Daniel-Pascal Zorn
Die Krise des Absoluten
Was die Postmoderne hätte sein können
Klett-Cotta
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ISBN 978-3-608-98349-4
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Die Postmoderne ist an allem schuld. Darin sind sich gegenwärtige Intellektuelle, Philosophinnen und Denker einig. Sie ist schuld an der Forderung nach absoluter Freiheit ohne Rücksicht auf Verluste, an der unkritischen Haltung gegenüber dem Kapitalismus, am Verfall von Sitte und Anstand und an dem fehlenden Respekt vor der Autorität der Wissenschaften und der Tradition. Die Postmoderne ist der Ausgangspunkt für die Übel unserer Zeit, für die vier apokalyptischen Reiter Konstruktivismus, Relativismus, Moralismus und Identitätspolitik.
Für die Postmoderne ist die reale Welt nur eine Konstruktion, ein Effekt von Machtansprüchen und anonymen Strukturen, der keinen Zugriff auf eine gemeinsame Wirklichkeit mehr erlaubt: Konstruktivismus. Hier gibt es keine Wahrheit mehr, nur noch relative Meinungen, die versuchen, sich gegen andere Meinungen durchzusetzen: Relativismus. Weil dabei keine verbindlichen Maßstäbe mehr akzeptiert, Fakten und Tatsachen durch fiktive Vorstellungen und gedankliche Konstrukte ersetzt werden, gelingt die Durchsetzung von Meinungen nur noch mit moralischer Erpressung: Moralismus. Die Postmoderne leitet die Menschen dazu an, sich gegenseitig alles Mögliche und Unmögliche zu unterstellen, um den eigenen Willen durchzusetzen. Sie zersetzt die Gesellschaft, indem sie Minderheiten gegen die Mehrheit aufhetzt und ihnen einredet, wegen irgendwelcher Merkmale, die sie als Minderheit identifizieren, automatisch im Recht zu sein: Identitätspolitik. Die Postmoderne ist verantwortlich für politischen Aktivismus im Gewand der Theorie. Sie brachte die »Critical Race Theory«, für die alle Weißen Rassisten sind, und den »Dekonstruktivismus«, der jede Aussage in eine unendliche Anzahl von gleichwertigen Interpretationen auflöst. Auch Verschwörungstheorien und Fake News, political correctness und cancel culture, also die weit verbreitete Tendenz, unliebsame Meinungen zu unterdrücken, haben wir der Postmoderne zu verdanken.
Dass sich die Postmoderne dabei hinter solchen Wortungetümen wie »Dekonstruktivismus« versteckt, ist kein Zufall. Denn so kann sie sich einen wissenschaftlichen Anstrich geben, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen. Ihre Theorien klingen hochkompliziert und durchdacht. Aber wenn man sie sich genauer ansieht, fällt das Kartenhaus in sich zusammen. Dann zeigt sich, dass es sich nur um eine hochnäsige Form des Dadaismus handelt, eine bloße Simulation von wissenschaftlicher Gelehrsamkeit. Scharlatanerie, Taschenspielerei, eine Ideologie intellektueller Nepper, Schlepper und Bauernfänger, der immer wieder junge Leute auf den Leim gehen und ihr nach der Pfeife tanzen wie die Kinder von Hameln dem teuflischen Rattenfänger. Das ist kein Zufall, denn die Postmoderne ist ein großangelegtes Täuschungsmanöver der Marxisten, die nach ihrem politischen Scheitern nun die Kultur ins Visier nehmen und versuchen, die Welt …
… doch einen Moment. Das geht ein bisschen schnell, oder? Sie haben dieses Buch gerade erst angefangen zu lesen – und schon werden Sie mit abschließenden Urteilen darüber konfrontiert, was diese »Postmoderne«, um die es hier geht, alles angerichtet haben soll. Sogar die Marxisten haben die Finger im Spiel! Wenn Sie vorher gar nicht wussten, dass Sie sich für die Postmoderne interessieren, können Sie sich nun sogar über sie empören. Stundenlang. Und wenn Sie schon wussten, was die Postmoderne ist, dann haben Sie gerade entweder beifällig genickt, weil sie es ebenso sehen, oder Sie haben sich stirnrunzelnd über diese Beschreibung der Postmoderne gewundert. Solche Beschreibungen der Postmoderne sind blind. Auf dem Weg zu ihrer Darstellung sind sie über den Stein der Kritik gestolpert und meckernd liegengeblieben. Was die Postmoderne ist, bleibt verdeckt unter dem, was sie angeblich alles angerichtet haben soll. Fangen wir also nochmal von vorne an – diesmal etwas neutraler.
