[1]
Zu Bahia Blanca gehörendes Dorf; (Anm.d. Hrsg.)
[2]
Im Originalmanuskript unleserlich; (Anm.d. Übers.)
[3]
huaso – chilenischer Landbewohner; (Anm. d. Hrsg.)
[4]
Der aus dem Guaraní stammende Ausruf che wird in Argentinien, Uruguay und Paraguay verwandt, um jemanden anzusprechen, vergleichbar dem deutschen he, allerdings sehr viel häufiger. Ernesto Guevara und sein Reisebegleiter Alberto Granado fielen in Chile damit auf und kamen so zu ihren Spitznamen. (Anm.d. Übers.)
[5]
cholo – Mischling zwischen Weißem und India; im weiteren Sinne: Mestize, Indio; (Anm.d. Übers.)
[6]
Im Originalmanuskript unleserlich; (Anm.d. Übers.)
[7]
Gemeint ist Lima; (Anm.d. Hrsg.)
[8]
Dr. Hugo Pesce; (Anm.d. Hrsg.)
[9]
Hospital de Guía; (Anm.d. Hrsg.)
[10]
Im Originalmanuskript unleserlich; (Anm.d. Übers.)
[11]
venganza (span.) – Rache; (Anm.d. Übers.)
[12]
trait d’union (franz.) – Bindestrich; (Anm.d. Ubers.)
[13]
»Nervensyndrome bei Lepra«; (Anm.d. Hrsg.)
[14]
Im Originalmanuskript unleserlich; (Anm.d. Übers.)
[15]
surubí – großer schuppenloser Fisch; (Anm.d. Übers.)
[16]
Im Originalmanuskript unleserlich; (Anm.d. Übers.)
[17]
carapanãs (port.) – Moskitos; (Anm.d. Übers.)
Die beiden im vorliegenden Buch voran- bzw. an den Schluss gestellten Texte aus der Feder des Vaters von Che Guevara, Ernesto Guevara Lynch, stammen aus dessen Buch Mi hijo el Che, Editorial Arte y Literatura, Havanna 1988; dt. Mein Sohn Che, Hamburg 1986; diese Texte sowie die in der deutschen Ausgabe enthaltenen Auszüge aus den Reisenotizen wurden (auf der Grundlage der überarbeiteten Transkription) für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt.
Die Reisenotizen von Ernesto Guevara de la Serna in der Transkription des Archivo personal del Che schildern in erzählerischer Form die Ereignisse, das Auf und Ab und das aufregende Abenteuer eines Jugendlichen, der eine Reise mit dem Ziel unternimmt, Lateinamerika kennenzulernen.
Diese Notizen haben ihren Ursprung in dem Tagebuch, das Ernesto schrieb, als er im Dezember 1951 beschloss, in Begleitung seines Freundes Alberto Granado eine heiß ersehnte Tour zu unternehmen, die in Buenos Aires beginnen und sie ins Küstengebiet des Atlantiks, in die Pampa und die Anden und von Chile aus nach Norden führen sollte: über Peru und Kolumbien bis nach Caracas.
Nachträglich hat Ernesto selbst diese Erlebnisse in die Form von Berichten gebracht, die es dem Leser ermöglichen, sein Leben tiefer zu durchdringen, insbesondere einen wenig bekannten Abschnitt daraus, der uns bedeutsame Züge seiner Persönlichkeit, seiner kulturellen Bildung und seiner Fähigkeit als Erzähler zeigt, die Entstehung seines Stils, den er in den darauffolgenden Arbeiten weiterentwickelte. Darüber hinaus kann sich der Leser ein Bild vom tiefen Wandel machen, der in Che vor sich geht, als er Amerika von innen kennenlernt, zu seinem Wesen vordringt und immer stärker eine lateinamerikanische Identität findet, die ihn zu einem Wegbereiter der neuen Geschichte Amerikas werden lassen wird.
Archivo personal del Che
Centro Latinoamericano »Che Guevara«
Havanna, Kuba
Herausgegeben von Aleida March de la Torre
Dieses Werk enthält Abbildungen in einem Bildteil.
