Das Buch

Angesichts eines grausamen Unrechts verlor der Vampirkrieger Murhder einst seinen Verstand – und seine große Liebe Xhex. Wie ein wildes Tier streifte er daraufhin durch die Nacht und machte keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind. Den BLACK DAGGER blieb damals nichts anderes übrig, als Muhrder zu verstoßen – etwas, das es in der jahrtausendealten Tradition der Bruderschaft noch nie gegeben hatte. Nun, nach Jahren des Exils und der Einsamkeit, ist Murhder nach Caldwell zurückgekommen, um das begangene Unrecht wiedergutzumachen. Als er bei seiner Rückkehr allerdings feststellen muss, dass Xhex inzwischen mit John Matthew verbunden ist und dass ihn die Brüder nicht gerade mit offenen Armen empfangen, beschließt Murhder, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber dann begegnet er der schönen Wissenschaftlerin Sarah Watkins und schöpft neue Hoffnung. Gibt es vielleicht sogar für ihn eine zweite Chance – in der Liebe und in der Bruderschaft? Doch Sarah ist einem schrecklichen Geheimnis auf der Spur. Einem Geheimnis, das Murhder erneut in den Abgrund reißen könnte ...

Die Au­torin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die ­amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden ­Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

J. R. Ward

Der Erlöser

Ein Black dagger-Roman

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

THE SAVIOR

Aus dem Amerikanischen

von Dorothee Witzemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2019 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23979-4
V003

www.heyne.de

Gewidmet:

Dir.
Wir sind wieder da, du und ich.
Es ist wunderschön, zu Hause zu sein.

Danksagung

Vielen, vielen Dank an die Leser der Black Dagger! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Lauren McKenna, Jennifer Bergstrom und allen bei Gallery Books und Simon&Schuster.

Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles, was ich tue, aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an Naamah, meinen WriterAssistant Nummer zwei. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs-­ und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder dem Abhandenkommen eines Fahrzeugs oder anderen motorisierten Transportmitteln führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

 Trahyner – Respekts­- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Eliahu Rathboone House,
Sharing Cross, South Carolina

»Ich bring sie um, ich schwör’s.«

Rick Springfield – nein, nicht der Sänger, aber hätten sich seine Eltern bitte ein bisschen mehr Mühe geben können? – setzte sich auf dem Queen-Size-Bett auf und rollte die aktuelle Vanity Fair zu einer Schlagwaffe zusammen. Gut, dass der Großteil der Werbung heutzutage im Internet stattfand und Zeitschriften dafür immer dünner wurden, denn so ergaben die spärlichen Seiten eine kompakte Rolle.

»Können wir die Fledermaus nicht einfach durch ein Fenster rauslassen?«

Dieser hilfreiche Vorschlag kam von dem »Jessie’s Girl«, das er beeindrucken wollte – ihr Name war Amy Hongkao –, und bisher war das gemeinsame Wochenende gut gelaufen. Sie hatten sich beide den halben Tag freigenommen und Philly am Freitagmittag verlassen. Auf den Straßen war nicht allzu viel los gewesen. Sie waren gegen acht im Eliahu Rathboone B&B angekommen, in das Bett gefallen, auf dem er momentan zu balancieren versuchte, und hatten am nächsten Morgen dreimal Sex gehabt.

Jetzt war es Samstagabend, sie wollten morgen am frühen Nachmittag aufbrechen, vorausgesetzt, es gab keine Schneestürme an der Küste …

Die Fledermaus kam auf seinen Kopf zugeschossen und flog wie eine Motte, ein einziges wirres Flattern mit der Flugbahn eines Betrunkenen. Rick rief sich die Baseballkünste des berühmten Pee Wee Reese aus seiner Kindheit in Erinnerung, stellte sich breitbeinig hin, hob den Vanity-Fair-Schläger und zog kräftig durch.

Die verdammte Fledermaus schnellte aus dem Weg, aber seine Arme bewegten sich ziellos weiter, und die Schwerkraft tat ihr Übriges. Das Ganze wurde zu einem Fall fürs Handbuch der Gehirnerschütterungen.

