Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Die lateinische Fassung – »Veritatem sequi et colere, tueri justitiam, omnibus aeque bene velle ac facere, nil extimescere.« – stand als Motto den wichtigsten Schriften Seumes voran, auch dem Spaziergang nach Syrakus.

Kurz vor Drucklegung schrieb er dem Verleger: »Ich werde es immer behalten und sehe nicht, warum ich es ändern sollte.«

Piotr Alexej Wassiljewitsch von Suworow (1730–1800). Im Folgenden wird Seumes Schreibweise Suwarow beibehalten.

Töplitz entspricht dem (damals) böhmischen Teplitz und dem (heute) tschechischen Teplice. Seumes Schreibweise wird beibehalten.

Als Johann Gottfried Seume am 6. Dezember 1801 unter die Tornisterriemen schlüpfte und sich auf den Weg nach Syrakus machte, war er knapp 39 Jahre alt. Er hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich – und wie es ihn bewegt hatte: Von einer sächsischen Dorfschule in die Leipziger Universität, von der Universität übers Meer in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nach Halifax, von Halifax erst in ein hessisches Militärlager in Bremen, dann in die preußische Garnison in Emden, von Emden zurück an die Leipziger Universität, von der Universität nach Riga, Russland und Warschau, von Warschau zurück nach Leipzig und Grimma. In einem Verlagsbüro las er Wielands Werke und Klopstocks Oden Korrektur, schrieb selbst Aufsätze und Gedichte und schien endlich sesshaft zu werden.

Aber der Korrektorenstuhl war zu hart, Klopstock zu hochnäsig und das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, hoffnungslos unerreichbar. Das Leben hatte Seume immer wieder verwandelt: den Bauernbub in einen Studenten, den Studenten in einen Soldaten, dann wieder in einen Studenten, noch einmal in einen Soldaten und schließlich in einen Federfuchser wider Willen. Nun lief der Lektor aus dem Büro und ging erneut einer Verwandlung entgegen. Es wurde kein Spaziergang, auch wenn das darüber geschriebene Buch so hieß, sondern

Nach der Veröffentlichung des Buchs – Reisebericht, autobiographischer Roman und Reportage avant la lettre in einem – blieben Seume noch sieben Jahre. Es sollten bittere Jahre werden, in persönlicher, in politischer und in literarischer Hinsicht. Das Scheitern einer zweiten großen Liebe trieb ihn erneut auf große Reise, diesmal nach Osten und Norden. Das Buch darüber wurde wegen seiner Radikalität in Teilen Deutschlands und in Russland verboten. Andere Schriften konnte Seume erst gar nicht veröffentlichen. Immer schärfer äußerte sich seine Unzufriedenheit mit den Zeitläufen, und die Trauer über den wenig glücklichen Lebenslauf umdüsterte ihn. Gegen die innere Verletzlichkeit wappnete er sich mit betonter Härte im Umgang, der melancholische Grundzug seines Charakters ließ ihn den Stoiker spielen, freilich einen, dem oft genug der Gleichmut fehlte. Die Ungeduld mit sich und den Zeitgenossen wuchs, aber die Machtlosigkeit im Kleinen wie im Großen ließ weder Spiel- noch Handlungsraum. Überall schien Neubeginn nötig, aber nirgends wusste man damit anzufangen.

Der äußerlich Rastlose wurde innerlich starr. Der Vielbewegte saß verloren in der Stube und fuhr nur noch mit der Feder über das Papier. Aber auch mit seinen letzten Büchern blieb der große Getriebene unter den Schriftstellern seiner Generation buchstäblich auf der Strecke. Den Nachruhm sicherte ihm der Text, der ihn auch zum Vorbild macht: Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1802.

Seume ist gerade deshalb nicht durch die Gedächtnislücken der Literaturgeschichte gefallen, weil er ein

»Es tut mir leid, wenn ich in den Ton der Anmaßlichkeit gefallen sein sollte.«

Damit das nicht als Kleinmacherei missverstanden wird, folgt auf der Stelle und erwartbar das Aber.

»Aber es ist schwer, es ist sogar ohne Verrat der Sache unmöglich, bei gewissen Gegenständen die schöne Bescheidenheit zu halten.«

Caroline Herder hätte das mit einer herrischen Bewegung beiseitegewischt. Ihre literarische Abqualifizierung des Spaziergang wuchs sich zur moralischen Disqualifizierung seines Verfassers aus. Seume galt ihr als »eitler Mensch, der etwas sein will, ein grober Bengel, der mit seinem Ränzel in den niedrigen Wirtshäusern durchgekrochen ist und von da aus die Städte und die Landesverfassung und die Sitten und den Charakter der Nation beurteilt und über die Ohren haut. Und dieser Grobian wird von Böttiger und Consorten in den Himmel erhoben.«

Carl August Böttiger war ein wichtiger Mann im Weimarer und Leipziger Literaturbetrieb, und obwohl Caroline ihn nicht ausstehen konnte, ähnlich wie ihr Mann, wie Goethe und etliche andere, musste sie hinnehmen, dass er mit seinen »Consorten« in der Lage war, einen Autor zu ›machen‹, wie das schon damals im Literaturgeschäft zu geschehen pflegte. Aber Caroline Herders heftige Ablehnung hatte nichts damit zu tun, dass sie etwa ihren literarisch längst etablierten

