Sörensen hat Angst

Ennio Flaiano

Prolog

Das war aber auch ein verfluchtes, verdammtes Scheißwetter. Heiner Hinrichs trommelte genervt mit den Daumen auf das mit beiden Händen fest umklammerte Lenkrad. Seit Tagen, nein Wochen regnete es in Katenbüll aus vollen Kübeln. Die einstmals tröstend milde Septembersonne hatte sich dieses Jahr überhaupt noch nicht blicken lassen. Dafür peitschte der Wind mit höhnischem Geheule die Blätter von den Bäumen, das Meer befand sich in gespenstischem Aufruhr, der Koog war beinahe unzugänglich und ein einziger Morast.

Das war schlecht für die Stimmung, und es war schlecht fürs Geschäft. Und bald würde der Herbst das trübe Werk des Spätsommers vollenden und auch die letzten Touristen vergraulen. Hinrichs’ gerade mal acht Wochen alter Jeep sah aus wie nach einer mehrmonatigen Rallye durch Sumpfgebiet. Wieso gab es hier auch überall so viel Lehm? So viele unbefestigte Wege? Sie lebten doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, verdammt noch mal. Das musste sich ändern, dafür würde er sorgen. Wozu war er schließlich Bürgermeister? Und wenn er jeden einzelnen seiner Wähler zum Steineklopfen schickte – am Ende würde der Asphalt glänzen, überall und vor allem dort, wo er unterwegs war. Im Sinne der Kinder und so weiter, irgendein Mist würde ihm da schon einfallen.

Der Oldie-Sender spielte Hotel California von den Eagles, der Scheibenwischer arbeitete in Höchstgeschwindigkeit gegen die grotesken Wassermassen an. Hinrichs seufzte. Oldie-Sender. Jetzt hörte er schon den Oldie-Sender. Genau den Kanal, den er noch vor ein paar Jahren gemieden hatte wie eine offene Bürgerversammlung. Der ihm so gestrig vorgekommen war, so verstaubt, so perspektivlos.

In der Dunkelheit wirkten die wenigen Lichter, die ihm begegneten, verschwommen, flackernd, schwer zu orten. Er kniff die Augen zusammen und beugte sich wie ein Fahranfänger vor, ganz nah an die Scheibe. «Verdammte Scheiße», fluchte er nicht zum ersten Mal. «On a dark desert highway», sang er dann bitter vor sich hin, «cool wind in my hair.» Jetzt nicht die Auffahrt verpassen. Sein Handy klingelte. Er fingerte danach. «Verdammte Scheiße», wiederholte er. Den Anrufer kannte er. Natürlich kannte er ihn.

«Was ist denn jetzt noch?», fragte er und legte die linke Hand mittig aufs Lenkrad. Ab und zu scherte sein Wagen aus oder wurde kurz langsamer, wenn er durch eine der zahlreichen Wasserlachen schlitterte.

«Ich glaube, da kommt ein Problem auf uns zu», sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, die ungewohnt hektisch war.

«Was denn für ein Problem?», ächzte Hinrichs und riss das Lenkrad nach rechts. Da war sie, seine Auffahrt. Das sah aber auch alles gleich aus hier. Vor allem bei einer Sicht unter zehn Metern.

«Einer will reden», sagte die Stimme.

«Woher weißt du das?»

«Ich weiß es halt.»

«Dann hau mehr Kohle raus», befahl Hinrichs und würgte sein Auto direkt in der Einfahrt ab. Das Wohnhaus war dunkel. Der Junge lag natürlich längst im Bett, und seine Frau hatte sich wahrscheinlich bereits anderweitig die Lichter ausgeknipst. Wie üblich. «Oder droh ihm. Irgendwie hat das doch bisher immer geklappt.»

«Wir müssen aufhören», sagte die Stimme. «Es ist vorbei.»

«Was?», fragte sein Anrufer.

«Nix.» Hinrichs hörte Bonnie schnauben, aus der hintersten Box links. Ausgerechnet Bonnie, die doch eigentlich nichts erschüttern konnte. Schon gar nicht Regen. Aber Bonnie war nervös. Dafür hatte Hinrichs einen Sinn.

