Inhaltsverzeichnis

Charles Peterson Seites

Felipe Orrego

Für Coco, meinen Polarstern

Robert Balazik

Als wir an diesem Abend zu unserem letzten Konzert auf die Bühne kamen, drehte sich alles nur um die Jungs. Äußerlich hatten wir uns in den letzten dreißig Jahren eigentlich nicht verändert. Wie es in uns aussah, war jedoch eine völlig andere Geschichte.

Thurston klopfte unserem Bassisten Mark Ibold zweimal kurz auf die Schulter und sprang dann mit großen Schritten hinaus auf die Bühne, dicht gefolgt von unserem Gitarristen Lee Ranaldo und Drummer Steve Shelley. Ich fand Thurstons Geste unaufrichtig, kindisch und übertrieben. Thurston hat zwar viele Bekannte, aber selbst mit seinen wenigen männlichen Freunden redete er nie über persönliche Dinge, und ein großer Schulterklopfer ist er auch nie gewesen. Es war eine Geste, die schrie: Ich bin wieder da. Ich bin frei. Ich bin solo.

Ich kam als Letzte raus und achtete dabei auf ausreichend Distanz zwischen Thurston und mir. Ich fühlte mich erschöpft und war dennoch wachsam. Wie ein Vater hinter einem Schreibtisch nahm Steve seinen Platz hinter dem Schlagzeug ein. Wir anderen

Es goss in Strömen. Der Regen in Südamerika ist wie Regen überall, und man fühlt sich überall gleich.

Man sagt, wenn eine Ehe zu Ende geht, platzt einem fast der Schädel angesichts all der kleinen Dinge, die einem zuvor nie aufgefallen sind. Genau so ging es mir, wann immer Thurston während dieser Woche auf Tour in meiner Nähe war. Vielleicht empfand er es genauso, vielleicht war er aber auch mit seinen Gedanken ganz woanders. Um ehrlich zu sein: Ich wollte es nicht wirklich wissen. Wenn er nicht auf der Bühne war, simste er pausenlos und wieselte wie ein besessener, schuldbewusster kleiner Junge zwischen uns anderen herum.

Nach dreißig Jahren Sonic Youth war dies also das letzte Konzert. Das SWU Music and Arts Festival fand in Itu statt, nicht weit entfernt von São Paulo, aber achttausend Kilometer weit weg von unserem Zuhause in Neuengland. Das Festival – mit großen Sponsoren wie Coca-Cola und Heineken – dauerte insgesamt drei Tage, wurde im Fernsehen übertragen und im Internet gestreamt. Headliner waren Faith No More, Kanye West, Black Eyed Peas, Peter Gabriel, Stone Temple Pilots, Snoop Dogg, Soundgarden, solche Leute eben. Wir waren vermutlich der kleinste Act des Programms. Schon irgendwie ein merkwürdiger Ort für ein Ende.

Über die Jahre sind wir auf vielen Rockfestivals aufgetreten. Für die Band waren sie ein notwendiges Übel, obwohl durchaus auch ein gewisser Reiz in dem Friss-oder-stirb-Teil lag, ohne Soundcheck auftreten zu müssen. Festivals bedeuten Backstage-Trailer und -Zelte, überall Zeugs und Stromkabel, übel riechende Dixi-Klos. Und sie bedeuten, dass man manchmal Musikern über den Weg läuft, die man persönlich oder beruflich gut findet, sonst aber nie sieht oder trifft oder mit ihnen redet. Equipment kann kaputtgehen, es kommt zu Verschiebungen, das Wetter ist unvorhersehbar. Manchmal hört man absolut

Festivals bedeuten auch kürzere Sets. An diesem Abend würden wir die Sache nach siebzig Minuten Adrenalindusche abschließen, genau wie wir es die letzten Tage auf Festivals in Peru, Uruguay, Argentinien und Chile gemacht hatten.

Was diesmal anders war als bei vorherigen Tourneen und Festivals: Thurston und ich redeten nicht miteinander. Wir hatten die ganze Woche vielleicht fünfzehn Worte gewechselt. Nach siebenundzwanzig Jahren war unsere Ehe in die Brüche gegangen. Im August hatte ich ihn gebeten, aus unserem Haus in Massachusetts auszuziehen, und das hat er getan. Er hat sich eine Wohnung eine Meile entfernt genommen und pendelte von dort nach New York.

Die Beziehung, die jeder für glücklich, normal und stabil hielt, die jüngeren Musikern Hoffnung machte, sie könnten die irrwitzige Welt des Rock ’n’ Roll unversehrt überleben, war jetzt nur noch ein weiteres typisches Beispiel für eine gescheiterte Ehe: ein Mann mit Midlifecrisis, eine andere Frau, ein Doppelleben.

Thurston tat erstaunt, als ein Techniker ihm seine Gitarre reichte. Mit dreiundfünfzig ist er immer noch der zerzauste, spindeldürre Junge aus Connecticut, dem ich in einem Club in Downtown New York das erste Mal begegnet war – er damals zweiundzwanzig und ich siebenundzwanzig. Später meinte er mal zu mir, dass er meine hochklappbare Sonnenbrille gut gefunden hätte. In seinen Jeans, den Old-school-Pumas und dem über der Hose getragenen weißen Button-down-Oxfordhemd erinnerte er an einen Jungen, der in einem Diorama erstarrt war, sah aus wie ein 17-Jähriger, der nicht in Begleitung seiner Mutter gesehen werden wollte, genau genommen mit überhaupt keiner Frau. Er hatte diese Mick-Jagger-Lippen, und diese langen Arme und Beine, mit denen er nichts anzufangen zu wissen schien. Auch diese vorsichtige Art, die man oft bei

Während der Tour war es, als hätte er die Zeit zurückgedreht, unsere fast dreißig gemeinsamen Jahre einfach ausgelöscht. Aus »unserem Leben« war für ihn wieder »sein Leben« geworden. Er war wieder ein in seine Wunschträume versunkener Jüngling, und das Rockstargeprotze, das er nun auf der Bühne abzog, ging mir unter die Haut.

