieren können. Sein Nachfolger, Gennadi Swerkow, hatte ihn sogar noch gelegentlich im Rollstuhl vorgeführt. Das war der Versuch gewesen, ein wenig von der Magie des alten Zauberers auf seine eigene farblose Regierung wirken zu lassen. Damals verfügte Wladimir noch über einen Diener, der ihn anzog, und zwei Mitarbeiter, die ihn über die Ereignisse auf dem Laufenden hielten. Scheremetews Rolle war noch begrenzt gewesen. Doch im selben Maße, in dem Wladimirs Gedächtnis sich verschlechterte, wuchs Scheremetews Verantwortung. Innerhalb weniger Jahre waren Wladimirs öffentliche Auftritte allerdings so unberechenbar geworden, dass selbst Swerkows Leute sich fürchteten, ihn zur Schau zu stellen. Gerüchte über seinen Zustand – die nie bestätigt wurden – machten die Runde. Seine Auftritte wurden weniger. Zuerst wurden die beiden Mitarbeiter entlassen, dann der Diener, sodass Scheremetew allein mit ihm blieb.

Der Pfleger hatte sich nie mit Politik beschäftigt und nicht verfolgt, wer im Kreml wem was antat. Für ihn war dieses ganze Geschäft wie eine trübe Suppe, in der Namen ohne ersichtlichen Rhythmus oder Grund aufstiegen und versanken. Was sich unter der Oberfläche zutrug – und da musste sich definitiv etwas zutragen, wie alle sagten –, verstand er nicht. Er hatte auch nichts mitbekommen von dem Gerücht, wonach man Wladimir aus dem Amt gezwungen hatte, als seine alternden Spießgesellen sich in den Tagen seines schwindenden Einflusses an ihre Ämter klammerten. Er wusste lediglich, dass der Präsident seinen Rücktritt verkündet hatte. Nur wenige Wochen danach hatte Professor Kalin ihn in sein Büro gerufen.

»Kennen Sie meine Mutter?«, fragte Wladimir, während Scheremetew das letzte Kissen aufschüttelte und auf das Bett legte.

»Nein, Wladimir Wladimirowitsch. Ich hatte nie die Ehre, sie kennenzulernen.«

»Ich werde Sie ihr vorstellen. Sie kommt später hierher. Ich habe ihr einen Wagen schicken lassen.«

Scheremetew wandte sich ab. »Es ist Zeit für Eure Dusche, Wladimir Wladimirowitsch. Ihr müsst Euch heute etwas Besonderes anziehen. Der neue Präsident kommt, um Euch zu treffen.«

Wladimir sah ihn verwirrt an. »Der neue Präsident? Bin ich denn nicht der Präsident?«

»Nicht mehr, Wladimir Wladimirowitsch. Jetzt ist jemand anderer Präsident.«

Wladimirs Augen wurden schmal. In den Anfangsjahren hätte ihn das vielleicht in Rage bringen können. Aber die Wutanfälle waren inzwischen seltener, und wenn sie vorkamen, dauerten sie nicht lange. Nichts von dem, was man Wladimir sagte, blieb ihm lange im Gedächtnis. Wenn er sich aufregte, dann wahrscheinlich, weil er an etwas dachte, das vor zwanzig oder dreißig Jahren geschehen war.

»Kommt jemand?«, fragte Wladimir schließlich. »Haben Sie das gerade gesagt?«

»Ja. Der neue Präsident, Konstantin Michailowitsch Lebedew.«

Wladimir schnaubte. »Lebedew ist der Finanzminister!«

Scheremetew hatte keine Ahnung, ob Lebedew je Finanzminister gewesen war, aber gegenwärtig war er es jedenfalls nicht. »Er ist der neue Präsident, Wladimir Wladimirowitsch. Er möchte Euren Segen. Das ist doch schön, nicht wahr? Es zeigt, wie sehr er Euch respektiert.«

»Meinen Segen?« Wladimir runzelte die Stirn. »Bin ich denn ein Priester?«

»Nein.«

»Warum will er dann meinen Segen?«

»Das ist eine Redewendung, Wladimir Wladimirowitsch. In diesem Fall seid Ihr quasi ein Priester.«

Wladimir musterte Scheremetew misstrauisch. »Wo sind wir?«

»Auf der Datscha.«

»Welcher Datscha?«

»Nowo Ogarjowo.«

»Nowo Ogarjowo? Warum treffe ich Lebedew hier? Warum nicht in meinem Amtssitz?«

»Heute trefft Ihr ihn hier.«

»Ich werde diesen Hundesohn feuern. Haben wir Kameras da?«

»Ich denke, es werden Kameras da sein.«

»Gut. Wollen mal sehen, wie ihm das gefällt!« Wladimir kicherte. Er erinnerte sich daran, wie er vor laufenden Fernsehkameras in Seweromorsk Admiral Alexej Gorki, den Kommandeur der Nordmeerflotte, geschasst hatte. Das war ein Spaß gewesen. Plötzlich sah er Gorki direkt vor sich. Der Ausdruck in Gorkis Gesicht! Der alte Pfau mit seiner großen Schirmmütze hatte alle Kameras auf sich gerichtet gesehen und gedacht, Wladimir sei gekommen, um ihm eine weitere Auszeichnung an seine überdekorierte Brust zu pinnen, und mit einem Mal, bevor er wusste, wie ihm geschah, war er gefeuert. »Das hast du nicht kommen sehen, was, Alexej Maksimowitsch? Wer ist jetzt hier der Chef, hä? Das wird dich lehren, darüber zu lamentieren, nicht genug Geld für die Flotte zu haben!« Wladimir lachte und haute mit den Fäusten auf die Armlehnen.

Scheremetew hatte ihn allein gelassen und war in Wladimirs Ankleidezimmer gegangen. Anlässlich des Besuchs des neuen Präsidenten war er entschlossen, dafür zu sorgen, dass sein Patient auch wie ein Präsident aussah. Er nahm sich Zeit vor den schwer beladenen Kleiderständern und gefüllten Regalen, zog Verschiedenes in Erwägung, bis er sich schließlich für einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd, eine rote Krawatte mit weißen Tupfen und ein Paar schwarze Lederschuhe entschied. Aus Wladimirs eindrucksvoller Uhrensammlung nahm er ein einfaches, aber elegantes Stück mit flachem Goldgehäuse, weißem Zifferblatt, goldenen Zeigern und Lederarmband.

Er trug alles zurück ins Schlafzimmer und legte die Kleidungsstücke auf dem Bett aus.

»Kommt, Wladimir Wladimirowitsch. Zeit für Eure Dusche. Wir müssen Euch herausputzen.«

Wladimir sah ihn zweifelnd an. »Warum?«

»Konstantin Michailowitsch kommt, um Euch zu treffen.«

»Lebedew? Meinst du den? Der sollte lieber zu einem Priester gehen.«

»Warum?«, fragte Scheremetew.

