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And put me on a train

I ’ve got no expectations

To pass through here again«

The Rolling Stones, No Expectations

Im Mai 2009 kam ich zum ersten Mal in die Kleinstadt, gut eine Autostunde nördlich von Berlin gelegen, und blieb drei Monate. Zehn Jahre später, im Frühjahr 2019, kehrte der Reporter in die Kleinstadt zurück – und hat es nicht so ganz anders gemacht als beim ersten Mal: mit dabei sein, das Aufnahmegerät laufen lassen.

 

Dies sollte nie nur ein blödes Fortsetzungsbuch werden – eher der Versuch, noch einmal neu klug dumm zu sein und, in der Tradition der Reporter, die ich bewundere, nicht alles von Anfang an zu wissen (was selbstverständlich nie ganz funktioniert). Die politische Situation in diesem Land legte es mir nahe, die Geschichte noch einmal von vorne zu erzählen, aber es war nicht nur die Politik: Der Autor wollte gucken, ob das ging, noch einmal abzuhauen von allem (richtig, das mit dem Abhauen würde so einfach nicht noch mal werden, aber zumindest an das Gefühl des Weg-von-allem-Seins wollte ich mich erinnern).

 

Die im Buch vorkommenden Personen werden, bis auf wenige Ausnahmen, nicht bei ihren richtigen Namen genannt. Einige real existierende Personen habe ich zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte verfremdet.

 

Mein Dank gilt meinen Buchhelden, dem Brüderpaar Raul und Eric und dem Zehdenicker Urgestein Blocky, sowie den Betreibern und Betreiberfamilien der

 

Der Autor

Berlin, im November 2019

Merkel zitterte, die SPD drohte, zumindest im Osten Deutschlands, unter die Fünf-Prozent-Marke zu fallen, im hessischen Wächtersbach wurde ein Afrikaner aus einem fahrenden Auto heraus niedergeschossen (Opfer der Tat war der aus Eritrea stammende Mann offenbar allein aufgrund seiner Hautfarbe geworden) – und mit dem Regionalexpress aus Oranienburg traf an diesem Juliabend um 18 Uhr ein stattlich aussehender, gut in die Jahre gekommener Skinhead ein, den die Kleinstadt zuletzt als die Zecke von Zehdenick gekannt hatte. Noch am Bahngleis zündete er sich eine Zigarette an und lief zu dem Kleintransporter, der mit laufendem Motor auf ihn wartete.

 

Es war gar nicht so einfach gewesen, Vakka Vakkmann – so war der Skinhead von jeher genannt worden – für einen Abend zurück in die Kleinstadt zu holen, für ein bisschen Biertrinken und mit späterem Abhängen vor dem Späti und im Scheißladen (wie Raul die Shisha Bar & Lounge auf der Berliner Straße getauft hatte), mit den Punks und Nazis, die es alle kaum fassen konnten, dass Vakka sich nach all den Jahren mal wieder in seiner Heimatstadt blicken ließ, und mit den Frauen von Zehdenick, den Gesichtstätowierten, Kurden, Flüchtlingen, den ewigen Hartz-IVlern, den Kleingangstern, den Schwindligen und den Komplett-Weggehämmerten oben aus den Ziegeleien, dem

 

Die Kontaktaufnahme hatte sich über Monate hingezogen. Marcin, ein Mitglied der alten Aral-Gang, wohnte gegenüber von Vakkas Eltern (den Namen Vakka sprach man übrigens wie den englischen »Fucker« aus) und hatte da mal nachgefragt, ob es eine Nummer gebe. Nichts zu machen. Der ehemalige Diakon der Kleinstadt – in den Neunzigerjahren hatte Vakka Zuflucht in der Jungen Gemeinde gesucht – wehrte ab: Vakka sei der Typ, der, sei er einmal weg, ganz weg sei, er verstehe es, die Brücken zu seiner Vergangenheit und den Menschen, die ihm nahegestanden hatten, abzubrechen. Vakka wohnte, so eine der wenigen erhältlichen Informationen, in Potsdam, und das nun auch schon seit bald zwanzig Jahren, niemand wisse mehr. Recherche auf diversen Facebook-Seiten, die der Gesuchte offenkundig seit Jahren nicht mehr besucht hatte und auf denen er sich als Eisern-Union-Fan und in der nicht ganz einfach zu dechiffrierenden Garderobe eines linken Oi-Skins präsentierte (mit Domestos-Jeansjacke, Karohemd von Ben Sherman, »All Cops Are Bastards«-T-Shirt und einem grandios nach Pop und nach Randale aussehenden ausgeschlagenen Schneidezahn; auf einem Foto, hoppla, war Vakka Arm in Arm mit dem in Potsdam lebenden Modemacher Wolfgang Joop zu sehen) – nur Ratlosigkeit: »Vakka? Nein … Nein.«