Als Seume nur wenige Jahre nach dem Erfolg von Spaziergang nach Syrakus im Wettlauf mit dem Tod an Mein Leben schrieb, begann er mit dem Satz:

»Das Missliche einer Selbstbiographie kenne ich so gut als sonst irgend jemand; und ich halte mich für nicht wichtig genug, dass überhaupt mein Leben beschrieben werde.«

Das ist rhetorische Koketterie, gewiss, doch führt der halbberühmt gewordene Schriftsteller gleich danach die Autorität von ganz berühmten an und nennt dabei an erster Stelle ausgerechnet:

Wer andere als Bürgen für die Wichtigkeit seines Lebens nötig hat, so hätte Caroline das wohl gesehen, kann nicht aus eigenem Recht auf das Interesse der Öffentlichkeit zählen. Doch auf das Publikum wirkt bis heute gerade das anziehend, was Caroline so abstieß. Die von ihr diagnostizierte »Arroganz« und »Gemeinheit« empfanden und empfinden viele Leserinnen und Leser als aufrichtig und ›authentisch‹.

Auch dies zu Unrecht. Wie jeder Schriftsteller (einschließlich derer, die über andere schreiben) hat Seume seine Texte formiert. Und er hat mit ihnen fingiert, auch wenn er an ihnen selten lange herumgefingert hat. Dazu fehlte ihm die Zeit. Er lebte mal mehr, mal weniger vom Schreiben und deshalb mal besser, mal schlechter von der Hand in den Mund.

Der Weg vom Leben zur Literatur, vom Herzen zur Hand führt über den Kopf. Beim schreibenden Erinnern verändert sich das Material, das für Schriftsteller wie Seume das eigene Leben ist. Und je geringer die Autorschaft an diesem Leben, desto wichtiger die Autorschaft an dessen Beschreibung. Je weniger ›selbstbestimmt‹, wie man heute sagt, das Leben ist, desto bestimmter muss die Selbstbeschreibung sein. Je weniger selbstverständlich (und sich selbst verständlich) das Ich im Leben, desto nötiger die Selbstbehauptung in der Literatur. Seumes von Caroline Herder so mitleidlos verhöhntes »Großtun im Nichts« war nackte Notwehr.

Was gelesen wird, steht auf einem anderen Blatt. Vom

Im Englischen gibt es den wenig schmeichelhaften Ausdruck minor poet. Dieses Etikett klebt auf der Schublade, die eine so ungeduldige wie pedantische Literaturgeschichtsschreibung aufzieht, um Schriften unterzubringen, die nicht zur sogenannten Höhenkammliteratur gehören, aber doch zu schade sind, um einfach vergessen zu werden. Während über die Größe der Großen eine Einigkeit besteht, die von persönlicher Sympathie für Werk und Autor unabhängig ist, hängt bei den Kleineren viel davon ab, ob ihr literarisches Image den persönlichen Tod überlebt und wie lange ihr Werk der Nachwelt gefällt.

Wie groß war Seume? Ziemlich klein – was sein körperliches Format betrifft. Die verschiedenen Schätzungen schwanken zwischen eins fünfzig und eins dreiundsechzig. Er selbst erzählt in seiner Autobiographie Mein Leben, wie die Mutter erschrak und der Dorfpfarrer sich kaputtlachte, als er mit dem Wunsch herausrückte, ausgerechnet Grobschmied werden zu wollen.

»Du bist ja nur ein Zwerg und sinkst mit Hammer und Zange vor dem Amboß zusammen wie ein Taschenmesser, sagte der gutmütige Pfarrer.«

Wie groß war der »Zwerg« also, nachdem er sich

Mit eins fünfzig wäre er nicht nur weit vom Gardemaß entfernt geblieben, sondern auch unter der je nach Soldatenbedarf herab- und heraufgesetzten Mindestgröße der Rekruten. Mit eins dreiundsechzig wäre er immerhin dem »kleinen Corporal« nahegekommen, wie in der »großen Armee« der von ihm verabscheute Napoleon genannt wurde.

Aber Napoleons Größe ist ebenfalls umstritten; nicht nur die Körpergröße, die gemessen an den Zeit- und Leibverhältnissen seiner Epoche vermutlich so gering gar nicht war, sondern auch die historische.