Wladimir runzelte die Stirn. Er hatte das Gefühl, Lebedew brauche einen Priester, aber er hatte keine Ahnung, warum. »Seine Mutter liegt im Sterben«, schlug er vor.

 

Die Kameras waren im Erdgeschoss der Datscha in einem formellen Empfangsraum aufgestellt worden, den man seit Jahren nicht mehr benutzt hatte, aber jetzt war der Raum zu diesem Zweck gelüftet und geputzt worden. Zwei Sessel mit Armlehnen waren im Fünfundvierzig-Grad-Winkel zu beiden Seiten eines verzierten Kamins platziert, und Studioscheinwerfer beleuchteten das Ganze von links und rechts. In der Küche der Datscha hatten Küchenchef Viktor Stepanin und seine Brigade seit dem Morgengrauen an einen Buffet aus Canapés und Snacks gearbeitet, das nun auf Tischen an einer Seite des Raums hergerichtet war. Am Ende der Tische stand ein großer untersetzter Mann in dunkelgrauem Anzug mit üppiger grauer Mähne und zwei seriös aussehenden persönlichen Beratern des Präsidenten. Andere Berater, Fernsehtechniker und Sicherheitsleute waren hinter den Kameras zugange.

Scheremetew führte Wladimir herein. Stille breitete sich im Raum aus. Aller Augen richteten sich auf den alten Mann im blauen Anzug, der im Türrahmen stehen geblieben war. Ein paar graue Haarsträhnen klebten an seinem Kopf. Das Gesicht war faltig mit Hängebacken, und doch erkannte man an dem kantigen Kinn, der breiten Stirn, den eng und leicht schräg stehenden kalten blauen Augen immer noch sofort das Gesicht, das dreißig Jahre lang das meistfotografierte Russlands gewesen war.

Wladimir sah Scheremetew verwirrt an.

»Es ist alles in Ordnung, Wladimir Wladimirowitsch«, flüsterte der. »Das sind nur die Leute, die wegen des Treffens gekommen sind.«

»Gehe ich zu einem Treffen?«

»Ja.«

»Wurde ich gebrieft?«

»Selbstverständlich.«

Wladimir blickte wieder um sich, jetzt beruhigt, und nahm die Lampen und Kameras wahr. Ein letzter Rest Instinkt regte sich in dem Anführer, der er einst gewesen war, und er drückte den Rücken durch, reckte das Kinn, und ein leicht herablassendes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Wen treffe ich?«, flüsterte er.

»Lebedew«, erwiderte Scheremetew.

»Natürlich. Lebedew!«, murmelte er, und in seiner Stimme war eine Spur Kampfgeist, während er einen flüchtigen Blick auf den untersetzten Mann mit seinen Beratern auf der anderen Seite des Raumes warf. »Die Zeit ist gekommen!«

Konstantin Michailowitsch Lebedew hatte als Bürgermeister von Moskau erstmals seinen Fuß auf die politische Karriereleiter gestellt. Er kombinierte eine überschwängliche öffentliche Persönlichkeit mit einer heimlichen, feigen Unterwürfigkeit gegenüber den Befehlen aus dem Kreml, sodass er Wladimir wie der perfekte Strohmann erschien. Einmal an der Macht, war er rasch berüchtigt für seine bodenlose Korruptheit, was ihn sogar noch weniger bedrohlich scheinen ließ. Eher interessiert an Geld als an Macht. Damit war er ein Politiker der Sorte, die Wladimir immer gern förderte. Rückblickend hatte es jedoch selbst in den frühen Tagen schon Anzeichen dafür gegeben, dass Lebedew schlimmer war, als er aussah. Was er mit einer Hand als Bestechung nahm, gab er – zumindest teilweise – mit der anderen zurück. Den Durchschnittsmoskowiter machte er mit einer Reihe populistischer Maßnahmen glücklich, die jedoch nichts für die Zukunft der Stadt brachten, sondern nur allen ein paar Extrakopeken bescherten. Bald nannten die Medien ihn Onkel Kostja und er genoss diesen Spitznamen. Ein Politiker, den es nach Geld gelüstete und der geliebt werden wollte, wirkte erst recht nicht bedrohlich, und so gestattete Wladimir ihm eine zweite Amtszeit als Bürgermeister. Aber Wladimir musste zugeben, dass er ihn unterschätzt hatte, weil Lebedews Talent für die Rolle des händeschüttelnden Buffo ihn blendete. In Wirklichkeit war Onkel Kostjas Gerissenheit sogar noch größer als seine – zugegebenermaßen enorme – Gier. Von Anfang an hatte er eine weit glitzerndere Belohnung im Auge als das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt. Als Wladimir das erkannte, hatte Lebedew Moskau aber bereits in der Tasche und war eine Macht, mit der man rechnen musste.

Wladimir schickte sich an, ihn zu vernichten. Er nahm ihn in die föderative Regierung auf, nur um ihn ein Jahr danach wegen des Vorwurfs der Inkompetenz und Korruption zu feuern. Lebedew kam verletzt, aber nicht tödlich verwundet davon. Sein Regierungsamt hatte er energisch dazu genutzt, um die Einnahmen einer kurzen, aber monumentalen amtlichen Plünderung an eine Gruppe einflussreicher Unterstützer zu verteilen, die allen Grund hatten, mehr von ihm zu erwarten, falls er in Zukunft erneut an die Macht käme. Außerdem hatte er sich einen beeindruckenden Vorrat an Geheimnissen zugelegt, die bis an die Spitze des Kremls reichten – die äußerste Spitze – und genügten, um ihn vor weiteren Angriffen zu schützen, die ihm vielleicht den Garaus gemacht hätten. Also holte Wladimir ihn zurück und hielt ihn nahe bei sich, während er nach einer anderen Möglichkeit suchte, ihn loszuwerden. In den darauffolgenden zehn Jahren wiederholte sich das Spiel – so spazierte Onkel Kostja in die Regierung und wieder hinaus, plünderte welches Ministerium Wladimir auch immer ihm zur Verfügung stellte, schöpfte immer mehr Reichtum ab und verteilte ihn immer großzügiger, um sich hinter immer breiteren Kohorten von Unterstützern zu verschanzen, bevor er schmachvoll gefeuert wurde. Bei jedem dieser Rauswürfe spielte er seinen onkelhaften Ruf aus und stellte sich als unschuldiges Opfer von Kremlverschwörern dar. Wladimir verfluchte ihn mit tiefempfundenem Hass, mit dieser schier unerträglichen Empörung, die man verspürt, weil man weiß, der einzige Grund für die Existenz dieser Person besteht darin, dass man selbst den Fehler gemacht hat, sie nicht aus dem Weg zu räumen, solange man noch Gelegenheit dazu hatte. Es ist dieser existenzielle Hass, der entsteht, wenn man jemanden ansieht, den man verachtet … und erkennt, dass sich hinter den Gesichtszügen ein Spiegel befindet.