 

Raul war der Einzige gewesen, der über die Jahre einen sehr losen, eben einen Raul-artigen Kontakt zu

 

Der Reporter aber, komisch, hatte immer – schon bei allerersten strategischen Überlegungen zu diesem Buch – gespürt, dass eine Rückkehr nach Deutschboden nur möglich war, wenn auch Vakka, und sei es bloß für einen Abend, in seine Heimatstadt zurückkehrte. Vakka, Held des Fernsehfilms mit dem Arbeitstitel Die Zecken von Zehdenick (1999 gedreht), und Raul, Held des Buchs Deutschboden (2009 recherchiert), sie mussten sich treffen, an einem Tisch sitzen und den ganz großen Bogen erzählen, und der Reporter wollte natürlich dabei sein, mittrinken, mitlachen und mit der Faust auf den Tisch hauen, weil einfach nirgendwo so wild, so hart, so furchtlos, so wunderbar frei von irgendeinem Schuldbewusstsein erzählt wurde wie in der Kleinstadt.

 

Vakka Vakkmann, bürgerlich Sascha Vergin, ein Jahr vor Raul, 1981, in Zehdenick geboren. Sein Vater hatte schnell nach der Wende Läden der Handelskette Konsum von der Treuhand gekauft, sie weitergeführt und ordentliches Geld verdient. Vakka, so lautete die Geschichte heute, sei aus Prinzip immer gegen alles

 

Was als diffuser Widerstand und als ganz gewöhnliche pubertäre Geste der Selbstsuche begonnen hatte, wurde sehr schnell zu einem regelrechten Opfergang: Der schmale Junge bekam morgens, mittags, abends und, wenn er sich nachts noch einmal auf die Straße traute, dann nachts noch einmal aufs Maul. Vakka wurde die blond gefärbte Puppe, in die jeder Schüler, jeder Heranwachsende, jeder junge Mann, der seinem Selbstbewusstsein einen Kick geben oder sich vor den braunen Gangs produzieren wollte, einmal reinschlagen durfte – bald war es kein politisches Statement mehr, den Punk und die Zecke Vakka Vakkmann zu treten, wenn er schon am Boden lag. Man schlug ihn, weil alle ihn schlugen (und natürlich, wie in allen ostdeutschen Kleinstädten der Neunzigerjahre, fehlte es in Zehdenick an Ausländern und Gastarbeitern, die den Rechten als Opfer hätten taugen können). Gesendet wurde die Fernsehdokumentation Die Zecken unter dem Titel Abgestempelt – Eine Clique gegen den Rest der Stadt. In der ersten Einstellung hetzte das fahrige Bild einer Handkamera über Kopfsteinpflaster, das von fahlem Ost-Straßenlaternen-Licht beschienen wurde. Der Film begann mit den Worten: »Angst. Ich habe ständig Angst, eins auf die Fresse zu kriegen.«

 

In der Kleinstadt hatte sich zuletzt das Gerücht gehalten, Vakka sei längst wieder bei den Rechten gelandet – was für ein Drama. Aus den Worten des Diakons ließ sich heraushören, dass der verlorene Punk ihn berührt, ja vielleicht sogar sein Herz angebrochen hatte: Vakka sei ein Süchtiger gewesen, natürlich, ein Schwindler, ein Grenzgänger, ein »glänzender und gefährdeter Mensch«. Und dann, Mitte Juli, kam von Raul plötzlich die Nachricht, dass Vakka sich gemeldet habe – gerne ein Bierchen, noch lieber zwanzig, dreißig Biere, klar, gerne zusammen abhängen, gerne quatschen. Er sei am Wochenende in der Kleinstadt, um einen runden Geburtstag seines Vaters zu feiern. Schon richtig, er sei schwer zu erreichen gewesen. Sein Handy, so Vakka zu Raul auf der Playstation-Sitzung, habe ihm »so ein Neger geklaut«.

 

Der Rückkehrer schwang sich aus Rauls blauem VW-Bus heraus, und ich konnte sofort sehen, dass es ein Wahnsinn gewesen wäre, wenn unser Zusammentreffen nicht stattgefunden hätte. Er trug kurze, graue Haare, einen Seitenscheitel, Puma-Turnschuhe, gewöhnliche weite Shorts mit Seitentaschen und – interessantes Statement – ein Polohemd von Ralph Lauren.