Historische Größe hängt nicht vom Maß der eigenen Zeit ab, sondern von der Perspektive der Nachwelt: Von unserem Knirpstum, wie man sagen könnte, und wie der (große) Historiker Jacob Burckhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen geschrieben hat: »Unsern Ausgang nehmen wir von unserem Knirpstum, unserer Zerfahrenheit und Zerstreuung. Größe ist, was wir nicht sind.«

Seume war kein Napoleon, auch keiner der Literatur. Wie groß also war er wirklich? Niemand würde ihn einem ›Olympier‹ wie Goethe an die Seite stellen, der unter einem ganz anderen Stern geboren wurde, wie es so selbstbewusst wie selbstgefällig zu Beginn von Dichtung und Wahrheit berichtet wird. Auch würde (und möchte) man ihn nicht mit einem Wieland oder

Seume selbst dreht seinem Publikum den Rücken zu. Die Titelseite des Spaziergang in der Ausgabe von 1803 ziert eine Vignette des Landschaftsmalers Johann Christian Reinhart, den Seume während seiner Reise nach Sizilien in Rom kennengelernt hatte. Dieses Vor-Bild zeigt Seume von hinten. Die Rückenfigur lässt heutige Betrachter an die romantischen Wehmutsbilder von Caspar David Friedrich denken, in denen der Mensch allein und in sich gekehrt in die Natur gestellt ist.

Reinhart wusste später nur wenig Beifälliges über Seume zu sagen, aber seine Skizze des Tornistermanns wurde zur Seume-Ikone schlechthin. Gebannt in den Umriss des Klischees vom einsamen Pilger läuft der schmalschultrige Wanderer mit Stock und Hut seit über zweihundert Jahren durch die Phantasie seiner Leser und Anhänger. Deren sind nicht wenige, wie man anhand der Klickzahlen der Website seume.de nachrechnen kann.

Ist Seume also ein Vorbild? Seume ist vor allem Seume, und weil Menschen keine Pelzkappen oder Schimmel sind, sollte man das nicht für eine Selbstverständlichkeit halten. Herder konnte – selbstverständlich – an Moses Mendelssohn schreiben: »Ich werde, was ich bin!« Für Seume, der nichts war und alles erst werden musste,

Seume musste aus Seume ›den Seume‹ erst machen. Das bewerkstelligte er mit den Geschichten, die er von und über sich erzählte: in seiner Lyrik, in seiner Prosa, in den journalistischen Arbeiten und in seinen Briefen. Was er dort erzählt, ist oft ziemlich abenteuerlich. Nicht nur, weil sein Leben wirklich reich an Abenteuern war, sondern auch wegen der nicht sehr zuverlässigen Art, von ihnen zu berichten. Dies kontrastiert mit seiner Selbstinszenierung als unerschütterlicher Mann der Wahrheit, der mit freier Stirn, offenem Herzen und ohne Geheimnis in der Mannesbrust durchs Leben schreitet.

Das eine wie das andere hat ihn manchen seiner Zeitgenossen suspekt gemacht und ist heute der Grund für die Entheroisierung der ›Figur‹ Seume durch die germanistische Forschung. Doch ist der Sockel, auf dem die Heldengestalt des freimütigen republikanischen Wanderers auf der Stelle tritt, so niedrig, dass der denkmalstürzende Eifer komische Züge hat – kurioserweise ausgerechnet Züge jenes komisch seumischen Ernstes, der seine Sache stets mit finster zusammengezogenen Brauen verfolgt.

Was Jupiter darf, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt. Die Selbstinszenierung des Olympiers Goethe hat für Generationen von ›Bildungsbürgern‹ orientierend gewirkt. Die ästhetische Konstruktion persönlicher Autonomie war für das politisch machtlose mittlere Bürgertum überaus verführerisch. Zumal für das Ausweichen in ökonomische Kompensation das große Geld fehlte. Zur Akkumulation des kulturellen Kapitals genügte ein mittleres Einkommen. Es musste nur sicher sein. Diese Art von politisch gehemmter und wirtschaftlich

Eine Randfigur wie Seume indessen war den Saturierten wegen seines Mangels an Saturiertheit fragwürdig. Eine solche Gestalt ließ sich ins bürgerliche Lebensbild nur integrieren, indem man sie halb bestaunte, halb bedauerte. In ihr personifizierte sich eine ›Reinheit‹ im Denken und ›Unschuld‹ im Leben, die man sich selbst nicht leisten konnte. Man wollte fortkommen – nicht weglaufen wie Seume.

Die Zumutungen der Authentizität machten aus Seume eine Art ›edlen Wilden‹ des Literaturbetriebs. Seume hat an diesem Bild eifrig mitgemalt. Er führte dabei einen recht breiten Pinsel. Das Beiwort »huronisch«, mit dem er sich öfter schmückte, gehörte zur Kriegsbemalung in seinem literarischen Daseinskampf. Von fern bewundert, rief das Bild aus der Nähe betrachtet manchmal Enttäuschung hervor. Auf die Enttäuschung folgten Klagen, auf die Klagen die Anklagen. Ausgerechnet bei dem, der Selbstinszenierung besonders nötig hatte, fand man die Inszenierung des Selbst unverzeihlich. Aber die Legenden, die Seume in Wort und Tat, in Vers und Prosa von sich in die Welt setzte, waren für ihn Waffen in den Scharmützeln seiner sozialen und intellektuellen Existenz. Ebendies ist authentisch beim Fingieren von Authentizität.