Jetzt ließ er Scheremetew stehen und ging mit großen Schritten durch den Raum auf Lebedew zu, als geschähe das alles hier zwanzig Jahre zuvor und als würde er dieser Schreckensgestalt, die ihm so lange eine Last gewesen war, den Gnadenstoß verpassen. »Konstantin Michailowitsch!«, begrüßte er ihn lauthals.

Einer der Berater Lebedews kam angestürzt. »Wladimir Wladimirowitsch, Präsident Lebedew ist heute hergekommen, um Euch seinen Respekt zu zollen und um Euch zu bitten, zum verheißungsvollen Anlass seiner Wahl ein paar Worte an das russische Volk zu richten. Wenn Ihr beispielsweise sagen könntet –«

»Setzen Sie sich«, sagte Wladimir zu Lebedew und zeigte auf einen der bereitgestellten Sessel.

»Aber Wladimir Wladimirowitsch …«, sagte der Berater.

Wladimir ging zu dem anderen Sessel und blieb dort gebieterisch stehen. Lebedew warf seinem Berater einen Blick zu. »Ich regele das schon«, murmelte er.

Zwei Make-up-Spezialisten eilten herbei, nachdem die beiden Männer sich gesetzt hatten, und tupften auf ihren Gesichtern herum. Wladimir reckte ungeduldig das Kinn. Nach etwa einer Minute scheuchte er sie weg. »Das reicht! Genug!«

Die Visagisten zogen sich zurück.

»Konstantin Michailowitsch, sind Sie so weit?«, fragte der Produzent hinter der Kamera.

Lebedew nickte.

Die Lichter gingen an. Plötzlich war die Szenerie hell erleuchtet. Wladimir schlug mit der Faust auf die Armlehne. »Also? Was haben Sie mir zu berichten, Konstantin Michailowitsch? Ich bin nicht zufrieden! Das Finanzministerium ist eine Schande. Vor einem Jahr haben Sie mir versprochen, dass Sie es in Ordnung bringen. Jetzt ist es schlimmer denn je!«

»Wladimir Wladimirowitsch –«

»Also, Konstantin Michailowitsch? Was haben Sie zu sagen?«

Lebedew drehte sich kurz zu seinen Beratern um und verdrehte die Augen. Dann schaute er wieder den Expräsidenten an. »Sie haben mich doch schon einmal aus dem Finanzministerium gefeuert, Wladimir Wladimirowitsch. Das ist genau dieselbe Ansprache. Wollen Sie die etwa noch mal halten?«

»Habe ich Sie nicht wieder ernannt?«

»Nein«, sagte Lebedew.

»Warum sind Sie dann hier?«

»Dafür.« Lebedew grapschte nach Wladimirs Hand und drehte sich mit einem Lächeln zu den Kameras. »Schauen Sie in die Kamera und schenken Sie uns ein Lächeln, Wladimir Wladimirowitsch.«

Wladimir zog seine Hand weg. »Sie sind ein Gauner, Kostja Lebedew! Sie waren schon immer ein Gauner.«

»Tja, wenn ich ein Gauner war, dann hatte ich Russlands besten Lehrer«, erwiderte Lebedew aus dem Mundwinkel und behielt dabei das Lächeln im Gesicht. »Kommen Sie, seien wir ehrlich, Wladimir Wladimirowitsch.«

»Ehrlich? Schön, lassen Sie uns ehrlich sein. Sie sind nichts als ein Dieb.«

Lebedew beugte sich, nach wie vor lächelnd, nach vorne. »Und Sie? Sie verstanden es immer, sich Ihren Anteil zu sichern. Wo soll ich anfangen? Bei den Olympischen Spielen? Bei der Fußball-WM? Die Ringstraße, die war das Beste. Die wird Moskau noch die nächsten hundert Jahre wie ein Galgenstrick würgen. Wie viel haben Sie von der Ringstraße für sich abgezweigt, Wowa? Zwanzig Prozent?«

»Ich hätte Sie ins Gefängnis werfen sollen. Sie sind der Schlimmste von allen.«

»Ich? Schauen Sie, jetzt bin ich Präsident. Lächeln Sie gefälligst mit Ihrer verdammten Visage, Wowa, und gratulieren Sie mir.«

»Du kannst mich mal, Kostja.«

»Sagen Sie: Ich wünsche Ihnen nur das Beste, Konstantin Michailowitsch. In Ihren Händen ist Mütterchen Russland in Sicherheit.« Lebedew wartete. »Na, Wladimir Wladimirowitsch? Sagen Sie es.«

Wladimir lachte.

»Ich wünsche Ihnen nur das Beste, Konstantin Michailowitsch. In Ihren Händen ist Mütterchen Russland in Sicherheit.«

»In Ihren Händen? Sie werden niemals Präsident, Kostja Lebedew. Das würde nicht einmal Russland sich einbrocken.«

»Na gut, ich werde niemals Präsident. Schön. Es ist nur ein Spiel. Tun wir so, als ob. Sagen Sie: Ich wünsche Ihnen nur das Beste –«

»Riechen Sie was?«

Lebedew hielt inne. »Was?«

»Riechen Sie!«

Lebedew schnupperte. »Ich rieche nichts.«

»Sicher?«

»Soll das ein Witz sein?«

»Sie können es nicht riechen?«

»Was?«, fragte Lebedew.

Wladimir starrte ihn an, dann grinste er vielsagend in sich hinein.

Lebedew holte tief Luft. »Okay«, knurrte er. »Schauen Sie. Sagen Sie das für mich: Ich wünsche Ihnen nur das Beste, Konstantin Michailowitsch. In Ihren Händen –«

Wladimir schlug mit der Faust auf die Armlehne. »Ich bin nicht zufrieden, Konstantin Michailowitsch! Das Finanzministerium ist eine Schande. Vor einem Jahr haben Sie mir versprochen, dass Sie es in Ordnung bringen. Jetzt ist es schlimmer denn je!«

Lebedew drehte sich zum Produzenten. »Haben wir genügend Bilder? Ich hab die Nase voll von diesem alten Idioten.«

»Nur noch einen Moment, Konstantin Michailowitsch.« Der Produzent drängte sich mit ein paar Technikern hinter einem Computerbildschirm. Sie schauten sich das Material in doppelter Geschwindigkeit an, um zu sehen, ob es genug Einstellungen gab, die sie so zusammenschneiden konnten, dass es schien, als hätten die beiden Männer vor den Kameras ein freundschaftliches Treffen absolviert. Es gab Bilder von Wladimir, der in sich hinein lächelte, Lebedew anlachte. Vielleicht mit den richtigen Schnitten und Anschlüssen …

Die herumstehenden Sicherheitsleute verdrückten die Snacks, die der Koch mühevoll hergestellt hatte.