 

Auf eine irre Art hatte sich Raul, mit dem ich vor exakt zehn Jahren meine ersten Runden in Zehdenick gedreht hatte, zu einem klugen Mitstreiter des Reporters entwickelt, zu einem, der mitdachte und im Sinne des Buchs und der Geschichte agierte, ohne dabei jemals seine eigentliche und natürliche Bestimmung – ein König, wenn nicht der König der Kleinstadt zu sein – aus den Augen zu verlieren.

 

Nicht dumm sein, war schon etwas Gutes, und tatsächlich, der Diakon hatte ja auch gesagt: »Das ist ein extrem undummer Junge, der Sascha.«

 

Vakka fragte die Bedienung, ob das Bifteki auf der Speisekarte (Hacksteak mit Käse) ohne Knoblauch

 

Doofe Frage: Waren Vakka und Raul eigentlich Freunde? Eher Bekannte und Kumpels. Immerhin, sie hatten sich nie geprügelt, auch nicht in den Neunzigerjahren. Raul: »Sagen wir so: Lebten wir heute noch in einer Stadt, wir wären sicher Freunde.«

 

Vakka sollte alles erzählen, von Potsdam und wie es sich da lebte, von ganz früher, den Zecken-Jahren in der Kleinstadt, und mit welchen Gefühlen er heute in seine Heimatstadt zurückkehre, wie Deutschland und Europa seiner Meinung nach mit den Herausforderungen der Immigration aus Afrika umgehen sollten, die für die kommenden Monate genauso wie für die nächsten hundert Jahre zu erwarten war, und wo er dieses verdammte Land im Jahr 2019, dreißig Jahre nach der Wende, hinkippen sah.

 

»Wat genau soll ich erzählen?«, fragte Vakka. »Wo soll ick anfangen?«

 

Der Rückkehrer erklärte: »Ich lebe nach einem alten ostdeutschen Wahlspruch: Ich bin kein Rassist, ich hasse euch alle.« Dann gleich hinterher: »Im Ernst, solange ich nicht über Frauenfußball reden muss: alles gut.«

 

Die drei großen Biere standen auf dem Tisch, Vakka hatte die Hand im Fell seiner Punkhündin, ich fragte, ob er mir, zum Warmwerden, die Geschichte seines

Deutschland, östlicher Teil des Landes, Anfang März 2019. Es war das Jahr, in dem der Mensch in diesem Land, auch wenn er sie nicht wählen wollte, sich mit der durch und durch dummen, der ganz und gar ärgerlichen Partei AfD beschäftigen musste. Konnte es nicht etwas Schönes, Leichtes, etwas angenehm Egales geben, mit dem man sich ablenken und stattdessen beschäftigen konnte? Das gab es natürlich auch noch, aber es war nicht gerade leichter geworden.

 

Im September hatte sich der größte anzunehmende Unfall knapp doch nicht ereignet, aber eben doch ein starkes Beben: Mit 23,5 Prozent in Brandenburg und mit 27,5 Prozent in Sachsen war die Partei von Björn Höcke, von Andreas Kalbitz und von Alexander Gauland nicht als Nummer eins, aber doch als großer Sieger der Landtagswahlen ins Ziel gegangen (in Brandenburg konnte die AfD ihre Ergebnisse von 2014 knapp verdoppeln, in Sachsen verdreifachen). Bei den Europawahlen und den Kommunalwahlen in Brandenburg war die AfD stärkste Partei geworden. Seit jenem September 2019 waren Koalitionen allein mit dem Zweck gebildet worden, die AfD zu verhindern. Nicht nur dort, aber eben auch exakt auf dieser Linie verlief der Rechtsruck.

 

Kleine Chronik der Ereignisse. Im Januar hatte eine ostdeutsche Nationalikone, der ehemalige

 

Ende April dann, als CDU und SPD in Umfragen erstmals hinter die AfD zurückfielen, war Dietmar Woidke, Ministerpräsident von Brandenburg – 1,94 Meter groß, Bauernsohn aus der Lausitz –, für politisch tot erklärt worden. Die Zeitungen mussten sich – wieder einmal – die Frage gefallen lassen, ob sie sich in den vergangenen Jahren vielleicht nicht zu selten, sondern zu oft mit der dummen Partei AfD beschäftigt hatten, und ob es klug und hilfreich war, das, was da im Osten gleich nach 1989 und nach der Friedlichen Revolution entstanden war – Abstiegsängste, Gefühle von Ohnmacht und Zweitklassigkeit, mangelnde Erfahrung mit der Demokratie, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – und sich bis heute zur gesellschaftlichen Normalität ausgewachsen hatte, Faschismus oder Nationalsozialismus zu nennen.