Sonic Youth ist immer demokratisch organisiert gewesen, aber wir hatten natürlich auch alle unsere Rollen. In São Paulo nahm ich wie immer meinen Platz in der Mitte der Bühne ein. So war es nicht von Anfang an gewesen, und ich bin nicht ganz sicher, ab welchem Punkt ich diese Rolle gespielt habe. Es ist eine Choreografie, die etwa zwanzig Jahre zurückreicht zu dem Zeitpunkt, als Sonic Youth einen Vertrag bei Geffen Records unterschrieb. Damals lernten wir, dass zwar für hochkarätige Plattenlabels die Musik eine wichtige Rolle spielt, es aber gleichzeitig auch sehr darauf ankommt, wie das Mädchen aussieht. Das Mädchen ist der Ankerpunkt auf der Bühne, es zieht den männlichen Blick auf sich und wirft, je nachdem, wer es ist, den eigenen Blick zurück ins Publikum.

Da unsere Musik schräg und dissonant sein konnte, ließ sich die Band zudem erheblich leichter verkaufen, wenn ich im Mittelpunkt stand: Seht nur, es ist ein Mädchen, sie trägt ein Kleid, und sie gehört zu diesen Typen, also wird’s schon okay sein. Aber so hatten wir als Indie-Band nie funktioniert, deshalb habe ich immer darauf geachtet, nicht zu sehr in der ersten Reihe zu stehen.

Es fiel mir schwer, den ersten Song, »Brave Men Run«, zu überstehen. An einer Stelle kippte meine Stimme, als würde sie über ihren tiefsten Punkt schrammen – und dann brach das Fundament einfach weg.

Es war ein sehr alter Song von unserem Album Bad Moon Rising.

Aber das war drei Jahrzehnte her. An diesem Abend sahen Thurston und ich uns kein einziges Mal an, und als der Song ausklang, drehte ich mich weg vom Publikum, damit niemand mein Gesicht sehen konnte. Doch das nutzte wenig, denn alles, was ich tat und sagte, wurde auf eine der beiden zwölf Meter hohen Videoleinwände übertragen.

Warum auch immer – aus Mitgefühl oder Betroffenheit, wegen all der Schlagzeilen und Artikel über unsere Trennung, die uns in dieser Woche auf Spanisch, Portugiesisch und Englisch überallhin folgten: Wir erhielten eine wahrhaft stürmische Unterstützung vom südamerikanischen Publikum. An diesem Abend verschmolz die Menge mit den dunklen Wolken, die das Stadion umgaben – Tausende vom Regen durchweichter Kids mit nassen Haaren, nackten Oberkörpern, Tanktops, hoch in die Luft gereckten Mobiltelefonen und Mädchen auf den Schultern dunkelhäutiger Jungs.

Das schlechte Wetter folgte uns quer durch Südamerika, vom peruanischen Lima über Uruguay nach Chile bis nach São Paulo – quasi ein Spiegelbild der Entfremdung zwischen Thurston und mir, wie aus einem kitschigen Film. Unsere Bühnenauftritte glichen Musicalversionen von unangenehmen häuslichen Szenen: ein Wohnzimmer, eine Küche oder ein Esszimmer, wo

Nach diesem Abend würde Sonic Youth Geschichte sein. Unser Leben als Paar und als Familie war bereits vorüber. Wir hatten noch unsere New Yorker Wohnung in der Lafayette Street – wenn auch nicht mehr lange –, und ich würde weiter im Westen Massachusetts mit unserer Tochter Coco in dem Haus leben, das wir 1999 gekauft hatten.

»Hello!«, rief Thurston beschwingt der Menge entgegen, kurz bevor die Band zu »Death Valley ’69« ansetzte. Zwei Abende zuvor in Uruguay hatten Thurston und ich einen weiteren frühen Song im Duett singen müssen: »Cotton Crown«. In diesem Song geht es um Liebe und Mysterium und Chemie und Träume und Zusammenbleiben. Im Grunde ist es eine Ode an New York City. In Uruguay war ich zu angeschlagen, und Thurston musste es daher allein zu Ende bringen.

Aber an diesem Abend schaffte ich es durch »Death Valley«. Zuerst Lee, Thurston und ich, und dann standen nur noch wir beide da. Mein zukünftiger Exehemann und ich vor einer Masse tanzender, durchnässter Brasilianer, und unsere Stimmen überprüfen gemeinsam die alten Worte. Für mich ist es ein Stakkatosoundtrack aus surrealer roher Energie, Wut und Schmerz: Drauf. Drauf. Drauf. Ich glaube, ich habe mich noch nie im Leben so einsam gefühlt.

 

Die einen Monat zuvor herausgegebene Presseerklärung unseres Plattenlabels Matador war recht nichtssagend:

»Die seit 1984 miteinander verheirateten Musiker Kim Gordon und Thurston Moore geben bekannt, dass sie sich getrennt haben. Sonic Youth wird jedoch sämtliche Termine der für November angekündigten Südamerikatournee einhalten. Was nach dieser Tournee passiert, ist derzeit noch völlig offen. Das Paar bittet darum, seine Privatsphäre zu respektieren, und möchte

 

»Brave Men Run«, »Death Valley ’69«, »Sacred Trickster«, »Calming the Snake«, »Mote«, »Cross the Breeze«, »Schizophrenia«, »Drunken Butterfly«, »Starfield Road«, »Flower«, »Sugar Kane« und zum Schluss »Teen Age Riot«: Die São-Paulo-Setlist griff auf unsere Anfänge zurück, Texte, die Thurston und ich getrennt oder gemeinsam geschrieben hatten, Songs, mit denen Sonic Youth in den Achtzigern und Neunzigern unterwegs war – und dazu einiges von unseren letzten Alben.