Das Erfinden und Erfahren der eigenen Identität auf dem Lebensweg ist umso problematischer, je zerklüfteter sich die innere Landschaft zeigt. Seume hatte eine ausgesprochene – besser: ›ausgeschriebene‹ Vorliebe dafür, zu schildern, wie die Eingänge der Täler, die er

Aufbrüche, Ausflüchte

Beschulter Bauernjunge – Entlaufener Student – Desertierter Soldat – Entflohener Lektor – Letzte Ausflucht Weimar

– An seinen Freund Karl von Münchhausen, Juni 1792 –

»Ich bin ein junger Mensch, der in den Jahren steht, wo man mutige Unternehmungen ausführen, wo man Erfahrungen lernen kann und soll.«

– An seinen Förderer Graf Hohenthal nach der Flucht aus Leipzig, 2. Mai 1782 –

»Ich bin jetzt preußischer Soldat, und Entwürfe zu einer anderen Zukunft, schon den Gedanken daran, macht mir meine Pflicht zum Verbrechen.«

– An seinen Förderer Dorfpfarrer Benjamin Traugott Schmidt, Sommer 1786 –

»Eben schnalle ich zusammen und gehe«.

– An seinen Chef, den Verleger Georg Joachim Göschen, am 6. Dezember 1801, dem Tag seines Aufbruchs nach Syrakus –

»Sonst schnallte ich meinen Tornister und ging; jetzt musste ich erst zwei vierfüßige Tiere und ein zweibeiniges in Bewegung setzen …«

Ausflucht nach Weimar, niedergeschrieben im Mai 1810 –

Den Schriftsteller Seume gäbe es nicht, wäre der Mensch Seume nicht immer auf dem Sprung gewesen. Er wäre kein Soldat geworden, wäre er als Student in Leipzig geblieben; und er wäre nicht der »Spaziergänger nach Syrakus« geworden, hätte er als Lektor in Grimma ausgeharrt. Das Buch, das ihm bis heute das literarische Überleben sichert, ist ein Losschreiten und Fortrennen in Worten und Sätzen, als würde beim Schreiben das Blatt brennen, so wie beim Wandern der Boden unter den Füßen gebrannt zu haben scheint.

Wie er sein Lebensabenteuer begonnen hat, so beendete er es auch – mit einem Aufbruch. Er starb nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Bett, aber das Sterbebett stand nicht zu Hause. Und bevor jener endgültige Aufbruch kam, von dem keiner zurückkehrt und niemand berichtet, raste er mit der Kutsche durch Sachsen und schrieb darüber seinen letzten Text: Ausflucht nach Weimar.

Bildung macht nicht unbedingt glücklich, vor allem dann nicht, wenn ihr die Selbstverständlichkeit fehlt, wenn man sie geschenkt bekommt, dafür untertänig dankbar zu sein hat und doch immer um sie kämpfen muss.

Im 18. Jahrhundert hatte ein Kleine-Leute-Kind wie Seume nur in Ausnahmefällen eine Chance, mehr als nur das absolut Notwendige zu lernen: Den Namen schreiben, bis zehn zählen und die Gebote aufsagen. Ging der Bildungsweg darüber hinaus, hatte meist ein Pfarrer die segensreiche Hand im Spiel. Entdeckte ein Dorfpfarrer ein besonders begabtes Kind, gab es Bibelunterricht und Lateinstunden, auf die Lateinstunden folgte die Lateinschule, auf die Lateinschule Oberschule oder Gymnasium, aufs Gymnasium das Theologiestudium, aufs Theologiestudium früher oder später die Pfarrstelle in einem Dorf, wo das ehemals vom Dorfpfarrer entdeckte und geförderte Kind nun seinerseits als Dorfpfarrer besonders begabte Kinder entdecken und fördern konnte.

So ähnlich ging es auch mit Seume – oder wäre es gegangen, hätte sich der junge Mann nicht aus dem ungeliebten Leipziger Theologiestudium davongestohlen. Dass er überhaupt nach Leipzig kam, hatte er erstens dem Pfarrer Schmidt zu verdanken, ebenjenem, der sich über den Grobschmied als Berufswunsch so amüsierte, und zweitens dem Grafen von Hohenthal. Der Pfarrer und der Graf waren die ersten beiden von einer

Davon war noch nichts zu spüren, als Seume vom Pfarrer Schmidt entdeckt und von Graf Hohenthal gefördert wurde. Er konnte von Glück sagen – und tat das in der posthum erschienenen Autobiographie Mein Leben auch – nach dem Tod des Vaters von zwei Stützen der Gesellschaft in Obhut genommen zu werden.