 

 

Vor neun Jahren, im Herbst 2010, war mein Reportage-Buch Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung erschienen. Exakt vor zehn Jahren, auch in den Frühlings- und Sommermonaten April, Mai, Juni und Juli, hatte sich meine Geschichte in der brandenburgischen Kleinstadt ereignet. Mein journalistisches Ethos, ja mein Verantwortungsgefühl hatten mich nun erneut in den Ort, gut eine Autostunde nördlich von Berlin, getrieben. Mein, bitte, was?

 

Eine andere Erklärung lag näher: Ich hatte einfach schon zu lange nicht mehr in meiner kleinen Havelstadt gelebt – ich wollte zurück in mein dirty Hardrockhausen, zurück zu den Leuten, die »in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und an einen Spuckefaden zu Boden fallen

 

Ja, ich wollte wieder einmal nicht mit den netten Menschen sein, nicht mit den Guten, Fairen und Geschmackvollen, nicht mit den Verantwortungsvollen und Reflektierten, die in der Kleinstadt natürlich auch die ganz überwiegende Mehrheit stellten – sondern mit den Arschgeigen, den Hässlichen, Kaputten, denen mit den hässlichen Turnschuhen, den hässlichen Brillengestellen, den Augenbrauenpiercings und den hässlichen Tunneln in den Ohrläppchen. Ich wollte mit denen sein, wie Raul es später ausdrückte – zur Halbzeit der Recherche, als der Reporter am Bierwagen vor Bernie’s Café eine Hand ins Gesicht gelangt bekam –, die »anders fertig« waren. Anders fertig. Gut.

 

Was war der Unterschied meiner Recherchehaltung zur vor neun Jahren veröffentlichten Reportage? Na ja, ich hatte schon verstanden, dass die Feier und romantische Verklärung des Kleinstadt-Prolls, die im ersten Buch so exzessiv Thema und der Schmäh gewesen waren, als eine demonstrative Gedankenlosigkeit oder Denk-Verweigerung, man konnte auch sagen, als Feier eines Anti-Intellektualismus gelesen werden konnten. Darum war es mir natürlich nie gegangen, im Gegenteil (ich war ja Intellektuellen-Fan).

 

 

Noch eine Wahrheit, wieder nicht ganz unwichtig: Tätowierungen waren im Jahr 2019, nachdem mittlerweile praktisch die ganze Bundesrepublik tätowiert war (nicht nur Fußballer, sondern auch Ex-Bundespräsidenten-Gattinnen), schlicht nicht mehr der großen Rede und Beschreibung wert.

 

 

Und – ja –, die Idee war noch einmal, dass es die Alltäglichkeit und die Normalität als Reportagestoff natürlich total brachten (normal war das, was sich durch einfache Teilnahme, Nicht-Nachfragen, Nicht-Einmischen, Nicht-Nachbohren zeigte, alle großartigen Reporterpreis-Reportagetechniken waren weiter zu vernachlässigen). Die Idee war ja einmal mehr, dass in der Kleinstadt ein genaues Studium der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse möglich war, eine präzise Diagnose, ein gerader Blick auf die Kaputtheiten und in die Abgründe unserer Zeit, der in der Großstadt längst verstellt war. Hier in der Kleinstadt glaubte ich – der Mann, der auf die fünfzig zuging –, eine unverfälschte und ungeschminkte (schreckliches Wort!) Prognose der Möglichkeiten zu erhalten, die das Leben noch bereithielt.

 

 

In der Fortsetzungs-Hölle. Die Bedingungen für eine Recherche, die sich auch nur als halbwegs objektiv bezeichnen ließ, hatten sich, dadurch, dass zehn Jahre vergangen waren, natürlich nicht gerade verbessert. Mit dem Personal von Deutschboden I – den Jungs der Band 5 Teeth Less, dem Brandenburger Ureinwohner Blocky, den Kneipenleuten Hansi und Heiko Schröder – hatte ich über die Jahre Kontakt gehalten, mit einigen, vor allem meinen Buchhelden Raul und Eric, fühlte ich mich längst befreundet. Mit der Mutter von Raul und Eric, einer Art First Lady der Kleinstadt, hatte sich eine Wahlverwandtschaft ergeben: Zu Weihnachten und zu meinem Geburtstag schickte sie mir liebevoll gepackte Carepakete (mit selbst gestrickten Socken, selbst gemachter Marmelade, selbst gepflücktem Brennnessel-, Pfefferminz- und Erkältungstee). Bewegende Sache – der Reporter war, selbstverständlich ohne dass dies je besprochen werden musste, Teil einer Familie in Brandenburg geworden.

