Die Hoffnung der Marienkäfer

Patricia Koelle

Die Hoffnung der Marienkäfer

Ein Inselgarten-Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Patricia Koelle

Patricia Koelle ist eine Autorin mit Leidenschaft fürs Meer – und fürs Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und die Nordsee-Trilogie. ›Die Zeit der Glühwürmchen‹, ›Das Lächeln der Libellen‹, ›Die Träume der Bienen‹, ›Das Geheimnis der Grashüpfer‹ sowie ›Die Hoffnung der Marienkäger‹ gehören zur Inselgärten-Reihe.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Als Kind ist Leonie in einem Mietshaus aufgewachsen, dessen Garten sie nie betreten durfte. Deshalb wuchs in ihr der Wunsch, einen eigenen Garten zu besitzen, wenn sie erwachsen ist. Viele Jahre später steckt sie als erfolgreiche Finanzberaterin in einer persönlichen Krise. Da erinnert sie sich wieder an ihren Kindheitstraum. Ist es jetzt vielleicht an der Zeit, ihn zu verwirklichen? Sie begibt sich auf die Suche nach einem geeigneten Grundstück in Brandenburg und findet mehr, als sie erwartet hätte.

Kaia hadert mit ihrem Studium. Ihre Freundin Remy Kreyhenibbe möchte sie aufheitern. Als sie Kaia bittet, auf der Insel Poel ein Haus anzuschauen, das den Inselgärten in einem Nachlass gestiftet worden ist, macht sie sich auf den Weg und fühlt sich erst einmal unendlich einsam. Doch das Haus und sein Garten hüten ein Geheimnis, das sie schon bald nicht mehr loslässt.

Jeder dieser Gärten strahlt eine besondere Kraft aus. Schaffen es Leonie und Kaia durch diese Kraft, ihre Wunden zu heilen und ihre eigene Stärke zurückzugewinnen?

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

© Patricia Koelle 2022. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

 

Lektorat: Susanne Kiesow

Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491425-1

Bad Oeynhausen

2019

Das Leben weben

Leonie bemerkte erst jetzt, dass sie vor Kälte ganz steif geworden war. Vor allem im Nacken fror sie. »Ich hätte einen wärmeren Schal mitnehmen sollen«, sagte sie zu einer Blaumeise, die erschrocken aufflog, als Leonie von der Bank aufstand. Sie wusste nicht, wie lange sie da allein im launigen Vorfrühlingswind gesessen hatte. Nach dem Vorfall am Morgen immer noch tief in Gedanken, spazierte sie durch den kleinen Ort zurück, den sie sich bis jetzt kaum angesehen hatte. Vor einem Schaufenster blieb sie stehen, unwiderstehlich davon angezogen.

Eine Decke in warmen Rot- und Orangetönen war darin über einen alten Schaukelstuhl gebreitet. Ein Spinnrad stand daneben, und an einer gespannten Schnur hingen Geschirrtücher, eine Weste und ein Poncho, alle mit bemerkenswert schönen Mustern und in klaren, leuchtenden Farben, von denen sie sich sogar hier draußen gewärmt fühlte. Leonie blickte auf das Schild über der Tür.

Handweberei

Eine dunkle Erinnerung flog ihr zu, an den Werkunterricht in der Schule. Ein kleiner hölzerner Webrahmen, ein »Schiffchen«, das sie durch Fäden geschoben hatte, eine Walze, die man drehte und die die Schnüre eine Art Tanzschritt vollführen ließ. Buntes Garn, dessen Reihen sich zu einem Stück Stoff

Leonie öffnete die Tür, an der eine Glocke freundlich bimmelte. Hier würde sie sich aufwärmen können, ein wenig umsehen, vielleicht sogar einen Schal erwerben. Sie hatte sich lange nichts mehr gekauft, wozu auch? Es hatte gar keinen Grund dafür gegeben, fiel ihr mit einem kleinen Schrecken auf. Nichts hatte ihr mehr viel bedeutet.

 

Eine zierliche Frau saß an einem Webstuhl, der Leonie gewaltig erschien. An den Wänden und auf Tischen hingen und lagen noch mehr Tücher, Stoffe, Decken, Jacken. Die Frau blickte auf und lächelte Leonie zu. »Guten Tag, kann ich etwas für Sie tun?«

»Guten Tag! Vielen Dank, aber ich möchte mich nur umschauen. Es sieht alles so schön aus.« Leonie wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. Am liebsten hätte sie alle Stoffe berührt.

»Gern, lassen Sie sich Zeit. Und Anfassen ist erlaubt.« Die Frau nickte ihr ermutigend zu. »Sogar erwünscht.«

Es roch gut hier, nach Wolle, Leinen und anderen Dingen, und die Geräusche, die der Webstuhl machte, waren anheimelnd. Fast als würde er etwas erzählen, in einer Sprache, die Leonie nur noch nicht verstand.

Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Stoffe gar nicht glatt sind. Viele davon hatten Erhebungen, Strukturen, die man mit geschlossenen Augen spüren konnte. Wie kleine Landschaften. Sie befühlte härtere Stoffe und anschmiegsame, leichte und schwere, feste und lockere, mit Fransen und ohne. Sie sah, wie das Licht die Farben veränderte, wenn draußen eine Wolke über die Sonne glitt oder sie unter dem künstlichen Licht in der

»Daher kommt der Ausdruck, den Faden zu verlieren. Aus der Weberei«, sagte die freundliche Frau, die vom Webstuhl aufgestanden war und Leonie über die Schulter blickte. »Wie auch viele andere Redewendungen. An dem Tag war ich abgelenkt. Mein Sohn hatte Liebeskummer. Da habe ich den Fehler nicht rechtzeitig bemerkt und konnte ihn nicht mehr rückgängig machen. Wenn Sie das Geschirrtuch wollen, mache ich Ihnen einen Sonderpreis. Ich bin übrigens Birgit.«

Dann stimmten Leonies Gedanken also. Das Leben der Weberin hinterließ seine Spuren in dem Stoff. Und das Weben hinterließ Spuren in der Sprache. Leben und Weben, das klang nicht nur ähnlich, das hatte auch einiges gemeinsam.