Als Seumes Vater 1776 starb, war Johann Gottfried dreizehn Jahre alt. Der Vorname Gottfried rührte nach eigener Auskunft vom Hubertusburger Frieden her, mit dem – gut zwei Wochen nach seiner Geburt am 29. Januar 1763 – der Siebenjährige Krieg zu Ende ging. Dieser Krieg, an dem alle europäischen Staaten vom Königreich Schweden bis Österreich-Ungarn, vom zaristischen Russland bis zum Frankreich der Bourbonen beteiligt waren, hatte den Aufstieg Preußens zur

Von all dem konnte Johann Gottfried nichts ahnen, als 1776 sein Vater Andreas starb. Die Mutter brachte die damals sechsköpfige Familie nur mit Mühe durch. Die Seumes waren kleine Leute, doch gehörten sie nicht zu den Armen. Der Vater hatte landwirtschaftlichen Grundbesitz im sächsischen Poserna, den er 1770 wegen verschiedener Zwistigkeiten mit Pfarrer (!) und Landadel (!) verkaufte, um in Knautkleeberg bei Leipzig den Gasthof Weißes Ross mit dazugehöriger Landwirtschaft zu pachten. Vielleicht rührt daher Seumes im Spaziergang nach Syrakus ausführlich dokumentiertes Interesse für Wirtshäuser, das Caroline Herder so abgestoßen hat;

Das von Andreas Seume gepachtete Land gehörte zum Gut Lauer, das später von Graf Hohenthal erworben wurde. 1770/​71 kam es in Brandenburg und Sachsen zu einer Hungersnot. Das Kurfürstentum Sachsen hatte in Seumes Geburtsjahr rund 1635000 Einwohner, 50000 weniger als vor dem Siebenjährigen Krieg. Auch Anfang der 70er Jahre waren die Wehen und Nachwehen des Krieges noch nicht überwunden. Schlechte Ernten, die noch schlechtere Verwaltung der Reserven und die in Mangelsituationen üblichen Getreidespekulationen ließen die Brotpreise explodieren. Die Familie Seume überstand die Krise halbwegs, doch schmolzen die Ersparnisse zusammen.

1773, im Jahr der Boston Tea Party – wiederum ein welthistorisches Glied in Seumes persönlicher Schicksalskette, denn hätten die Bostoner Kolonisten den Tee nicht ins Meer geschüttet, um gegen die Steuerpolitik des Mutterlands zu protestieren, wäre der hessisch-englische Subsidienvertrag nicht geschlossen und der kleine Sachse nicht nach Halifax verschifft worden –, im Jahr 1773 lief die Pacht des Gasthofes aus, und Vater Andreas erwarb weiteres Land, mit dessen Bewirtschaftung jedoch Frondienste verbunden waren. Eine diesbezügliche Passage aus Mein Leben ist überaus aufschlussreich, und zwar im Wortsinn, denn sie schließt das auf, was Seume selbst für die seelische – und soziale! – Ursache seiner Verschlossenheit hielt:

»Mein Vater hatte […] eine kleine Ökonomie mit etwa sechzehn Ackern Feld gekauft. Das Drückendste für ihn an Körper und Geist war die Frohne, die

Die Fronarbeit gehörte zu jenen Privilegien, die vom Adel in allen europäischen Ländern mit Zähnen und Klauen, mit Petitionen und Peitschen verteidigt wurden. Selbst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in einzelnen Ländern konnten die adligen Gutsherren Hand- und Spanndienste fordern. Die Zwanghaftigkeit, mit der Seume dieses »Privilegium« später gegeißelt hat, ist nicht bloß eine persönliche Marotte oder die Fixierung auf einen sogenannten ›Misstand‹ unter vielen, sondern das sozialpsychologische Resultat einer persönlichen, politischen und sozialen Demütigung. Und die dieser Demütigung zugrunde liegenden Standesinteressen waren auch die Interessen des Mannes, dem Seume zugleich dankbar zu sein hatte: Graf Friedrich Wilhelm von Hohenthal zu Städteln, der ihn Ostern 1777 in die Stadtschule von Borna und bei deren Rektor Johann Friedrich Korbinsky in Kost schickte.

Zwei Jahre später wechselte Seume auf die

»Ich war bei dem Rektor in Wohnung und Kost und Holz verdungen; erhielt aber meinen Speiseteil durch die Magd auf mein Zimmer. Das wollte mir schon nicht behagen und schien mir illiberal: denn bei Herrn Korbinsky in Borna war ich wie ein Kind vom Hause mit allen übrigen gehalten worden.«

Der mittellose Junge vom Land, den der Graf in die Stadt und auf die Schule schickt, will nicht von der Magd auf seinem Zimmer verköstigt werden, sondern möchte einen Platz am Tisch des Hausherrn. Die Bevorzugung führt zur Erkenntnis der Benachteiligung. Die Bildung, die man dem Bauernjungen wegen seiner Begabung ausnahmsweise zugutekommen lässt, löst ihn aus seiner sozialen Herkunft heraus, fügt ihn in der Gegenwart aber noch nicht ein in das, was als soziale Zukunft erst erkämpft werden muss. In der Familie ist er der vielversprechende Sohn, der nicht nur die Eierschalen der Kindheit, sondern auch die bäuerliche Erde seiner Herkunft abschüttelt; in der Stadt, in der Schule, beim Rektor ist er ein hergelaufener Bauernjunge, der trotz der gräflichen Förderung erst noch beweisen muss, ob er den Katzenplatz am Tisch der höheren Bildung auch verdient. Lernt er zu wenig und zu langsam, ist er ein Tölpel und Faulpelz; lernt er zu schnell und zu viel, ist er überambitioniert und bildet sich Wunder was ein. So kann er es niemandem recht machen, nicht einmal sich selbst, denn die eigenen Wertmaßstäbe und der Maßstab des eigenen Werts müssen erst noch entwickelt werden. Wenn das endlich gelungen ist, werden sie um so nachdrücklicher verteidigt, was bei Seume später zur Abgrenzung der Ehre vom Ruhm führt, der Ehre vor sich selbst, und dem Ruhm bei den anderen. Die hybrideste