 

Zeitungs- und Fernsehreporter waren nach Erscheinen von Deutschboden nach Zehdenick gekommen, hatten ihre Kameras vor dem rosafarbenen Rathaus und am Stammtisch der Kneipe Schröder aufgebaut, eine Neufassung des Buchs als Kinofilm war gedreht

 

Anruf bei den Jungs, ob sie sich einen zweiten Teil vorstellen könnten – ach, das Riesenthema Älterwerden: Raul, damals 26, war heute 36 Jahre alt, Eric, damals 24, war heute 34. Die enorm freundliche und bedächtige Stimme des Protagonisten Raul am Telefon: »Das könnte man schon machen.« Schweigen. Fortgesetztes Schweigen des Romanhelden. Raul erklärte nun: »Das wäre dann ganz was anderes. Also nicht mehr Bier und Abfahrt. Sondern mehr so Kaffee, Tee und gute Gespräche.« Großes Gelächter, Freude am Telefon.

 

Und Raul quatschte sich sofort in eine unmittelbar hochinteressante dramaturgische Ausführung hinein: Deutschboden II müsste sich zum ersten Teil verhalten wie der Film Terminator II zu Terminator I. Die Helden, also sie, die Brüder Raul und Eric, dürften nur

 

Der Reporter notierte zehn abstrakte Fragen, die großen zehn, die er den Brandenburgern, so, wie sie ihm vor das Aufnahmegerät liefen, stellen wollte:

 

»Sonst so?

Wo tat es gerade weh?

Wie blieb man aufrecht?

War rechts sein auch okay, oder war das Mist?

Stolz darauf, aus Ostdeutschland zu sein?

Dreißig Jahre nach Mauerfall, wie ging es der deutschen Seele?

Durfte man in Deutschland seine Meinung sagen?

Wer hatte die durch den Menschen gemachte Klimaerwärmung erfunden, die Grünen oder die Chinesen?

Wie lauteten deine Abschiedsworte an Angela Merkel?

Gab es die große Liebe?«

 

So weit meine Vorbereitungen. Um die Protagonisten von Deutschboden II zu beruhigen, behauptete ich am Telefon, dass der zweite Teil natürlich journalistischer, sachlicher, härter recherchiert, ganz sicher auch politischer werden würde, etwa das also, was man als

 

Und dann saß ich im Regionalexpress Richtung Oranienburg, der am Gleis 5 des Berliner Hauptbahnhofs am Morgen des 12. April um 7.55 Uhr abfuhr. Denn Geschichten, auch Fortsetzungen, das wusste doch jeder, begannen niemals im Auto, immer im Regionalexpress.

Wiedersehen mit den Brüdern Raul und Eric. Ich nahm sie mir einzeln vor.

 

Raul schlug vor, dass wir ganz beiläufig irgendwo zusammentrafen – bloß kein Aufsehen, bloß keinen Aufschlag, der nach großem Wiedersehen aussah –, also zum Beispiel vor dem Istanbul-Imbiss, der vor gut zwei Jahren eröffnet hatte, Berliner Straße, Ecke Poststraße. Döner essen, gleich aus der Alufolie heraus, Käffchen dazu.

 

Drei Dinge, so hatte Raul mir vorab erklärt, hätten sich in der Kleinstadt über die letzten zehn Jahre verändert – das sei es schon, mehr müsse ich, der Reporter mit Lesebrille, eigentlich gar nicht wissen:

 

Es habe, erstens, ebenjene Dönerbude eröffnet, vor der wir uns treffen sollten, erstklassige Ware, wirklich einwandfrei zu genießen – mit ihr habe Zehdenick endgültig, mit dreißig Jahren Verspätung, seinen Anschluss an den Westen vollzogen (»Wir liegen jetzt kulinarisch irgendwo zwischen Hamburg, Dortmund und Frankfurt«). Er bat um Verständnis: Nicht der Dönerladen sei für die Kleinstadt die Neuigkeit, einen solchen gebe es hier gefühlt schon seit Ewigkeiten (vor zwanzig Jahren schon am Kaiser’s-Parkplatz), sondern die Uhrzeit, zu der man den Döner in dem neuen Laden essen gehen konnte. Unter der Woche habe der