Die Postmoderne, das ist eine Epoche der Philosophiegeschichte. Oder: Die Postmoderne, das ist eine Schule von ein paar französischen Philosophen, die in den 1960er Jahren den theoretischen Aufstand geprobt haben. Oder auch: Die Postmoderne, das ist das Lebensgefühl einer Generation, die sich mit der modernen Welt so gut arrangieren kann wie es diese Welt gerne hätte. Schließlich, für die Leser des modernen Romans: Die Postmoderne, das ist die Gebrochenheit der Moderne als Ausdruck der Theorie. Das sagt Ihnen alles nichts? Das liegt daran, dass solche Beschreibungen leer sind. Wer die Postmoderne nicht kennt, dem sagen sie nicht viel. Wer etwas über sie weiß, dem sagen solche Sätze nichts Neues. Sie lassen sich beliebig mit Erzählung, Begriff, Epoche, Lebensgefühl und Theorie füllen.
Was die Postmoderne war, lässt sich aus verschiedenen Gründen nicht einfach sagen. Einer dieser Gründe ist, dass vieles von dem, was eingangs über die Postmoderne gesagt wurde, oft erst sehr viel später auf sie abgebildet wurde. Um zu erfahren, was die Postmoderne war, muss man – paradoxerweise – vergessen, was man über die Postmoderne zu wissen glaubt. Erst recht muss man es vergessen, wenn man erfahren will, was die Postmoderne hätte sein können. Fangen wir also ein drittes Mal von vorne an: Was ist die Postmoderne?
Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre, in den Ruinen der alten und im Geist der neuen Welt, entsteht in Paris, Frankfurt, New York, Münster und Chicago eine Denkbewegung, die wenige Jahrzehnte später die akademische Welt diesseits und jenseits des Atlantiks auf den Kopf stellen wird. Die Protagonisten dieser Denkbewegung teilen den Erfahrungsraum, dessen Koordinaten durch die beiden Weltkriege bestimmt werden. Sie sind Mitläufer und Exilanten, Söhne von Kriegsgefangenen und Brüder von Widerstandskämpfern. Menschen, deren Kindheit in einer Welt stattfindet, die kurz darauf so vollständig und unwiederbringlich pulverisiert wird, dass die Erinnerung an sie alles ist, was bleibt. Manche von ihnen haben das Glück, den Krieg nur aus Zeitungen zu kennen. Andere müssen fliehen, um ihr Leben zu retten. Nicht alle schaffen es.
Die Denkbewegung, die sie miteinander verbindet, hatte im Laufe der Jahrzehnte viele Namen. Jeder dieser Namen trifft einen Aspekt, keiner trifft je das Ganze. Die meisten von ihnen sind abfällig gemeint: »Kulturmarxismus« zum Beispiel. »Konstruktivismus«, »Relativismus«, »Skeptizismus« oder »Nihilismus«, als eine sich steigernde Verurteilung von Irrationalismen, die man abzuwehren hat. Unverkennbar ist die Herkunft dieser Begriffe: es sind philosophische Kampfvokabeln, mit denen man seine theoretischen Gegner etikettiert, um sie loszuwerden. Sie alle lassen sich mit einem Begriff zusammenfassen, der so unklar wie polarisierend ist und der vielleicht gerade deswegen so polarisiert, weil er so unklar ist: die »Postmoderne«.
Die Offenheit, die sich in dieser Bezeichnung ausspricht, hat zu viel Verwirrung geführt. Die lateinische Vorsilbe »post-« bedeutet ja zumeist »nach« oder »hinter« – und so hat man »Postmoderne« oft beschreibend, im Sinn einer historischen Epoche verstanden: »Postmoderne« wäre dann »nach der Moderne« oder auch »hinter der Moderne«, im Sinne von »auf die Moderne folgend«. Ebenso kann man das »nach« als Ausdruck für die Aufeinanderfolge philosophischer oder auch künstlerischer Epochen verstehen, nicht als Beschreibung, sondern vielmehr als Forderung: nach der Philosophie, nach der modernen Literatur, nach der Kunst, die ihr Ablaufdatum überschritten hat, muss es eine postmoderne neue geben, die sich von ihr abhebt.