Das mit dem Schulbesuch verbundene Hinaustreten aus dem Familienkreis bedeutet nicht automatisch das Hineintreten in die Bildungskreise. Die intellektuelle Emanzipation wird mit Einsamkeit bezahlt, und die besten Freunde heißen nicht Hans oder Michael, sondern Ovid und Tacitus. Den einen in der Hand, studierte er die »Liebeskunst«, den anderen in der Tasche, floh er von der Universität. Das freud- und freundlose Sich-Eingrübeln, das von etlichen Bildungsaufsteigern am eigenen Leib erfahren und am eigenen Leben beschrieben wurde, wird in Seumes Autobiographie thematisiert, wenn auch nicht in der einschnürenden Intensität wie im Anton Reiser seines Zeitgenossen Karl Philipp Moritz.

Noch Seumes brieflicher Stoßseufzer an Freund Münchhausen, wäre er nur Schuster wie sein Bruder geworden, dann müsste er sich nicht mit der Seele abplagen, rührt her von der inneren Unruhe des aus seinen Herkunftsverhältnissen ausgewanderten Bildungsgängers. Wer Schuster wird, kann bei seinen Leisten bleiben und braucht sich um keine höheren Ansprüche zu kümmern. Und wer Grobschmied wird, läuft wenigstens nicht Gefahr, eine brotlose Kunst zu erlernen. Die Funken, die der Hammer schlägt, sind reeller als die Funken beim Verseschmieden:

»Wäre ich Grobschmidt worden«, schreibt Seume als Soldat an einen Freund aus seiner Schulzeit in Borna, den Sohn des Rektors Korbinsky, »dann kennte ich Ramlern und Klopstock nicht und dächte nicht ans Oden dichten, aber ich könnte den Ambos schlagen und mein Schurzleder setzte

Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er später in seinem Leben ausgerechnet an Klopstocks Oden herumfeilen würde, noch dazu mit wenig Anerkennung durch den poetisch sehr und menschlich gar nicht gemochten Meister.

Als Schüler und Student musste Seume fürchten, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu enttäuschen, aber zugleich durfte er sich von der Wahl der anderen, ausgerechnet ihm den vielen versperrten Bildungsweg zu öffnen, über sich selbst hinausgehoben fühlen. Doch wird man von anderen über sich hinausgehoben, wird man von anderen auch aus sich hinausgewiesen. Die helfende Hand gibt mehr als nur Fingerzeige, dass Zukunft nicht mit, sondern nur gegen die Herkunft zu haben ist. Ein auf diese Weise gewonnenes Selbstbewusstsein ist immer fragil. Noch dazu, wenn dies alles in Hochgeschwindigkeit geschieht: Statt »mich noch auf eine Schule zu schicken, wurde ich gleich auf die Universität getan«, schrieb Seume in seiner Autobiographie:

»Und so war ich denn in [innerhalb] einer Zeit von ungefähr drei Jahren ein wilder unwissender Landjunge, ein gänzlicher Analphabete, und Leipziger Student; das ging freilich ein wenig rasch.«

Wie alles in Seumes Leben, möchte man hinzufügen. Am 9. Oktober 1780 immatrikulierte sich Seume an der theologischen Fakultät.

Wer fördert, kann auch fordern, und Graf Hohenthal hatte von Seume das Studium der Theologie gefordert. Das war keine besondere Grausamkeit, sondern gewöhnlicher Pragmatismus. Der Geförderte sollte der Förderung baldmöglichst entwachsen, was am

»Ich schulde der Großmut Ihres Herzens alles, was mir zum Leben nötig ist, und ich bin so vollkommen von der Größe Ihrer Wohltaten überzeugt, dass ich mein Leben lang nicht genug dafür danken kann. […] Darum wage ich, Sie ganz ergebenst zu bitten, mich zu unterstützen. Die Geschenke, die Sie mir in den letzten Tagen gemacht haben, sind bereits verwendet. Weil ich die Bücher nicht bei einem Antiquar kaufen konnte – denn diejenigen, welche man in den akademischen Vorlesungen braucht, waren schnell vergriffen –, habe ich von Buchhändlern gekauft, weshalb sie viel mehr kosteten. Sie haben mir befohlen, alles aufzuschreiben, was ich kaufe, und ich setze es Ihnen auf mit einer Liste derjenigen Sachen, die ich nicht entbehren kann. Ich bitte Sie, meine Freimütigkeit zu entschuldigen; ich weiß, dass sie von einer seltenen Menschenfreundlichkeit sind, der ich mein ganzes Glück schulde.«

Ein dreiviertel Jahr später hielt Seume es in Leipzig nicht mehr aus.