«Ich meld mich wieder», sagte er und legte auf. Der Regen prasselte dumpf auf das Blechdach, das Heu dampfte. Bonnie scharrte mit den Hufen und krachte mit dem Hinterteil gegen das Gitter, als wollte sie ausbrechen. Hinrichs tastete sich in die Stallungen hinein und betätigte den Lichtschalter. Nichts passierte. «Verdammte Scheiße», fluchte er zum dritten Mal. Er glaubte eine Bewegung vor Bonnies Box wahrzunehmen, aber es war zu dunkel, um Genaueres erkennen zu können. Auch die anderen Pferde wurden nun unruhig, spürten die Spannung, die in Hinrichs’ Glieder kroch wie Schüttelfrost. «Ist da jemand?», rief er und ging breitbeinig auf die Box seines Lieblingspferdes zu. Er kam sich vor wie ein Cowboy. Oder ein Farmer. Er verspürte zwar ein wenig Angst, aber das hier war seine Ranch, und niemand würde es wagen, ihm diesen Ort streitig zu machen.

Lächerlich, dachte er dann. Was für ein lächerlicher Gedanke. Farmer. Cowboy. Ranch. Streitig machen. Ein Schatten bewegte sich,

Hinrichs zitterte, merkte, wie sein Kreislauf schwächer wurde, wie das Blut austrat, wie sein Bein mit dem restlichen Körper nicht mehr verbunden schien. Auf Knien drehte er sich erneut um und sah dem Schützen direkt ins Gesicht. «Du?», fragte er fassungslos. Und grinste. Begriff, dass es ernst war, und ließ das Grinsen fallen. Zwei weitere Kugeln drangen in ihn ein. Den ersten Knall hörte er noch und dachte Ach? – dann gingen die Lichter langsam aus, wie durch einen Dimmer, in derselben Geschwindigkeit, wie der Boden sich näherte. Der Regen setzte zu einem letzten Trommelwirbel an, und noch bevor sein Kopf auf Stein aufschlug, war es in ihm endgültig dunkel geworden.

Sörensen stand im Stau, betrachtete seine feuchten Handflächen und ärgerte sich über sich selbst. Da hätte man nämlich drauf kommen können. Man hätte darauf kommen können, dass so ein früher Montagmorgen in der Mitte des Monats September vielleicht nicht der ideale Zeitpunkt für eine Fahrt an die Nordsee war. Ein gewöhnlicher Montagmorgen, kein Ferienmontagmorgen, auch kein Feiertagsmontagmorgen, einfach ein typischer, hemdsärmeliger Wochenanfang, an dem die allermeisten Arbeitnehmer das taten, was normale Arbeitnehmer an einem x-beliebigen Montagmorgen eben so taten: Sie setzten sich in Bewegung. Kreuz und quer, wie die Insassen eines ruckartig umgekippten Ameisenhaufens, aus allen Stadtteilen und Vororten nach Hamburg hinein oder aus Hamburg hinaus.

Man hätte also darauf kommen können, dass die Fahrt am Tag zuvor, einem ganz gewöhnlichen Sonntag, egal zu welcher Uhrzeit, wesentlich entspannter, nervenschonender und zeitsparender gewesen wäre. Sörensen fuhr sich mit der Hand durch das stetig schwindende Haupthaar und seufzte. Denn er war natürlich nicht darauf gekommen. Der HSV hatte noch das Sonntagabendspiel bestritten, und als das endlich vorbei und selbstverständlich verloren gegangen war, hatte die Uhr schon wieder halb acht gezeigt, und er hing ja nicht nur wie ein nasser Sack in seinem Fernsehsessel, sondern auch so sehr an Hamburg. Also hatte er es einfach nicht mehr aus der Tiefe seines Sitzmöbels auf die Gerade der A 23 geschafft.

Er nahm für einen Moment den Fuß von der Bremse, rollte zentimeterweise vorwärts und rieb sich die Augen. Er war um fünf Uhr aufgestanden, mit dem üblichen Druck auf der Brust, hatte um

Sörensen seufzte, sah die Zeit verrinnen, verspürte Hunger, Durst und eine sehr geringe Frustrationstoleranz. Laut Navi waren es noch zwei Stunden bis Katenbüll, es war sechs Uhr fünfzig, das würde eventuell und bei Vermeidung weiterer Kalamitäten gerade so hinhauen – allerdings sollte dann auch langsam mal Bewegung in die Sache kommen.