Auf den ersten Blick mag die Setlist wie ein Best-of gewirkt haben, aber sie war sorgfältig durchdacht. Ich erinnere mich, dass Thurston während der Proben und der Woche auf Tour immer wieder sagte, diesen oder jenen Sonic-Youth-Song nicht spielen zu wollen. Bis mir schließlich aufging, dass gewisse Songs, die er auslassen wollte, von ihr handelten.

Wir hätten die Tour absagen können, aber wir hatten einen Vertrag unterschrieben. Mit Liveauftritten verdienen sich Bands ihre Brötchen, und jeder von uns hatte Familie, musste Rechnungen bezahlen, und Thurston und ich mussten auch an die Studiengebühren für Cocos College denken. Gleichzeitig war ich unsicher, wie es aussehen würde, wenn wir diese Gigs spielten. Es sollte nicht so wirken, als wäre ich die Frau, die unerschütterlich an der Seite ihres Mannes steht und ihn unterstützt, egal, was zwischen Thurston und mir gelaufen war. Das war ich nicht. Und außerhalb unseres engsten Freundeskreises wusste niemand wirklich, was vorgefallen war.

Vor der Abreise nach Südamerika ging Sonic Youth in New York für eine Woche ins Studio. Irgendwie überstand ich die Proben mithilfe von Xanax, das erste Mal, dass ich tagsüber ein Medikament gegen Angstzustände nahm. Statt allerdings in unserer Wohnung zu bleiben, die durch Thurstons Affäre für mich jetzt beschmutzt war, beschlossen die anderen, mich in einem Hotel unterzubringen.

Wie man es von der Band nicht anders kannte, tat jeder so, als wäre

Jemand zeigte mir viel später einen Artikel auf salon.com, mit der Überschrift: »Wie konnten Kim Gordon und Thurston Moore sich nur scheiden lassen?« Die Verfasserin, Elissa Schapell, schrieb, dass wir einer ganzen Generation vorgemacht hätten, wie man erwachsen wird. Sie habe geweint, als sie die Neuigkeit erfuhr.

»Sieh sie dir an, dachte ich: Sie waren ineinander verliebt, haben geheiratet und Kunst gemacht. Sie waren cool und hardcore, gingen ihrer Kunst mit einer tiefen Ernsthaftigkeit nach, und sie haben sich weder verkauft, noch sind sie irgendwann weich geworden. In einer Zeit der Ironie, in der ich Desinteresse geheuchelt und meine eigene Unsicherheit mit Spott überspielt habe, waren sie nicht zu cool, um sich zu sorgen … Was ist erschreckender als ein Paar, das – nach 30 Jahren in einer eigenen Band, nach 27 Jahren Ehe, nachdem sie 17 Jahre gemeinsam ein Kind großgezogen haben – beschließt, die Nase voll zu haben? Während sie Erfolg hatten, waren auch wir erfolgreich.«

Sie schloss mit der Frage: »Warum sollten sie anders sein als wir?«

Gute Frage. Wir waren es nicht. Und was passiert war, war vermutlich die normalste Sache überhaupt.

 

Wir flogen getrennt nach Südamerika. Ich flog mit der Band, und

Wenn man auf Tour ist, wird man schnellstmöglich vom Flughafen ins Hotel transportiert. Jeder macht sein eigenes Ding, schläft, liest, isst, trainiert, geht spazieren, sieht fern, mailt, simst. In dieser Woche in Südamerika jedoch kamen zum Essen alle zusammen: jeder aus der Band, die komplette Crew und die Jungs von der Technik. Viele aus der Crew waren schon seit Jahren bei uns und gehörten praktisch zur Familie. Thurston saß an einem Ende des Tischs, ich am anderen. Es war wie mit der ganzen Familie essen zu gehen, nur dass Mom und Dad sich ignorierten. Jeder bestellte reichlich zu essen und zu trinken, und unsere Unterhaltungen kreisten fast ausschließlich um das, was wir aßen und tranken, um nur ja nicht darüber reden zu müssen, was wirklich los war. Die Trennung war der stille, unerwünschte Gast im Raum.

Das erste Konzert fand in Buenos Aires statt. Sonic Youth hatten schon eine ganze Weile nicht mehr in Argentinien gespielt, und das Publikum war begeistert und schien den Text jedes einzelnen Songs zu kennen. Die ersten paar Tage hatte ich eine Mauer zwischen mir und Thurston hochgezogen, aber im Verlauf der Tour gab ich ein wenig nach. Bei allem, was wir beide zusammen erlebt hatten, machte es mir jetzt unglaublich Angst, wie wütend ich auf ihn war. Wir begegneten uns einige Male außerhalb des Hotels, wenn wir fotografierten, und ich entschied mich ganz bewusst, freundlich zu bleiben. Thurston machte es genauso.