Wladimir winkte Scheremetew. »Was ist mein nächster Termin?«, flüsterte er.

»Ihr habt jetzt Zeit für eine Pause, Wladimir Wladimirowitsch.«

»Und danach?«

»Mittagessen.«

»Mit wem?«

»Ich bin mir nicht sicher, Wladimir Wladimirowitsch.«

»Finden Sie es raus.«

»Wenn’s sein muss, flicken wir daraus irgendwas zusammen«, ließ der Produzent Lebedew wissen. »Aber toll ist es nicht. Vielleicht versuchen Sie es noch mal, Konstantin Michailowitsch.«

»Muttergottes!«, zischte Lebedew. »Wessen Idee war das überhaupt?« Er sah Wladimir an und schüttelte dann angewidert den Kopf. Unfähig oder unwillig, sich zurückzuhalten, sagte der neue Präsident Wladimir noch mal, was er von ihm hielt. Wladimir antwortete ihm mit Begeisterung. Bald beschimpften die beiden einander ohne jegliche Zurückhaltung und warfen sich vor allen in dem überfüllten Raum jahrzehntealte Animositäten an den Kopf.

Abrupt stand Lebedew auf.

»Konstantin Michailowitsch«, sagte einer seiner Berater, »bitte, vielleicht noch ein letzter Versuch.«

Lebedew biss die Zähne zusammen. Dann ergriff er Wladimirs Hand mit ungefähr so viel Freude in seinem Gesicht, als müsse er einen Orang-Utan anfassen. »Ich wünsche Ihnen nur das Beste, Konstantin Michailowitsch«, zischte er. »In Ihren Händen ist Mütterchen Russland sicher.«

»Ich bin nicht Konstantin Michailowitsch, du Idiot. Ich bin Wladimir Wladimirowitsch.«

Lebedew zwang sich zu einem Lächeln für die Kameras. »Nein, Sie sollen das zu mir sagen. In Ihren Händen ist Mütterchen Russland sicher. Sagen Sie es.«

»Du möchtest, dass ich es sage, Kostja?«

»Ja, Wowa, ich möchte, dass du es sagst.«

Wladimir starrte ihn an und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Irgendwo in den Tiefen dessen, was von seinem Verstand noch übrig war, wusste er noch, was Macht ist und dass es keinen größeren Beweis dafür gibt, als die Fähigkeit, einer anderen Person nicht zu Willen zu sein. Und zwar egal, wie geringfügig der Anlass oder wie trivial die Konsequenzen waren – selbst wenn es nur darum ging, einen Satz nachzusprechen, der einen nicht das Geringste kostete.

Lebedew wartete einen Moment – dann drehte er sich um und stürmte hinaus.

Die Menschen strömten aus dem Raum. Sicherheitsleute und Berater rannten dem Präsidenten nach und stopften sich dabei die Reste ihrer Snacks in den Mund. Nach nur einer Minute waren lediglich die Fernsehtechniker noch anwesend.

»Sie können ihn mitnehmen«, sagte der Produzent über die Schulter zu Scheremetew, als auch sie einzupacken begannen. »Wir sind hier fertig.«

Wladimir blickte verwirrt um sich.

»Das Treffen ist zu Ende, Wladimir Wladimirowitsch«, sagte Scheremetew.

»Aber ich verlasse den Raum zuerst! Ich bin immer der Erste, der den Raum verlässt.«

»Ich weiß. Das war ungewöhnlich. Aber es hat nichts zu bedeuten. Lassen Sie uns jetzt nach oben gehen.«

Scheremetew half Wladimir auf die Beine. Bis die beiden die Tür erreicht hatten, war Lebedews Konvoi schon losgefahren und die Einfahrt bis zum Tor hinuntergebraust.

Kapitel 2

Soweit Scheremetew das beurteilen konnte, hatte man ihm wegen seines rechtschaffenen Rufs Wladimirs Betreuung anvertraut. Das war ziemlich überraschend – und zwar nicht, weil er diesen Ruf nicht verdiente, sondern weil er ihm bis dahin nur Hohn und Spott beschert hatte.

Die Sowjetunion lag in den letzten Zuckungen, als Nikolai Iljitsch Scheremetew, Sohn eines Vorarbeiters in einer Pharmafabrik und einer Buchhalterin bei der Moskauer Metro, die Grundschule beendete. Als er die weiterführende Schule abgeschlossen hatte, war sie bereits tot und mit einem Pfahl durchs Herz begraben. Scheremetew leistete pflichtbewusst seinen Armeedienst ab, bei dem er die meiste Zeit über Fundamente auf Baustellen in Omsk gegraben hatte. Naiv hatte er zunächst geglaubt, an militärischen Gebäuden zu arbeiten – obwohl er nicht so naiv war, sich nicht zu fragen, warum die Armee Bedarf an mehreren großen Apartmentblocks in der Wohngegend einer Stadt am Rande Sibiriens habe. Schließlich klärte ihn ein Kamerad auf und verriet ihm, was alle anderen offensichtlich schon wussten, nämlich dass der Hauptmann seine Einheit als Arbeitskräfte an private Baufirmen vermietete. Scheremetews Erwartung, dass dieser Missbrauch bald mit der Entlarvung des kriminellen Hauptmanns enden und eine rasche, beispielhafte Bestrafung durch den Oberst des Regiments folgen würde, zerplatzte, als ein anderer Wehrpflichtiger ihn darüber aufklärte, dass der Oberst nicht nur in diese Ausbeutung eingeweiht war, sondern vom Hauptmann auch eine Beteiligung ausgezahlt bekam. Die Rekruten selbst waren auch keine Waisenknaben. Geräte verschwanden von den Baustellen, nur um kurz darauf in einer Ecke der Baracken aufzutauchen und am nächsten Tag gänzlich abhandenzukommen. Andere verschwanden tagelang mit einem der Feldwebel zu geheimen, aber offensichtlich gebilligten Missionen, von denen sie mit prall gefüllten Brieftaschen zurückkehrten. Aus irgendeinem Grund involvierte niemand Scheremetew in irgendetwas davon, und er erfuhr von den Vorgängen immer erst, wenn sie bereits beendet waren. Selbst wenn er Bescheid gewusst hätte, wäre er zu ängstlich gewesen, um daran teilzunehmen, was für seine Kameraden anscheinend offensichtlich war. Wenn sie das nächste Mal etwas anstellen, wird man sie schnappen, dachte er sich – und nachdem das nicht passierte, dachte er es sich beim nächsten Mal wieder.

Der Hauptmann wurde übrigens kurz nach Scheremetews Militärdienst befördert. Wahrscheinlich für seine heldenhaften Taten im Dienste der Baubranche, wie man in den Baracken der Rekruten scherzte.