Verbindet man diese beiden Interpretationen miteinander, das beschriebene Zeitalter und die geforderte Nachfolge, dann erhält man die Formel, die bis heute die Gemüter erregt. Wenn die »Moderne« das Zeitalter der Aufklärung, des Liberalismus, der Vernunft ist, dann ist die »Postmoderne« das Zeitalter, das all diese Werte verabschiedet. Wenn die »Moderne« das Zeitalter der Rationalität und der Wissenschaft ist, dann bedeutet »Postmoderne« eine Abkehr von der Wahrheit und eine Rückkehr in einen vormodernen Irrationalismus, einen Flirt mit dem längst Überwundenen. »Postmoderne« wäre dann im Sinn verdreht, gleichbedeutend mit »Vormoderne«, zumindest aber mit den dunklen Seiten der »Moderne«. Ist diese »Moderne« das Zeitalter von Effizienz und der Rationalisierung von Prozessen, dann steht »Postmoderne« für Überflüssiges und Überschüssiges, für etwas, was man auch weglassen kann, was übersteht und deswegen gestutzt werden muss. Und wer schon die »Moderne« für ihre Abkehr von Tradition und alten, eben vormodernen Werten kritisiert hat, für den ist die »Postmoderne« die Apokalypse der Beliebigkeit.
Die »Postmoderne« ist der Gegner, auf den sich alle einigen können, selbst wenn sie sonst zueinander Gegenteiliges behaupten. Dabei stehen Heftigkeit der Ablehnung und Wissen über die Positionen, die man der »Postmoderne« zuordnet, meist in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander. Das heißt: Je weniger einer über die »Postmoderne« weiß, desto entschiedener sind seine Urteile über sie. Je weniger eine von den »postmodernen« Autoren gelesen hat, desto sicherer ist sie sich, dass es sich nicht lohnt, sich mit diesem »Geschwurbel« zu beschäftigen.
Das wäre nun alles nicht besonders interessant, wenn nicht durch diese Art Vorurteil Entscheidendes verlorenginge. Das bedeutet nicht nur, dass sich mit einem einzigen Begriff ein kompletter Zeit- und Erfahrungsraum erledigen soll. Das ist auch bei Begriffen wie »Mittelalter« oder »Sklaverei« der Fall. Dass Entscheidendes verlorengeht, bedeutet vor allem, dass das, was in der anfangs so genannten Denkbewegung gedacht wird, den Übergang in diejenige Welt betrifft, in der wir heute leben.
Die »Postmoderne«, so wie sie hier verstanden wird, ist kein Sammelbegriff für irgendwelche durchgeknallten französischen Philosophen und auch kein Werturteil über den allgemeinen Sittenverfall. Sie bezeichnet, in bewusster Aneignung eines völlig unklaren Begriffs, einen Zeitraum von etwa 30 Jahren, in denen sich die Reste des alten europäischen Denkens mit den Tendenzen der nach dem Zweiten Weltkrieg neu anhebenden gesellschaftlichen und theoretischen Entwicklungen verbinden. Das, was übrig ist und das, was neu entsteht, gehen in ihr eine einzigartige Liaison ein, in der noch einmal, ein letztes Mal, alles auf den Tisch kommt.
Ein letztes Mal? Ja. Die »Postmoderne«, wie sie hier dargestellt wird, mag in ihren Ausläufern die akademische Bildung maßgeblich mitbestimmen. In dem, was sie eigentlich auszeichnet, scheitert sie aber. Sie geht unter, weil ihre Bedingungen immer noch diejenigen einer früheren Zeit sind, die zugleich mit ihr zugrunde geht. Den intellektuellen Freiraum, in dem sich Projekte wie die Macy-Konferenzen, die französische Reform-Universität oder die engagierte Gesellschaftstheorie entfalten konnten, gibt es nicht mehr.