Kurz bevor sein Unmut autoaggressive Züge annehmen konnte, versuchte er die andere Seite zu betrachten, wie man es ihm geraten hatte. Vielleicht hatte es einen Unfall gegeben, dachte er. Das war bestimmt kein menschliches Versagen hier, sondern ein Unfall. Genau. Ein Unfall. Stand ja niemand freiwillig dumm in der Gegend herum. Schlimm war das. So ein Unfall. Viel schlimmer, als einfach nur sinnlos herumzustehen und sich selbst auf die Nerven zu gehen. Irgendjemandem da vorne ging es jetzt wahrscheinlich richtig schlecht. Vielleicht sogar mit Blut, Schweiß und Tränen und eingedrückter Windschutzscheibe. Da wollte er mal besser nichts gedacht haben. Und übte sich in Gleichmut, während seine Finger sich ins Lenkrad krallten. Es ging aber auch wirklich überhaupt nicht vorwärts, hier mal ein Meter, da mal ein Meter. Da konnte man nicht von Fortschritten reden. Sörensen bemerkte die Parallele zu seinem Leben und hob einen weiteren Keller für seine eh schon im Souterrain befindliche Laune aus.

Er betrachtete sich im Rückspiegel. Traurige, leicht gerötete blaue Augen, denen man die schlechte Zeit ansah, verstrubbelter,

Er zog ein Foto aus der Innentasche seines Sakkos, das er am letzten Heiligabend gemacht hatte. Nele, Lotta und er, lachend vor dem Weihnachtsbaum. Nele, die ihn mit gespieltem Teufelsblick umarmte, ausgelassen, fröhlich, und zwischen ihnen Lotta, die ihr quietschbuntes und ausgesprochen hässliches Filly-Pferd voller Stolz in die Kamera hielt wie den wertvollsten Schatz der Welt. Ein unschuldiger Moment. Zumindest für ihn. Zwei Tage später, zwischen den Jahren, hatte Nele ihn mit Lotta verlassen. Sie hatte nicht einmal bis Silvester warten können. Alles war zusammengebrochen. Das System Sörensen war implodiert, Familie auf einen Schlag nur noch eine Konstruktion der anderen und er ausgespuckt in eine Welt, die nicht länger die seine war. Hoffentlich ging das bald mal vorwärts hier.

Sein rechter Fuß begann zu schmerzen. Stop and go war nichts mehr für ihn. Seit dem Bänderriss vor zwei Jahren, der seine nie so recht erblühte Fußballkarriere in der dritten Alte-Herren-Mannschaft des SV Barmbek auf abrupte Weise beendet hatte, konnte er mit dem Gaspedal auch nicht mehr besser umgehen als mit dem Ball. Das Band mochte einfach nicht mehr gedehnt werden. Wenn

Er steckte das Foto wieder in seine Innentasche, verzog das Gesicht und lenkte die Gedanken von Nele und Lotta zu Buttermann, seinem Nachbarn, der außer mit einem dämlichen Nachnamen mit erstaunlicher Schlichtheit ausgestattet war, besonders wenn es um die komplizierten Dinge des Lebens ging – also um alle. Buttermann war kahl und sehr klein, und das war ein Glück für ihn, denn er bewirtschaftete eine Art Mäuse-Kiosk direkt vor der Tür des Mehrfamilienhauses, in dem sie beide wohnten, eine Schuhschachtel für Raucher und Leser, in die er, und nur er, wie ein anatomisch-architektonisches Wunder exakt hineinpasste.

«Du fährst weg?», hatte Buttermann vor einer Stunde scharfsinnig gefragt, als er, mit den Ellbogen auf die Boulevardzeitungen gestützt, den rackernden Sörensen beim Einladen begutachtet hatte.

«Ich muss», hatte Sörensen geantwortet und geächzt, so ein Gitarrenverstärker hatte nämlich ein ganz schönes Gewicht.

«Und wohin?»

«Nach Katenbüll.»

«Wo?»

«Katenbüll.»

Buttermann hatte sich an der Nase gekratzt. «Wo?»

«In Schleswig-Holstein ist das. Über Husum.»

«Für immer?»

«Ja, das ist für immer da.» Sörensen hatte bemerkt, dass er eventuell keinen Platz mehr für die Gitarre hatte, wenn er den Verstärker einpackte. Das war natürlich ein echtes Problem. Was sollte er mit dem einen ohne das andere?

«Wieso denn Katenbüll?» Buttermann hatte keine Miene verzogen.

«Ist nicht Hamburg.»

«Ja, genau. Zu viel Leben spielt das hier.»

Buttermann hatte ihn abschätzend gemustert, so als wollte er mit einem bislang verborgen gehaltenen Röntgenblick Sörensens polizeiliche Fähigkeiten erkunden.