»Es ist am 28ten oder 30sten Juni d.J. ein Student aus Leipzig unter dem Vorgeben, seine Anverwandten zu besuchen, verreist, und zur Zeit weder zu seinen Verwandten noch nach Leipzig zurückgekommen. Er war 18 bis 19 Jahre alt, mittlerer Statur, trug sein schwarzbraun Haar, welches ein wenig tief in die Stirn gewachsen war, in einem steifen Zopfe, und hat sehr starke schwarze Augenbrauen. Bei seiner Abreise trug er ein braunes Kleid von feinem Tuche mit Stahlknöpfen, eine grüne gewirkte Weste, schwarze Beinkleider und Stiefeln. Seine Degenscheide war mit Schlangenhaut überzogen und seine Wäsche mit J. G. S. bezeichnet. Man befürchtet, dass diesem jungen Menschen ein Unglück begegnet sein möchte, und ersucht diejenigen, welche eine zuverlässige Nachricht von ihm erteilen können, dieselbe gütigst in die Zeitungsexpedition zu Leipzig zu geben.«

Die Befürchtung, dem jungen Menschen möchte ein Unglück begegnen, bestand völlig zu Recht. Seume lief mit seinem Schlangenhautdegen geradewegs hessischen Soldatenwerbern in die Arme.

»Den Degen an der Seite, einige Hemden auf dem Leibe und im Reisesacke und einige Klassiker in der Tasche, marschierte ich zwar ganz rüstig und leicht, aber nichts weniger als ruhig durch die Dörfer nach Dürrenberg, setzte dort über die Saale, ging über das Schlachtfeld bei Roßbach [wo Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg gegen feindliche Übermacht gewonnen hatte] und blieb die erste

Was war mit Seume geschehen, dass er seine doch immerhin leidlichen Verhältnisse hinter sich ließ? Von Graf Hohenthal erhielt er fünf Taler im Monat, was nicht viel, für Seume jedoch genug war, auch wenn er sich Bücher buchstäblich vom Munde absparen musste und am ›höheren gesellschaftlichen Leben‹ nicht teilnehmen konnte. Dazu hätte es schon einer väterlichen Apanage bedurft, wie Goethe sie nach der Aufnahme seines Leipziger Studiums fünfzehn Jahre zuvor erhielt: tausend Taler jährlich.

Leipzig hatte zu jener Zeit etwa 30000 Einwohner (Weimar rund 6000). Es war Messe- und Handelszentrum, Verlags- und Universitätsstadt, hatte aber zum Glück nicht die Residenz. Die Bürde der tagtäglichen Gegenwart des Landesherrn musste Dresden tragen. Das ließ den Leipziger Handelsbürgern mehr Freiraum für die geistigen und mehr Spielraum für die repräsentativen Bedürfnisse. Goethe schreibt in Dichtung und Wahrheit: Der »Studierende von einigem Vermögen und Ansehen hatte alle Ursache, sich gegen den Handelsstand ergeben zu erweisen und sich um so mehr schicklicher

Seume befand sich in einer ganz anderen Situation. Aber langweilig ist auch ihm nicht gewesen. Während die barocke sächsische Residenzstadt Dresden als »Elbflorenz« gelobt wurde, genoss das quirlige Leipzig den Ruf eines »Klein Paris«. Hätte das große Paris da nicht noch eine Weile warten können?

»Ich nahm mein Monatsgeld, verkaufte einige Bücher, die etwas Wert hatten, und nach Abzahlung meiner Schulden […] blieben mir ungefähr neun Taler. Mit diesen dachte ich schon nach Paris zu kommen und mich umzusehen, was da für mich zu tun sei.«

Von Paris wollte er weiter nach Metz. Dort gab es eine Artillerieschule, die bürgerliche Bewerber aufnahm und für eine Offizierslaufbahn vorbereitete – in den deutschen Staaten, auch im friderizianischen Preußen, war das nur sehr ausnahmsweise möglich. Nach Metz ist Seume nie gekommen, und mehr als ein kleiner Leutnant ist er auch nicht geworden. Immerhin hat er später auf dem Rückweg von Syrakus Station in Paris gemacht.

Was trieb Seume aus Leipzig? Die Liebe, wie einige seiner Bekannten vermuteten? Das hat er brüsk

»Es war natürlich, dass der Graf endlich alles erfahren musste […] Ohne seine Unterstützung konnte ich nicht in den Wissenschaften fortleben. Ich wollte der Katastrophe zuvor kommen, zog mich in mich selbst zurück und fasste den Entschluss, auf allen Fall meine eigene Kraft zu versuchen. […] Nach vielen Kämpfen, die mir allerdings wohl das Ansehen eines Melancholischen geben mochten, ging ich auf und davon, ohne einen fest bestimmten Vorsatz, wohin und wozu.«