Ende der 1970er Jahre endet die Zeit des engagierten Intellektuellen, so wie er sich am Ende des 19. Jahrhunderts erst als besondere Form des bürgerlichen Selbstverständnisses herauskristallisiert hat. Eine Gestalt der Geschichte nimmt den Hut. Es endet auch die Zeit der bürgerlichen Ästhetik als bestimmendes Paradigma des Progressiven, Hybriden und Extremen gleichermaßen. Es endet schließlich die kurze Zeitspanne, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal die Offenheit der Situation mit der Aufbruchsstimmung des Neuanfangs verbunden hat, die in den Ruinen der Vergangenheit den Geist der Zukunft erblickte. An ihre Stelle tritt die Aussöhnung von Elite und Masse an den Universitäten und von Kredit und Produktion für Arbeiter und Konsumenten.
Dieser Epochenbruch ist für uns, vierzig Jahre später, möglicherweise noch zu nahe, um ihn zu erkennen. Für die Allgemeinbildung verschwindet er unter Kontinuitäten. Auch der Historiker täte sich schwer damit, dreißig Jahre als historische Epoche auszuzeichnen. Aber ideengeschichtlich lassen sich die Grenzen dieser Epoche durchaus belegen.
Um 1950 beginnt die intellektuelle Geschichte der berühmt-berüchtigten »französischen Philosophie«, des sogenannten »Poststrukturalismus«. Sie endet mit dem intellektuellen Umschwung in Frankreich zu Beginn der 1980er, als die Neuen Philosophen sich verbitten, dass »französische Philosophie« gleichgesetzt wird mit Foucault, Derrida, Deleuze oder Lyotard. Um 1950 beginnt auch die Geschichte der Frankfurter Schule in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist, auch wenn sie ihre Wurzeln in der Weimarer Republik hat, eine andere Frankfurter Schule. Ihr Einfluss auf die deutsche Bildungslandschaft ist mit diesem Neuanfang untrennbar verknüpft. Auch ein zunächst im Hintergrund verbleibender Kreis von Intellektuellen um den Münsteraner Philosophen Joachim Ritter begründet sich Anfang der 1950er Jahre und wird bis zum Ende des Jahrzehnts zur entscheidenden Prägung für später selber einflussreiche Männer werden.
Beide deutschen Schulen finden ihr Ende oder werden in etwas ganz anderes transformiert, beide noch vor 1980. Schließlich haben auch die in sich vielfältige intellektuelle Bewegung der sogenannten »Kybernetik« und die philosophische Theorierichtung des Neuen Pragmatismus beide ihre Wurzeln am Beginn der 1950er Jahre: in den Macy-Konferenzen und in Richard Rortys Dissertation über den Begriff der Möglichkeit, deren Grundgedanke alles weitere mitbestimmen wird. Die Kybernetik wird in den 1970er Jahren, nach einem fantastischen Start, sang- und klanglos untergehen. Sie wird abgelöst von effizienteren und weniger ambitionierten Perspektiven und wird so vollständig vergessen, dass die Protokolle der Macy-Konferenzen erst Jahrzehnte später wieder verfügbar sind. Der Neue Pragmatismus schließlich findet natürlich seine philosophischen Fortsetzungen. Das Projekt aber, das Rorty mit seiner offenen, pluralistischen Version von Philosophie angepeilt hatte, wird von einer härteren, klareren, mehr zum Zeitgeist der 1980er Jahre passenden liberalen Philosophie abgelöst, die Wissenschaftsanspruch und effiziente Gesellschaftssteuerung miteinander verbindet.
Als in den 1990er Jahren, nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, noch einmal eine Art »postmodernes« Gespenst die Flure der Universitäten heimsucht, ist aus Theorie bereits Mythos geworden. Einzelne Sätze, in konkreten Situationen geäußert, werden zu Schlüsselsätzen ganzer Werke gemacht. Die intensive Denkarbeit und die zum Teil höchst diffizilen Überlegungen, die sich in den Texten finden, führen reihenweise zu hermeneutischen Kurzschlussreaktionen. Dem Foucault, hört man, geht es vor allem um »Macht« und dem Derrida, dem geht es um die »Schrift«, wobei man gar nicht so genau weiß, was damit gemeint ist. Wer es doch weiß, hört sich an wie diejenigen, die Mitte des 20. Jahrhunderts Hegel oder Heidegger nachgeahmt haben. Sie sprechen für die Nichteingeweihten eine seltsame Sprache, huldigen dem Derridadaismus. Deleuze wird zum Lieblingskind der neu entstandenen Medienwissenschaften, auch weil er sich in seinem Spätwerk sehr fürs Kino interessiert hat. Und Lyotard? Der hat doch diesen Text geschrieben: La condition postmoderne, zu Deutsch: Das postmoderne Wissen. Wer also wissen will, was »Postmoderne« ist, der liest es dort nach – oder eben bei Richard Rorty, der hat auch mal was zur »Postmoderne« geschrieben.