In dieser Woche kamen immer wieder Musiker auf mich zu – Leute, die ich nicht kannte, wie zum Beispiel Chris Cornell, der Leadsänger von Soundgarden –, um zu sagen, wie leid ihnen unsere Trennung täte oder wie viel die Band ihnen bedeute. Bill und Barbara, das Paar, das sich seit Jahren für uns um Merchandising und T-Shirts kümmerte, kamen als Zeichen ihrer moralischen Unterstützung nach Buenos Aires, weil sie wie alle anderen offenbar davon ausgingen, dass es die letzte Sonic-Youth-Tour

Das Erlebnis, auf der Bühne zu sein, diese körperlich erfahrbare Befreiung bei einem Liveauftritt, ließ mich das alles überstehen. Extremer Lärm und Dissonanzen können unglaublich reinigend wirken. Normalerweise mache ich mir bei jedem Konzert Gedanken darüber, ob mein Verstärker zu laut oder zu leise ist oder zu sehr ablenkt, ob die anderen Bandmitglieder aus irgendeinem Grund schlecht drauf sind. Aber in dieser Woche war es mir vollkommen gleichgültig, wie laut ich war oder ob ich Thurston unabsichtlich die Show stahl. Ich machte, was ich wollte, und das war befreiend und schmerzhaft zugleich. Schmerzhaft, weil das Ende meiner Ehe eine Privatangelegenheit war – und zu erleben, wie Thurston seine neue Unabhängigkeit vor dem Publikum zur Schau stellte, war wie Salz in einer klaffenden Wunde. Während eine Stadt auf die nächste folgte, schwand meine Freundlichkeit und wurde durch Zorn ersetzt.

An einem Punkt in São Paulo hätte ich beinahe auf der Bühne etwas gesagt. Aber ich tat es nicht. Zufällig war Courtney Love zur gleichen Zeit auf Tour in Südamerika. Einige Tage zuvor war sie bei einem Auftritt wegen eines Fans im Publikum ausgerastet, der ein Foto von Kurt Cobain hochhielt. »Ich muss jeden Tag mit seinem Scheiß und seinem Geist und seinem Kind leben, und es ist einfach nur dumm und unhöflich von dir, das da jetzt hochzuhalten«, brüllte sie ihn an. Sie verließ die Bühne mit den Worten, nur dann zurückzukehren, wenn das Publikum bereit war zu skandieren: »Foo Fighters sind schwul«. Das Ganze landete als Clip auf YouTube. Es war eine typische Courtney-Nummer, und ich wollte auf keinen Fall, dass jemand mich so sah wie sie. Ich wollte unser letztes Konzert nicht geschmacklos werden lassen, da Sonic Youth doch so vielen Menschen so viel bedeutete; ich wollte die Bühne nicht für irgendein persönliches Statement missbrauchen. Und außerdem: Was hätte das bringen sollen?

 

Irgendwer hat mir erzählt, das komplette São-Paulo-Konzert stehe

Ich erinnere mich, dass ich mich während des ganzen Konzerts immer wieder gefragt habe, wie viel das Publikum wohl mitbekommt oder was es über diese krude Zurschaustellung von Anspannung und Distanz denkt. Was sie sahen und was ich sah, waren vermutlich zwei völlig verschiedene Dinge.

Während »Sugar Kane«, dem vorletzten Song, erschien ein meerblauer Globus auf der Leinwand hinter der Band. Er drehte sich unendlich langsam, als würde er das Desinteresse der Welt gegenüber ihrem eigenen Drehen und Schlingern darstellen. Es geht einfach alles weiter, sagte der Globus, so wie Eis schmilzt und Ampeln die Farben wechseln, ohne dass auch nur ein Auto in der Nähe ist, so wie Gras sich durch Pfeiler und Ritzen im Bürgersteig schiebt, so wie Dinge geboren werden und dann wieder vergehen.

Als der Song zu Ende war, bedankte Thurston sich beim Publikum. »Ich freue mich schon drauf, euch alle wiederzusehen«, sagte er.

Die Band beendete das Konzert mit »Teen Age Riot« von unserem Album Daydream Nation. Ich sang, oder besser gesagt, intonierte in einem Sprechgesang die ersten Zeilen: »Spirit desire. Face me. Spirit desire. We will fall. Miss me. Don’t dismiss me.«

Die Ehe ist wie eine lange Unterhaltung, sagte mal jemand, und vielleicht gilt das auch für das Leben einer Rockband. Nur wenige Minuten später war beides Geschichte.

Hinter der Bühne machte keiner einen Tanz darum, dass dies unser letztes Konzert gewesen war. Wir alle – Lee, Steve, Mark, unsere Techniker – lebten sowieso in verschiedenen Städten und Teilen des Landes. Ich war viel zu traurig und besorgt, in Tränen auszubrechen, um mich von irgendwem richtig zu verabschieden, obwohl ich es eigentlich gern getan hätte. Jeder ging seines Weges, und auch ich flog nach Hause.

Thurston hatte bereits eine ganze Reihe Soloauftritte für den folgenden

 

Ich kam 1980 nach New York, und in den nächsten dreißig Jahren veränderte sich die Stadt so schnell und so langsam wie mein eigenes Leben. Wann waren all die Chock full o’Nuts verschwunden oder die Blarney-Stone-Bars mit Corned Beef und Kohl auf der Mittagskarte? Klar, Sonic Youth wurde gegründet, aber vorher und sogar danach hatte ich einen Teilzeitjob nach dem anderen – ich kellnerte, erledigte Malerarbeiten bei Wohnungsrenovierungen, arbeitete in einer Kunstgalerie, fotokopierte und tackerte in einem Copyshop. Alle paar Monate zog ich zur Untermiete woanders ein. Ich lebte von Maisgrütze, Eiernudeln, Zwiebeln, Kartoffeln, Pizza und Hotdogs. Ich ging von einem Job in einer Buchhandlung fünfzig Blocks zu Fuß nach Hause, weil ich kein Geld für die U-Bahn hatte. Ich weiß nicht, wie ich das damals geschafft habe. Aber wenn man in New York arm ist und sich über Wasser halten muss, bedeutet dies auch, sich tagsüber irgendwie durchzuschlagen, um dann mit der restlichen Zeit zu tun, wozu auch immer man Lust hat.