»Rick!«

Amy fing ihn ab, indem sie sich seitlich gegen seinen Oberschenkel stemmte, und er streckte die Hand nach dem nächstbesten stabilen Gegenstand aus, an dem er Halt fand – nach ihrem Kopf. Als sich seine schweißnasse Hand in ihre Haare grub, waren Flüche zu hören. Von ihm und von ihr.

Die Fledermaus kam zurück und stieß im Sturzflug auf sie beide nieder, ganz nach dem Motto »Na, wie gefällt dir das?« In einem Anfall von Männlichkeit kreischte Rick auf, wich zurück und warf dabei eine Lampe um. Als sie zersprang, wurde es fast völlig dunkel im Raum. Lediglich ein Streifen Licht unter der Tür bot dem Auge etwas, woran es sich festhalten konnte.

Das war’s, Rick ging zu Boden. Er fiel ausgebreitet wie eine Daunendecke aufs Bett und zog Amy mit sich. In­einander verkeilt lagen sie schwer keuchend auf der ­Ma­tratze, auch wenn nichts Romantisches an dieser Umarmung war.

Nope. Das war eine Aerobic-Übung zu diesem altmodischen Song »I Will Survive«.

»Sie muss durch den Kamin reingekommen sein«, sagte er. »Übertragen die nicht die Tollwut?«

Über ihnen hörte man wieder den Typen aus Zimmer 214 seine Kreise drehen. Und das ganze Geflatter und Gequieke war überraschend Furcht einflößend, wenn man bedachte, dass das Vieh wahrscheinlich nicht mehr wog als eine Scheibe Brot. Die Dunkelheit verlieh dem Ganzen aber etwas von einer steinzeitlichen Todes­gefahr: Auch wenn seine männliche Seite das Problem lösen und ein Held sein wollte – damit er vor der Frau, die er erst vor Kurzem kennengelernt hatte, möglichst gut dastand –, verlangte seine Angst, dass er diese Katastrophe auf jemand anderen abwälzte.

Bevor ihr erster gemeinsamer Wochenendtrip als Story viral ging, von wegen, dass man sich vor Fledermäusen hüten sollte, weil man sonst vierzehn Tage im Krankenhaus verbrachte.

»Das ist doch lächerlich.« Amys minzfrischer Atem strich über sein Gesicht, und ihr Körper fühlte sich gut an, auch wenn sie in ernster Gefahr waren. »Wir rennen einfach zur Tür und gehen nach unten zur Rezeption. Das kann nicht das erste Mal sein, dass so was passiert, und es ist schließlich nicht Dracula …«

Im selben Moment schwang die Tür auf.

Kein Klopfen. Keinerlei Knarzen der Türangeln. Kein klarer Hinweis darauf, wie sie aufgegangen war. Denn draußen stand niemand.

Das Licht aus dem Flur tauchte ins Zimmer ein wie eine rettende Hand ins Wasser, um einen Ertrinkenden zu bergen, doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Wie aus dem Nichts materialisierte sich eine langhaarige, männliche Gestalt, und eine gigantische Silhouette schob sich vor das Licht, die Schultern so massig wie die eines Schwergewichtboxers, die Arme lang und muskulös, die Beine massiv wie Stahlträger. Im Gegenlicht konnte man ihr Gesicht nicht erkennen, aber Rick war froh darum.

Denn alles an der Erscheinung, ihre Größe und der Geruch in der Luft – nach Aftershave, aber keinem billigen –, sagte ihm, dass das ein Traum sein musste.

Oder ein Albtraum.

Die Gestalt hob die Hand – zumindest sah es so aus. Vielleicht zog sie einen Dolch aus einem Brustholster?

Einen Moment lang passierte nichts. Dann streckte sie den Zeigefinger aus.

Entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Logik kam die Fledermaus zu ihr, als sei sie zu ihrem Herrn gerufen worden, und als die geflügelte Kreatur wie ein Vogel landete, drang eine tiefe Stimme mit Akzent in Ricks Gehirn, als würde sie nicht durch seine Ohren, sondern durch seinen Stirnlappen in seinen Schädel gepresst.