Knapp zehn Jahre, nachdem die »Postmoderne« als Zeit- und Freiraum sich für immer geschlossen hat, wird sie mit Bezeichnungen beklebt, in die Forschung eingespeist, philosophisch vermessen und wissenschaftlich »angewendet«. Großordinarien halten Vorlesungen, in denen man den Studierenden Gründe gibt, warum das alles nicht ganz so ernst zu nehmen ist. Andere sehen in der »Postmoderne« Vorkämpfer für ihre Idee von Emanzipation. Gemeinsam mit denen, die sich einzig im Kampf gegen die »Postmoderne« zusammenraufen und versammeln, legen sie Sinn, Vereinnahmung, Vorurteil und Polemik Schicht um Schicht auf die Texte, die Personen und ihr Denken.
Diese Schichten alle abzutragen und fein säuberlich voneinander zu unterscheiden, ist ein unmögliches Unterfangen, zumindest für einen einzelnen Text. Es ist der Forschung vorbehalten, die freilich ihre eigenen Sinnschichten mitbringt. Ebenso wenig lässt sich eine Geschichte »der« »Postmoderne« schreiben, als handle es sich um ein bequem sortiertes Feld mit klar erkennbaren Kategorien.
Man kann aber den Versuch machen, Texte, Personen und Denken auf eine bestimmte Weise anzuordnen. Im Zusammenschauen, Zusammensehen einiger weniger Aspekte dieser an Aspekten so reichen Theorielandschaft könnte so eine Ahnung dessen entstehen, was »Postmoderne« hätte sein können. Aber die bloße Zusammenschau ist eine theoretische Operation. Vielleicht könnte man also, statt »Geschichte« zu schreiben, eine Geschichte erzählen, die ebenso eine Geschichte des Denkens ist wie eine Geschichte der Personen, zu denen dieses Denken gehört. Eine solche Erzählung wäre ganz sicher keine »große Erzählung«. Sie wäre ein erstes, kein letztes Wort. Sie erhöbe keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, nähme sich sogar manchmal, hier und dort, ein paar literarische Freiheiten heraus. Sie wäre eher eine Verschiebung von Denkrahmen, eine Möglichkeit, gewohnte Wege auf ungewohnte Weise zu gehen. Sie würde eine sehr begrenzte Auswahl treffen, die trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen, weil sie begrenzt ist – Einsichten bereithält.
Eine solche Geschichte wäre eine Geschichte von verschiedenen Denkrichtungen. Diese Denkrichtungen sind heute beklebt mit Etiketten, die vorgaukeln, dass einleuchtende Bezeichnungen eine Auseinandersetzung überflüssig machen. Sie heißen »Poststrukturalismus«, »Frankfurter Schule«, »Ritter-Schule«, »Neuer Pragmatismus« und »Kybernetik« oder »Konstruktivismus«. Von 1950 bis 1980 stellen sich diese fünf Denkrichtungen als maßgebliche Einflüsse für die nachfolgenden Jahrzehnte heraus. In Deutschland, in Frankreich und den USA finden sie, oft ohne jede Kommunikation untereinander, zu gemeinsamen Problemstellungen und Lösungswegen. Dann wieder treffen sie sich, unerwartet, beäugen einander misstrauisch, gehen unvermutete Wahlverwandtschaften und Verbindungen ein. Sie schwingen zusammen getrennt voneinander. Die »Postmoderne« ist diese seltsame Vielheit und ihre Protagonisten sind der Grund dafür, warum wir sie heute als solche denken können.
Die Hände schwitzen, das Herz klopft, die Gedanken rasen. Gleich ist der Moment gekommen, gleich kommt es darauf an. Jeder, der schon einmal eine Schule besucht, eine Ausbildung gemacht oder studiert hat, kennt diese Erfahrung. Für viele Menschen ist sie so existenziell, dass sie sich in ihren Alpträumen immer wieder mit ihr konfrontiert sehen: Die bereits geleistete, erfolgreich geschaffte Prüfung noch einmal ablegen, noch einmal durchleben müssen – und durchfallen. Das Versagen holt einen doch noch ein, die Zeit läuft unerbittlich ab, der Kopf ist leer. Alles ist wie weggeblasen. Zurück geblieben ist nur ein dumpfes, idiotisches Gefühl.
