Harald Schmidt
Mulatten in gelben Sesseln
Die Tagebücher 1945–52
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
Und die FOCUS-Kolumnen
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Harald Schmidt tritt im Fernsehen auf. Zwischendurch veröffentlicht er aber immer wieder Bücher, u.a. »Tränen im Aquarium«, KiWi 1993, »Warum?«, KiWi 1997, »Wohin?«, KiWi 1999, »Quadrupelfuge«, KiWi 2002 und »Avenue Montaigne«, KiWi 2004.
Ein Buch wie ein Orkan
In diesem Buch veröffentlicht Harald Schmidt vorab Auszüge aus seiner Autobiographie. In den Tagebüchern 1945–52 geht es vor allem um das Hollywood der Siebzigerjahre, in dem Schmidt eine zentrale Rolle spielte. »Wenn ich an all die scharfen Bräute denke, die schon morgens auf dem Studiogelände auf mich warteten, tut es mir Leid, dass ich die meiste Zeit so zugedröhnt war. Aber so ging es auch Jack, Hal und Marty. Trotzdem drehten wir jeden Tag bis zu 200 Takes, und abends schmissen wir das Material in irgendeinen gottverdammten Pool. Vollkommen wahnsinnig, aber so waren wir damals.«
Im 2. Teil des Buches erhält der Käufer zusätzlich eine Auswahl an FOCUS-Kolumnen (statt DVD oder Reisetoaster).
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41125-6
Wem sonst als Dir
Für Susette Gontard, ohne deren finanzielle Unterstützung die zwölf Jahre dauernde Arbeit an diesem Buch nicht möglich gewesen wäre.
Basel, im Juni 19..
Für Töchter edler Herkunft
Töchtern edler Geburt ist dieses Werk zu empfehlen,
um zu Töchtern der Lust schnell sich befördert zu sehen.
GOETHE, XENIEN
Nach mir ist alles im Arsch.
CHARLES DE GAULLE
Ein Verlag. Ein Autor. Eine Idee.
Wie kam es zum Plan, den Vorabdruck meiner Autobiographie in diesem Buch zu starten?
Die nicht immer bequeme Wahrheit folgt exklusiv im nächsten Kapitel »Nächtliches Angebot«.
PS:
Blaise Pascal, geboren am 19. Juni 1623 in Clermont-Ferrand, ist am 19. August 1662 in Paris gestorben.
Die Ständigen Auseinandersetzungen mit Brando hatten mich ermüdet.
»Hm, hm.« Nachdenklich sog Helge Malchow an seiner Pfeife und legte noch ein Scheit aufs Feuer.
Wild züngelten die Flammen empor und meißelten die dynamischen Gesichtszüge des Verlegers in den Gran Canariaotischen Nachthimmel. Das ständige Nachlegen imponierte mir umso mehr, als sich in Malchows »Casa Urbanisaçion« überhaupt kein Kamin befand.
»En quiero dos perforcarmation de quo los parabiolos su quintosa para del plambos vuelo«, zischte er in Richtung Maria, der Haushälterin. Sie schluchzte leise.
Dann wandte er mir sein Antlitz zu. Die glühenden Augen waren zu Schlitzen verengt, die sanft geschwungenen Lippen lächelten diabolisch, das weit geöffnete Hemd gab den Blick auf ein schweres, goldenes Kreuz frei. Besetzt mit Rubinen funkelte es unter dem jahrtausendealten Sternenhimmel.
Fast tänzelnd bewegte sich Käpt’n Malchow zu einer schweren Truhe. Ich will es nicht unnötig spannend machen: Er öffnete sie.
Für einen Augenblick fürchtete ich zu erblinden: Nie zuvor hatte mein Aug’ ein helleres Strahlen erblickt! Gold, Silber und Bronze quollen förmlich durch die Ritzen.
»Das alles soll dir gehören«, stieß Don Helge hervor, »wenn du nur bis Tagesanbruch deine Autobiographie geschrieben hast.«
Puuh, mir trat der Schweiß auf die Stirn. Sechzehn Bände in vier Stunden – das war kein Zuckerschlecken. Sicher, mein Leben war bisher ganz schön spannend verlaufen, aber das meiste hatte ich vergessen. Und dann die ganzen Jahreszahlen und Uhrzeiten! Die Namen der Plätze, Städte und Kaschemmen, der Klang der Stimmen, das Rauschen der Ozeane und das Wispern der Frauen.