All die Stunden und Jahre seitdem, in Vans und Bussen, in Flugzeugen und auf Flughäfen, in Tonstudios und miesen Garderoben und Motels und Hotels waren nur möglich wegen der Musik,

Neulich abends kam ich auf dem Weg zu einer koreanischen Karaokebar, in der neben den üblichen Kunstwelthipstern eine bunte Mischung von Leuten aus Chinatown und Koreatown abhingen, an unserer alten Wohnung in der Eldridge Street 84 vorbei. Die ganze Zeit dachte ich an Dan Graham, den Künstler, der mich mit vielem von dem bekannt gemacht hatte, was in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern in der Musikszene abging, der in dem Apartment über unserem gewohnt und die Anfänge von Sonic Youth miterlebt hatte.

In der Karaokebar traf ich einen Freund. Eine Bühne gab es nicht. Die Leute standen einfach mitten im Raum, umgeben von Videoleinwänden, und sangen. Einer der Songs, die gespielt wurden, war »Addicted to Love«, der alte Robert-Palmer-Song, den ich 1989 in einem Kaufhausautomaten gecovert hatte und der schließlich auf der Sonic-Youth-LP The Whitey Album gelandet war. Es hätte sicher Spaß gemacht, den Song in dieser Karaokebar zu singen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, auch im realen Leben mutig genug zu sein – und nicht nur auf einer Bühne. In dieser Hinsicht habe ich mich in dreißig Jahren überhaupt nicht verändert.

Ich weiß nicht, ob ich je wieder nach New York zurückziehen könnte. Dieser ganze Jungmädchenidealismus gehört heute anderen. Die Stadt, die ich kenne, gibt es nicht mehr, und in meinem Kopf ist sie viel lebendiger, als wenn ich wirklich dort bin.

Nach dreißig Jahren in einer Band klingt es irgendwie komisch

Öffentlich aufzutreten hat für mich sehr viel mit Furchtlosigkeit zu tun. Mitte der Achtziger habe ich einen Artikel für Artforum geschrieben, in dem ein Satz vorkam, den der Rockkritiker Greil Marcus mehrfach zitierte: »Leute zahlen Geld, um andere zu sehen, die an sich glauben.« Oder anders gesagt: Je höher die Wahrscheinlichkeit des öffentlichen Versagens, desto mehr Wert misst die Kultur dem bei, was du tust. Anders als, sagen wir, ein Schriftsteller oder ein Maler, kann man sich nicht vor anderen Menschen verstecken, wenn man auf der Bühne steht, nicht einmal vor sich selbst.

Ich habe viel Zeit in Berlin verbracht, und die Deutschen haben all diese wunderbaren Worte mit mehreren Bedeutungen. Bei einem meiner jüngsten Besuche dort stieß ich wieder auf eines dieser Worte: »Maskenfreiheit«, also die durch Masken verliehene Freiheit.

Es ist mir schon immer schwergefallen, in Gesellschaft anderer Raum für mich selbst und meine Gefühle zu schaffen. Das ist eine alte Geschichte, die bis in meine Kindheit zurückreicht. Ich habe mich nie von meinen Eltern beschützt gefühlt, oder von meinem älteren Bruder Keller, der mich erbarmungslos hänselte, als wir Kinder waren. Ich hatte das Gefühl, dass mir niemand dort draußen wirklich zuhörte. Vielleicht wird die Bühne für einen darstellenden Künstler genau das: ein Raum, der mit dem gefüllt werden kann, was man nirgendwo sonst erhält oder ausdrücken kann. Auf der Bühne wirke ich undurchsichtig, geheimnisvoll, mysteriös oder sogar kalt, hat man mir gesagt. Aber mehr als all das bin ich äußerst schüchtern und empfindsam,

Schon komisch, woran man sich erinnert, und warum. Manchmal fragt man sich, ob es überhaupt passiert ist. Mein erstes Bild von Rochester: grauer Himmel, Dunkelheit, Herbstlaub, leere Zimmer, keine Eltern in der Nähe, unbeaufsichtigt. Ist es Upstate New York, an das ich mich erinnere, oder eine Szene aus einem alten Film?

Vielleicht ist es ein Film, den mein älterer Bruder Keller und ich mal im Fernsehen gesehen haben – Die Bestie mit den fünf Fingern. Ich war ungefähr drei oder vier. Peter Lorre spielte einen Mann, der im Testament seines Arbeitgebers leer ausgeht, einem berühmten Pianisten, der kurz zuvor gestorben ist. Der Mann rächt sich, indem er die Hand des Pianisten abhackt. Für den Rest des Films wird er daraufhin von dieser Hand drangsaliert. Sie schleicht und streift in dem großen Haus herum. Sie spielt bedrückende Töne und Akkorde auf dem Klavier und versteckt sich in einem Kleiderschrank. Im Fortgang der Handlung wird Lorre immer verrückter und von Angst geschüttelt, bis sich am Ende die Hand erhebt und ihn erwürgt.

»Die Hand ist unter deinem Bett«, sagte Keller später zu mir. »Mitten in der Nacht, nachher, wenn du eingeschlafen bist, kommt sie raus und holt dich.«

Er war mein älterer Bruder, warum also sollte ich ihm nicht glauben? Die folgenden Monate lebte ich gleichsam auf meiner Matratze. Morgens balancierte ich dort oben mit nackten Füßen herum, um mich anzuziehen. Abends schlief ich umringt von einer Armee Kuscheltiere ein, die kleinsten ganz dicht bei mir, ein großer Hund mit einer roten Zunge bewachte die Tür. Was natürlich nicht heißen soll, dass einer von ihnen mich gegen die Hand hätte verteidigen können …

Keller: einer der bemerkenswertesten Menschen, dem ich je

 

Die alte Schwarz-Weiß-Aufnahme eines kleinen Hauses ist der einzige Beweis, den ich besitze, dass Rochester mein Geburtsort ist. Schwarz-Weiß passt perfekt zu dieser Stadt mit ihren Flüssen, Aquädukten, Industrieanlagen und endlosen Wintern. Als meine Familie Richtung Westen aufbrach, geriet Rochester wie jeder Geburtskanal schnell in Vergessenheit.