Da liegt ein weißes Blatt auf dem Tisch, so weiß und leer wie mein Kopf. Meine Augen lesen die Aufgabenstellung, immer wieder, doch ich begreife nichts. Stattdessen höre ich jedes Geräusch im Raum mit überdeutlicher Klarheit, höre Stühle rücken, Menschen husten und schniefen, die Uhr ticken, den Stift des Dozenten, der sich etwas notiert. Ich höre wie die anderen in einen Rhythmus geraten, der mich nicht erfasst, der mich vergessen hat: Lesen, nachdenken, sich über das Blatt beugen, schreiben, innehalten, nachdenken, wieder schreiben. Nur ich schreibe nichts. Ich denke nichts. Ein heißes Gefühl überkommt mich, ich schäme mich, bin hilflos, alleine, ahnungslos. Ich bin hier fehl am Platz, bin hier falsch, kann es nicht, ich kann nichts. Die Zeit ist abgelaufen. Stifte hinlegen, Hände unter den Tisch. Die Blätter werden eingesammelt. Der Dozent blickt mich beim Einsammeln meines leeren Blattes nicht an, sagt nichts, lässt sich nichts anmerken. Es läutet. Ich wache auf.
Auch Jackie sitzt vor einem leeren Blatt. Aber das ist kein Alptraum. Es ist die wichtigste Prüfung seines bisherigen Lebens. Jackie hat seine Heimat El-Biar in Algerien verlassen und die Straße von Gibraltar überquert, zwanzig quälende Stunden Seekrankheit.[1] Er hat die letzten anderthalb Jahre eingesperrt hinter den düsteren Mauern des Lycée Louis-le-Grand verbracht, um sich auf diese Prüfung vorzubereiten. Er hat mit den anderen im großen Schlafraum des Internats geschlafen und sich morgens mit eiskaltem Wasser gewaschen. Für genießbares Essen sind die Internatsschüler mehrfach auf die Barrikaden gegangen.
Die Zeit im Internat hat Jackie buchstäblich krank gemacht. Anfang des Jahres hat er es nicht mehr ausgehalten und ist nach El-Biar zurückgefahren, um sich von den Weinkrämpfen, der Einsamkeit, der Kälte und der heftigen Depression zu erholen, die ihn heimgesucht haben. Seit Ostern ist er wieder da. Er muss zwar nicht mehr ins Internat zurück, aber dafür sitzt er nun in einer Prüfung, von der er nicht weiß, wie er sie schaffen soll. Aufputschmittel, um nachts lernen zu können. Schlafmittel, um die dringend benötigte Ruhe zu finden. Jackie ist am Ende.
Paul-Michel geht es nur geringfügig besser. Zum dritten Mal sitzt er in der Französischprüfung, die eigentlich nur einmal stattfinden sollte.[2] Jede Prüfung dauert sechs Stunden, die ersten beiden wurden nachträglich annulliert. Nach insgesamt zwölf Stunden Prüfung liegen noch einmal sechs Stunden vor ihm.
Paul-Michel besucht die Vorbereitungsklasse in Poitiers, seiner Heimatstadt. Das letzte Jahr war turbulent, denn vor nicht einmal einem Monat endete der große Krieg. Er hat auch in Poitiers seine Spuren hinterlassen. Es mangelt an so ziemlich allem, im Winter vor allem an Heizmaterial. Paul-Michel hat mit anderen Schülern Holz bei der Miliz nebenan geklaut und ist nicht aufgeflogen. Im Sommer vor einem Jahr mussten die Schüler immer wieder Schutz suchen, wenn Bomber über der Stadt auftauchten. In den Wochen nach der Landung der Alliierten fällt die Schule aus.
Doch das bedeutet nicht, dass es keine Prüfung gibt. Paul-Michel gehört zu den eloquenten Schülern der Klasse. Er begeistert sich seit einigen Jahren für Philosophie und liest nach und nach all die Texte, die von den Lehrern behandelt werden. Er fertigt Kopien der Mitschriften aus den Vorjahren an und leiht seinen Mitschülern bereitwillig seine Notizen.