Wenn sie begreifen könnte, wie das Weben ging, vielleicht würde sie dann auch lernen, wie sie die Fäden ihres Lebens ordnen konnte, damit das Gewebe wieder hielt und einen neuen Sinn ergab? Möglichst in freundlicheren Farben als in letzter Zeit.

»Gerne«, sagte sie. »Aber ich möchte mich noch weiter umsehen. Es gefällt mir alles so gut!«

»Das freut mich. Lassen Sie sich Zeit. Sind Sie Kurgast hier?«

»Wie schön. Wenn Sie Fragen haben, ich bin wieder am Webstuhl.«

 

Leonie spazierte weiter durch den Laden und entdeckte überall Schönes. Auch eine kleine ausgestopfte Ente in heiteren Gelb- und Blautönen, in die sie sich sofort verliebte. Der Preis war wesentlich höher als der des Geschirrtuchs, doch sie setzte den Vogel entschlossen neben die Kasse, wo Birgit das Tuch bereitgelegt hatte. Dann sah sie der Weberin eine Weile zu, wie diese die Tritte des Webstuhls bediente, so dass sich die Längsfäden auf eine komplizierte und ausgeklügelte Weise hoben und senkten und Birgits flinke Hände das Schiffchen mit dem andersfarbigen Garn quer hindurchfliegen lassen konnten. Reihe legte sich an Reihe und wurde immer wieder mit einer Art Balken dichter zusammengeschoben. Direkt vor Leonies Augen entstand ein neuer Stoff. Aus den Garnen wurde eine Farbfläche, die den Blick anzog und wohltuend war. Auch der Rhythmus, der Birgits Arbeit bestimmte, besaß etwas Beruhigendes, fast Hypnotisches. Den Geräuschen, die dabei entstanden, hätte Leonie ewig zuhören können. Überhaupt wäre sie am liebsten hiergeblieben. Der ganze Vorgang hatte so etwas Konkretes, Greifbares, Handliches. Er mochte hochkompliziert sein, aber man hatte ihn im Blick, und Birgits Hände besaßen die Kontrolle darüber.

Eben doch anders, als es mit dem Leben war. Da war es schwieriger, alles im Blick und unter Kontrolle zu behalten.

 

»Wie fangen Sie denn an, wenn Sie eine Idee für einen Stoff haben?«, fragte Leonie. Birgit ließ die Hände ruhen und sah auf. »Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee?«

Birgit verschwand um eine Ecke. Leonie umkreiste den Webstuhl und betrachtete fasziniert die Tritte, Walzen, Rahmen, Balken und Hebel, die sich zu einem komplexen Ganzen fügten. Er hatte etwas von einem lebendigen Wesen, und doch beeindruckte sie die ausgefeilte Technik.

Birgit kehrte mit einem Tablett zurück und winkte Leonie in eine enge, aber gemütliche Sitzecke. »So, was wollten Sie wissen?«, fragte Birgit und schob Leonie eine Tasse und einen Teller mit Keksen hin.

»Ärgern Sie sich sehr, wenn Ihnen beim Weben ein Fehler passiert?«, platzte sie heraus.

Birgit lachte. »Ja, anfangs schon. Aber es geschieht nicht mehr oft, und wenn doch, lehrt es mich etwas über mich selbst. Es zeigt mir, dass ich unkonzentriert war, und oft wird mir dabei bewusst, was mir gerade wichtig ist oder mich belastet. Das ist ganz gut so. Meist behalte ich solch einen Stoff dann selbst, weil er mich an etwas Bestimmtes erinnert. Und außerdem gibt ein Fehler dem Gewebe auch einen ganz eigenen Charakter.«

Der heiße Kaffee tat gut, und Birgits Worte auch. Leonies Eindruck, dass sie hier etwas lernen könnte, verstärkte sich. Das, was Birgit gerade gesagt hatte, hätte ihr heute früh geholfen, als sie so plötzlich hinausgelaufen war und alle vor den Kopf gestoßen hatte.

Hier in diesem Laden voller Farben und Fäden lag vielleicht der Schlüssel zu ihrer Zukunft, den sie so dringend suchte.

 

»Sie hatten gefragt, wie ich anfange, wenn ich eine Idee habe«, fuhr Birgit fort. »Es ist so, dass das Weben an sich nur das Tüpfelchen auf dem i ist. Die Belohnung sozusagen. Denn bevor

Leonie nickte eifrig. »Doch. Ich habe das Gefühl, es ist gerade genau das Richtige für mich. Sie sagten, es gibt viele Ausdrücke im Alltag, die aus der Weberei stammen. Welche denn noch außer dem ›verlorenen Faden‹?«

»Zum Beispiel ›sich verzetteln‹. Die langen Längsfäden, die auf den Webstuhl gespannt werden, damit man nachher mit dem Schiffchen die Querfäden hindurchschießen kann, nennt man die ›Kette‹. Die geplante Reihenfolge dieser Kettfäden heißt ›Zettel‹. Wenn man sich verzählt, dann hat man sich eben verzettelt und kriegt nur mit viel Mühe die Fäden wieder zusammen.«

Leonie nickte und nahm sich einen Keks. Im Verzetteln war sie letztens Meisterin gewesen. So viel hatte sie schon begriffen. Hoffentlich konnte man lernen, die Fäden wieder zusammenzubekommen.