Ich mag es nicht, wenn auf meinem Grundstück getötet wird, und er ist mir hier willkommener als ihr.

Etwas tropfte von diesem Finger. Etwas Rotes und Furchterregendes. Blut.

Die Gestalt verschwand auf dieselbe Art, wie sie gekommen war, mit der schlagartigen Geschwindigkeit eines panisch rasenden Herzens. Und jetzt, wo das Licht aus dem Flur nicht mehr von der Gestalt verdeckt wurde, beleuchtete der angenehme Streifen Helligkeit den gemusterten Teppich des Fremdenzimmers, die Unordnung in ihren offen stehenden Koffern und die antike Kommode, die Amy bei ihrer Ankunft so sehr bewundert hatte.

So gewöhnlich, so unspektakulär.

Nur dass sich die Tür nun von selbst wieder schloss.

Als hätte sie jemand mittels Willenskraft bewegt.

»Was war das?«, fragte Amy kleinlaut. »Träume ich?«

Über ihnen überquerten Schritte, schwer und langsam, die Bodendielen des Dachbodens. Der eigentlich unbewohnt war.

Noch eine Erinnerung aus seiner Kindheit, und zwar nicht die vom Stadtpark mit seinem Kinder-Baseballfeld und der gestreiften Mini-Yankees-Uniform, die er mit Stolz getragen hatte. Es war eine Erinnerung an das Farmhaus seiner Großmutter mit den knarrenden Treppenstufen und dem Flur im ersten Stock, bei dem sich ihm jedes Mal die Nackenhaare sträubten – denn er führte zu dem hinteren Schlafzimmer, in dem dieses Mädchen an Tuberkulose gestorben war.

Das Röcheln.

Der pfeifende Atem.

Leises Weinen.

Von diesen Geräuschen war er jede Nacht um Punkt zwei Uhr neununddreißig aufgewacht. Und jedes Mal, wenn er von dem geisterhaften Keuchen geweckt worden war, war er sich, wenn er hochgeschreckt dasaß, obwohl das Ringen nach Luft in seinen Ohren und in seinen Gedanken war, einer Verdichtung in der Stille bewusst, die wie ein schwarzes Loch die Echos der Vergangenheit verzehrte und drohte, ihn durch ihre Schwerkraft ebenfalls zu verschlucken, sodass keine Spur seines jüngeren Ichs zurückblieb, nur ein leeres Bett mit einer warmen Stelle, wo sein lebender Körper einst gelegen hatte.

Rick hatte mit der glasklaren Überzeugung des kindlichen Selbsterhaltungstriebs immer gewusst, dass die Stille, diese entsetzliche Ruhe, für den Geist des kleinen Mädchens den Moment des Todes darstellte, der Schlusspunkt eines endlosen, qualvollen Kreislaufs, den sie jede Nacht genau zu dieser Stunde noch einmal durchlebte; ihr Wille verlor den Kampf, als ihr Körper versagte, ihr langes Hinabgleiten ins Grab war vorbei, ihr Ende kam nicht mit einem Wimmern, sondern mit einer schauderhaften Abwesenheit von Lauten, der Abwesenheit jeglichen Lebens.

Eine unheimliche Erfahrung für den Neunjährigen, der er damals gewesen war.

Als Erwachsener hatte er sich nie wieder auch nur annähernd so verstört oder ängstlich gefühlt. Doch das Leben hatte so seine eigene Art, Speziallieferungen an der emotionalen Adresse abzugeben, und leider konnte man die Annahme nicht verweigern, man musste unterschreiben und sie entgegennehmen.

Die Vergangenheit war so endgültig, wie die Zukunft immer nur hypothetisch war, zwei Enden eines Spek­trums, in dem das eine Beton war und das andere Luft, und das unmittelbare Jetzt, der aktuelle Moment, war der Fixpunkt, an dem das Gewicht des Lebens hin und her schwang.