Ich war fünf Jahre alt, als meinem Vater eine Professur am soziologischen Institut der UCLA angeboten wurde. Wir – meine Eltern, Keller und ich – fuhren in unserem alten Kombi nach Los Angeles. Ich erinnere mich, wie aufgeregt meine Mutter war, als wir den Westen erreicht hatten und sie in einer Raststätte hash browns bestellte. Für sie waren diese Bratkartoffeln typisch für den Westen, ein Symbol und bedeutungsvoll auf eine Art, die sie nicht erklären konnte.

Nach unserer Ankunft in Los Angeles wohnten wir zunächst in einer Absteige namens Seagull Motel, einer von vermutlich einer Million absolut identisch aussehenden Läden gleichen Namens entlang der kalifornischen Küste. Dieses Motel stand im Schatten eines Mormonentempels, eines riesigen monolithischen Gebäudes auf einem Berg, eingefasst von vielen Morgen gepflegtem satt-grünem Rasen, den niemand betreten durfte. Überall Sprinkleranlagen, kleine metallische Vorrichtungen, die sich rund um die Uhr drehten und vor sich hin tuckerten. Nichts war hier beheimatet – weder das Gras noch das Wasser der

Außerdem hatte ich keine Ahnung, dass wir mit dem Umzug nach Kalifornien auch zu den Wurzeln meiner Mutter zurückkehrten.

Bei uns tauchte Familiengeschichte stets nur in beiläufigen Bemerkungen auf. Ich war im letzten Jahr auf der Highschool, als meine Tante mir erzählte, dass die Familie meiner Mutter, die Swalls, eine der ersten Familien überhaupt in Kalifornien gewesen war. Pioniere also. Siedler. Es hieß, dass meine Ururgroßeltern mit japanischen Geschäftspartnern Chilipfeffer auf einer Farm in Garden Grove, Orange County, angebaut hatten. Den Swalls gehörte sogar eine Ranch in West Hollywood, in der Gegend Doheny Drive und Santa Monica Boulevard, also dort, wo man heute nur noch Autowaschanlagen, triste Ladenzeilen und schäbige Wohnhäuser findet. Irgendwann zerschnitten die Schienen der Eisenbahn die Straße in die Big und Little Santa Monica Boulevards. Heute sind natürlich auch die Farmen verschwunden, den Swall Drive jedoch gibt es immer noch, er zieht sich nach Norden und Süden und ist sozusagen ein Fossil der Ahnen-DNA.

Ich habe schon immer gespürt, dass Kalifornier etwas Besonderes in den Genen haben – weil Kalifornien ein Ort des Todes ist, ein Ort, der die Menschen anzieht, weil sie in ihrem Innersten nicht erkennen, dass sie eigentlich Angst haben vor dem, was sie wollen. Sie fliehen vor ihrer Geschichte in das neue Land, während sie gleichzeitig kopfüber dem eigenen Untergang entgegensteuern. Sehnsucht und Tod sind vermischt mit dem Kick und dem Risiko des Unbekannten. Es ist eine Variante dessen, was Freud den »Todestrieb« nannte. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Swalls wahrscheinlich in nichts von jeder anderen der ersten kalifornischen Familien, die vom Goldrausch angelockt

Auf der Swall-Seite der Familie gab es dann noch den Vater meiner Mutter, Keller Eno Coplan, ein Bankangestellter. Es wird erzählt, dass er einmal einen Scheck gefälscht hat, der seinen eigenen Schwiegereltern gehörte, und dafür ins Gefängnis wanderte. Mein Dad lachte immer, wenn er von meinem Großvater erzählte, und sagte dabei Dinge wie »Dumm war er ja nicht, er hatte nur keinen Verstand«. Schon seltsam, und nicht wirklich ein Segen, dass meine Eltern ihren einzigen Sohn nach ihm benannten. Familientradition, vermute ich.

Während ihr Mann im Gefängnis saß, zog meine Großmutter mit ihren fünf Kindern, darunter auch meine Mutter, die damals noch sehr klein war, nach Nordkalifornien, um der Familie näher zu sein. Während der Weltwirtschaftskrise zog sie erneut um, diesmal nach Colorado, woher die Familie ihres Ehemannes stammte. Wenn ihr Mann nicht im Gefängnis saß, zog er herum, auf der Suche nach Arbeit. Ohne Geld und mit fünf Kindern, die es zu ernähren galt, muss meine Großmutter eine Menge durchgemacht haben.

Das alles weiß ich nur, weil meine Tante herausgefunden hat, dass einer seiner Jobs darin bestand, Bleistifte zu verkaufen. Wie sich herausstellte, bekamen ausschließlich Exhäftlinge diese Jobs.

Irgendwann fanden meine Großmutter und ihre Kinder in Kansas einen festen Wohnsitz. Dort lernten sich meine Eltern im Alter von Anfang zwanzig in einer kleinen Stadt namens Emporia kennen, wo beide das College besuchten.

Mein Vater Wayne ist in Kansas geboren und stammt aus einer großen Farmerfamilie mit vier Brüdern und einer Schwester. Er war ein zarter Junge mit chronischer Mittelohrentzündung, die ihn davon abhielt, sich freiwillig zum Militär zu melden oder eingezogen zu werden. Er war der Erste seiner Familie, der aufs College ging, und sein großer Traum war, eines Tages an einer Universität lehren zu können. Um das Studiengeld aufzubringen,

Meine Eltern heirateten während ihrer Collegezeit, und nach dem Examen an der Washington University in Saint Louis, wo Keller geboren wurde, ging es in den Nordwesten des Bundesstaates New York, nach Rochester, wo mein Dad mit seiner Doktorarbeit begann. Drei Jahre später kam dann ich.