»Wie lange sind Sie denn noch hier?«, erkundigte sich Birgit. »Sie könnten einen Kurs bei mir machen. So was biete ich an.«

»Das klingt gut! Was macht man denn da genau?«

»Meine Anfängerkurse haben den Zweck, die Teilnehmerinnen dazu zu bringen, ein Projekt zu berechnen und

»Wirklich?« Leonie spürte eine freudige Aufregung, wie sie sie schon lange nicht mehr gekannt hatte. »Das wäre ja perfekt! Ich habe eine Verlängerung bekommen. Ich bin noch eine Weile hier.«

Birgit lächelte. »Und die älteren Patienten in der Kurklinik sind nicht ganz die richtige Gesellschaft für Sie, was?«

»Auf Dauer nicht«, gab Leonie zu. Sie schätzte Birgit auf etwa ihr eigenes Alter. Ein paar Jahre über fünfzig. Vielleicht etwas jünger.

»Na, dann, zu welcher Tageszeit sind Sie denn mit Ihren Behandlungen fertig?«

»Am Spätnachmittag meistens.«

»Gut, sagen wir um sechzehn Uhr dreißig? Am besten täglich, denn es gibt viel zu lernen. Oder ist Ihnen das zu oft?«

»Nein, gar nicht«, versicherte Leonie eifrig. Sie konnte es kaum erwarten, die Fäden in der Hand zu spüren.

Über den Preis wurden sie sich schnell einig.

 

»Wie ist das mit den Farben?«, hakte Leonie nach, während sie den Kaffee austranken. Farben, das war das Thema, das sie nach heute früh am meisten beschäftigte. »Wie entscheiden Sie sich für eine Kombination, wenn Sie einen Plan machen?«

Birgit dachte nach. »Na ja, ich habe natürlich Lieblingsfarben. Zum Beispiel Weinrot und Seeblau. Manchmal richte ich mich nach Kundenwünschen, die oft überraschend sind. So ein Stoff

Diese Leidenschaft möchte ich auch wieder für etwas spüren, erkannte Leonie voller Sehnsucht.

Birgit stand auf. »Sind wir uns also einig? Möchten Sie den Kurs machen?«

»Unbedingt. Ich freue mich sehr!« Leonie sah sich suchend um. »Mir fällt ein, ich brauche unbedingt noch einen Schal. Einen warmen.«

Birgit zeigte ihr ein Regal in der Ecke. »Dann sehen Sie sich doch dort mal um. Ich komme gleich wieder. Ich hole noch schnell den Vertrag für den Kurs und eine Broschüre, da können Sie schon einiges über das Weben nachlesen.«

»Oh ja, gerne, danke.«

 

Birgit verschwand, und Leonie inspizierte die Ware in dem Regal. Sie entdeckte mehrere Farbkombinationen, die ihr sehr gut gefielen, und merkte, dass sie bereits zu überlegen begann, wie sie diese verändern würde, wenn sie womöglich eines Tages selbst etwas Ähnliches herstellen konnte. Ihre Phantasie, so lange vergessen und vernachlässigt, begann, sich wieder zu regen. Das tat unendlich gut. Sehr viel besser als die Tropfen, die man ihr in der Klinik verschrieben hatte.

Sie fand einen Schal in Karminrot, zart von Blautönen

Sonst hätte sie ja auch diesen wunderbaren Laden nie gefunden.

Leonie entschied sich für den wärmeren Schal und legte die anderen, die sie aus den Fächern gezogen hatte, wieder zurück. Dabei kippte ein Stapel um, den sie noch gar nicht entdeckt hatte. Leonie richtete ihn gerade. Der untere Schal aber fiel dabei zu Boden. Als sie ihn aufhob und das Garn sah, erstarrte sie.

Das Tuch war in denselben vielschichtigen Grüntönen gewebt, die sie heute Morgen so aus der Fassung gebracht hatten. Die auf dem Bild, vor dessen Anblick sie Hals über Kopf geflüchtet war.

Doch diesmal war sie dem vielen Grün ganz nahe. Diesmal hatte sie es in der Hand. Es kam förmlich auf Leonie zu und umhüllte sie mit seinem Leuchten. Leonie klammerte sich an den Stoff, verlor sich in dem weichen Gefüge aus Farben und war auf einmal wieder sieben Jahre alt.

Berlin

1974

Verbotenes Paradies

»Aber warum denn nicht, Uli? Warum darf ich nicht in den Garten?«

Leonie stellte diese Frage, seit sie sich erinnern konnte. Die Antwort war unweigerlich dieselbe. »Weil es Familie Marchands Haus und Garten ist und sie das nicht möchten.« Ihr Vater beantwortete die Frage mit unendlicher Geduld, ebenfalls seit sie sich erinnern konnte.

»Aber ich bin doch jetzt schon größer. Ich falle bestimmt nicht mehr in den Teich!« Das war einer der Gründe, die man ihr genannt hatte. Frau Marchand befürchtete, ein so kleines Kind könnte im Teich ertrinken und dass es dann ihre Schuld sei. Und dass so ein Kind in die Beete treten oder die Blumen ausreißen würde. Leonie war es schleierhaft, warum jemand auf den Gedanken kommen sollte, Blumen auszureißen.