Von fern ertönte der Klang einer zerspringenden Saite und hätte mich aus meinen Träumen gerissen, wenn ich nicht hellwach gewesen wäre. »Grellwach«, wie Botho es einmal formuliert hatte.
Pjotr Iwanowitsch Malchow schlurfte zum Samowar und machte Espresso. Mascha, deren Freundlichkeiten ich in jenem Sommer genoss, fuhr im Kinderwagen die Hofeinfahrt hinab. Sie hatte den kleinen Sascha auf den Diwan gelegt und sich dann selbst mit Juchhe in den Kinderwagen fallen lassen.
Irgendwo fiel ein Schuss. Vögel schreckten auf. Dann wieder Stille.
Ich griff zum Stift und notierte die ersten Worte. »Alle glücklichen Familien …« Nein, das war zu banal. Zu unpersönlich. Zu sehr Leserbrief. Am Horizont schien der neue Tag bereits seine Schatten zu werfen. Beziehungsweise sich mit einem Lichtstreif anzukündigen. Ihr wisst, was ich meine. Irgendwie wurde es langsam hell.
Fortsetzung folgt im nächsten Kapitel.
Ich war eine Sturzgeburt. Das war damals nichts Ungewöhnliches, denn unsere Familie hatte es eilig.
Als ich am 18. August 1937 in St. Petersburg (dem heutigen Putingrad) zur Welt kam, war meine Mutter gar nicht dabei. Sie war mit Onkel Teddy zum Bahnhof gelaufen, um die Billette zu kaufen. Alle anderen in unserer Straße, dem Lastimynutski-Prospekt, sprachen von Fahrkarten, aber Mamuschka sagte Billette, denn in unserer Familie herrschte ein hoher Ton.
Eine der frühesten Erinnerungen an meine Kindheit führt mir Mamitschka in Erinnerung, wie sie für meine ältere Schwester Tinka und mich Schlummerlieder von Arnold Schönberg sang. Wir Kinder hatten einen Heidenspaß, das Einschlafen bis nach dem zwölften Ton hinauszuzögern.
»Du kleiner Strolch«, pflegte Mamuschki dann immer zu sagen und schlug mir mit ihrer fehlenden Hand mitten ins Gesicht.
Sie hatte die Hand während eines Ernteurlaubs auf der Krim verloren, aber für sie war die Hand immer noch da. Die Billette würden uns ermöglichen, mit der Eisenbahn bis nach Wladiwostok zu fahren. Mamutschka, meine Schwester Tinka und ich sollten an der Pazifikküste auf meinen Vater warten. Gemeinsam wollten wir dann mit dem Schiff nach Kalifornien, wo ein Bekannter meiner Eltern sich um uns kümmern würde. Der Bekannte war ein Schriftsteller, den meine Eltern während einer privaten Weihnachtsfeier 1935 in Augsburg kennen gelernt hatten.
Uns Kindern gegenüber wurde immer von »Onkel Baal« gesprochen.
Manchmal, wenn mein Vater besonders gute Laune hatte, sang er beim Rasieren leise vor sich hin: »Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal, war die Erde nackt und grau und leer und fahl.«
Wir Kinder verstanden den Sinn nicht so recht, aber uns gefiel es, wenn der Vater sang. Leider konnten wir es nicht hören, denn Vater sang und rasierte sich in Paris. Dort lebte er mit »einem Frauenzimmer«, wie meine Mutter uns erklärte.
Die Ehe meiner Eltern war nicht sehr glücklich. Das wusste ich von Tante Morris aus der Lüneburger Heide, wo Tinka und ich unsere Sommerferien verbrachten.
Es waren unbeschwerte Sommertage voll von glühender Sommerhitze, goldenen Weizenfeldern und plätschernden Bächen.
Wir tranken kuhwarme Milch, und Tante Morris schmierte uns handdick Butter auf die Stullen. Abends saßen wir vor dem Haus und warteten auf die Wehrmacht.
Wir Kinder wussten nicht, was die Wehrmacht war. Aber Tante Morris hatte ihren Fotoapparat auf den Knien und sagte: »Gleich kommt die Wehrmacht. Feine Fotos gibt das.«
Dann hörte man das Geknatter eines kleinen Lastwagens, und vier muntere Soldaten brausten heran. Sie sprangen vom Auto und verschwanden mit Tante Morris in der Scheune. Nach einer halben Stunde kamen sie heraus und brausten wieder von dannen.
Unsere Tante winkte der Staubwolke hinterher und flüsterte: »Tschüss, meine süßen kleinen Verbrecher.«
Im Sommer darauf bekam Tante Morris einen kleinen Jungen und verdingte sich als Magd in der Nähe von Breslau.