Nach seiner Zeit bei der Armee machte Scheremetew, von seiner Mutter dazu ermutigt, weil der Beruf seinem fürsorglichen Wesen entspräche, eine Ausbildung als Krankenpfleger. Geradezu lachhaft, dass er danach versuchte, mit dem Gehalt eines Krankenpflegers in Moskau eine Familie zu gründen. Dabei war es nicht so, dass ihm entging, was um ihn herum passierte. Ärzte nahmen Geld von Familien, die dadurch überhaupt erst einen Angehörigen als Patient im Krankenhaus unterbrachten. Die Pfleger und Krankenschwestern kassierten, damit sie sich um die Leute kümmerten. Die Mitarbeiter in der Klinikküche hielten die Hand fürs Essen auf, Wäscher für saubere Bettwäsche und die Putzleute für Sauberkeit auf der Station. Nichts funktionierte ohne ein paar Rubel Schmiergeld.

Irgendwie war er dazu nicht in der Lage. Vielleicht lag das wieder nur an der Angst, erwischt zu werden. Vielleicht war es noch etwas anderes. Wenn er sich zwei Patienten auf der Station widmete, zog es ihn immer zu dem Ärmeren hin. Heiliger Nikolai nannten seine Kollegen ihn, aber nicht bewundernd, wie man es über einen geschätzten, nicht korrupten Mitarbeiter sagen würde, sondern höhnisch, bestenfalls mitleidig, so wie man über einen Idioten sprach.

Der Ton seiner Frau oszillierte auch zwischen diesen beiden Varianten. Manchmal sagte Karinka ihm, was für ein guter, bescheidener Mann er sei und wie sehr sie ihn für seine Aufrichtigkeit liebe – aber manchmal nannte sie ihn auch einen Narren. Sie hatten einen Sohn, Wasili, der jetzt fünfundzwanzig war und seinen eigenen Weg finden musste, denn Scheremetew hatte ihm außer guten Ratschlägen – auf die Wasili ohnehin nie hörte – nichts zu bieten. Er war in irgendein Geschäft involviert, über das Scheremetew wenig wusste und Wasili ihm wenig erzählte, was Scheremetew nur recht war. Er sagte, seine Aufgabe sei es, Menschen zu helfen, doch wenn Scheremetew fragte, um welche Art Hilfe es sich handele, bekam er nie eine klare Antwort. Ohne die Details zu kennen, dachte Scheremetew das Gleiche darüber wie in der Armee und im Krankenhaus. Jemand würde dahinterkommen. Etwas würde passieren. Doch Wasili lachte nur. »Es geht in Ordnung, solange du dafür sorgst, dass die richtigen Leute glücklich sind«, pflegte er zu sagen, als sei er der Vater und Scheremetew der naive Sohn. »In Russland geht es nicht anders. Das machen alle außer dir, Papa.«

Scheremetew wusste nicht, was Karinka dazu gesagt hätte, wenn sie noch erlebt hätte, was aus Wasili geworden war. Sie war an einer entzündlichen Krankheit gestorben, die ihre Nieren zerstört hatte. Damals arbeitete Scheremetew als Chefpfleger in einer staatlichen Einrichtung für Demenzpatienten. Ein paar Monate nach Karinkas Tod bestellte Professor Kalin, der Direktor der Klinik, ihn in sein Büro. Das überraschte alle, nicht nur Scheremetew. Professor Kalin nahm sich nur ungefähr zweimal pro Jahr Zeit, um die Einrichtung zu besuchen, die er angeblich führte. Und wenn nicht wundersamerweise alle in einen fünfmonatigen Schlaf gefallen waren, dann lag sein letztes Erscheinen gerade erst vier Wochen zurück. Doch da war er und spazierte, ohne den geringsten Eindruck von Ungebührlichkeit zu vermitteln, durch die Station und verlangte nach Scheremetew.

In seinem Büro sagte Kalin schließlich, man habe ihm Scheremetew nicht nur als höchst kompetenten Pfleger, sondern auch als außerordentlich integer geschildert, falls eine solche Bezeichnung in Russland nicht schon ein Oxymoron sei. Scheremetew zuckte nur mit den Achseln, denn er wusste nicht, was ein Oxymoron war, und schon gar nicht, ob er eines war. Kalin sagte weiter, er habe kürzlich bei jemandem, der eine außerordentlich wichtige Gestalt des öffentlichen Lebens sei, Demenz diagnostiziert. Die Diagnose sei immer noch Gegenstand höchster Geheimhaltung. Er fragte, ob Scheremetew bereit sei, sein Krankenhaus zu verlassen, um diese Person zu betreuen. Scheremetew zögerte und dachte an die Patienten der Einrichtung, deren Familien zu arm waren, um zuverlässig genügend Rubel aufzubringen, die das Räderwerk der Betreuung schmierten, und die fast gänzlich auf ihn angewiesen waren, um auch nur eine Bettpfanne zu erhalten. Kalin fragte sich inzwischen, was ihm wohl durch den Kopf ging. Er beugte sich über seinen Schreibtisch. »Nikolai Iljitsch«, sagte er, »Ihre Nation verlangt nach Ihnen. Sie können nicht Nein sagen.« Scheremetew fühlte sich verpflichtet, auf diese patriotische Mahnung zu hören – und so erfuhr er, dass es sich bei dem Patienten um niemand geringeren als Wladimir Wladimirowitsch handelte.

Selbstverständlich wusste Scheremetew, dass Wladimir kürzlich vom Präsidentenamt zurückgetreten war, aber wie der Rest Russlands hatte er von dem wahren Grund dafür keine Ahnung. Er hatte nicht einmal die entsprechenden Gerüchte vernommen. Trotz seiner langjährigen Erfahrung als Krankenpfleger war er zunächst vor Ehrfurcht wie gelähmt. Es war schließlich keine Kleinigkeit, zu erfahren, dass der Mann, der noch vor ein paar Monaten Präsident der Föderation gewesen war, an Demenz litt und jetzt der eigene Patient war. Dennoch bemühte er sich, seine Irritation zu überwinden und den Expräsidenten wie jeden anderen Patienten zu behandeln – pragmatisch, einfühlsam und freundlich. Doch Wladimir machte es ihm nicht leicht.