»Sie wollen unter sich bleiben und nicht gestört werden. Es ist ihr gutes Recht«, erklärte Uli zum zigsten Male. »Wir gehen morgen einfach in den Grunewald, ja? Oder zum See, wenn du möchtest. Du darfst es dir aussuchen.«

Leonie gab auf. Für diesmal. See war auch schön. Dort konnte man hölzerne Boote ausleihen, und Uli ruderte sie aufs Wasser hinaus, wo sie ein Picknick machten und den Haubentauchern und Schwänen und dem Graureiher zusahen. Manchmal sprang sogar ein Fisch.

 

 

Sie nannte Uli nicht Vater. Erst im Kindergarten bemerkte sie, dass das ungewöhnlich war. Bei ihr war eben einiges anders. Sie hatte keine Mutter, und die Freunde, die mit Uli Skat spielten und Leonie Geschichten erzählten und ihr Kekse mitbrachten, nannten ihn natürlich alle Uli und nicht Vater. Sie kannte es einfach nicht anders. Wenn sie einschlief, hörte sie die Männer unten lachen und Karten mischen und wusste, es war alles in Ordnung. Sie konnte gut dabei einschlafen.

Später brachten sie ihr Schach bei, und als sie in die Schule kam, gab es immer einen von ihnen, der ihr bei den Aufgaben half. Gerd war für Mathe zuständig, Franz für Biologie und Eddie für Englisch. Manchmal spielten sie auch auf ihren Gitarren oder tanzten zu Musik, und Leonie tanzte mit. Eigentlich fehlte ihr keine Mutter. Natürlich war es traurig, dass diese an einer Embolie gestorben war, als Leonie geboren wurde. Eine Embolie stellte sie sich so ähnlich vor wie Pegasus, das geflügelte weiße Pferd. Vielleicht hatte sie die Mutter in den Himmel getragen.

Doch Uli war immer für Leonie da. Er konnte jedes Problem

»Das musst du in der Schule auch«, sagte er, »und später, wenn du arbeiten gehst. Besser, du übst es von Anfang an. Wenn man sich daran hält, muss man auch nie ein schlechtes Gewissen haben. Von einem schlechten Gewissen bekommt man nur Bauchschmerzen.«

Leonie fügte sich, weil sie schon manchmal gehört hatte, wie Herr Marchand den Briefträger anschnauzte. Die nette Brigitte dagegen, die Frau Marchand helfen kam, steckte ihr manchmal durch das Fenster im Souterrain einen Lutscher zu. Leonie wollte nicht, dass einer von ihnen auf Uli böse war, nur weil sie über das Tor hinweg auf den Ruf des Gartens gehört hatte. Uli arbeitete zwar nicht für die Marchands. Er war Klempner bei einer Firma. Aber Uli und Leonie durften günstig in der kleinen Wohnung unten wohnen, weil er im Winter Schnee schippte und im Sommer kehrte, die Garagentore ölte und vor allem die kaputten Rohre und Wasserhähne reparierte, die immer wieder einmal in dem großen alten Haus tropften. Es war eine schöne Wohnung, hell und mit einem Kamin, in dem man Feuer machen konnte. Sie wollten nicht ausziehen. Woanders hätten sie sich ja auch keinen Garten leisten können, sagte Uli.

 

Außerdem war da etwas, das den verbotenen Garten erträglich machte. Denn vor der Wohnungstür, die an der Seite des

Daneben erhoben sich rechts und links Pfeiler aus roten Backsteinen, und an den Pfeilern wuchsen zwei alte Rosen. Eine gelbe und eine weiße, deren Blütenblätter zarte rosa Ränder bekamen, wenn sie sich weit geöffnet hatten. Sie waren so alt, dass ihr Stamm und ihre Äste ganz knorrig waren. Man sah ihnen an, dass sie viel erlebt und vielen Wintern getrotzt hatten. Aber Uli beschnitt sie jedes Jahr sorgfältig, und Leonie half ihm, sie zu düngen, und dann blühten sie den ganzen Sommer lang immer wieder. Wenn ein Windstoß kam, ließen sie Blütenblätter auf Leonie und das Gras herabrieseln. Und manchmal trieben diese wie Schnee durch die offene Tür in die Wohnung, und Leonie legte Bilder daraus.

Die Bienen mochten die Blüten auch. Sie tauchten so tief hinein, dass sie ganz darin verschwanden, und Leonie wäre auch gern klein genug gewesen, um das zu können. Dann hätte sie heimlich und praktisch unsichtbar in den verbotenen Garten spazieren können. Eine Weile lang legte sie das Buch von Nils Holgersson unter ihr Kopfkissen. Der war so winzig gezaubert worden, dass er auf einer Wildgans mitfliegen konnte. Aber es nützte nichts. Leonie schrumpfte nicht auf Bienengröße.

Die Rosen immerhin waren ihre Freunde, und sie stellte sich einfach vor, dass sie ein Tor zu einer Welt waren, in die sie eintreten durfte, wenn sie erwachsen war. Eine Welt, in der ihr all die Farben und Grüntöne gehörten, wann immer sie wollte, und

 

Leonie sah Uli zu, wenn er zum Monatsende am Tisch saß und rechnete, ob das Geld für ihre neue Schulmappe reichen würde oder die Wanderstiefel, die er sich wünschte. Meistens bekamen sie das hin, und wenn nicht, machte er Überstunden und dann ging es eben im nächsten Monat.