Mutti war in heller Aufregung: Am Vormittag hatte der Briefträger die Einladung an meinen Vater ins Haus gebracht, in Melbourne »Gräfin Mariza« zu inszenieren.
Sofort holten wir den Atlas hervor und begannen, uns die große Reise auszumalen.
Wochenlang auf einem Ozeandampfer, Aufenthalt in fremden Häfen, die Klänge und Gerüche ferner Kontinente – unsere Begeisterung war grenzenlos. Leider fehlte im Atlas die Seite mit Australien. Tante Molly, die nach dem Tod ihres vierten Ehemannes bei uns lebte, hatte sie einem Bettler geschenkt, der eines Nachts mit dem Knauf seines silbernen Stocks an unsere Küchentür klopfte. Hinterher war die arme Tante Molly wochenlang völlig verwirrt. Sie war felsenfest davon überzeugt, bei dem Bettler habe es sich um ihren zweiten Ehemann gehandelt, den sie Jahre zuvor für tot hatte erklären lassen.
Töpfchen, so wurde er von allen genannt, war eines Tages nicht mehr von der Arbeit nach Hause gekommen.
Tante Holly, die ältere Schwester von Tante Molly, die im Haus schräg gegenüber wohnte, hatte Töpfchen am Abend in den Zug steigen sehen. Zumindest behauptete sie das. Holly und Molly hatten tagelang in der Stadt nach Töpfchen gesucht, aber ohne Ergebnis.
Dann wurde es Frühling. Überall blühten Ginster und Lupinien. Wohin man auch schaute – Ginster und Lupinien. Möglich, dass es auch andere Blumen waren, aber nichts klingt rhythmisch und floristisch so passend und von Kennerschaft durchdrungen wie Ginster und Lupinien.
Niemand könnte ernstlich überrascht sein, wenn plötzlich ein bislang, bisher oder bis dato unbekannter, nicht identifizierter oder verschollen geglaubter Roman von Dickens mit dem Titel »Ginster und Lupinien« auftauchte.
Voll von viktorianischem Licht und Totengräbern, die auf feuchten Pflastersteinen bleichen Waisenkindern hinterherhinken.
In jenem Frühjahr vor unserer Abreise nach Melbourne geschah etwas, das sich meinem Kinderherzen so einprägte, dass ich es nie vergessen sollte. Es mochte etwa gegen sieben Uhr abends gewesen sein, meine kleine Schwester Sniff und ich lagen bereits in unseren Betten und warteten auf Hulda, unser Kindermädchen.
Sie sollte uns die Geschichte von »Hemd und Höschen« weiter vorlesen, eine Internatsschmonzette, nach der wir verrückt waren. Kinder haben keine Furcht vor Sentimentalität. Zugegeben, dieser Satz klingt an dieser Stelle reichlich altklug, aber ich habe ihn schon so lange auf Vorrat. Und hier schien er nicht schlecht zu passen.
Plötzlich dröhnte von der Straße her Lärm. Da mein Lektor übers Wochenende verreist ist, nenne ich diesen Lärm ohrenbetäubend. Onkel Erich war mit seinem Hubschrauber gelandet.
Es war jedes Mal ein gewaltiges Ereignis, wenn Onkel Erich mit seinem Hubschrauber landete.
Onkel Erich war der schönste Mann, den unsere Straße je gesehen hatte. Später habe ich erfahren, dass er von Mai bis September Sex mit mehr als zehntausend Prostituierten hatte.
Zusätzlich hat er in dieser Zeit noch elfmal geheiratet. Einmal lief er nachts in Pantoffeln und nur mit einem Pelzmantel über dem Schlafanzug aufs Standesamt und hinterließ eine Blankounterschrift auf dem Trauungsformular. Es war die Zeit des unbeschwerten Feierns und Trinkens, in der eine ganze Generation nichts als die Tatsache feierte, dass sie noch am Leben war.