»Ist das ein Traum?«, fragte Amy noch einmal.

Als er seine Sprache wiedergefunden hatte, flüsterte Rick: »Das will ich lieber nicht so genau wissen.«

Oben auf dem Dachboden des alten Herrenhauses nahm Murhder wieder Gestalt an und ging zu einer der Dachgauben. Als Vampir sah er es als kollegiale Aufmerksamkeit, dass er die Fledermaus gerettet hatte, die jetzt das Blut aufleckte, das aus seinem Zeigefinger quoll, und die Bedeutung der Rettung, die ihr gerade zuteilgeworden war, nicht erahnen konnte.

Vorausgesetzt, man richtete sich nach der menschlichen Mythologie.

In Wahrheit hatten sie nicht viel gemeinsam. Vampire brauchten das Blut eines Angehörigen des anderen Geschlechts, um bei optimaler Kraft und Gesundheit zu bleiben – eine Nahrung, die er seit vielen Jahren nicht gehabt hatte, und ein Bedürfnis, das er aus geringeren Quellen hatte speisen müssen. Die meisten Fledermäuse dagegen ernährten sich von Insekten, auch wenn dieses kleine Kerlchen nun eindeutig eine Ausnahme machte, indem er das ihm angebotene Blut aufleckte. Die beiden Spezies waren so verschieden wie Hund und Katze, auch wenn der Homo sapiens sie durch verschiedenste Geschichten, Bücher, Filme, Serien und so weiter miteinander verknüpft hatte.

Er öffnete einen Flügel des Rundbogenfensters, streckte den Arm hinaus und schüttelte die Fledermaus ab; die Kreatur flog in die Nacht davon und kreuzte dabei vor der leuchtenden Fläche des Mondes.

Als er das Eliahu Rathboone B&B ungefähr anderthalb Jahrhunderte zuvor seinem vorherigen Besitzer abgekauft hatte, war sein Plan gewesen, seinen Lebensabend hier allein zu verbringen. So war es nicht gekommen. Zwanzig Jahre zuvor hatte er zwar noch immer in der Blüte seines Lebens gestanden, war aber wegen seines Zusammenbruchs in den Fängen des Wahnsinns gelandet. Ausgebrannt und wie von Sinnen war er durch die leeren Räume gewandelt, in der Hoffnung, sein Geist würde diesem Beispiel folgen und sich von den Bildern befreien, die seine Gedächtnisspeicher verstopften und seine Seele töteten.

Fehlanzeige. Also, zum Thema Alleinsein. Zu dem Haus hatte Personal gehört, das Arbeit brauchte, und wiederkehrende Gäste, die jedes Jahr dasselbe Zimmer für ihren Hochzeitstag wollten, außerdem Buchungen für Hochzeiten, die schon Monate im Voraus gemacht worden waren.

In einer früheren Inkarnation hätte er sie alle rausgeschmissen. Nach allem, was passiert war, hatte er jedoch nicht mehr gewusst, wer er war. Seine Persönlichkeit, sein Charakter, seine Seele waren durch eine Feuerprobe gegangen und hatten versagt. Mit dem Ergebnis, dass sein Überbau zusammengebrochen war, das Gebäude eingestürzt, sein einst starker und entschlossener Charakter in Schutt und Asche gelegt.

Also hatte er die Menschen weiterhin herkommen und in seiner Nähe arbeiten, schlafen, essen, streiten, Liebe machen und leben lassen. So etwas tat man nur, wenn man verloren war in der Welt, ein Akt der Verzweiflung, der uncharakteristisch für ihn war, getrieben von dem Gedanken: »Vielleicht hält mich das auf dem Planeten fest.« Die Erdanziehungskraft schien jedenfalls nicht mehr allzu viel Interesse an ihm zu haben.

Gütige Jungfrau der Schrift, es hatte eine schreckliche Leichtigkeit, verrückt zu sein. Sich wie ein Ballon an einer Schnur zu fühlen, keinen Boden unter den Füßen, nur eine dünne Leine, die einen an die Realität bindet, der man beinahe entschlüpft wäre.