Leonie hockte sich zu den Rosen und flüsterte ihnen ein Geheimnis zu. »Wenn ich groß bin, werde ich ganz viel Geld verdienen. So viel Geld, dass ich den Marchands das Haus abkaufen kann. Dann gehört der Garten uns, und niemand kann mich mehr aussperren.« Uli wollte sie das nicht erzählen, damit er nicht traurig wurde, weil das Geld noch nicht reichte. Aber die Rosen würden ihren Plan nicht verraten. Sie vertraute ihnen völlig.

Die Rosen waren kräftig geworden von all den Jahren, in denen der Regen fiel und die Sonne auf sie schien und Uli sie düngte und Leonie ihnen die Geschichten erzählte, die sie von Ulis Freunden gelernt hatte. Doch im Frühling hatten sie ein ziemlich großes Problem. Denn wenn die Blätter und die ersten Knospen endlich zu sehen waren, kamen auch die Läuse. Die schwarzen und die grünen und die gelben, ganze Familien von ihnen stürzten sich auf die zarten Triebe. Es wurden sehr schnell richtige Armeen, und sie waren alle hungrig. Sie saugten den Saft heraus, und die Knospen begannen zu welken. Leonie war untröstlich und sehr wütend auf die Läuse. Sie wollte, dass Uli etwas dagegen tat und die Knospen rettete, aus denen doch Blüten werden sollten. Er wusste ja sonst immer eine Lösung.

Aber Uli setzte sich auf die Mauer und zog Leonie auf seinen Schoß. »Siehst du die Blaumeise da?«

»Siehst du, was sie machen?«

»Sie essen die Läuse. Aber sie schaffen es nicht. Es sind viel zu viele!«

»Ja, aber stell dir vor, wir würden die Läuse jetzt vergiften, und es wären keine mehr da. Was würden die Meisen denn dann fressen? Womit würden sie ihre Jungen füttern?«

»Die sollen die Mücken essen.«

Uli schmunzelte. »Stell dir mal vor, wir hätten kein Brot mehr zum Frühstück. Bloß noch Marmelade. Oder umgekehrt. Würde dir das gefallen?«

Leonie dachte nach. »Nee. Du meinst, das wäre bestimmt nicht gut für die Meisenkinder?«

»Ja, da bin ich mir ganz sicher. Viele Vögel sind auf viele Läuse angewiesen. So viele Mücken oder Raupen gibt es doch um diese Jahreszeit noch gar nicht.«

»Die Raupen sollen sie ja auch gar nicht fressen. Da werden doch Schmetterlinge draus!« Leonie war erschrocken.

»Siehst du. Und deswegen ist es gut, dass es die Läuse gibt.«

»Aber die Knospen!« Leonie war den Tränen nahe, weil Uli die nicht retten wollte.

»Ja, diese werden nicht mehr blühen. Aber wenn du lange genug wartest, dann kommen die Retter. Wie in den Märchen.«

»Was für Retter?« Leonie wurde neugierig und vergaß ihre Tränen.

»Die Marienkäfer!«, verkündete Uli triumphierend. »Sobald es wärmer wird, kommen sie aus ihren Winterquartieren und verstecken ihre Eier unter den Blättern und in den Ritzen der Rinde. Ein einziger Käfer kann viele Hundert Eier legen. Und aus all den Eiern schlüpfen Larven, die sehr, sehr hungrig sind.

»Wie bei den Schmetterlingen?«

»Ja, ganz genau. Etwa eine Woche später werden dann Käfer daraus. Am Anfang haben sie noch keine Punkte, da wirst du sie vielleicht nicht erkennen, aber nach ein paar Stunden sind sie dann fertig. So ein Käfer frisst in seinem Leben bis zu fünftausend Blattläuse. Das sind viel mehr, als du dir vorstellen kannst. Du wirst sehen«, Uli strich Leonie die Haare aus dem erhitzten Gesicht, »dann geht es den Rosen ganz schnell wieder gut!«

»Aber davon werden die Knospen doch nicht wieder heil.«

»Nein, diese nicht. Aber die Rose treibt dann neue, und das sind umso mehr. Erinnerst du dich denn nicht, wie schön sie letztes Jahr war? Sie schafft das jedes Mal. Die Läuse sind nicht nur für die Meisen wichtig. Auch für die Käfer!« Er lächelte sie an. »Die Marienkäfer und auch die Schmetterlinge, die du so gern magst, sind der beste Beweis dafür, dass es zwischen Menschen und Insekten ein Band gibt. Wir helfen uns gegenseitig. Aber das geht nur, wenn man sie leben lässt. Nicht, wenn man sie vergiftet und ihnen ihren Lebensraum wegnimmt. Du willst doch nicht, dass es eines Tages keine Marienkäfer mehr gibt, weil wir die Läuse vernichtet haben?«

Nein, das wollte Leonie natürlich nicht. Sie ließ so gern einen Marienkäfer ihren Finger hochkrabbeln, was so schön kitzelte, und sah dann zu, wie er in den blauen Himmel flog. Möglicherweise sogar in den verbotenen Garten. Vielleicht nahm er einen Gruß von ihr mit. Außerdem behauptete Eddie, dass die Käfer

»Aber das dauert ja alles noch so lange! Ich will, dass die Rose jetzt blüht«, widersprach sie.