In erster Linie flog Onkel Erich nicht mit dem Hubschrauber, um rasch von A nach B zu kommen. Welchen Reiz konnten für ihn, der oft eine Million Dollar am Tag für Elfenbein-Fernbedienungen ausgab, welchen Reiz konnten für einen solchen Mann zwei Buchstaben haben? Das größte Glück für Onkel Erich war es, wenn er den Fischern auf den griechischen Inseln mit seinen Rotorblättern den Straßenstaub in die Kaffeetassen wehte. Dafür war ihm auch die lange Anreise von Berlin bis Piräus nicht zu viel. Einmal hörte ich, wie er zu Tante Molly sagte: »Weißt du, Lollimolly, da flieg ich in zwei Stunden durch meine gesamte humanistische Bildung.«
Meine Erfahrungen betreffs der zerlumptesten Bibliotheken, die ich in den ärmsten Stadtvierteln vorfand, sind einfach folgende:
Der ganze Wust von vulgären Knabenbüchern befasst sich mit unzusammenhängenden endlosen Abenteuern und Wanderschaften.
Leidenschaften spielen sich da keine ab, denn es kommen keinerlei Charaktere vor.
G.K. Chesterton
Am 1. Juli 1935 ging unsere Familie in New York an Bord der »MS Butterfly«, Kurs Antwerpen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte uns Onkel Heinrich in einem Brief begeistert geschildert, wie positiv sich die Dinge in Deutschland entwickelten.
Anfang 1934 hatten meine Eltern einen ziemlich gegenteiligen Eindruck, was dazu führte, dass wir am 2. Juli 1934 in Antwerpen an Bord der »MS Pussycat« gingen, Kurs unbekannt.
Kurz nachdem das Schiff abgelegt hatte, stellte sich heraus, dass wir eine Hafenrundfahrt gebucht hatten. Deshalb waren wir einigermaßen enttäuscht, als wir schon drei Stunden später mitsamt unseren Übersee-Köfferchen auf Rollen wieder in Richtung des Hotels Diamant zogen, wo wir schon die beiden vergangenen Nächte verbracht hatten.
»Das hat uns alles dieser verfluchte Hitler eingebrockt«, schimpfte meine Großmutter. Sie war damals schon vierundneunzig und wurde von ihrem Neffen Göran im Rollstuhl geschoben.
Das Hotel Diamant war eine verdreckte Spelunke. »Ein Fokus der Verlorenen«, sagte Neffe Göran beim Einchecken. Ich bewunderte ihn aus ganzem Herzen. Seine Eltern waren in einer defekten Seilbahn verhungert, irgendwo in Norwegen. Er selbst lebte seither in einem Internat im Engadin und konnte sich nicht anders als druckreif äußern. Er bekam Atemaussetzer bis zu vier Minuten, wenn in seiner Gegenwart nachlässig formuliert wurde.
Einmal schrie er meine Mutter zusammen, weil sie es gewagt hatte, »herrlich, diese Beete« zu sagen. Anschließend rannte er auf sein Zimmer und warf sich keuchend aufs Bett. Eine ziemlich stereotype Aktion, die er einem anderen niemals hätte durchgehen lassen.
Seit ich mich erinnern kann, wollte Göran Schriftsteller werden. Er hatte sich ein Pensum auferlegt, das ich »fast unmenschlich« zu nennen wage, jetzt, da er sich gerade einen gelben Sprudel holt. »Gelber Sprudel« trauen wir uns nur leise untereinander zu sagen. Göran selbst spricht von Zitronenlimonade.
Görans Tagesablauf sieht so aus: fünf Uhr aufstehen, dreißig Minuten Gymnastik bei geöffnetem Fenster. Anschließend eiskalt waschen. Hierbei ist er gnadenlos. Einmal, ich glaube, es war Silvester ’70/’71, das Jahrhundert habe ich vergessen, waren wir bei ihm in Norwegen zu Besuch. Für sein morgendliches Bad hackte er ein Loch in den zugefrorenen See. Aber das Wasser war ihm nicht kalt genug, und Knud, der alte Diener, musste ihm Eiswürfel aus der Speisekammer bringen.
»Tief im Herzen des Schriftstellers sitzt ein eisiger Splitter«, sagte er beim Abtrocknen.
Nach dem Bad setzt Göran sich an den Schreibtisch. Fünfzehn Minuten später legt er sich auf den Diwan und fängt an zu schreiben. Zehntausend Worte – möglichst unterschiedliche – noch vor dem Frühstück. Anschließend hält er »Morgenjause«. Zumindest bezeichnet er so das Frühstück in der Zeit im Hotel Diamant, als er unter dem Einfluss österreichischer Dramatiker stand.
Nach der Morgenjause (Milchkaffee und ein Margarinebrot »sunny side up«) geht er spazieren. Manchmal wochenlang. Dabei schreit er die wichtigsten Silben des Vormittags heraus, angeblich um zu hören, »ob der Rhythmus stimmt«.