Als Scheremetew anfangs zu ihm kam, verwahrte sich der Expräsident dagegen, Einblick in das zu gewähren, was mit ihm passierte. Er bemerkte seine immer häufigeren Gedächtnisaussetzer und begriff, was sie bedeuteten, woraufhin er oft in Wutzustände geriet, die Stunden dauern konnten. Scheremetew tat sein Bestes, um beruhigend auf ihn einzuwirken, doch musste er sich trotzdem oft beschimpfen lassen. Schließlich erinnerte allein schon seine Anwesenheit den Präsidenten an seinen Zustand. Scheremetew schluckte das alles. Aufgebrachtheit und Wut, das wusste er, waren keine Seltenheit im Frühstadium der Demenz, wenn die Menschen noch begriffen, welche Zukunft ihnen bevorstand. Das hatte er bei anderen Patienten schon oft erlebt. Warum sollte Wladimir Wladimirowitsch, nur weil er fünfmal Präsident und zweimal Ministerpräsident der Russischen Föderation gewesen war, nicht das Recht haben, genau wie andere gegen die Grausamkeit des Schicksals zu revoltieren? Ein Mann, der Präsident gewesen war, dachte Scheremetew sich, musste einen überlegenen Verstand besessen haben − und dessen Verlust ihn entsprechend schmerzen. Warum sollte er also nicht darum trauern?

Doch die Wutanfälle drohten in Handgreiflichkeiten auszuarten, und es bestand die Gefahr, dass Wladimir dabei nicht nur andere, sondern auch sich selbst verletzte. Also verschrieb Professor Kalin Beruhigungsmittel – Tabletten für die Nacht und, falls nötig, falls das also nicht genügte, Injektionen.

Die Tranquilizer beseitigten die Wutausbrüche nicht, dämpften sie aber, sodass aus Wirbelstürmen, die das Dach wegzureißen drohten, Windstöße wurden, die lediglich an den Fensterläden rüttelten. Nur gelegentlich entwickelte sich aus irgendeiner gewaltigen Frustration ein ausgewachsener Sturm. Im Laufe der Zeit klangen die Wutanfälle ab. Indem Wladimirs Zustand sich verschlechterte, nahm sein Bewusstsein dafür ab, und damit ließ auch der Zorn nach, den dieses ausgelöst hatte. Stattdessen manifestierten sich verschiedene fixe Gedanken, die aus der Vergangenheit auftauchten.

Zu diesem Zeitpunkt war Wladimirs Gedächtnis für Menschen und Ereignisse der letzten Jahre verschwunden. Seine Gedanken durchstreiften eine Welt, die aus Ereignissen bestand, die vor zehn, zwanzig, dreißig oder noch mehr Jahren stattgefunden hatten. Dann verbrachte er seine Zeit in angeregtem Gespräch mit Unsichtbaren, die größtenteils längst verstorben waren. Manchmal beunruhigte Wladimir das, was er sah, vor allem wenn er nachts aufwachte, konnte er desorientiert und streitsüchtig sein. Also verschrieb Professor Kalin die gleichen Beruhigungsmittel gegen Wladimirs Erregung über seine Wahnvorstellungen, die er vorher gegen die Erregung des Expräsidenten über seine tatsächliche Situation verordnet hatte. Jeden Monat, wenn er zur Einschätzung der fortschreitenden Demenz die Datscha besuchte, prüfte er die Wirkung dieser Medikamente.

Wladimir war in seiner Vorstellung eindeutig weit zurück in der Vergangenheit gewesen, als er dem neuen Präsidenten begegnete. Doch Scheremetew hatte nicht gefallen, wie Lebedew sich erlaubt hatte, Wladimir seine Worte vorzuschreiben. Er war hier einfach hereinspaziert und hatte erwartet, ihm etwas in den Mund legen zu können. Zwar mochte er jetzt Präsident sein, aber seine Amtseinführung lag erst eine knappe Woche zurück. Und er sprach mit jemandem, der dieses Amt fünfmal innegehabt hatte, selbst wenn Wladimir nicht mehr ganz der Mann von einst war. Die Sprache der beiden hatte Scheremetew entsetzt, doch er spürte auch eine gewisse Befriedigung – wenn nicht gar Stolz – darüber, dass sein Patient sich, so gut er es eben vermochte, gewehrt hatte.

Sie gingen zusammen die Treppe hinauf und zurück in Wladimirs Zimmerflucht im ersten Stock. »Wladimir Wladimirowitsch«, sagte Scheremetew, nachdem er ihn zu einem Sessel geführt hatte, »ich hole Euch etwas anderes zum Anziehen.« Und dann ließ er ihn dort zurück und ging selbst ins Ankleidezimmer.

Dima Koljakow saß in einem Sessel ihm gegenüber. Zunächst wunderte sich Wladimir, ihn zu sehen, aber bald erläuterte der Geschäftsmann ihm einen Plan, den er ausgeheckt hatte, um eine neue Ringstraße rund um Moskau zu bauen. Wladimir lauschte geduldig und erlaubte sich nicht einmal den Hauch eines Ausdrucks, der seine Gedanken verraten hätte. Der Milliardär war kein schöner Anblick: schwere Hängebacken, Tränensäcke unter den Augen und feuchte Lippen, die beim Sprechen zuckten – aber der Dreckskerl hatte sich ordentlich herausgeputzt. Er trug einen wunderbar geschnittenen Anzug, wahrscheinlich aus London, wo seine Ehefrau, die Kinder und zwei seiner Geliebten wohnten. Die Krawatte war von Hermès. Der in seinen Ring am kleinen Finger gefasste Diamant hatte mindestens fünf Karat und war strahlend weiß. Die Armbanduhr, die der Milliardär öfter aufblitzen ließ als jemand, der sich dessen gar nicht bewusst ist, war eine Vacheron Tour de L’Ile und wahrscheinlich zwei Millionen Dollar wert. Wladimirs Finger zuckten. Er besaß zwei davon, die er im Laufe der Jahre als Geschenk erhalten hatte. Neben den Pateks, Breguets, Piguets, Richard Milles und allem anderen, was die elitärsten Schweizer Uhrmacher in ihren Werkstätten in den Bergen zustande brachten. Anfangs hatte er Rolex genommen, aber nach einer Weile bekam jeder, der mit einer ankam, von Jewgeni Monarow, seinem engsten Consigliere, ein leises Wort ins Ohr geflüstert, bevor man ihn zur Audienz hineinführte. Und dann erschien am folgenden Tag ein Kurier mit etwas Exklusiverem.

Wladimir ließ den Geschäftsmann ausreden. Am Ende sagte er nur: »Sie glauben also, Moskau braucht diese neue Ringstraße wirklich?«

Koljakow zuckte mit den Achseln. »Wladimir Wladimirowitsch, würde ich sie vorschlagen, wenn dem nicht so wäre? Die Verkehrsprobleme sind doch immens.«

»Aber eine weitere Ringstraße? Ist das der beste Weg, sie zu lösen?« Wladimir hob sein Wodkaglas. »Nasdrowje«, sagte er und nahm einen Schluck. »Wie lange kennen wir einander schon, Dima?«

»Zwanzig Jahre«, sagte der Milliardär.