«Brauchen die dich denn da?», hatte er dann gefragt. «In … Katenbüll?»

«Ja, sicher», hatte Sörensen gesagt, auch wenn er wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte keinen Zweifel, dass die Entscheidung, sich versetzen zu lassen, notwendig gewesen war. Und im Gegensatz zu ihm würde der Gitarrenverstärker erst mal hierbleiben. Mitsamt der Gitarre. Konnte man ja später immer noch holen. Irgendwann.

Buttermann hatte mit den Knöcheln der rechten Hand auf das Titelblatt der Bild-Zeitung geklopft. «Also wenn du mich fragst, Sörensen, ist das natürlich übel mit Katenbüll, hat aber auch sein Gutes. Also für dich jetzt. Dann bist du wenigstens weit genug weg, wenn der Russe kommt.»

Sörensen hatte Putins Kopf unter der Schlagzeile erkennen können. Er war rot-schwarz eingefärbt und sah gefährlich aus.

«Wieso kommt der Russe denn?» Er wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen.

«Ist doch bald wieder», hatte Buttermann gesagt und sich voller Überzeugung in ein Schleudertrauma genickt. «Der hat den nie aufgegeben, den Plan mit der Weltherrschaft. Ich weiß das. Steht ja auch hier.» Buttermann hatte die Bild in die Luft gehoben. «Und wenn du dann in Katenbüll bist, bist du fein raus. Da kommt der Russe nämlich nicht hin. Berlin, Hamburg, Frankfurt, und wenn der völlig

«Ich muss dann mal», hatte Sörensen entschuldigend gemurmelt, den Verstärker wieder hinaufgetragen und im Flur neben die E-Gitarre gestellt. Seine Wohnung sah trostlos aus, so halb leer. Seine neue Bleibe würde ebenfalls trostlos aussehen, so halb voll. Irgendwie auch ein Kreis, der sich schloss. Er hatte die Tür hinter sich zugezogen, den Schlüssel zweimal im Schloss gedreht, war die Treppen hinuntergeeilt und hatte überlegt, ob er Buttermann auf dem Weg zu seinem Wagen einfach ignorieren sollte. Das ging natürlich nicht.

«Ja, dann mal toi, toi, toi und gute Reise», hatte Buttermann gewünscht, sich die mit Sicherheit nicht erste Zigarette des Tages angezündet und Nase und linke Hand hochgezogen zum hochoffiziellen Abschiedsgruß. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Sörensen hatte das irgendwie geärgert.

«Du, Buttermann?»

«Ja?»

«Der Russe kommt nicht», hatte er sich nicht verkneifen können zu sagen. Dann war er eingestiegen und davongebraust, erst auf die A 7, dann auf die A 23, und nun stand er hier bei Halstenbek-Krupunder. Halstenbek-Krupunder!

Sörensen schaute erneut auf die Uhr. Es war Punkt sieben. Er reckte den Hals. Bewegte sich da vorne etwas? Ja, tatsächlich, da bewegte sich etwas, und zwar nachhaltig, die Wagen bekamen Schwung, der Stau schien sich aufzulösen. Nach zweihundert Metern sah er hinter einer leichten Kurve die Überreste eines ausgebrannten PKWs am Straßenrand ausglimmen, er bedauerte pflichtgemäß den Fahrer, schalt sich ob seiner unangemessenen Ungeduld und ließ Hamburg mit Tempo hundert endgültig hinter sich. Auf der linken Seite nahm er ein Möbelhaus wahr, an dessen Fassade sie einen gelben Smiley

Fünfzehn Kilometer vor Itzehoe tauchten die ersten Windräder auf und erhoben sich aus der flachen Landschaft wie gigantische Roboter, die jederzeit loszumarschieren drohten. Vielleicht im Dienste der Russen. Als Sörensen die Dauerbaustelle bei Itzehoe passierte, die Hohenhörn-Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal überquerte und unter sich links wie rechts Containerschiffe ausmachte, die sich durch die nicht allzu breite Wasserstraße schoben, war das für ihn wie eine Trennlinie zwischen altem und neuem Leben, wurde ihm endgültig klar, dass sich seine Lebenswirklichkeit ein weiteres Mal unabdingbar veränderte.