Aber eigentlich ist der Göran total nett. Und immerhin war es seine Idee, das Geschimpfe meiner Großmutter auf Hitler aufzuzeichnen. »Damit können wir uns später dumm und dämlich verdienen«, pflegte er zu sagen, was für einen wie ihn reichlich umgangssprachlich war.
»Schon ’34 auf Hitler geschimpft, das wird noch der Renner.«
Der Teil unserer Familie, der ihm überhaupt noch zuhörte, verstand nicht, was er meinte. War aber auch egal, denn kurz darauf stieg Göran in einen Zug und kam erst eine Woche später zurück.
Ich schrieb Tag und Nacht. Den eigenen Zug hatte ich mir vom Vorschuss gekauft. Die schwarze Tasche vor mir enthält das Schwarzgeld von meinen Tourneen in der Schweiz.
»Mutti, warum ist der Tod in unserer Gesellschaft ein Tabu?«
Wenn mein jüngerer Bruder Tipper solche Fragen stellte, bekam er wortlos eine gescheuert und musste ohne Gutenachtkuss ins Bett. Überhaupt verlief unsere Kindheit sehr harmonisch. Hauptsächlich wurden wir den ganzen Tag herumgefahren.
Andere Kinder auch, aber bei denen hatte es einen Grund. Vom Ballett zum Reiten, vom Klavierunterricht zum Tennis, vom Schwimmkurs zum Kindergeburtstag.
Wir wurden grundlos herumgefahren. Einfach so. Meine ältere Schwester Rooster hasste das Herumgefahrenwerden, denn ihr wurde dabei immer schlecht. Sie schämte sich aber, wenn sie sich auf dem Rücksitz übergeben musste. Deshalb schluckte sie das Erbrochene einfach runter.
Anfangs hatten wir anderen Kinder das gar nicht bemerkt, aber mit der Zeit sahen wir Rooster an, wenn es so weit war. Erst kniff sie die Lippen zusammen, dann lief sie rot an, begann zu schwitzen, pumpte ein bisschen und sackte nach dem Schluckvorgang ermattet in sich zusammen.
Dann kam der Tag, nach dem im Leben unserer Familie nichts mehr so war wie vorher. Ich komme später noch einmal darauf zurück. Dieses Stilmittel wollte ich schon immer mal einsetzen: die Ich-komme-später-noch-einmal-drauf-zurück-Technik.
Zunächst jedoch kam der Herbst und mit ihm ein Mann die Straße herauf. Als er sich unserem Haus näherte (wir wohnten dama s bereits in Nummer 42), konnte man ganz deutlich eine Narbe erkennen, die quer oberhalb seines Kinns verlief. Als er fast direkt vor mir stand, sah ich, dass es keine Narbe war, sondern sein Mund. Der Narbenmund, so haben wir ihn später noch oft genannt, wenn wir vor dem Kaminfeuer (flackernd?) zusammensaßen und uns wechselseitig die Socken von den Füßen zogen. Bei wem ein Zeh mit dranblieb, der hatte verloren.
Ungefähr zu dieser Zeit war es auch, als Tante Lolli immer stiller wurde. Sie war so ganz anders als ihre Schwestern Holly und Molly. Lolli lebte nur für andere. Lolli opferte sich auf. Lolli las Sterbenden Rilke vor, was dazu führte, dass es seit Jahren in unserem Ort keinen Todesfall mehr gegeben hatte. Manch einer, der schon Freund Hein die Hand reichen wollte, sprang wieder auf und rannte aus dem Zimmer, wenn er Tante Lolli mit dem Gedichtband kommen sah.
So was sprach sich natürlich rum. Erst nur im Nachbardorf, aber bald schon musste Tante Lolli in die Kreisstadt kommen, wenn dort ein Lebenslicht zu flackern begann.
Der Tag, an dem ich mich mit Peter Jackson verkrachte. Leider musste ich erfahren, dass die Dreharbeiten zum »Herr der Ringe« ohne mich abgeschlossen worden waren. Obwohl ich, wie mündlich vereinbart, »so gegen halb fünf am Strand« war. Die Wolke ist echt. Im Gegensatz zu manchen feinen Herren aus der Filmbranche habe ich Mogeleien am Computer nicht nötig.
Ein Kilo Koks, sechsundzwanzig Bier, vier Stangen Zigaretten und drei Eimer Nesquik – das war die ganz normale Tagesration von Hank Anfang Oktober 1971.