»Ich erinnere mich noch daran, wie Sie das erste Mal kamen und in diesem Sessel saßen.«

»Ich mich auch! Ohne Euch wäre ich nichts, Wowa.«

Wladimir lachte. »Niemand wäre irgendetwas! Russland wäre nichts! Wissen Sie, was für ein Misthaufen das war, als ich es übernahm? Wenn Sie glauben, Sie wüssten es, denken Sie noch mal nach. Und sagen Sie mir, was Sie beim ersten Mal bezahlt haben.«

»Um Euch zu sehen?«

Wladimir nickte und leerte sein Glas in einem Zug.

»Eine Million Dollar.«

»Das war billig.«

»Sehr billig. Lächerlich.«

»Heute sind es fünf Millionen, hat Monarow mir gesagt. Vielleicht auch mehr. Ich weiß es nicht einmal.«

»Es sollte mehr sein. Eure Zeit ist unbezahlbar, Wladimir Wladimirowitsch.«

»Dann war es also eine gute Investition?«

»Eine sehr gute Investition«, erwiderte Koljakow ohne Zögern. »Selbst bei einem zehnmal höheren Preis wäre es noch eine gute Investition gewesen.«

Wladimir nickte. Keine so gute Investition wie für mich, dachte er. Leute bezahlen zu lassen, damit sie ihn treffen durften und so die Chance bekamen, ihm sogar noch mehr Geld anzubieten – wer hätte sich ein solches Geschäftsmodell vorstellen können? Als er zum ersten Mal erlebte, wie diese Sache funktionierte, als er nach Russland zurückkam und sich während der wilden Tage des Zerfalls der Sowjetunion in der Stadtregierung von St. Petersburg wiederfand, konnte er es kaum glauben. Damals wurden ihm die Augen geöffnet. Zu Beginn war er nur Zuschauer und bekam die Krümel der Krümel, einen Prozentsatz der Prozente, aber als sein Einfluss zunahm und er das Spiel einmal raushatte, floss das Geld. Provisionen, Gebühren, Aufschläge, Bestechung – man konnte es nennen, wie man wollte. Gründe ein Unternehmen und sieh zu, wie die Geschäftsleute Schlange stehen, um ihr Geschäft da durchzuschleusen und dir dabei zwanzig Prozent zukommen lassen. Manchmal auch dreißig oder vierzig. Import, Export, Lebensmittel, Öl … Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, dass es so einfach sein oder dass er sich so viel nehmen könnte. Aber wie sich herausstellte, waren sogar das noch Peanuts. Sobald er in Moskau war, hatte jede Summe am Ende noch eine zusätzliche Null, oder zwei oder drei.

»Ich bin mir nicht sicher, was eine weitere Ringstraße angeht«, sagte er. »Hat das letzte Gutachten nicht ergeben, dass eine weitere Ringstraße die Situation nur verschlimmern würde?«

»Das ist doch nur ein Gutachten, Wladimir Wladimirowitsch«, sagte Koljakow und winkte ab. »Ein Wort von Euch und es ist vergessen.«

»Ich dachte, es besage, Erweiterungen der Metro oder sogar eine Stadtbahn wären besser.«

Koljakow schüttelte gravitätisch den Kopf. »Das wäre sehr teuer.«

»Und das hier nicht?«

»Nun ja, mehr Metro …« Koljakow schüttelte erneut den Kopf. »Dafür würden wir ausländische Partner brauchen. Ihr wisst doch, wie die sind, Wladimir Wladimirowitsch. Die haben Gesetze in ihren Ländern dazu, was sie können und nicht können – wem sie was geben können und wem nicht, meine ich. Sie verstehen nicht wirklich, wie die Dinge bei uns geregelt werden. Das hier ist viel besser für uns. Schön und einfach. Bauen wir eine Straße! Fünf Jahre, zwanzig Milliarden Dollar – und wir sind fertig.«

»Nun, das betrifft nicht den Präsidenten der Föderation«, sagte Wladimir. »Das ist ein Thema für den Bürgermeister von Moskau.«

»Lebedew will es.«

Wladimir lächelte schwach. »Wie viel geben Sie ihm?«

»Zehn Prozent.«

»Also? Wenn er damit glücklich ist, werdet ihr es so machen.«

»Ich möchte auch, dass Ihr glücklich seid, Wowa.«

Wladimir musterte den anderen eingehend. Er mochte Koljakow aus zwei Gründen. Erstens war er nur Geschäftsmann. Alles, was er wollte, war Geld verdienen, und wenn ihm das gelungen war, noch mehr verdienen. Er hatte null politische Interessen oder Ambitionen, im Unterschied zu Leuten, die, wenn sie reicher wurden, meinten, ihr Geld gäbe ihnen aus irgendeinem Grund das Recht, mitzubestimmen, wie das Land regiert werden sollte. Mit solchen musste er sich rumschlagen. Und zweitens verstand und respektierte Koljakow das vertikale Machtgefüge, das den Schlüssel zur Regierung Russlands darstellte. Obwohl sein Vorschlag etwas war, das im Prinzip auf der Ebene der Moskauer Stadtregierung entschieden wurde, wusste er, dass in Russland alle Macht ihren Anfang im Kreml nahm, und zwar bei einem einzigen Mann. Daher war er eben ganz selbstverständlich auch zu Wladimir gekommen, wie er es immer getan hatte.

Koljakow räusperte sich. »Zwanzig Prozent für Euch, Wowa. Sagt mir, über welches Unternehmen das laufen soll, und ich werde dafür sorgen.«

»Das ist großzügig.«

Koljakow zuckte mit den Achseln. »Wer wird reich, indem er andere Menschen arm macht? Teile dein Vermögen mit der Welt, sagen das nicht auch die Popen? Und die Bürger Moskaus werden eine wunderbare neue Straße erhalten.«

»Die sie dringend brauchen.«

Der Milliardär lachte. »Das Verfahren wird ein offizielles sein, Wladimir Wladimirowitsch. Lebedews Leute veranstalten eine öffentliche Ausschreibung. Es wird ein sehr akribisches Verfahren, alles legal.«

Wladimir hob eine Augenbraue.

Koljakow lachte wieder.

Aber Wladimir lächelte nicht einmal. Einen Moment später wirkte die Miene in Koljakows fleischigem Gesicht irritiert. Als sei er mit seinem Angebot, den Staat um zwanzig Milliarden Dollar zu bringen, um zum doppelten Preis eine Straße zu bauen, die Moskau zu jahrelangem Verkehrschaos verdammte, irgendwie zu weit gegangen. Wladimir genoss das Schauspiel und registrierte die Panik, die er mit dem Zucken seiner Augenbraue auslösen konnte.

Er ließ den Blick auf die Uhr am Handgelenk des Milliardärs wandern. Eine Vacheron Tour de L’Ile sah man nicht jeden Tag. Nicht einmal an den Handgelenken der Leute, die kamen, um ihn zu sprechen.