»Liebe Leonie, wenn du mit Blumen befreundet sein willst, dann musst du Geduld haben. Sie brauchen Zeit zum Wachsen und zum Blühen, genau wie du. Erst muss es warm werden, denn sie brauchen genug Sonne und Regen und gute Erde, in der sie ihre Wurzeln ausstrecken können. Außerdem den Himmel zum Hineinwachsen. Und eben auch die Zeit, mit den Läusen und anderen Problemen fertigzuwerden. Das macht sie stark. Du wirst doch auch immer besser im Schach, je öfter du spielst.«

Das stimmte. Darauf war sie stolz. Neulich hatte sie Gerd zum ersten Mal besiegt. »Wenn du Schach gut kannst, wirst du mit jedem Problem fertig«, hatte der gesagt. »Es lehrt dich nämlich, die Dinge klug anzupacken.«

 

Die Rosen konnten das anscheinend. »Bist du denn ganz sicher, dass die Marienkäfer kommen?«, fragte sie Uli. »Wo sind sie denn im Winter?«

»Ich bin absolut sicher, dass sie kommen«, versprach er. »Die Marienkäfer sind nämlich Meister der Geduld. Von ihnen kannst du lernen. Alle guten Gärtner haben viel Geduld. Vertrau den Käfern! Wenn es kalt wird, sammeln sie sich in großen Gruppen, damit sie sich gegenseitig wärmen können und im Frühling gleich einen Partner finden. Dann suchen sie sich einen geschützten Platz in einem Laubhaufen oder unter einem Stein, vielleicht auch in einem hohlen Baum oder unter einem Stück Rinde. Feucht sollte es dort sein. Da können sie sogar

Dann mache ich das auch so mit dem Garten, beschloss Leonie. Ich habe Geduld und warte, bis ich groß bin und ihn kaufen kann.

»Ja, vertraue unbedingt den Käfern«, sagte auch Franz, als sie ihm berichtete, was Uli ihr erklärt hatte, und ihn fragte, ob auch er glaube, dass die kleinen Helfer wirklich kommen und die Rosen retten würden. »Vertrau ihnen, denn du weißt ja: Marienkäfer sind Glückskäfer. Wenn du nicht auf das Glück vertraust, dann kommt es nämlich auch nicht.«

 

Also wartete Leonie. Die Läuse wurden immer mehr, und die Knospen verwelkten. Dann, eines Tages, entdeckte sie komische längliche Wesen, viel größer als die Läuse. Sie waren schwarz und hatten gelbe Punkte. Sie erschrak. Ob das Riesenläuse waren? Oder Schlimmeres? Aber Uli freute sich. »Siehst du, das sind die Larven! Alles wird gut.«

Bald darauf flogen viele Marienkäfer umher, und alle, die Leonie irgendwo sah, nahm sie auf den Finger und setzte sie an die Rosen. Wenig später gab es neue Knospen, viel mehr diesmal. Die Läuse waren fort. Die Blüten öffneten sich und begannen zu duften.

 

Im Herbst passte Leonie nun auf, dass nicht alles Laub aufgefegt wurde, wenigstens nicht unter den Rosen. Sie brachte Steine

»Nein, die sind nicht tot«, tröstete Uli sie. »Warte ab, und du wirst sehen!«

Leonie glaubte ihm nicht. Bis sie im Frühling beobachtete, wie die Käfer begannen, munter davonzukrabbeln, viele davon zu zweit.

Es würde noch furchtbar lange dauern, bis sie erwachsen war und genug Geld verdient hatte, um den Garten kaufen zu können. Aber wenn die Käfer es schafften, so lange auszuharren, voller Hoffnung auf andere Zeiten –, dann würde sie das auch können.

Bad Oeynhausen

2019

Silbertropfen

Sie hatte es tatsächlich gekonnt. Aber sie war irgendwann nicht wieder aufgetaut, dachte Leonie jetzt, während sie auf den Schal starrte, der dieselben flirrenden, warmen Grüntöne trug wie damals der verbotene Garten, in den sie nur von weitem hatte über den Zaun hineinspähen können. Der Stoff hatte endgültig die Erinnerungen in ihr geweckt, die das grüne Bild an der Klinikwand bereits heute früh so unvermutet in ihr aufgestört hatte. Da hatte sie noch nicht gewusst, warum sie das Bild so beunruhigte.

 

Sie hatte inzwischen geschafft, was sie sich vor so langer Zeit vorgenommen hatte. Sie war erfolgreich geworden, erfolgreicher als ihre Kollegen und Konkurrenten, weil Geduld ihre große Stärke war. Das hatte sie vielen voraus. Sie hatte Geld verdient, reichlich, genug für ihren Zweck. Aber irgendwann hatte sie sich nicht mehr bremsen können. Sie hatte so viel Geduld gehabt, dass sie nicht mehr damit aufhören konnte.

Den Garten, der ihr Traum gewesen war, gab es nicht mehr. Das Haus war längst verkauft und abgerissen worden. Moderne Wohnblocks erhoben sich dort, wo Leonies unerreichbares Märchenland gewesen war.

»Es muss doch nicht genau dieser Garten sein«, hatte Uli sie getröstet. »Du kannst dir einen ganz eigenen suchen. Es würde dich glücklich machen. Jetzt kannst du es dir leisten. Warte nicht zu lange.«

Leonie hatte sich halbherzig nach Häusern mit Gärten umgesehen. Aber sie wollte nicht weit weg von ihrem Büro wohnen. Nicht nur deshalb sagte ihr nichts zu, was der Makler ihr anbot. Nichts war so, wie sie es sich wünschte.

Vielleicht später einmal. Vielleicht, wenn sie noch mehr Rücklagen hatte. Vielleicht musste sie einfach noch länger Geduld haben, um zu finden, was sie schon immer gesucht hatte.