Manchmal war er so zu, dass er seine Tochter Elizabeth nackt vom piekfeinen St.-Matthew-up-and-away-Kindergarten oben am Gila-Canyon abholte. Das war eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber meistens waren es die Mütter, die so an der kleinen weißen Holztür erschienen.
Ich wohnte damals in einem Appartement am Mostly-Cloudy-Boulevard und war so etwas wie der Assistent von Hank. Er hatte mich einfach engagiert, als ich auf einem Supermarktparkplatz in Orange County seinen pissgrünen BMW geschrammt hatte.
Wir alle haben uns gewundert, warum er ständig von pissgrün sprach. Im Hollywood dieser Tage war zwar nichts, wirklich gar nichts unmöglich, aber grüne Pisse hatte noch keiner von uns gesehen. Wie gesagt, wir wunderten uns sehr. Zu fragen traute sich keiner. Hanky hätte ihn auf der Stelle gefeuert, wahrscheinlich sogar erschossen. Er ballerte wahllos auf alles, was sich ihm zu widersprechen traute. Seit seinem Riesenerfolg mit Fire in my pants hatte er komplette Narrenfreiheit. Fire in my pants war von allen Studios abgelehnt worden, und Hank finanzierte den Film, indem er allen Mitarbeitern die Gagen strich. Sich selbst genehmigte er eine Regiegage von 1 Million Dollar plus 95points vom Einspielergebnis, noch bevor die erste Karte verkauft war. Selbst im größenwahnsinnigen Hollywood war das ein noch nie da gewesener Vorgang.
Ich spielte in Fire in my pants einen Nazi, der sich in einen Werkstattbesitzer aus Saigon (eine Traumrolle für die damals noch unbekannte Winona Ryder) verliebt. Eigentlich war ich nach Hollywood gekommen, um mein Maschinenbaustudium zu beenden. Aber als ich aus dem LAX-Flughafengebäude trat, fuhr ein Doppeldeckerbus mit deutschen Schauspielern an mir vorbei, zurück nach Deutschland. Es mochten gut vierzig oder fünfzig Mann gewesen sein. Sie alle trugen T-Shirts mit der Aufschrift »Es ist uns zu blöd, immer nur Nazirollen angeboten zu bekommen«. Mir war jeder Job recht, und so sagte ich sofort zu, als Saul mir die Rolle in Hanks Film anbot.
Saul Zytherkoffer stammte aus Mannheim und sprach leidlich Deutsch. Er war Agent und bot mir einen fairen Deal: Ich sollte sein Appartement in Hell’s Restroom (gleich hinter der Abzweigung nach Upper Giordano) putzen und seine Frau vögeln, dafür konnte ich meine Miete selber zahlen und bekam keine Gage für die Rollen, die er mir besorgte. Vielleicht habe ich nicht alle Teile des Deals richtig verstanden, aber er sprach in einem merkwürdigen Dialekt, der mich irgendwie an »Anatevka« erinnerte. Das kannte ich von einer Langspielplatte meiner Großmutter.
Ich saß in Paris in einem kleinen Kaffee. Pardon, einem kleinen Café.
Durch die Tür trat ein pummeliger Mann mit schulterlangen Haaren. Es war Samuel Beckett. Aber dazu komme ich gleich.
Ich hatte gefrühstückt und war glücklich. Den Vormittag hatte ich mir freigehalten, denn ich wollte das Internet erfinden. Nachdem sich mein Diener die letzte Tasse Tee eingeschenkt hatte, las ich innerhalb einer Stunde jene Werke, die Susan Sontag als »in die Außenbezirke der Haupttradition des Romans« gehörend bezeichnet hatte: Gullivers Reisen, Candide, Tristram Shandy, Jacques der Fatalist, Alice im Wunderland. Danach rauchte ich eine Zigarette, denn dies waren die Bücher, bei denen auch Susan den Verfasser nicht genannt hatte. War auch nicht nötig. Konnte man wissen. Gehörte zur Allgemeinbildung. Jetzt kamen die Klopper, wo als Zugeständnis an die Dummerchen der Name des Autors genannt wurde:
Korrespondenz aus zwei Ecken (Gershenzon und Ivanov), Das Schloss (Kafka), Steppenwolf (Hesse), Die Wellen (Woolf), Odda John (Olaf Stapledon), Ferdydurke (Gombrowicz), Unsichtbare Städte (Calvino).
Ehrlich gesagt, brummte mir danach ein bisschen der Schädel. Mir fiel ein, dass Fritz J. Raddatz in seinem Nachruf auf Susan Sontag in der ZEIT geschrieben hatte, Cioran sei »aus Barmherzigkeit zynisch« gewesen. Ich holte mir einen runter und ging duschen.