Er ließ das Beifahrerfenster herunter und atmete die bereits spürbare Seeluft ein. Eigentlich ging es ihm gut, dachte er, im Moment ging es ihm wirklich gut, vergleichsweise, in seinem Auto ging es ihm sowieso immer am besten, woran auch immer das liegen mochte. Vielleicht weil es so ein kleines, übersichtliches, geschlossenes System war. Weil die Aufmerksamkeit auf die Straße gerichtet war und nicht auf ihn selbst. Er bemerkte erleichtert, dass der Druck in seiner Brust auszuhalten war, dass seine Beine nicht zitterten.

Er passierte Heide, aus der Autobahn wurde Landstraße, und nach einiger Zeit überquerte er eine weitere Brücke, die Eiderbrücke vor Tönning. Er warf einen angewiderten Blick auf das unpassend in die Landschaft geworfene Multimar Wattforum, dann nahm er Abschied vom Vertrauten. Ab hier kannte er sich nicht mehr aus. Wenn er in den letzten Jahren überhaupt einmal am Meer gewesen war, dann war er bei Tönning links abgebogen in Richtung St. Peter-Ording, zum Weststrand. Das war allerdings ausgesprochen selten vorgekommen,

Sörensen blinzelte. Direkt hinter Tönning stand ein junger Mann an der Landstraße, in der klassischen Ausrüstung eines jungen Mannes an einer Landstraße: Rucksack, zu weiter, wahrscheinlich selbstgenähter Pullover am spindeldürren Körper, Sandalen, zauseliger Vollbart, Schlaghosen, zum Pferdeschwanz zusammengebundene Rastalocken. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt, vielleicht älter, so genau konnte man das durch das Gestrüpp um den Mund nicht erkennen. So weit, so gewöhnlich. Was aber wirklich bemerkenswert war, war das Pappschild, das er über seinem Kopf schwenkte. Darauf stand nicht Husum oder Flensburg oder Dänemark, nein, da stand: Jetzt sei kein Arsch und nimm mich mit.

Sörensen trat fast automatisch auf die Bremse. Der junge Mann ergriff seinen Rucksack und eilte zum heruntergelassenen Beifahrerfenster.

«Mensch, toll», sagte er mit einer tiefen Stimme, die in krassem Gegensatz zu seinem jugendlichen Aussehen stand.

«Wer will schon ein Arsch sein?» Sörensen öffnete die Tür. «Wo soll’s denn hingehen?»

«Erst mal bis Husum», sagte der Tramper und schwang sich in den Passat. Den Rucksack behielt er nach einem kurzen Blick in den Rückraum auf dem Schoß. War ja sowieso nirgends mehr Platz. Sörensen fädelte wieder in den Verkehr ein.

«Ich sag’s lieber gleich: Wenn du mich ausrauben willst, ist das keine gute Idee. Ich bin Kriminalhauptkommissar.»

«Gut zu wissen», grinste der junge Mann. «Ich bin Ole.»

«Sörensen», sagte Sörensen und wurde von einem Mercedes

Er zog die Luft ein. «Meine Fresse.»

«Gewöhn dich dran», sagte Ole abgeklärt. «Machen die hier alle so.»

Sörensen nickte, wusste aber nicht, ob er das in Ordnung fand, von seinem Mitfahrer einfach so geduzt zu werden. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. «Ich hab aber keinen Bock, jetzt die ganze Fahrt über zu quatschen.»

«Kein Problem», sagte Ole freundlich, befreite seine Rastalocken aus dem Pferdeschwanz und schlang die Arme dichter um seinen Rucksack. Danach testeten sie die Stille aus. Sörensen sinnierte sich kreuz und quer durch die Weltgeschichte. Sein heimweherahnender Plan, an jedem Wochenende nach Hamburg zurückzukehren, hatte sich bereits erledigt. Viel zu viel Fahrerei. Bei seinem schwachen Nervenkostüm war das keine Option. Da hieß es an freien Tagen erholen, abschalten, Gesundheit verwalten. Und an unfreien möglichst auch.

Sörensen fiel auf, dass er noch nie in seinem Leben so viele Windräder gesehen hatte, Legionen von Windrädern, sie schienen sich im Sekundentakt zu vermehren. Da konnte doch niemand mehr ernstlich behaupten, dass Nordfriesland flach war.

Als sie etwa fünf Kilometer vor Husum waren, fand er es plötzlich doch etwas seltsam, aus reiner Konsequenz und nur weil er es einmal in den Raum gestellt hatte, dauerhaft den Mund zu halten. Ole hatte sich diesbezüglich äußerst diszipliniert gezeigt, ein wenig mit seinem Smartphone gespielt, ein wenig vor sich hin gesummt, ansonsten stur und rücksichtsvoll aus dem Fenster gestarrt.