 

Raul: »Eine Riesenverbesserung für Leute wie mich – die Herumtreiber, Stadtrundendreher, Stoner, World of Warcraft-Gamer, Leute, die nachts arbeiten oder Mollen saufen oder beides und morgens früh nach Hause kommen.« Ein Zehdenicker Grundnahrungsmittel sei die Döner-Box (der Döner zum Mitnehmen) – jetzt, zu unserem Treffen auf der Berliner Straße, lautete seine Bestellung: »Einen Disco-Döner, bitte.« Das war der ohne Zwiebeln und ohne Knoblauchsoße.

 

Raul nannte mir die Vornamen der beiden jungen Männer, die, mit Stoffhüten und Polohemden mit der Aufschrift »Istanbul-Imbiss« bekleidet, am Dönerspieß standen und das Fleisch und den Krautsalat in die Brothälften verteilten: Ibu und Ahmet, zwei aus dem kurdischen Teil der Türkei stammende Jungs. Sie begrüßten mich mit der Döner-Kebab-Verkäufer-typischen Grundgelangweiltheit und Slickness, die der Berliner aus den migrantisch geprägten Vierteln Kreuzberg und Neukölln kannte. Und an der Art, wie sie Raul bedienten, erkannte ich, dass sie ihn des Öfteren zu vorgerückter Stunde erlebt hatten, dass es zwischen ihnen also ein für das Nachtleben typisches, pragmatisches Vertrauensverhältnis gab und sie sich, in einer für sie bequemen und vorteilhaften Art und Weise, keine Illusionen über Raul machten.

 

Zweite, auch für mich, den Großstadt-Menschen, essenzielle Veränderung: Die Kurden von der Dönerbude

 

Sarhan führte außerdem – ganz wichtige Neuerung, ganz wichtige Geschichte, das musste alles noch ausführlich und ausgiebig erzählt und in allen Einzelheiten besprochen werden – die im selben Haus wie der Istanbul-Imbiss gelegene »Café Lounge Bar«, ehemals District, davor Franky’s Place genannt – der verbotene Laden, der Abkackladen, die ganz böse Kaschemme, in der ich vor zehn Jahren mit den Jungs der Band 5 Teeth Less, mit Raul, Eric, Rampa und Crooner, nach allen Regeln der Kunst, immer nach ausgiebigen Besuchen der Kneipe Schröder, vor die Hunde gegangen war: klebrige Drinks, nächtliche Brüllereien, Schubsereien, Schlägereien, alles da. Den Laden hatte Raul, wie schon gesagt, kurzerhand »Scheißladen« oder auch »Laden der Scheißigkeit« getauft und dafür gesorgt, dass sich der Name in der Kleinstadt rasend schnell durchgesetzt hatte (»Scheißdrinks, Scheißgäste, Scheißmucke, Scheißspaß, Scheißladen«).

 

Raul gab mir jetzt eine erneute Idee davon, wie paradox seine Ausdrucksweise manchmal ausfallen konnte, wie er also gleichzeitig eine grandios abfällige Vokabel hochfahren und eine große Zuneigung für das nur auf der Oberfläche von ihm geschmähte Lokal empfinden konnte: »Die fettesten Urseln, das asozialste

 

Natürlich, es gebe jede Menge Konfliktpotenzial, oft habe er, Raul, sich als Streitschlichter betätigen müssen, er habe da großes Talent. (Er rief dann, und diese Worte hatte er selbst gefunden, wenn er selber stinkbetrunken gewesen war: »Jungs! Ruhig Blut. Ich habe hier keinen Bock, gleich wieder die Bullen im Laden zu haben. Wo sind wir in einem Jahr? In einem Jahr sind wir doch eh wieder Kumpels – aber vor Gericht sitzen wir alle auf zwei Holzbänken und stottern uns einen ab, und keiner will’s gewesen sein. Lasst uns also nicht die Zeit mit Strafvollzugsbehörden verschwenden und lieber noch einen trinken.«) Das Schöne aber sei doch, so Raul, dass es im Scheißladen von heute, im Gegensatz zu den alten Zeiten von Franky’s Place, meistens friedlich bleibe (natürlich, vor zehn Jahren, oder noch davor, in den Neunzigerjahren, zu Nazi-Zeiten, sei ein friedliches Miteinander-Trinken undenkbar gewesen).