Die Zeit nach meiner Scheidung verbrachte ich im Maislabyrinth an der A4.
Habe ich euch schon von dem Tag erzählt, als ich es den beiden schwarzen Bräuten im Terrarium besorgte? Mann, Mann, wenn ich heute daran zurückdenke, wird mir immer noch ganz schwummrig. Aber der Reihe nach.
Es begann damit, dass Burt on the Wire mir ein Drehbuch von Roschkoff Tatschikoff schickte. Wie immer, wenn das geschah, warf ich es weg und ging auf einen Kaffee zu Jake’s, schräg gegenüber.
21. Oktober 2003
Geschwindigkeitsregler am Krankenfahrstuhl von »Schnecke« auf »Hase« gestellt.
An diesem Morgen saß Jack im Jake’s und frühstückte. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise frühstückte Jack nicht vor sieben Uhr abends. Tagsüber rannte er irgendwelchen Nutten hinterher und bat sie, zu ihm zurückzukommen. Er war ein bisschen hochnäsig geworden und hatte sich angewöhnt, Englisch mit polnischem Akzent zu sprechen.
Er zeigte mir ein Drehbuch, das man ihm angeboten hatte. Es ging darin um einen Staudamm oberhalb von Los Angeles und einen Alten mit einer ziemlich scharfen Tochter.
»Jack, das ist bullshit. Damit ruinierst du deine Karriere.«
Jack war fassungslos. Außer mir wagte es keiner, so offen mit ihm zu reden.
Ich hatte keine Angst vor Jack. Er gab zwar gerne den großen Macker, aber irgendwie war er New Jersey nie losgeworden. Auch das habe ich ihm eines Tages gesagt, aber er lachte nur.
Ich öffnete meine Hose und holte einen Kuli raus. Das war die Nummer, mit der ich damals bei den Bräuten ganz groß ankam. Einen Kuli aus der Hose holen – das war die heißeste Nummer in ganz Hollywood. Für eine halbe Stunde zog ich mich in den hintersten Winkel des Restaurants zurück und machte mich über das Script her. Als Scriptdoctor bekam ich damals schon zehntausend Dollar pro Minute, Anfang der Siebziger eine horrende Summe.
Für Jack arbeitete ich natürlich umsonst. Ich mochte ihn. Ich schmiss die hundertfünfzig belanglosesten Seiten raus und schrieb eine Szene, in der die Tochter mit ihrem Alten Inzest begeht.
Einer relativ harmlosen Schlägerei verpasste ich einen brillanten Dreh, indem ich Jack die Nase aufschlitzen ließ. Dann warf ich die neuen Seiten vor Jack auf die Theke und sagte im Hinausgehen: »Spendier mir mal ’nen Drink, wenn’s was wird.« Auf den Drink warte ich noch heute – trotz des Welterfolges von Love Story.
Portland, Maine. Meine One-Man-Version des »Internationalen Frühschoppen« riss die Zuschauer von den Stühlen.
Wie gesagt, Beckett. Wir alle mochten Sam, damals in Paris. Er heiterte uns auf. Sam schwamm im Geld. Er schrieb die opulentesten Ausstattungsrevuen für das Moulin Rouge, und dementsprechend rollte der Rubel. Beckett ließ sich nämlich in Rubel bezahlen, eine sympathische Marotte.
Bei den Tänzerinnen hieß er nur »Froufrou«, was so viel bedeutet wie »der Dicke von der Insel«.
An besagtem 23. November aber wirkte er bedrückt. Er setzte sich auf seinen Klappstuhl, den er immer bei sich trug, und sagte: »Da kommen sie wieder.«
»Wer?«
»Ich weiß nicht.«
Wenn der Abend so begann, konnte es zäh werden. Dann folgten endlose Monologe über Apathie und Aphasie, über den Kopf in der Normandie und Tennis. Sam tat mir Leid. Das oberflächliche Geschreibsel für die halb nackten Hupfdohlen machte ihn ganz matschig in der Birne.
»Hör mal, Sammylein«, sagte ich. Beckett liebte es geradezu, so angesprochen zu werden. »Dieser Revueschmarren, das ist nichts für dich. Warum schreibst du nicht mal was ganz Simples. Eine Frau, bisschen Sand. Irgendwas Positives mit Rollstuhl und Mülltonnen oder so?«
Mann, Leute, jetzt werde ich mich bestimmt für verrückt halten! Aber von diesem Augenblick an war Sam ein anderer. Er ging aufs Klo, und als er zurückkam, hatte er Stoppelhaare und dreißig Kilo abgenommen. Als er das Café verließ, wirkte sein Schritt ein wenig leichter und der Himmel ein bisschen blauer.