Er schloss das Fenster und ging zu dem Brett auf zwei Tischböcken hinüber, seinem behelfsmäßigen Schreibtisch, an dem er so viele Stunden verbrachte. Kein Computer stand auf der alten, zerfurchten Oberfläche, kein Telefon oder Handy, kein iPad oder Flachbildfernseher. Nur ein Kerzenständer mit einer brennenden Bienenwachskerze, drei Briefe und ein flacher Umschlag, auf dem FedEx stand, fanden sich darauf.

Murhder setzte sich auf den alten Holzstuhl; die Stuhlbeine protestierten knarrend unter seinem Gewicht.

Aus den Falten seines schwarzen Hemdes zog er seinen Talisman. Die Scherbe aus heiligem Glas, mit schwarzen Seidenbändern umwickelt, fühlte sich zwischen Daumen und Zeigefinger vertraut an, beruhigend. Doch es war mehr als ein Schmuckstück.

An seiner langen Seidenschnur konnte er es so weit von sich halten, dass er das Glas sehen konnte, und im Moment starrte er in seine durchsichtige Fläche.

Vor ungefähr dreißig Jahren hatte er diese Scherbe, ein Teil von einer Glaskugel, aus dem Tempel der Schreiberinnen gestohlen. Absolut verboten. Er hatte es niemandem erzählt. Die Bruderschaft war zum Heiligtum der Jungfrau der Schrift gegangen, wo ihre Auserwählten abgesondert wurden, um zu verteidigen, was für Eindringlinge ihrer Spezies eigentlich unantastbar sein sollte. Der Primal, der männliche Vampir, der den heiligen weiblichen diente, um für neue Generationen der Bruderschaft und der Auserwählten zu sorgen, war abgeschlachtet worden, und die Schatzkammer mit ihren unschätzbaren Reichtümern war gerade im Begriff, geplündert zu werden.

Wie bei den meisten Straftaten war es um unrechtmäßig erworbenen finanziellen Gewinn gegangen.

Murhder hatte einen der Plünderer in den Tempel der Schrift verfolgt, und im darauffolgenden Kampf waren mehrere der Tische, an denen die Auserwählten in die Kristallkugeln schauten und notierten, was unten auf der Erde vor sich ging, zu Bruch gegangen. Nachdem er den Verbrecher getötet hatte, war er zwischen den Trümmern der ursprünglich ordentlichen Reihen von Tischen und Stühlen gestanden und hätte am liebsten geweint.

Das Heiligtum hätte nie entweiht werden dürfen, und er betete, dass keine Auserwählte verletzt worden war – oder Schlimmeres.

Er war gerade dabei gewesen, den Leichnam auf den Rasen hinauszuschleppen, als etwas aufblitzte und ihm ins Auge fiel. Das Heiligtum lag auf der anderen Seite und besaß keine erkennbare Lichtquelle, nur ein Glühen am milchweißen Himmel, also wusste er nicht recht, was diese Reflexion verursacht haben könnte.

Und dann passierte es wieder.

Er hatte sich einen Weg durch Schutt und Blutlachen gebahnt und dann über der Glasscherbe gestanden. Sie war knappe zehn Zentimeter lang und breit gewesen, hatte die Form einer Raute gehabt und auf ihn gewirkt wie ein toter Krieger auf einem Schlachtfeld.

Das Ding hatte zum dritten Mal aufgeleuchtet, ein Aufblitzen aus dem Nichts.

Als wollte es mit ihm kommunizieren.

Murhder hatte es in die Tasche seiner Kampfweste gesteckt und nicht mehr an die Scherbe gedacht. Das geschah erst drei Nächte später. Er war auf der Suche nach einem verschwundenen Messer seine Ausrüstung durchgegangen, als er sie wiederfand.

Da hatte das heilige Glas ihm das Gesicht der schönen Frau gezeigt.

Das hatte ihn so schockiert, dass ihm die Scherbe aus den Fingern glitt und er sich schnitt, als er sie auffangen wollte.