~ zum Bildteil ~
Reise mit Alberto Granado
Córdoba, Dezember 1951
Abreise von Buenos Aires am 4. Januar 1952
Villa Gesell, 6. Januar
Miramar, 13. Januar
Necochea, 14. Januar
Bahía Blanca, 16. Januar–21. Januar
Auf dem Weg nach Choele Choel, 22. Januar
Choele Choel, 25. Januar
Piedra de Águila, 29. Januar
San Martín de los Andes, 31. Januar
Nahuel Huapi, 8. Februar
Bariloche, 11. Februar
Peulla, 14. Februar
Temuco, 18. Februar
Lautaro, 21. Februar
Los Ángeles, 27. Februar
Santiago de Chile, 1. März
An Bord der »San Antonio«, 8.–10. März
Antofagasta, 11. März
Baquedano, 12. März
Chuquicamata, 13.–15. März
Iquique, 20. März
Salpeterwerk Toco
Salpeterwerke La Rica Aventura und Prosperidad
Arica, 22. März
Tacna, 24. März
Tarata, 25. März
Puno, 26. März: Fahrt zum Titicacasee
Schiffsfahrt auf dem Titicacasee am 27. März
Juliaca, 28. März
Sicuani, 30. März
Cuzco, 6.–7. April
Abancay, 11. April
Huancarama, 13. April
Huambo, 14. April
Huancarama, 15. April
Andahuaylas, 16.–19. April
Huanta
Ayacucho, 22. April
Huancayo
La Merced, 25.–26. April
Zwischen Oxapampa und San Ramón, 27. April
San Ramón, 28. April
Tarma, 30. April
Lima, 1. Mai (Abfahrt von Lima am 17. Mai)
Cerro de Paseo, 19. Mai
Pucallpa, 24. Mai
An Bord der »Cenepa«, 25. Mai
Auf dem Amazonas, 26./27.–31. Mai
Iquitos, 1.–5. Juni
An Bord der »Cisne« (auf dem Amazonas unterwegs zum Leprosorium San Pablo), 6.–7. Juni
Leprosorium San Pablo, 8.–19. Juni (Weiterfahrt am 20. Juni)
An Bord des Floßes »Mambo-Tango« auf dem Amazonas, 21. Juni
Leticia, 23. Juni–1. Juli (Weiterreise am 2. Juli per Flugzeug)
Zwischenaufenthalt in Tres Esquinas, 2. Juli
Madrid (Militärflughafen 30 km von Bogotá entfernt)
Bogotá, 2.–10. Juli
Cúcuta, 12.–13. Juli
San Cristóbal, 14. Juli
Zwischen Barquisimeto und Corona, 16. Juli
Caracas, 17.–26. Juli
Miami, Ende Juli
Rückkehr nach Córdoba
Walter Salles
Die ersten Berichte über Südamerika, im frühen 16. Jahrhundert von Amerigo Vespucci und Pedro Álvares Cabral verfasst, beschreiben eine paradiesische Welt. Das verlorene Eldorado, das finis terrae der Römer, jederzeit kolonialisierbar.
Ein Großteil der strukturellen Ungleichheiten, die den Kontinent bis heute plagen, entstanden aus dem anfänglichen Widerspruch, diese paradiesische Welt den Vorstellungen der europäischen Invasoren zu unterwerfen: die Massaker an indigenen Volksgruppen, die Zwangsmigration und Versklavung der in den Monokultur-Plantagen arbeitenden Afrikaner und die willkürliche Grenzziehung zwischen einzelnen Nationen. Dieser auf Gewalt und Sklavenarbeit begründete Kolonialisierungsprozess brachte somit Gesellschaften hervor, die letztendlich nur europäische Wertesysteme und Begehrlichkeiten widerspiegelten.
Im Alter von 23 Jahren stieg der Medizinstudent Ernesto Guevara da la Serna hinter dem 29jährigen Biochemiker Alberto Granado auf den Sattel einer alten Norton 500. Die beiden verband der Traum, den südamerikanischen Kontinent zu durchqueren, ihr Wissen über ihn beschränkte sich jedoch auf das, was sie in Geschichtsbüchern gelesen hatten. »Wir wussten mehr über die Griechen und Phönizier als über die Inkas«, gestand Granado launig. »Wir wussten nicht einmal genau, wo sich Machu Picchu befindet.« Die Motorcycle Diaries sind eine seltene Einführung in eine zuvor unbekannte Realität, in eine einzigartige und ursprüngliche physische und menschliche Geografie – und gleichzeitig deren Enthüllung.
Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung der Kolonisatoren beginnen die Reisetagebücher des jungen Ernesto als pikareske Erzählung, ein Augenzwinkern in Richtung Cervantes, die an Tiefe gewinnt, je mehr die beiden Abenteurer mit der bitteren Alltagsrealität in Lateinamerika in Berührung kommen. Während sich die sozialen und politischen Widersprüche vor ihren Augen entfalten, nimmt, was als Tagebuch eines Roadtrips begann, plötzlich unerwartete Konturen an: Es verwandelt sich in eine Coming-of-age-Geschichte, die das erwachende Bewusstsein zweier lateinamerikanischer Jugendlicher für die auf dem Kontinent existierenden Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten dokumentiert.
Als die beiden Reisenden Peru erreichen und dort das Erbe der Andenvölker und Inkas entdecken, wird dieser Bruch offensichtlich. Es scheint, als würden ihre individuellen Lebensgeschichten an genau diesem Punkt auf die enorme Wucht der Historie treffen. Ab diesem Zeitpunkt unterscheidet sich massiv von den meisten Reiseberichten. Am Ende ihrer Reise – in Venezuela, dem nördlichsten Punkt des Kontinents – sind die beiden jungen Männer nicht mehr die unbeschwerten Jugendlichen, die einst in ihrem Heimatland Argentinien aufbrachen.
Nur sehr wenige Zeitzeugenberichte sind von einer solchen Weltoffenheit und derart frei von jeglicher Schönmalerei. Die Reise des jungen Che liefert wertvolle Einblicke, um die schleichende Transformation des jungen Ernesto in einen politischen Akteur ebenso nachvollziehen zu können wie seine scharfe Beobachtungsgabe für das Leiden der Menschen um ihn herum – und nicht zuletzt für die dafür ursächlichen strukturellen Ungerechtigkeiten.
Die Reise des jungen Che ermöglicht den Lesern ein Eintauchen in diese Welt, betrachtet durch die Augen des späteren Revolutionärs. Daraus entspinnt sich eine unverfälschte, einzigartige südamerikanische Identität. Fast sieben Jahrzehnte nach ihrer Entstehung sind die Tagebücher Ernesto Guevaras immer noch eine faszinierende und eindringliche Betrachtung dessen, was bis zum heutigen Tage als eine letzte Grenze bezeichnet wird.
Aleida Guevara March
Als ich diese Aufzeichnungen zum ersten Mal las, waren sie weder in Buchform erschienen, noch wusste ich, wer sie geschrieben hatte. Ich war sehr jung und identifizierte mich sogleich mit der Person, die mit so großer Spontaneität und Natürlichkeit von ihren Abenteuern berichtete. Beim Weiterlesen wurde mir jedoch bald klar, wer der Verfasser war, und ich war sehr glücklich, seine Tochter zu sein.
Ich will nichts von dem vorwegnehmen, was Sie bei der Lektüre selbst entdecken sollen. Und wenn Sie den Text gelesen haben, werden Sie bestimmt einige der Passagen wiederlesen und ein zweites Mal genießen wollen, sei es wegen der Schönheit, die sie beschreiben, sei es wegen der intensiven Gefühle, die sie ausdrücken.
Es gab Momente, in denen ich Granado buchstäblich von seinem Platz auf dem Motorrad verdrängte und, eng an Papis Rücken geschmiegt, über Berge und an Seen entlangfuhr. Ich muss gestehen, dass ich meinen Vater bei so manchen Gelegenheiten allein ließ, vor allem dann, wenn er auf eine für ihn typische, so plastische Art von Dingen schreibt, die ich niemals erzählen würde. Damit stellt er wieder einmal unter Beweis, was für ein aufrichtiger und wenig konventioneller Mensch er war.
Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich sagen, dass ich mich beim Lesen in den Jungen, der mein Vater war, verliebt habe. Ich weiß nicht, ob Sie meine Empfindungen teilen werden; jedenfalls habe ich den jungen Ernesto mit jeder Zeile besser kennengelernt, den, der Argentinien voller Abenteuerlust und verrückter Träume verlässt und der, während er die Realität unseres Kontinents entdeckt, als Mensch heranreift und sich zu einem sozialen Wesen entwickelt.
Nach und nach sehen wir, wie sich seine Träume und Ziele verändern. Ernesto nimmt den Schmerz und die Sorgen anderer Menschen wahr und lässt es zu, dass all das Eingang in ihn findet und sich in ihm festsetzt.
Der Junge, dessen Dummheiten und Verrücktheiten wir anfangs belächeln, sensibilisiert uns durch seinen Bericht für die komplexe Welt der Ureinwohner Lateinamerikas, für die Armut, in der sie leben, für die Ausbeutung, deren Opfer sie sind. Trotz alldem verlässt ihn nie der Humor, sein ständiger Begleiter, der sich jedoch verändert, subtiler wird, feiner.
Mein Vater, »ese, el que fue« (»der, der er war«), zeigt uns jenes Lateinamerika, das nur wenige von uns kennen, beschreibt die Landschaften mit Worten, durch die ein farbiges Bild entsteht, das unsere Sinne anspricht. Am Ende sehen wir die Dinge so, wie seine Netzhaut sie aufgezeichnet hat.
Seine Prosa ist erfrischend. Er wählt Wörter, die uns nie vernommene Laute hören lassen; es gelingt ihm, uns die Welt nahezubringen, die den Romantiker mit ihrer Schönheit und Rauheit ergreift und seinen revolutionären Impetus verstärkt, ohne dass er seine Zärtlichkeit verliert. Er wird sich bewusst, dass die einfachen Menschen in erster Linie nicht seiner medizinischen Kenntnisse bedürfen, sondern vor allem seiner Kraft und seiner Ausdauer auf dem Weg zu einem gesellschaftlichen Wandel, der es ihnen erlauben wird, jene Würde wiederzuerlangen, die ihnen durch die Jahrhunderte hindurch geraubt und beschmutzt wurde.
Dieser abenteuerlustige Junge mit seiner Wissbegierde und seiner großen Fähigkeit zu lieben zeigt uns, wie die richtig gedeutete Realität einen Menschen so tief durchdringen kann, dass er seine Art zu denken radikal verändert.
Lesen Sie diese Aufzeichnungen, die mit so viel Liebe, Unbefangenheit und Aufrichtigkeit geschrieben wurden und die mich meinem Vater so nahegebracht haben wie nie. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Reise mit ihm zusammen unternehmen können, und hoffe, Sie werden sie genießen.
Sollten Sie irgendwann einmal die Gelegenheit bekommen, seine Route nachzufahren, dann werden Sie betrübt feststellen, dass vieles so geblieben ist wie früher oder noch schlimmer geworden ist. Und das ist eine Herausforderung für all diejenigen, die wir – wie dieser Junge, der Jahre später »Che« genannt werden sollte – für eine Realität sensibilisiert wurden, die die Ärmsten und Entrechtetsten zu erdulden haben, eine Herausforderung für all diejenigen, die wir uns verpflichtet haben mitzuhelfen, eine sehr viel gerechtere Welt zu schaffen.
Ich lasse Sie nun mit dem Mann alleine, den ich durch diese Aufzeichnungen kennengelernt habe und den ich von ganzem Herzen liebe, wegen seiner Kraft und seiner Zärtlichkeit, die er zeit seines Lebens bewiesen hat.
Viel Vergnügen beim Lesen!
Hasta siempre!
Aleida Guevara March
Juli 2003
Ernesto Guevara Lynch
Ein enger Freund Ernestos, Alberto Granado, Doktor der Biologie und Bruder von Tomás und Gregorio, die seine Mitschüler in der Volksschule gewesen waren, beschloss, ihn auf einer Reise durch Amerika zu begleiten. Das war im Jahre 1951.