Die letzte Bemerkung ist erstaunlich. Denn unmittelbar darauf folgt die bereits zitierte Passage mit dem Monatsgeld und dem Plan, nach Paris und Metz zu gehen. Einem weniger gehetzten Autor wäre der kuriose Widerspruch aufgefallen, unmittelbar nach der Behauptung, ohne Plan aufgebrochen zu sein, das Ziel dieses Aufbruchs zu nennen. Es ist dies eine der vielen, sehr vielen Stellen in Seumes autobiographischen Schriften, auch im Spaziergang, in denen zwar eins zum anderen kommt, doch hinten und vorne nicht zusammenpasst. Schon in seiner allerersten Publikation, dem 1789 erschienenen Schreiben aus America nach Deutschland, bittet er den fiktiven Leser seines als Brief fingierten Berichts:

Gerade an den Wendepunkten seines Lebens lässt Seume jede Menge Lücken, die seine Leser büßen müssen. Er hält sie im Ungewissen, führt sie manchmal aus Versehen in die Irre und manchmal mit voller Absicht an der Nase herum. Darauf wird gleich, anlässlich seines Berichtes über seine Anwerbung als Soldat, zurückzukommen sein, und später noch einmal anlässlich der Schilderungen seiner Desertionen erst aus hessischen, dann aus preußischen Diensten.

An Mein Leben hat Seume unter Schmerzen und mit fliegender Feder gearbeitet. Für Federlesen blieb da keine Zeit. Für das Anfertigen einer Reinschrift aber schon. Wann genau Seume mit der Arbeit an seiner Autobiographie begann, im November 1809 oder, wie der Seume-Kenner Dirk Sangmeister für plausibel hält, schon im Herbst 1808, ist eine der vielen Unklarheiten um diesen geheimnisvollen Text, dessen handschriftliche Urfassung wahrscheinlich verloren gegangen ist und dessen Reinschrift von der Fondation Bodmer in Genf seit dem Ankauf 1937 unter Verschluss gehalten wird.

Aber vielleicht ist aus den Briefen ohnehin mehr über die Beweggründe seines Weggangs von der Universität zu erfahren als aus seinen Erinnerungen. Am 23. Februar 1782, mehr als ein halbes Jahr nach seinem Verschwinden, wandte er sich an seinen ehemaligen Leipziger Studienfreund Johann Gottlob Korbinsky, Sohn jenes Rektors, dessen väterliche Förderung Seume einst genossen hatte:

Wir erfahren nicht, was Bruder Korbinsky »nur allzu gut bekannt« war. Bezieht sich Seumes Anspielung auf seine religiöse Krise, auf seine Unstetigkeit oder doch auf ein Mädchen? Ist Seumes Dementi diesen Punkt betreffend wirklich glaubhaft? Schulden können jedenfalls nicht der Grund fürs Fortlaufen gewesen sein, denn die hatte er vorher bezahlt. Auch der Rest des anrührenden Briefs macht die Sache nicht deutlicher:

»Da mich das Schicksal einmal in fremde Länder geschlagen hat, so werde ich auch nicht zurück kehren, wenn es nicht zu meiner Ehre und der Befriedigung meiner Freunde geschehen kann. Der Baron von Hohenthal und M[agister] Schmidt [der Dorfpfarrer] sollen nicht wissen, dass ich noch lebe; ich habe meine Ursachen – folglich – ich verlasse mich auf deine Freundschaft und Verschwiegenheit.«

Nur wenige Wochen später, mit einem Brief datiert vom 2. Mai 1782, meldet Seume sich selbst bei Hohenthal:

»Hochwohlgeborener Herr, Gnädiger Herr! Werden Sie noch einen Brief von mir lesen wollen? Ich genoss Ihre Wohltaten in einem so hohen Grade, ich hatte Ihnen meinen ganzen Unterhalt zu danken; ich bekam durch Ihre Unterstützung die angenehmste Hoffnung, die schmeichelhafteste

Trotz der Befürchtung, für undankbar gehalten zu werden, kann er dem Förderer nicht sagen, was der Freund nur allzu gut weiß und wir nur allzu gerne wissen möchten:

»Die Ehre gewisser Personen verbietet mir Ihnen die Ursachen zu melden, warum ich Leipzig verlassen.«

Also steckte hinter dem Ausbruch aus Leipzig wie später hinter dem Aufbruch nach Sizilien doch eine unglückliche Liebe, dem Dementi in Mein Leben zum Trotz? Dem Mädchen, dessen Bildnis er später auf der Brust bis zum Monte Pellegrino trug, hatte er in Briefen geschworen, sie sei seine erste Liebe und würde seine letzte bleiben. Das zweite erwies sich als voreiliges Versprechen, sollte sich das erste als falsche Behauptung herausstellen? Hätte er in Mein Leben zugegeben, aus Leipzig mehr eines Mädchens als der Religion wegen fortgelaufen zu sein, hätte das auch das Eingeständnis bedeutet, zu seiner ersten großen Liebe bezüglich der »Anmutung zum Geschlecht« nicht aufrichtig gewesen zu sein.

Einem normalen reifen Mann, der eben auch einmal jung war, wie es bei dieser Gelegenheit gern augenzwinkernd und schulterzuckend heißt, hätte das kaum das Herz bedrückt oder die Seele beschwert. Aber Seume, der in der Liebe so wenig Glück hatte wie im Leben, quälte sich lange und auf verdrehte Weise sogar gern damit.