«Was willst du denn in Husum?», fragte Sörensen. Ole guckte ihn überrascht an.

Sörensen drehte sich kurz nach hinten, wie um sich zu vergewissern, dass da sonst niemand war. «Ja, du», sagte er dann und grinste.

«Gar nichts. Ich muss ganz woandershin, aber Husum ist eine gute Zwischenstation. Von da aus geht’s immer weiter. Zur Not mit dem Bus.»

«Warum hast du mich denn dann nicht gefragt, wo ich überhaupt hinfahre?»

«Wo fährst du denn hin?»

Sörensen betrachtete die möglichst souveräne Aussprache seiner neuen Heimat als Übung. «Nach Katenbüll.»

«Geil!», freute sich Ole. «Da muss ich auch hin.»

Sörensen zuckte innerlich zusammen. Was für ein Zufall. Hätte er mal lieber nichts gesagt. Dieser Ole wirkte sympathisch, klar, aber er hätte gerne noch ein paar Kilometer für sich gehabt. So rein aus Gründen der Gewöhnung.

«Du musst mich aber nicht bis dahin mitnehmen», sagte Ole. «Das ist völlig okay für mich.»

«Was willst du denn überhaupt in Katenbüll?», fragte Sörensen, als wäre es völlig abwegig, dass da außer ihm noch jemand hinwollte.

«Ich wohne da. Aber am Wochenende bin ich immer in Tönning. Musikmachen bei meinem Freund.»

Sörensen hätte jetzt gerne gefragt, ob «mein Freund» jetzt «ein Freund» oder halt doch «der Freund» war, aber schon der Gedanke kam ihm spießig vor. Stattdessen gab er sich väterlich-moralisch, was auch nicht besser war.

«Und da fährst du immer per Anhalter hin und zurück? Mit diesem Schild?»

Ole nickte. «Funktioniert super. Wollen echt nicht viele ein Arsch sein.»

 

«Kann man in Katenbüll gut wohnen?», fragte er. «Ich tue das nämlich ab jetzt auch.»

«Ach, echt?» Ole betrachtete ihn, als gehöre er zu einer sehr seltenen, aber durchaus besonderen Sorte Mensch. «Na ja, in deinem Alter ist das wahrscheinlich okay. Du darfst halt keine Pläne mehr haben.»

Sörensen wusste nicht, welche dieser gebündelten Frechheiten ihn am meisten empören sollte. Darüber verlor er die Gelegenheit zu einer schlagfertigen Entgegnung. «Wie alt bist du denn?», fragte er stattdessen.

«Einundzwanzig.»

«Und was macht man mit einundzwanzig in Katenbüll?»

«Saufen. Kiffen. Abhängen. Brot backen.»

Sörensen sah kurz zur Seite. «Hey, ich bin Polizist.»

«Das ist doch nur ein Bild.» Ole zuckte mit den Schultern, unbeeindruckt wie das Meer, wenn darin eine Boje trieb. «Also, das mit dem Kiffen. Und das andere. Nur Brot backen stimmt.»

«Nee, ernsthaft. Es ist sterbenslangweilig in Katenbüll.»

«Gut.»

Sie schwiegen erneut und lauschten dem Prasseln des Regens auf die Windschutzscheibe. Sörensen dachte an sein insgesamt planloses Leben, wie er hineingeraten war in diesen Polizistenjob, wie er eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen hatte, um die er sich nie gerissen hatte und die einfach zu ihm gekommen war wie ein entfernter Verwandter, der zufällig gerade in der Stadt war.

«Was sind denn deine Pläne?», fragte er und verdrehte innerlich die Augen. Es war wirklich nicht leicht, die Klappe zu halten.

Ole seufzte. «Weiß nicht. Gitarre studieren. In Arnheim. Oder New York. Oder irgendwo anders, wo nicht hier ist.»

Sörensen dachte an die vielen Musiker, die ihm seit seiner Jugend begegnet waren, und wie wenige es davon geschafft hatten. Inklusive ihm.

«Es spielen so viele Gitarre», sagte er.

«Aber nicht so wie ich.»

«Das sagen doch alle.»

«Ich gehe darin einfach auf.»

Sörensen grunzte. «Das klingt ja schon fast nach Selbstverwirklichung.»

«Wäre doch schön. Ich mein, das ist doch das Ziel im Leben. Oder nicht?»

Sörensen stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe.