Ernesto hatte zu dieser Zeit gerade ein sympathisches Mädchen aus Córdoba kennengelernt. So wie meine Familie war auch ich davon überzeugt, dass er sie heiraten würde.
Eines schönen Tages sagte Ernesto zu mir:
– Vater, ich fahre nach Venezuela.
Wie groß war meine Überraschung, als er auf meine Frage: »Für wie lange denn?« antwortete: »Ein Jahr.«
– Ja, und deine Verlobte? – fragte ich weiter.
– Wenn sie mich liebt, muss sie auf mich warten – war die Antwort.
Ich hatte mich an derartige Aufbrüche meines Sohnes schon gewöhnt.
Ich wusste, dass er das Mädchen sehr mochte, und hatte gehofft, diese Zuneigung würde sein Fernweh dämpfen. Ich wurde nachdenklich. Ich verstand Ernesto nicht. Manches an ihm blieb mir unzugänglich. Erst mit der Zeit begriff ich ihn. Ich wusste nicht, dass sein unstillbares Fernweh seiner Wissbegierde gehorchte.
Es war ihm wichtig, gründlich die Bedürfnisse der Armen kennenzulernen, und er wusste, dass er dazu viele Wege und Straßen zurücklegen musste, aber nicht als einfacher Tourist, sondern auf seine Weise. Wenn er unterwegs haltmachte, tat er das nicht, um Sehenswürdigkeiten oder schöne Landschaften zu fotografieren, sondern um das menschliche Elend in sich aufzunehmen, das ihm auf Schritt und Tritt begegnete, und die Ursachen dieses Elends zu erforschen. Seine Reisen sollten die eines Sozialforschers werden, der sich vor Ort ein Bild machen, aber auch nach Möglichkeit menschliches Leid lindern wollte.
Nur so, mit diesem Interesse und solcher Entschlossenheit, das Herz gepanzert gegen jede Art von Bitterkeit und mit einer unentwegten Opferbereitschaft, kann man dieses schutzlose Menschengeschlecht, das unglücklicherweise den größten Teil des Erdballs bevölkert, ganz ergründen.
Beim Nachdenken über seine ständigen Reisen, Jahre später, kam ich zu dem Schluss, dass sie ihm die Gewissheit gegeben hatten, worin seine Bestimmung lag.
Als Ernesto schon auf dem Weg nach Venezuela war und ich einmal im Hause einer Schwester von mir mit dem Pater Cuchetti zu Mittag aß, einem mit ihr befreundeten Geistlichen, der in unserem Land sehr bekannt war für seine liberalen Ansichten, erzählte ich von dem Teil der Reise Ernestos und Granados durch den Amazonasurwald und ihrem Aufenthalt im Leprosorium San Pablo an den Ufern des wasserreichen Amazonas.
Er verfolgte meinen Bericht sehr aufmerksam und sagte dann, nachdem er meine Schilderungen des grauenvollen Lebens, das die Leprakranken führen, gehört hatte:
– Mein Freund, ich bin bereit, für meine Mitbrüder jedwedes Opfer zu bringen, doch ich versichere Ihnen: Mit Leprakranken unter diesen Bedingungen morgens, mittags und abends zusammenzuleben, in diesem tropischen Klima und noch dazu unter den schlechten hygienischen Verhältnissen, dazu wäre ich nicht fähig, ich ertrüge es nicht. Ich fühle mich beschämt angesichts der Menschenliebe und Charakterfestigkeit Ihres Sohnes und seines Begleiters, denn dafür braucht man nicht nur Mut; man muss Nerven aus Stahl und zugleich ein unermesslich verständnisvolles, von größter Barmherzigkeit erfülltes Herz haben. Ihr Sohn wird es sehr weit bringen.
Ehrlich gesagt hatte ich mich so daran gewöhnt, Ernesto bei seinen Reisen in Gedanken zu begleiten, dass ich mich nicht damit aufgehalten hatte, die Motive dieser Unruhe, die ihn bewegten, genauer zu analysieren; und vor allem ließ ich mich von der Selbstverständlichkeit täuschen, mit der er von seinen Streifzügen durch die Welt sprach, als wären sie eine Spielerei, die jeder fertigbringt. Es lag ihm fern, sich in Szene zu setzen; vielleicht, um unsere Familie nicht zu beunruhigen, gab er sich, wenn er von seinen Reisen erzählte, den Anschein, als wäre er von bloßer Neugier getrieben.