Die Geschichte, wie meine Eltern sich kennenlernten, wurde immer erst nach einigen Cocktails erzählt, und die Einzelheiten blieben stets nebulös. Mein Dad war ziemlich verschusselt, wie meine Mutter gern sagte. Und sie fügte hinzu, dass seine damalige Angewohnheit, in ihrer Wohnung Popcorn zu machen, ohne einen Deckel auf den Topf zu setzen, sie fast dazu gebracht habe, die Hochzeit noch einmal zu überdenken. Sie lachte immer, wenn sie das erzählte, obwohl sie damit wahrscheinlich durchblicken lassen wollte, dass mein Dad nicht so bodenständig und verantwortungsbewusst war, wie er wirkte.

Wegen der Namen in unserer Familie – Keller, Eno, Coplan, Estella, Lola – frage ich mich immer wieder, ob da nicht vielleicht auch südeuropäische Wurzeln im Spiel waren. Es gibt da noch die de-Forrest-Seite von der Mutter meiner Mutter, die französischer und deutscher Abstammung war, aber eben auch noch eine italienische Linie: feurige Augen und dicke Groucho-Marx-Brauen neben den eintönigen Gesichtern der Leute aus Kansas. In einem Bauernhaus am Ende eines langen Feldwegs in Kansas lebte bis zu ihrem Tod im letzten Jahr auch die Schwester meiner Mutter. Sie war die Quelle all dessen, was ich über die Geschichte meiner Familie weiß. Eine Frau, aus deren Mund ich nie auch nur ein wehleidiges Wort gehört habe. Mit ihr starben alle Geschichten aus der Vergangenheit meiner Familie. Meine Eltern erzählten mir so gut wie nichts.

Als Sonic Youth während einer Tournee als Vorgruppe von R. E. M. nach Lawrence, Kansas, kam, haben Thurston und ich William Burroughs besucht. Michael Stipe begleitete uns. Burroughs lebte in einem kleinen Haus mit Scheune, und der Couchtisch in seinem Wohnzimmer war übersät mit Fantasymessern und -dolchen – elegante, mit Edelsteinen geschmückte Waffen. Burroughs erinnerte mich sehr an meinen Dad. Sie besaßen die gleiche Geselligkeit, den gleichen trockenen Humor. Sie sahen einander sogar ein wenig ähnlich. Unsere Tochter Coco war damals noch ein Baby, und irgendwann fing sie an zu weinen. Burroughs sagte, mit dieser typischen Burroughs-Stimme: »Oohhh – sie mag mich.« Ich vermute mal, dass er nicht

Das akademische Fachgebiet meines Vaters war die Bildungssoziologie. In Rochester hatte er seine Dissertation über die soziale Struktur an amerikanischen Highschools geschrieben. Er war der Allererste, der den unterschiedlichen Schülergruppen und Archetypen Namen gab – Popper, Sportskanonen, Streber, Freaks, Theater-AG-Typen und so weiter –, und dann wurde er von der UCLA angeworben, um, ausgehend von seiner Forschung, einen akademischen Lehrplan zu entwickeln.

Eine der Bedingungen meines Vaters, den UCLA-Job anzunehmen, war, dass Keller und ich die Laboratory School der UCLA besuchen durften. Diese Schule war erstaunlich. Der Campus, durch den ein großer, wunderschöner Kanal verlief, war von dem Architekten Richard Neutra gestaltet worden, einem Vertreter der klassischen Moderne. Die eine Seite bestand aus Gras, die andere aus Beton – um Hüpfekästchen oder Hula-Hoop oder sonst was zu spielen. Der Kanal ging dann in ein naturbelassenes Gelände über, wo unter einigen Bäumen ein Planwagen und ein Haus aus Lehmziegeln standen. Als Schüler säumten wir Umhängetücher, walzten Tortillas aus und bearbeiteten Rinderhäute unter diesen Bäumen. Unsere Lehrer fuhren mit uns runter nach Dana Point in Orange County, wo wir unser Rindsleder für imaginär ankommende Boote an den Strand warfen und nachspielten, was die frühen Händler getan haben mussten. In dieser Schule gab es keine Noten – es war alles sehr praxisorientiert.

Mein Dad war groß und sanft, mit einem ausdrucksstarken Gesicht und einer schwarzen Brille. Er war ein Mensch, der viel und sehr eindringlich mit seinen Armen und Händen gestikulierte und unglaublich herzlich war – auch wenn die wenigen Male, als er auf Keller oder mich wütend wurde, ziemlich angsteinflößend waren. Die zornigen Worte schienen aus seinen Fußsohlen aufzusteigen und dann seinen ganzen Körper hinaufzuwandern. Wie viele Menschen, die in ihren Köpfen leben, konnte er recht geistesabwesend sein. Als ich klein war, steckte er

Als Kind musste er wie seine Mutter und Schwester Hausarbeiten erledigen – kochen, im Garten helfen; so ziemlich alles, wozu man Hände braucht –, und diese Gewohnheit behielt er bei. Zur Cocktailzeit, die meine Mom und er nie ausließen, mixte er eindrucksvolle Martinis und Manhattans mit einem gekühlten Shaker, den er ständig im Eisfach hatte. Wir sprechen von den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren – da nahmen die Leute ihre Cocktailstunde ernst. Im Garten unseres Hauses in L. A. standen, dicht gedrängt, Schnur an Schnur, Tomatenpflanzen, die er zog. Meine Mom behauptete gern, dass ich die Geschicklichkeit meines Vaters geerbt habe, und das freute mich jedes Mal.