Als er das Ding wieder aufhob, hatte das Blut das Por­trät rot gefärbt. Doch sie war wirklich da – und ihr Anblick schnitt ihm ein Stück aus dem Herzen. Sie hatte Angst, ihre großen, furchtsamen Augen waren so weit aufgerissen, dass man das Weiße sehen konnte, der Mund stand vor Entsetzen offen, die Haut spannte sich straff über ihre Gesichtszüge.

Die Vision ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und drang prompt in seine Albträume ein. War sie eine Auserwählte, die beim Überfall auf das Heiligtum verletzt worden war? Oder eine andere Vampirin, der er noch helfen konnte?

Jahre später hatte er erfahren, wer sie war. Und sie zu enttäuschen war der letzte Schlag gewesen, der ihn seine geistige Gesundheit gekostet hatte.

Er steckte die heilige Scherbe wieder unter sein Hemd, dann fiel sein Blick auf den FedEx-Umschlag. Die Dokumente darin waren bereits von ihm unterschrieben, das Erbe, das ihm ein Verwandter hinterlassen hatte, an den er sich nur schemenhaft erinnerte, war abgelehnt und an den Nächsten in der Blutlinie weitergereicht: auch so jemand, den er nur flüchtig kannte.

Wrath, der große Blinde König, hatte verlangt, dass das Erbe geregelt wurde. Und Murhder hatte diesen königlichen Befehl als Vorwand benutzt, um eine Audienz bei ihm zu bekommen.

Es ging um die drei Briefe.

Er zog sie näher zu sich heran. Die Schrift auf den Umschlägen war mit richtiger Tinte geschrieben, nicht mit dem Zeug, das aus den heutigen Schreibgeräten kam. Die Buchstaben waren ungleichförmig, anscheinend mit zittriger, schwacher Hand geschrieben.

Eliahu Rathboone

Eliahu Rathboone House

Sharing Cross,

South Carolina

Kein Straßenname. Keine Postleitzahl. Aber Sharing Cross war eine kleine Stadt, und alle wussten, wo das Bed&Breakfast zu finden war. Auch der Postvorsteher, der außerdem der Briefträger und der Bürgermeister war – und genau wusste, dass sich die Leute manchmal einen Spaß aus der Kommunikation mit einer toten historischen Gestalt machten.

Murhder war genau genommen nicht Eliahu Rathboone. Er hatte aber ein altes Porträt von sich selbst in der Eingangshalle aufgehängt, um das Haus zu seinem zu machen, und das hatte zu der falschen Zuordnung geführt. Die Leute »sahen« den Geist von Eliahu Rathboone ab und zu auf dem Grundstück und im Haus, und in der modernen Zeit hatten diese Berichte einer langhaarigen Schattengestalt zunächst Amateur-Geisterjäger und dann die Profis auf den Plan gerufen, die kamen, weil sie auf Filmmaterial hofften.

Jemand hatte sogar irgendwann ein kleines Schild unten am Rahmen angebracht, auf dem »Eliahu Rathboone« und sein Geburts- und Todestag standen.

Die Tatsache, dass er dem Menschen, der das Haus vor Jahrhunderten gebaut hatte, nur flüchtig ähnlich sah, schien niemanden zu interessieren. Dank des Internets konnte man sich körnige Bilder von antiken Bleistiftzeichnungen des echten Rathboone anschauen, aber abgesehen davon, dass sie beide lange, dunkle Haare besaßen, hatten sie wenig gemeinsam. Das störte die Leute, die es dennoch glauben wollten, aber nicht. Sie fühlten, dass er der erste Besitzer des Hauses war, deshalb war er der erste Besitzer des Hauses.

Menschen waren große Anhänger des magischen Denkens, und er ließ sie gern in ihrem eigenen Aberwitz schmoren. Wer war er, über sie zu richten? Er war verrückt. Und es war gut fürs Geschäft – weshalb die Angestellten die Gäste ebenfalls in dem Glauben ließen.