Erst später begriffen wir durch seine Briefe, dass er einer wahren Berufung gehorchte, die er zeitlebens nicht aufgab. Wenn er erzählte, stets unterhaltsam und interessant, verstand er es, etwas Spitzbübisches, Spaßiges in seine Stimme hineinzulegen, womit er den Zuhörer verwirrte und ihn im Unklaren ließ, ob er sich über ihn lustig machte oder ob er im Ernst sprach. Ich weiß noch, wie er uns eines Tages aus Peru einen Brief schrieb, in dem er uns seine Reise weiter nach Norden ankündigte und wo es in etwa hieß:
»Wenn Ihr innerhalb eines Jahres keine Nachricht von uns habt, sucht unsere Schrumpfköpfe in irgendeinem Yankeemuseum, wir reisen nämlich durch das Stammesgebiet der Jíbaros, die erfahrene Kopfjäger sind.«
Wir wussten, wer die Jíbaros waren, und wir wussten auch, dass sie seit Jahrhunderten aus den Köpfen ihrer Feinde Schrumpfköpfe machten. So sah die Sache schon anders aus, denn es war nicht nur ein Witz, es steckte auch eine gehörige Portion Wahrheit darin.
Ich litt jedes Mal im Stillen, wenn es ihm in den Sinn kam, auf Entdeckungsreise zu gehen. Als er mir von seiner geplanten Reise mit Granado erzählte, nahm ich ihn beiseite und sagte zu ihm: »Du lässt dich auf ein sehr schwieriges Abenteuer ein, und wie könnte ich dir abraten, wo ich doch selbst so lange davon träumte? Aber eines sage ich dir, wenn du dich in diesen Urwäldern verirrst und ich nicht in einer angemessenen Zeit Nachricht von dir bekomme, werde ich deinen Spuren folgen und dich suchen, und ich werde nicht eher zurückkommen, als ich dich gefunden habe.« Er wusste, dass ich dazu fähig war, und ich hoffte, das würde seinen Wagemut vielleicht etwas zügeln. Ich bat ihn, mir Zeichen am Wege zu hinterlassen und uns über seine Route auf dem Laufenden zu halten. Er tat es durch seine Briefe, und durch sie waren wir auch im Bilde über die tatsächliche Route, die unser Sohn eingeschlagen hatte. In seinen Briefen analysierte er die ökonomische, politische und soziale Situation aller Länder, die er durchquerte, und in ihnen legte er auch seine Überlegungen dar, die uns immer stärker seine Tendenz zum Kommunismus erkennen ließen.
Das war bei Ernesto kein bloßer Zeitvertreib, und so verstanden wir es auch. Die Größe seiner Unternehmung wurde uns immer mehr bewusst. Er besaß die notwendigen Voraussetzungen, um, was er plante, in die Tat umzusetzen; doch um im Leben zu triumphieren, genügen nicht allein die Voraussetzungen – die Verwirklichung der Träume, Pläne und Hoffnungen ist der schwierigste Teil. In Ernesto vereinigte sich der Glaube an seinen Siegeswillen mit einer außerordentlichen Beharrlichkeit, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Nimmt man dazu noch seine oft genug unter Beweis gestellte Intelligenz, so versteht man, wie er in der kurzen Zeit derart viel erreichen konnte.
Nun brach er zusammen mit Alberto Granado auf, um den Spuren vieler legendärer Entdecker Amerikas zu folgen. Wie sie ließen die beiden Komfort, Freundinnen und Familie zurück und brachen auf zu neuen Horizonten. Granado wohl mit dem Ziel, neue Welten kennenzulernen. Ernesto im selben Drang, verbunden mit der mystischen Gewissheit seiner Bestimmung. Nun folgten Ernesto und sein Begleiter den Spuren der Konquistadoren, nur dass sie im Unterschied zu jenen sich nicht von Eroberungslust leiten ließen, sondern unterwegs waren zu einem anderen Ziel.