Also hatte sie Geduld, und noch mehr Geduld. Auch als Eliot längst erwachsen und aus dem Haus war. Und irgendwann war sie von all dieser Geduld erstarrt gewesen wie die Marienkäfer im Fensterwinkel vom Frost und einfach nicht mehr in Bewegung geraten.

»Ist etwas passiert?«, fragte Birgit hinter ihr erschrocken. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«

»Ja, das habe ich wohl sozusagen«, gab Leonie zu. »Diese Farben haben mich an etwas erinnert.«

»Das tut mir aber leid, wenn es eine schlechte Erinnerung war.«

Leonie schüttelte den Kopf. »Nein. Es war gut. Es war ganz wichtig! Ich möchte diesen Schal in Grüntönen, er ist wunderschön.«

Als sie draußen war, entdeckte sie einen Blumenstand an der Straße und nahm einen Strauß Narzissen und Tulpen mit. Sie musste sich noch bei jemandem entschuldigen.

 

Bis sie den Pinsel hingeworfen hatte und wortlos aus dem Raum gestürmt war. Draußen hatte sie sich einen Augenblick an die kühle, betont heiter gestrichene Wand des Klinikflurs gelehnt.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie weinte. Dieser Kurs machte ihr doch Freude! Auch wenn sie sich anfangs albern vorgekommen war, sich mit so scheinbar nutzlosen Dingen zu beschäftigen. Letzte Woche hatten sie Knüpfen gelernt. Meisterwerke hatte sie nicht zustande gebracht, aber es war erholsam gewesen, nur an den nächsten Knoten zu denken. Vielleicht war es, weil sie sich zunehmend am falschen Ort fühlte? Die meisten anderen hier waren so viel älter als Leonie. Sie redeten hauptsächlich über ihre neuen Hüftgelenke.

Doch nein, das war es nicht. Es hatte an dem Bild gelegen, das im Werkraum an der Wand hing und Leonie immer unruhiger machte, je öfter sie es ansah. Es war in Grüntönen gehalten, und erst auf den zweiten oder dritten Blick begannen sich Büsche und Bäume anzudeuten, Gras vielleicht, und ganz hinten eine Ahnung von Licht, von Sonne auf Blüten. Nichts Bedrohliches, ganz im Gegenteil, und doch zog und zerrte es an etwas in Leonies Innerstem und weckte darin eine tiefe Traurigkeit.

 

Sie war die Wege entlanggelaufen, an Rabatten mit Farbklecksen aus Krokussen und Winterlingen vorbei und an einsamen Statuen, dann hatte sie eine Brücke überquert, unter der dunkel die Werre floss. Leonie blieb stehen und sah hinunter auf zwei Erpel, die sich dort um ein Entenweibchen stritten. Das warf den beiden bloß einen kurzen Blick zu und verschwand dann im Schilf, wo es nach Käfern tauchte.

So ein Fluss hat es gut, dachte Leonie. Der hat sein vorgeschriebenes Bett und muss einfach immer nur vor sich hinfließen, ohne darüber nachzudenken, wo entlang es richtig ist. Doch dann fielen ihr die Biber ein, die Staudämme bauten, und Menschen, die Ufer begradigten, Schlammlawinen, die einen Flusslauf blockierten, und Erdbeben, die ihn verschieben konnten. Überschwemmungen, die alle Konturen auflösten. Nein, ein Fluss hatte es wohl auch nicht leichter.

 

Der Wind fuhr ihr in die Haare und schlug sie ihr um die Ohren. Irritiert strich sie sie zurück und wanderte weiter. Darum musste sie sich kümmern. Immer hatte sie einen akkuraten Pagenschnitt getragen, hatte auf ein adrettes Aussehen geachtet, wie es sich für ihren Beruf gehörte. In letzter Zeit hatte sie das schleifen lassen. Zum Friseur zu gehen war einfach zu viel gewesen. Sie hatte immer diese Schmerzen hinter den Augen, hinter der

Die Kopfschmerzen hatten Leonie zermürbt, bis sie sich fühlte wie aus dünnem Pergament. Und dann kam schließlich der Schwindel hinzu.

»Wir haben jetzt wirklich alle organischen Ursachen ausgeschlossen«, hatte ihre Ärztin gesagt, die Leonie schon lange kannte und der sie vertraute. »Und auch alle Nahrungsmittelunverträglichkeiten und möglichen Allergien. Ihr Zustand, liebe Frau Seiler, muss andere Ursachen haben! Stress, unbewältigte Probleme? Sagen Sie es mir.«

Doch Leonie hatte keine Worte gefunden. Nicht einmal Bilder in ihren Gedanken. Nur Nebel und den Strudel aus Schmerzen, der sie immer tiefer in sich hineinzog.

»Ich würde Ihnen dringend zu einer Kur raten«, verkündete die Ärztin in das hilflose Schweigen hinein. »Spricht irgendetwas dagegen?« Ihre Augen unter dem weißen Pony blickten gütig und verständnisvoll. »Wie geht es eigentlich Eliot? Ist er noch in Spanien?«, fragte sie, als keine Antwort kam.

Wahrscheinlich wollte sie Leonie daran erinnern, dass ihr Sohn schon längst keine Ausrede mehr war. Frau Dr. Herder hatte ihn auch schon behandelt. Sie hatte seine Pubertät mitbekommen, sein Stipendium an der Musikhochschule in Madrid und dass er jetzt, mit siebenundzwanzig, ein renommierter Pianist war. Die Ärztin war ein wandelnder Computer, was ihre Patienten anging.