 

Einen Moment, Raul. Seinen Scheißladen, den musste ich mir – jetzt gleich zu Beginn meiner Reportage – einmal ganz genau mit ihm angucken gehen.

 

 

Die dritte Veränderung, und die sei so furchtbar, dass es ihm hier eigentlich gleich die Sprache verschlug und alle Spucke wegblieb – Raul prügelte den Rest seines Döners in einen Mülleimer und hatte jetzt schnell eine Zigarette im Mund, die im Handumdrehen brannte: »Das Aller-, Aller-, Allerfurchtbarste, wir können es alle eigentlich noch gar nicht fassen: Der Große Ratskeller hat dicht.«

 

Okay. Noch einmal, ganz in Ruhe: Der Große Ratskeller auf der Berliner Straße hatte zugemacht. Das war, auch für den Reporter, der sich seit seinem ersten Aufenthalt in der Kleinstadt wie ein halber Zehdenicker fühlte, wirklich eine Nachricht. Wirt Bernd,

 

Mir war jetzt ein wenig so, als wollte ich Raul an den Händen nehmen, um mich gemeinsam mit ihm noch besser erinnern zu können – also gut: Der Ratskeller war die große alte Dame der Zehdenicker Trinkkultur gewesen, eine Institution, die Anstalt (ihre Gäste wurden Insassen genannt), der Antipode zur Gaststätte Schröder, eins von heute insgesamt noch fünf oder sechs Lokalen, die in der einst großen Arbeiter-, Trinker- und Feierstadt Zehdenick überlebt hatten. Anders als die Kneipe Schröder, die schon zu DDR-Zeiten ein Lokal in Privatbesitz gewesen und von den dynamischen, dem Kapitalismus letztlich wohlwollend zugeneigten Wirtsleuten Hansi und Heiko Schröder geführt worden war, standen im Ratskeller die Tresen für die alten Zehdenicker – all jene, die ein wenig traurig darüber waren, dass es die DDR nicht mehr gab. Es war, bis tief in die Nullerjahre hinein, der heimelige Laden, das Lokal mit der Seele, dem Kachelofen und dem Pissoir, durch das ohne Unterlass das Wasser rauschte (für Leitungswasser musste zu Ost-Zeiten kein Geld entrichtet werden), Treffpunkt für den alten Kleinstadt-Underground, der noch aus den Siebzigerjahren stammte, die DDR-spezifische Mischung aus Dissidenten, Schnüfflern, Gangstern, Kleingangstern, Hehlern, Schiebern, Komplettverweigerern, sonstigen Outlaws,

 

Interessanterweise hatten meine Jungs, die für mich immer zum festen Inventar der Kneipe Schröder gehört hatten, in den jüngst zurückliegenden Jahren von Heikos Kneipe zu Bernds Großem Ratskeller rübergemacht – allein aus diesem Wechsel des Stammlokals ließ sich in etwa so viel ablesen über Ostdeutschland im dreißigsten Jahr nach der Wende, über ostdeutsches Selbstbewusstsein, ostdeutsches Nicht-Ankommen in der westdeutschen Demokratie und die viel zitierte Anerkennung der ostdeutschen Lebensleistungen wie aus allen trotzdem nicht so schlechten Reden des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.

 

Vor zwei Jahren, als an ein Zehdenick ohne Ratskeller noch nicht zu denken gewesen war und der Reporter sich einmal für einen Freitagabend zum Biertrinken in der Kleinstadt aufhielt, hatte ihm der Mann, der auf dem linken Unterschenkel die drei untereinanderstehenden Buchstaben »OST« eintätowiert trug und von allen wegen seiner auffällig geringen Körpergröße (unter 1,65 Meter) und einer gleichzeitig fast berserkerhaft starken Figur nur der Kurze genannt wurde, erklärt: »Es ist mir wohler drüben, weeßte. Es ist mehr dreckig, mehr Kneipe.« Sein Bier, so der Kurze, trinke

 