«Nee, ist es nicht», sagte er ein wenig zu schroff. «Vergiss das mit der Selbstverwirklichung.»

«Wie bitte?»

«Vergiss das. Das ist Scheiße. Selbstverwirklichung, alleine dieses Wort! Selbstverwirklichung, das ist was für Leute, die keine Aufgabe

Sörensens Fingerknöchel hoben sich weiß vom Lenkrad ab. Natürlich, und das konnte Ole nicht wissen, hatte sein Ausbruch etwas mit dem Satz zu tun, den Nele ihm an den Kopf geworfen hatte, kurz bevor sie die Wohnungstür hinter sich und Lotta zugezogen hatte. Der Satz lautete: «Es tut mir leid, aber du stehst meiner Selbstverwirklichung im Weg.» Das hatte sie gesagt und ihn so zurückgelassen. Er hatte damals nicht sofort etwas gefühlt, hatte lange Monate gebraucht, um überhaupt etwas fühlen zu können, aber seitdem war der Begriff Selbstverwirklichung in seinem Kopf irgendwie negativ besetzt.

Ole schien etwas sehr Interessantes auf dem Verschluss seines Rucksacks entdeckt zu haben. «Ich weiß gar nicht …», murmelte er eingeschüchtert. «Ich liebe halt einfach Musik.»

«Das ist ja auch in Ordnung», zischte Sörensen. Er bekam einfach keinen Dampf vom Kessel. «Aber red mir bloß nicht von Selbstverwirklichung.»

«Du hast das doch gesagt!», sagte Ole. «Ich war das gar nicht! Du hast damit angefangen!»

«Richtig», gab Sörensen ohne Zögern zu.

«Nee?»

«Du hast mir das in den Mund gelegt.»

«Ist ja gut.»

«Vielleicht werde ich auch gar nicht Musiker.»

«Aha!»

«Vielleicht werde ich Gemüsebauer. Bio.»

«Sehr gesund», nickte Sörensen. «Gute Idee.»

«Oder Lifecoach.»

«Ach, komm! Was?»

«Lifecoach. Jemand, der den anderen sagt, was sie falsch machen und wie sie es richtig machen können. Jemandem wie dir zum Beispiel.»

Sörensen sah Ole von der Seite an und sah nur Rastalocken und eine spitze Nase. «Eigentlich ist es mir fast egal, was ich mal werde», sagte Ole leise. «Ich will einfach nur weg. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, wenn ich mal nicht mehr nach Katenbüll zurückmuss.»

Sörensen dachte an seinen eigenen Weg und die Umwege, die er schon gegangen war, ohne jemals irgendwo richtig anzukommen. «Doch, kann ich», sagte er. «Jeder flieht doch vor irgendwas.»

«Aber niemand, den ich kenne, flieht nach Katenbüll.»

 

Unendliche Felder erstreckten sich vor ihnen. Unendliche Weiten. Immer, wenn Sörensen dachte, jetzt mussten sie doch mal irgendwo anstoßen, machte die Straße eine erneute Biegung, bevor es wieder elendig lang geradeaus ging. Hier und da stand mal ein Hof an der Seite, ein Bauernladen, ein Windrad in gleichmäßiger Bewegung. Ansonsten Felder, Felder, Felder. Irgendwann, als Sörensen schon dachte, dass das doch schon längst nicht mehr Deutschland oder

Tatsächlich. Fast hätte Sörensen das Ortsschild übersehen. Der erste Eindruck seiner neuen Heimat war so kärglich wie die Anfahrt. Wiesenparzellen zu beiden Seiten, einige holsteinische Kühe darauf, ein, zwei Pferde. Bauern- und Wohnhäuser, die meisten typisch im Friesenhausstil, rot geklinkert, geschwungene, weiße Lattenzäune davor, andere eher grau, flach und pragmatisch. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen, abgesehen von einer alten, gebückten Frau mit Kopftuch, die einen großen Müllsack am Rande ihres Vorgartens zur Straße zog und sich die Zeit nahm, Sörensen missbilligend in seinem Auto zu fixieren. «Guten Morgen», rief Sörensen und winkte mit der rechten Hand. Die Frau reagierte nicht. Natürlich nicht. Albern, dachte er sogleich, aber das war wahrscheinlich nur der natürliche Instinkt des Neuankömmlings, sich mit der Umgebung gutzustellen.

Ole lachte. «Was war das denn?»

«Übersprungshandlung», brummte Sörensen.