Anfang September wurde meine wirtschaftliche Situation mehr als heikel.
Ich hatte meinen Job als Krankenhausclown in Lippstadt verloren.
Angeblich zu anspruchsvoll. Sicher war das nur eine Ausrede. Traurig ging ich die staubige Landstraße entlang. Ich muss ein jämmerliches Bild abgegeben haben: die großen Latschen, die rote Perücke, dazu die verheulten Augen.
Nachdem ich wohl mehrere Tage meines Weges gezogen war, stand ich plötzlich vor einem Diner in Boston. So kann’s gehen. Man darf die Hoffnung nie aufgeben.
Ich ging rein und gleich hinten wieder raus. Im Garten standen ein paar Tische und Stühle. Ich bestellte einen Caffe latte grande und ein Sandwich »Jack Ruby«. Dann schlief ich ein.
Und wie wurde ich wohl geweckt? Natürlich unsanft. Neben mir saß Ewald aus Göppingen.
»Du kommst doch auch aus Deutschland«, sagte er, mit stark schwäbischem Akzent. Ich schreib’s aber Hochdeutsch auf, weil geschriebener Akzent blöd aussieht und sich immer anders liest, als er klingt. Verdammt, jetzt verliere ich drei Zeilen auf dem eh schon knappen Papier, bloß weil Ewald geschwäbelt hat wie Sau.
To make a long story short – eine flockige Redewendung, die man sich durchaus mal erlauben kann, wenn man in einem Clownskostüm mitten in Boston von Ewald aus Göppingen geweckt wird.
Ewald wusste, dass in Harvard Professoren gesucht wurden, im Wintersemester waren Lehrkräfte in der »Efeuliga« (!!!) traditionell knapp.
Ich ging also über die Straße und hielt meine erste Vorlesung. Der Hörsaal war wie voll? Gerammelt! Überwiegend sehr attraktive Studentinnen in Philip-Roth-T-Shirts, die ihre vollen Brüste äußerst vorteilhaft zur Geltung brachten.
»Was wollt ihr hören?«, rief ich in die Menge. »Europa – der gemeinsame Weg von Byzanz bis Brüssel«, schallte es tausendfach zurück.
Der Laden kochte. Vorlesungen auf Zuruf, das war meine Spezialität. Ehrlich, Leute, ich hatte Schwierigkeiten, von den amerikanischen Titelseiten wieder runterzukommen. Nach kürzester Zeit füllte ich als »Mr. Enziekloppedieman« Stadien.
In Harvard ließ ich es locker angehen, zumal ich in meinen Clownlatschen nicht den sichersten Stand hatte. Konstantinopel, Untergang des Römischen Reiches, Moskau als neues Byzanz – das hatte ich drauf. Als ich bei Karl dem Großen angekommen war, stand die Hälfte der Studentinnen johlend auf den Stühlen. Bei der Eroberung Konstantinopels durch die Türken flogen die ersten T-Shirts auf die Bühne, und als ich zu einem kurzen Exkurs über den Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten anhob, wurden zwei Mädchen bewusstlos aus dem Saal getragen.
»Mehrheitsentscheidungen sind nicht alles«, dröhnte meine Stimme aus den Marshall-Türmen links und rechts neben mir im Auditorium, das wie war? Natürlich altehrwürdig. »Erinnern wir uns doch einfach daran, dass auch Pilatus abstimmen ließ.« Jetzt wurde es für die Security langsam unmöglich, die Meute zurückzuhalten. Ich hätte noch gerne über den »pathologisch zu nennenden Selbsthass des Abendlandes« die Schlussnummer eingeleitet, aber Ewald musste weg, und ich hatte keinen Schlüssel.
Die Hitze stand im Zimmer wie ein Feind. Ich lag auf dem Bett und schaute zu, wie an der Decke die Käfer platzten. Seit fast einem Jahr war ich jetzt Kirchenmusikdirektor in Santa Eulalia de la Cruz im Norden Mexikos. Wenn es mir mein Glaube nicht verboten hätte – jeden Tag hätte ich den Augenblick verflucht, in dem ich den Vertrag unterzeichnet hatte. Aber mir blieb keine Wahl, familiäre Gründe zwangen mich, Europa für längere Zeit zu verlassen.