Natürlich, zum Essen war man zuletzt, also noch im Herbst letzten Jahres, nach wie vor lieber in die Kneipe Schröder gegangen – zum Trinken allerdings, zum Schwer-Trinken und Gepflegt-betrunken-Werden, also Reinsinken in den Alkohol und Unsinn-Reden (Dusselig-Quatschen, wie in der Kleinstadt gesagt wurde), war Bernds Ratskeller zuletzt das erste Lokal am Platz gewesen. Legendär war das Boule-Spiel, das Bernd stets weit nach Mitternacht in seiner Kneipe veranstaltet hatte – die Kugeln wurden vom ersten Tresenraum zehn, fünfzehn Meter über die alten DDR-Laminatböden durch einen Zwischenraum bis in das hintere Billardzimmer gerollt. Wichtige Spiele des Ratskellers waren außerdem das Nageln gewesen (in einen hüfthohen Baumstumpf musste mit dem flachen Ende eines Maurerhammers ein Einhunderter-Nagel versenkt werden – wer die meisten Schläge brauchte und wessen Nagel zuletzt noch aus dem Holz herausguckte, der zahlte die Runde); das Rollator-Wettfahren (die Runde ging einmal um den Billardtisch herum und zurück) und das Skispringen (in diesem tollkühnen, für die körperliche Unversehrtheit nicht ungefährlichen Spiel wurde der Gast, der besser Stammgast und sehr, sehr betrunken war, in Bernds alte Langlaufski, die für diese Fälle stets hinterm Tresen bereitgehalten wurden, festgeschnallt und von zwei starken Männern unter den Armen gepackt und möglichst weit in die Tiefe des Lokals hineingeworfen, wo er,

 

Interessanter Vorgang: Der Reporter, der aus dem tiefen Westen stammte, war erst vor wenigen Stunden in der Kleinstadt angekommen, und schon schwärmte er selber davon, wie schön früher alles einmal gewesen war – so selig, so tränenreich, wie das nur die alten Ost-Katzen konnten.

 

Raul schlug jetzt vor, dass wir gemeinsam die hundert Meter zur Zugbrücke runterspazierten und uns da, wo das Wasser der Havel gemächlich durch die Stadt floss, ein bisschen ans Geländer stellten (was war jetzt los? Das hätte es früher, also vor zehn Jahren, wirklich nie gegeben, dass der Schlagzeuger der Band 5 Teeth Less und Punkrock-König der Kleinstadt vorgeschlagen hätte, sich ein bisschen an der Havel auszuruhen – Riesenthema Älterwerden). Und wir freuten uns gemeinsam darüber, wie wir über die Nachricht der Schließung des Großen Ratskellers ins Geschichtenerzählen, ins Erinnern und Schwärmen geraten waren.

 

Neue Dönerbude, neuer Späti, Ratskeller geschlossen – das waren, auf der Oberfläche, also die Veränderungen hier in der Stadt. Da konnte man jetzt schon

 

Richtig, die dreieinhalbste Veränderung war natürlich, dass es die Band 5 Teeth Less, die eine Hauptrolle in Deutschboden gespielt hatte (Gitarre: Eric, Bass: Rampa, Schlagzeug: Raul, Gesang: Crooner), nicht mehr gab. Dieses Ende war, natürlich, abzusehen gewesen.

 

Der letzte große Auftritt hatte vor drei Jahren beim 800-Jahre-Fest stattgefunden, immerhin, man habe fast zwölf Jahre durchgehalten. Weniger das Buch als die Allgegenwärtigkeit des Films habe der Band letztlich den Garaus gemacht: »In allen Texten, die über unsere Band erschienen sind, ging es um den Osten, um die Nazi-Vergangenheit der Stadt, aber nicht um die Frage: Was machen die für Musik?« Man sei im Kontakt, es blieben null schlechte Gefühle, mit einer Wiedervereinigung der Band sei gewissermaßen zu hundert Prozent zu rechnen, aber eben nicht gegenwärtig und nicht in absehbarer Zeit. »Natürlich«, erklärte Raul, »wir waren auch eine extrem faule Band.«

 

Und plötzlich, am Geländer der Flusspromenade der Kleinstadt, stoppte die Geschichte, und die Zeit stand, für einen Moment von drei, vier Sekunden, still.

 

 

Hier am Geländer führte Raul jetzt seinen neuen Unterhaltungstrick, den Knuckle Roll, vor. Eine Zehn-Cent-Münze wanderte über die Rückseite der Hand, über alle fünf Handknochen. Er fing sie mit dem Daumen ab, lenkte sie durch die Handinnenfläche und wieder nach oben, auf eine neue Runde über die Knöchel und weiter auf Reisen – die sich wie an unsichtbaren Fäden über die Rückseite seiner Hand bewegende Zehn-Cent-Münze. Raul: »Ein Trick, bekannt aus Filmen mit Bösewichten. Wollte ich schon immer können.«

 

Und noch ein Satz: »Habe ich mir beigebracht, als ich mal eine Woche Langeweile hatte.« Eine Woche Langeweile! Raul und sein Knuckle Roll,