»Ja, es geht ihm gut«, sagte Leonie. »Ich denke, er ist glücklich. Ich höre es an seiner Stimme. Und die Kritiken sind alle hervorragend.«

Dr. Herder war nicht die Erste, die Leonie zum Handeln drängte. Schon einige ihrer Kunden hatten sie auf ihr offenbar mitgenommenes Aussehen und sogar auf ihre mangelnde Konzentration angesprochen. Sie würde ihren guten Ruf verlieren, wenn sie so weitermachte. Das Wort aber, das ihr den endgültigen Anstoß gab, war Dr. Herders Bemerkung, dass Leonie sich in einem »Zustand« befände. Das machte ihr Angst. Da wollte sie raus. Vor allem weg von diesen unablässigen Kopfschmerzen.

 

Und so hatte sie sich Mitte Februar in diesem Kurort wiedergefunden, der auf sie wirkte wie eine völlig fremde Welt. So still. So viele alte Menschen. So völlig entfernt von der breiten, turbulenten Straße, in der ihr Büro zwischen hohen Häusern voller Arztpraxen lag. Hier ging es nicht um Aktien und Goldpreise, Fonds, Risiko und Stop-Loss-Limits. Nicht um Kredite für neue Röntgenapparate oder Investitionen in weitere Räume. Stattdessen sprach man über Arthrose oder das Essen in der Klinik, über Herzrasen und die Enkelkinder. Darüber, ob die Kardiologin wohl ein Verhältnis mit dem Koch hatte und wie sich der junge Psychologe diesen Sportwagen leisten konnte. Es erschien Leonie alles entsetzlich trivial, und die Ruhe war für sie beängstigend und leer.

Die Behandlung begann, ihr schließlich dennoch gutzutun oder vielleicht gerade deswegen. Besonders die

Dort gab es noch andere Patienten mit Kopfschmerzen. Sie saßen im Kreis, wo Leonie sich albern vorkam. Das letzte Mal, als sie so gesessen hatte, war bei einem Spiel auf einer Klassenfahrt ins Fichtelgebirge. Das war dreiundvierzig Jahre her.

Doch dies hier war kein Spiel. Jeder musste seine Schmerzen beschreiben, reihum. Wie diese sich anfühlten, wann sie auftraten. Leonie hörte zu und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass es guttat, nicht mehr die Einzige mit diesem Problem zu sein. Sie hatte ein schlechtes Gewissen bekommen, als sich keine körperliche Ursache dafür gefunden hatte. War sie denn so eine empfindliche, hysterische Person, dass sie sich das alles nur einbildete? Nun aber erfuhr sie, dass es anderen ähnlich ging wie ihr. Und dass sie sich auch alle dafür schämten.

»Das brauchen Sie nicht mehr«, sagte die Therapeutin energisch. »Nun haben Sie ja den ersten Schritt getan, etwas zu ändern. Ursachen gibt es immer. Wir müssen sie nur finden. Was machen Sie denn beruflich?«

»Finanzberaterin«, sagte Leonie, als sie dran war. »Spezialisiert auf Arztpraxen.«

»Gut. Nun die Hausaufgaben«, erklärte die Therapeutin zum Schluss und verteilte leere Zettel. »Bis zum nächsten Mal schreiben Sie auf, warum Sie genau diesen Beruf ergriffen haben.«

»Ich habe keinen Beruf«, sagte einer.

»Kein Problem. Dann schreiben Sie auf, warum das so ist.«

Die anderen in der Gruppe waren zum Teil sogar jünger als Leonie, aber die waren ambulante Patienten und eilten aus der

 

Manchmal war der Behandlungsplan so vollgestopft, dass sie gar nicht zum Nachdenken kam. Darüber war sie im Grunde froh. Heute früh war gleich Sport gewesen, danach die Kreativgruppe. Aber dann hatte das grüne Bild sie unerwartet völlig durcheinandergebracht. Sie hatte noch immer nichts geschrieben. Und jetzt irrte sie hier herum.

Sie ließ den Fluss fließen und lief weiter. Das Gras auf den gepflegten Flächen begann, nach den kalten Monaten gerade wieder zu wachsen und den Winter hinter sich zu lassen. Die Halme richteten sich auf, aus Braun wurde hoffnungsvolles Hellgrün. Leonie wünschte, sie würde sich genauso fühlen. Immerhin waren die Kopfschmerzen heute erträglich, sie hatten sich zurückgezogen, als würden sie den Atem anhalten und auf etwas warten.

Vor sich entdeckte sie im Morgenlicht einen riesigen Schatten. Sie legte ihre Hand über die Augen und den Kopf in den Nacken, um zu erkennen, was es war. Eine gewaltige, breite Wand stand da, auf beiden Seiten von Pfählen gestützt. Drumherum lief ein Bohlenweg, an dem entlang Bänke standen. Leonie vernahm ein Plätschern. Die Wand war dunkel, und doch glänzte sie unwirklich silbern.

Das musste die Anlage zur Salzgewinnung sein, von der sie gelesen hatte. Gradierwerk nannte man das. Es war der Nachbau einer historischen Anlage und stand hier, weil es den

Die Wand stand da mit ihren acht Metern Höhe so fest und aufrecht, wirkte so beruhigend solide, dass sie Leonie seltsam anzog, ebenso wie das gleichmäßige Rieseln der Sole, die aus einem Brunnen darüber gepumpt wurde.

Gebaut war die Wand aus dicht gepackten Büscheln von Schwarzdornreisig, an denen das Wasser langsam und gleichmäßig herabrieselte. Dadurch verdunstete es, und der Salzgehalt der Luft erhöhte sich.