Jemand hat mal geschrieben, dass zwischen den Leben, die wir führen, und den Leben, von denen wir träumen, der Ort liegt, wo die meisten von uns tatsächlich leben. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass mein Vater eigentlich Dichter werden wollte. Weil er ohne Geld in der Weltwirtschaftskrise aufgewachsen war, hatte er vermutlich das Bedürfnis nach Sicherheit gehabt und stattdessen eine akademische Karriere angestrebt. Doch trotz seiner Liebe zu Worten und den selbstironischen Scherzen und Kalauern, die er mit seinen engen Freunden wechselte, verstand ich diese Dinge über meinen Vater erst, als sie mir davon erzählte. Sein Wunsch, Dichter zu werden, ist natürlich schon deshalb bemerkenswert, weil mein Bruder später Dichter wurde.

Ich erinnere mich an Tage in meiner Kindheit, als ich krank war und nicht in die Schule musste, an denen ich die Kleider meiner Mom anprobierte, eine Fernsehsendung nach der anderen sah und Schokoladen- oder Tapioka-Pudding direkt aus der Packung löffelte – Tapioka, ein Wort, das heute niemand mehr benutzt.

Im Obergeschoss meines Hauses in Massachusetts habe ich einen Stapel DVDs mit alten Filmaufnahmen von meinen Eltern beim Angeln im Klamath River, unmittelbar südlich der Grenze zu

Seit Ende der Sechzigerjahre fuhren meine Eltern jeden Sommer rauf zum Klamath, lebten in einem gemieteten Wohnwagen und verbrachten den folgenden Monat mit diesen Freunden beim Angeln, während andere zwischendurch zu Besuch kamen. Am Klamath ging es allein ums Angeln, geselliges Beisammensein, Kochen und Essen. Mein Dad baute sich seine eigenen Räuchervorrichtungen – selbst gemachte Körbe, die er in Ölfässer platzierte, um dann mit heißen Kohlen Fisch, Hähnchenflügel oder seine berühmten Rippchen zu räuchern. Es gab keinerlei Verhaltensregeln, außer dass man eine »gute Zeit« haben sollte. Man aß, was man fing, und bis zum heutigen Tag ist der Lachs direkt aus dem Räuchergerät, wie Connie Bentzen ihn machte, das Beste, was ich je gegessen habe. Eine klare Regel in Klamath gab es allerdings: Man durfte nur zwei Fische mitnehmen. Einmal schmuggelte meine Mutter in ihrer Anglerhose einen dritten Fisch auf den Campingplatz, ein Vergehen, das sich bei ihr und ihren Freunden zu einem Running Gag entwickelte.

Die Bentzens waren Dokumentarfilmer, eng befreundet mit Kameraleuten und Regisseuren wie Haskell Wexler, der an Filmen wie Einer flog über das Kuckucksnest arbeitete, und Irvin Kershner, der an Star Wars beteiligt war. Die witzige und fröhliche Maxie Bentzen war eine ehemalige Doktorandin meines Vaters und die erste Frau, der ich begegnete, die rund um die Uhr Jeans trug. Ihr Mann Connie hatte die gleichen stahlblauen Augen wie Paul Newman. Das Jahr über lebten sie in Malibu, in einem auf Stelzen errichteten Haus, mit Peanuts-Cartoons und Ausgaben der Zeitschrift The New Yorker auf ihrem Wohnzimmertisch. Wenn man die Nacht in ihrem Gästezimmer verbrachte,

Die Bentzens waren 1953 zum ersten Mal zum Klamath River gefahren. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich die Gegend rasant. Die Bevölkerung wuchs, und die Holzindustrie schlug breite Schneisen in die Tannen- und Kiefernwälder, doch die Bentzens wehrten sich. In den Achtzigern wurde es so voll, dass Connie, um ihren Platz abzustecken und gleichzeitig die Rednecks fernzuhalten, die große Vogelscheuche eines UCLA-Maskottchens aufstellte, das von allen »Johnny Bruin« genannt wurde.

In den Videos sieht man meine Mom, schmallippig und in einer zugeknöpften blau-schwarzen Strickjacke, und auch meinen Dad mit seiner großen Brille. Er hält einen Lachs hoch, den er gerade gefangen hat, eine Hand unter dem Maul des Fisches. Freunde kommen ins Bild und verschwinden. »Ein Sechspfünder«, höre ich Maxie sagen. »Seht nur, wie groß der ist«, sagt Connie, und: »Mach ein Foto«, und: »Er wird müde«, und: »Kaum zu glauben, dass du mit deiner kleinen Angel so einen Burschen rausgezogen hast, Wayne.« Jackie läuft herum und schießt Fotos. Dann gehen sie auf Dry Martinis ins Steelhead, eine nahe gelegene Lodge, wohin sie abends immer zum Trinken gingen.

Als Kind war ich nur einmal, mit siebzehn, am Klamath. Denn wenn meine Eltern dort waren, hatten Keller und ich das Haus für uns. Angeln war nie mein Ding, aber später war ich gern mit meinen

In einem der Videos – es muss 1986 gewesen sein – tauche ich selbst auf, und Thurston schlurft hinterher, obwohl er sich normalerweise in unserem Camper verkroch und bis zur Cocktailzeit las. Keller ist ebenfalls da, lebhaft redet und albert er herum, die gewohnten schwarzen Stoppeln auf dem Kinn. Wenn Keller rauf zum Klamath River fuhr, schlief er immer in seinem eigenen Zelt, eine Art Höhle mitten im kleinen Lager meiner Eltern.

Connie ist hinter der Kamera und bombardiert mich mit freundlichen Fragen über mich. Es war zu der Zeit von Evol,