Koljakow bemerkte seinen Blick. Er schaute fragend zu Wladimir hoch und begann dann, den Verschluss der Uhr zu lösen.

Wladimir winkte gnädig ab. »Was tun Sie denn, Dima? Ich habe sie nur bewundert. Eine Tour de L’Ile, nicht wahr? Ich besitze selbst zwei davon.«

Der Milliardär ließ die Finger auf dem Verschluss und schien sich unsicher, ob sein Gegenüber es ernst meine.

»Dimitri Viktorowitsch, bitte! Es ist Ihre Uhr, nicht meine.«

»Alles, was ich habe, verdanke ich Euch, Wladimir Wladimirowitsch.«

Wladimir lachte, aber nicht so, als würde er der Bemerkung widersprechen, sondern anerkennend.

»Bauen Sie Ihre Straße«, sagte Wladimir. »Und reden Sie wegen des Arrangements mit Monarow.«

Der Milliardär nickte und lächelte dankbar. Manchmal, so dachte Wladimir, war seine Unterwürfigkeit ekelerregend, wie bei einem Hund. Kurz stellte er ihn sich als monströse Schimäre mit dem Körper eines Schoßhunds und dem Gesicht Koljakows vor, das zu ihm aufsah und verzweifelt um seine Zuneigung bettelte.

Wladimir fragte sich, ob er die Tour de L’Ile hätte nehmen sollen, aber in gewisser Weise war es sogar noch besser, zu zeigen, dass man sich etwas nehmen könnte, aber beliebte, es doch nicht zu tun. Außerdem wusste Wladimir, dass in den nächsten ein, zwei Tagen ohnehin ein Päckchen für ihn eintreffen würde.

Plötzlich bemerkte Wladimir einen ekelerregenden Gestank. Er schnupperte. »Riechen Sie was?«

Koljakow schnupperte ebenfalls.

»Das ist der Tschetschene«, sagte Wladimir. »Der verdammte Tschetschene lässt mir niemals Ruhe.«

»Gibt es hier einen Tschetschenen?«, fragte der Milliardär.

»Können Sie ihn nicht riechen?«

Koljakows Augen wurden schmal. »Ich denke … ich bin mir nicht sicher.«

»Riechen Sie doch! Na los! Versuchen Sie es! Das ist er. Das ist der Tschetschene.«

Wladimir hatte den Tschetschenen zum ersten Mal bei einem Besuch in Grosny gesehen, zu Beginn des Krieges, den er angezettelt hatte. Damals inspizierte er die Stadt, die kurz zuvor von den Rebellen zurückerobert worden war. Der Kopf des Tschetschenen hatte aus einem stinkenden Schuppen, einem Plumpsklo oder irgendeiner Hütte hinter einem fast vollständig zerstörten Haus herausgeragt. Wladimir konnte nicht sehen, ob der Kopf noch an einem Körper hing. Dem Aussehen nach zu urteilen musste er sich schon seit ein paar Tagen dort befinden. Die Lippen waren zu einem Grinsen von den gelblichen Zähnen zurückgezogen, die Zunge hing schwarz und geschwollen aus dem Mund, wie eine fette Nacktschnecke, die gerade aus seiner Kehle kroch.

»Er sagt nie irgendwas«, sagte Wladimir. »Ist einfach nur da. Wissen Sie, ich habe der Welt mal verkündet, wir hätten ihn in einer Toilette erledigt. Nur um zu sehen, wie sie darauf reagieren würde, die westliche Presse. Alle drehten durch. Ein toter Tschetschene in einem Scheißhaus und sie greifen sofort zu den Waffen. Wenn die wüssten, was wir sonst noch gemacht haben!«

Wladimir bemerkte, wie Koljakow unbehaglich herumrutschte. Er war in geschäftlichen Angelegenheiten so rücksichtslos wie alle anderen, aber wenn es um Dinge aus Fleisch und Blut ging, wurde er zimperlich. Wladimir hatte keinen echten Respekt vor ihm, aber er war eine Gans, die sich darauf verstand, goldene Eier zu legen, und wusste, wie viele davon sie behalten und wie viele sie verschenken musste. Man sagte, Koljakow sei acht Milliarden Dollar schwer. Gut für ihn. Wladimir hatte keine Ahnung, wie viel er selbst wert war, aber es musste ein Vielfaches sein.

»Normalerweise kommt er nachts«, sagte Wladimir und genoss es, wie der Milliardär sich wand. »Dann sehe ich ihn.«

»Und was tut er dann?«

»Was glauben Sie denn, dass er tut?«

Koljakow starrte ihn an. »Ich habe keine Ahnung«, flüsterte er.

»Ich würde ihm ja den Kopf abschneiden, aber ich glaube, das hat schon jemand erledigt. Wenigstens ist er tot, was?« Wladimir lachte. »Der einzige gute Tschetschene …«

Der Milliardär, der eine tschetschenische Großmutter hatte, sagte nichts.

»Sehen Sie, da ist Monarow«, sagte Wladimir.

»Scheremetew«, sagte Scheremetew.

»Monarow, Dima muss Ihnen von einem Arrangement erzählen. Regeln Sie das auf die übliche Weise, ja?«

»Scheremetew, Wladimir Wladimirowitsch«, sagte Scheremetew noch mal, aber es überraschte ihn nicht, dass Wladimir ihn als jemand anderen ansprach. Wladimir verbrachte viel Zeit damit, sich mit Stühlen und Bänken zu unterhalten, auf denen wohl seiner Ansicht nach Leute saßen. Wenn Scheremetew dazukam, während so ein Gespräch in vollem Gang war, hielt er ihn oft für jemanden aus seiner Vergangenheit.

Wladimir sah ihr verwirrt an.

»Ist schon gut, Wladimir Wladimirowitsch. Es ist fast Zeit zum Essen. Sie werden es mögen. Der Koch hat Hühnchen auf georgische Art für Euch zubereitet.«

Ein Lächeln breitete sich auf Wladimirs Gesicht aus. Erfreut rieb er sich die Hände. »Georgisches Hühnchen! Ist es schon fertig?«

Kapitel 3

Der Koch auf der Datscha, Viktor Alexandrowitsch Stepanin, war ein Mann mit einem Brustkorb wie ein Fass und einem anscheinend permanenten Bartschatten. Stepanin war ein Geschöpf der Natur und durch seine Herkunft wie geschaffen für die Küche – mit einer klassischen Ausbildung, an die er oft erinnerte. Das Kochen zog ihn vollkommen in seinen Bann und entzückte ihn. Er war hässlich, ungehobelt, laut und mürrisch und wirkte all diesen Eigenschaften zum Trotz – oder vielleicht gerade wegen ihnen – anziehend auf Frauen. Im Moment hatte er eine Affäre mit einer der Hausangestellten, und sie war nicht die Erste, die den Weg in sein Bett gefunden hatte.