Nun sitzt Paul-Michel mit den anderen in der Prüfung für die Zulassung zum begehrten Stipendium der École Normale Supérieure. Sein Abitur hat er mit guten Noten abgeschlossen. Er musste seinen Vater, Paul Foucault, überzeugen, dass er nicht dieselbe Laufbahn wie er einzuschlagen gedenkt. Das heißt, Arzt oder Chirurg zu werden, so wie der Vater seines Vaters es schon war, der ebenfalls Paul Foucault hieß. Auch der Vater von Paul-Michels Mutter ist Chirurg. Eine Familie von Ärzten und Medizinprofessoren. Nur Paul-Michel will etwas anderes machen. Er will Geschichte und Literatur studieren.
Der Bildungsweg in Frankreich weist einige Besonderheiten auf. Nach dem baccalauréat, kurz »bac«, das dem deutschen Abitur entspricht, gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann direkt an die Universität gehen und studieren. Oder man besucht, oft während des Studiums, zwei weitere Klassen. Eine Art Oberstufe nach der Oberstufe, die dafür gedacht ist, die Aufnahmeprüfung für die Grandes Écoles vorzubereiten. Tatsächlich kann man an diesen Grandes Écoles selbst keine Abschlüsse machen. Dazu müssen auch die Schüler dieser Eliteeinrichtungen die Universität besuchen. Sie bekommen dafür eine Unterkunft und ein Stipendium für vier Jahre. Vor allem aber bekommen sie: Prestige, ausgezeichnete Lehrer, gute Beziehungen zu den anderen Schülern, Zugang zu intellektuellen Kreisen.
Die Geschichte der Grandes Écoles geht auf Napoleon zurück. Mit der Neugründung der Universitäten, die in der Revolution aufgelöst worden waren, schuf der französische Kaiser die Schulen, an denen die französische Beamtenelite ausgebildet werden sollte. Die Grandes Écoles sind also Staatseinrichtungen, die Ausbildung und Förderung anbieten, dafür aber eine enge Bindung an die staatlichen Interessen fordern. Das spezialisierte Beamtentum umfasst Ökonomen und Ingenieure, aber auch die Lehrkräfte, die am Lycée, dem französischen Gymnasium lehren und die Vorbereitungsklassen für die Aufnahmeprüfungen der Grandes Écoles unterrichten. Damit schließt sich der Kreislauf.
Entsprechend hart sind die Aufnahmebedingungen. Jedes Jahr werden von den Grandes Écoles nur wenige Plätze ausgeschrieben. Um diese Plätze konkurrieren dann Bewerber aus ganz Frankreich. Man kann die Vorbereitungsklassen an bestimmten Gymnasien besuchen, manche bieten nur die erste Klasse an, die man umgangssprachlich hypokhâgne nennt. Die zweite Klasse ist dann entsprechend die khâgne. Der Ausdruck selbst stammt wahrscheinlich von einem Spottbegriff ab, cagneux, »x-beinig«. Die Legende will es, dass die Studenten der militärischen Schulen, für die körperliche Ertüchtigung vorgeschrieben war, so die Studenten der humanistischen Schulen bezeichneten: als körperlich unbeholfene Geistesarbeiter.[3] Heute würde man vielleicht »Elfenbeinturmbewohner« sagen und über die Weltfremdheit der Geisteswissenschaftler schimpfen.
Weil die Gymnasien dadurch selbst in eine Art Wettbewerb eintreten, gibt es Gymnasien, an denen die Vorbereitungsklassen vielversprechender sind als an anderen. Die beiden Lycées Henri IV und Louis-le-Grand in Paris gelten als Spitzenreiter. Beide sind ehemalige kirchliche Einrichtungen: Das Lycée Henri IV ist eine ehemalige Benediktiner-Abtei, die während der Revolution säkularisiert wurde, das Louis-le-Grand ein ehemaliges Jesuiten-Collége. Paul-Michel wird, nachdem er in Poitiers gescheitert ist, sein Glück am Lycée Henri IV in Paris versuchen. Und Jackie ist den ganzen Weg von El-Bias in Algerien nach Paris gereist, um seine Chancen in der Prüfung durch den Besuch am renommierten Lycée Louis-le-Grand zu erhöhen.
Doch es hilft nichts. Jackie rasselt durch die Prüfung. Das Blatt vor ihm bleibt leer. Jackie bricht die Prüfung ab.[4]licence