Ole lachte gleich noch einmal. Aber es war ein sympathisches Lachen.

Es wurde städtischer oder zumindest dörflicher. Eine Esso-Tankstelle, die damit warb, dass man bei einer Wachswäsche einen Cappuccino extra bekam («Mach hier bloß nie ’ne Wachswäsche!», beschwor Ole ihn), daneben ein Wellblechcontainer mit der Aufschrift S+M Automobile, allerdings ohne sichtbare Autos. Links ging es jetzt zur Touristeninformation ab, rechts zum Krankenhaus. Einfamilienhäuser säumten die Straße, niedrig gebaut, eng aneinander, windschief, wie sich vor den Böen duckend. Eine Apotheke war das erste Ladengeschäft, das er wahrnahm. Im Fenster standen drei mannsgroße Playmobilfiguren im Arztkittel und mit Mundschutz. Wofür die auch immer Werbung machten, es funktionierte nicht. Jetzt

«Kapitalistenschweine», stellte Ole sachlich fest.

Sörensen rümpfte zustimmend die Nase, gleichzeitig versuchte er sich den Standort zu merken. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Friseursalon mit einer Gardine von 1972. Wer sich hier die Haare schneiden ließ, ließ sich immer schon hier die Haare schneiden. Daneben der Deichkrug, eine Gaststätte, die so tot und dunkel wirkte, wie Gaststätten um kurz vor neun Uhr morgens von Amts wegen zu wirken hatten. Eine Tafel im Fenster warb um Aufmerksamkeit: Lecker Frühstück. Sörensen merkte erneut, dass er Hunger hatte. Und dass er diesen nicht im Deichkrug stillen wollte.

«Wo soll ich dich denn rauslassen?», fragte er. Ole zeigte auf einen Schreibwarenladen an der nächsten Ecke.

Zwei, drei Leute waren auf der Straße unterwegs. Keine Regenschirme, nützte ja nix. Dafür Multifunktionsjacken, Kapuzen und krumme Rücken im Wind. Sörensen fuhr rechts ran. Der Schreibwarenladen lockte mit rotem Schlussverkaufaufkleber im Fenster. Was konnte denn ein Schreibwarenladen für saisonale Artikel loswerden wollen? Egal. Ole packte seinen Rucksack und öffnete die Beifahrertür. «Danke, Sörensen», sagte er im verbindlichen Ton des Profi-Anhalters. «War … nett.»

«Fand ich auch», nickte Sörensen und winkte zum Abschied. Ole warf die Tür zu, und Sörensen legte die letzten Meter zurück. Weit konnte es ja nicht mehr sein. Da, ein Hinweisschild. Zum Rathausmarkt ging es links ab. Dahin musste er, da war sein Ziel. Es war sieben Minuten vor neun.

Als der Passat über das Kopfsteinpflaster ruckelte, spürte Sörensen

Der herausragende Backsteinbau im Stil der nordischen Renaissance direkt vor ihm, das musste das Rathaus sein. Und auf der linken Seite des Marktplatzes, deutlich kleiner, aber ebenfalls aus Backstein, mit den beiden Streifenwagen vor der Tür, na ja, das war wohl sein neues berufliches Zuhause. Direkt zwischen dem Chinarestaurant Peking-Ente und dem Dönerladen König Kebap. Sörensen stellte das Auto auf dem Marktplatz ab, der außer einem einsamen Marktwagen mit der Aufschrift Käse-Käthe kommt und einem notdürftig mit einem Sonnenschirm überdachten Bratwurststand nichts zu bieten hatte, und zwang sich zum Öffnen der Tür. Wind und Regen gaben ihm eine volle Breitseite. Er fotografierte innerlich die restlichen Geschäfte ab, die sich rund um den Marktplatz gruppierten. Ein Optiker, der mit Messeneuheiten warb, ein Antiquitätenhändler, der antikes und stilvolles Wohnambiente versprach, ein Eiscafé namens Pinocchio, eine weitere Apotheke, eine Sparkasse, eine Hypo-Vereinsbank und ein Versicherungsbüro. Die Touristeninformation war direkt neben dem Rathaus, auf dessen anderer Seite sich das Fleischerfachgeschäft Nehlsen neben der Katenbüller Backstube befand. «Selbstverwirklichung», murmelte Sörensen und vermisste seine Gitarre schon jetzt. Er versuchte die Aufregung zu unterdrücken, rieb sich mit der rechten Hand über die Brust und überquerte mit schweren Beinen den Platz.