Die Verfasserin des Briefes kannte jedoch die Wahrheit. Sie wusste vieles.

Sie musste das B&B im Fernsehen gesehen und die Verbindung hergestellt haben.

Den ersten Brief hatte er ignoriert. Der zweite hatte ihn mit Einzelheiten verunsichert, die nur er selbst kennen konnte. Der dritte hatte ihn zum Handeln gezwungen, auch wenn er nicht sofort gewusst hatte, wie er vorgehen sollte. Und da war der Rechtsbeistand des Königs mit der Nachricht über das Erbe gekommen, und Murhder hatte entschieden, was zu tun war.

Er würde den König um Hilfe bitten. Ihm blieb keine Wahl.

In einem der unteren Stockwerke, auf dem Treppenabsatz der Haupttreppe, schlug die Standuhr neun. Bald würde es Zeit sein, dorthin zurückzukehren, von wo er geflohen war, um die wiederzusehen, deren Anblick er sich gern erspart hätte. Für kurze Zeit wieder in das Leben einzutreten, das er verlassen hatte, unter Eid, niemals wieder dorthin zurückzukehren.

Wrath, Sohn des Wrath. Die Bruderschaft der Black Dagger. Und der Krieg gegen die Gesellschaft der Lesser.

Auch wenn Letzteres nicht mehr sein Problem war. Die anderen beiden eigentlich auch nicht. In den illustren und uralten Annalen der Bruderschaft war er als der Einzige verschrien, der je ausgeschlossen wurde.

Nein, Moment … der Bloodletter war ebenfalls verbannt worden. Nur nicht dafür, dass er den Verstand verloren hatte.

Er hatte sich keinen Grund vorstellen können, warum er je wieder mit diesen Kämpfern oder diesem König zu tun haben sollte.

Doch dies war sein Schicksal. So hatte es ihm die heilige Scherbe offenbart.

Diese Vampirin erwartete, dass er ihr gegenüber endlich das Richtige tat.

Tatsächlich hatte er sich in seinem Leben oft schuldig gemacht, viele seiner Taten hatten andere verletzt, ihnen Schmerz zugefügt, sie verkrüppelt, getötet. Ein Kämpfer war er einst gewesen, ein Mörder für eine Sache, die im Prinzip edel gewesen war, in der Ausführung aber blutrünstig. Das Schicksal hatte jedoch einen Weg gefunden, ihn für all das, was er getan hatte, zur Rechenschaft zu ziehen, und auch jetzt drückte das Gewicht dieser Last ihn gnadenlos nieder.

Plötzlich hatte er wieder das Bild einer Vampirin vor sich, ein starker Körper, ein unbeugsamer Wille, mit kurzen Haaren und funkelnden, metallisch grauen Augen sah sie ihn mit nüchterner Direktheit an.

Es war nicht die aus der Glasscherbe.

Er sah Xhex oft in seinem gebrochenen Geist, Visionen von ihr, Erinnerungen sowohl an sie beide als auch an alles, was später passiert war, der einzige Kanal, auf den sein mentaler Bildempfänger eingestellt war. Er begab sich zögernd in den Dunstkreis der Bruderschaft zurück, aber ein Wiedersehen mit der Vampirin würde seinen kaputten Verstand vollends zerstören, da war er sich ziemlich sicher. Wenigstens musste er sich keine Sorgen machen, dass er ihr über den Weg lief. Seine ehemalige Geliebte war ihr ganzes Leben lang ein einsamer Wolf gewesen, und diese Eigenschaft gehörte wie ihre metallische Augenfarbe zu ihr, weshalb er keine Bedenken haben musste, dass sie sich womöglich mit jemandem zusammenfand.

Das tat man, wenn man ein Symphath war, der unter Vampiren lebte: Man hielt diesen Teil des eigenen Wesens vor allen verborgen, indem man sich anderen so weit wie möglich entzog.

Selbst wenn es um die Vampire ging, mit denen man schlief. Die glaubten, einen zu kennen. Die törichterweise in die Symphathenkolonie rannten, um einen aus der Gefangenschaft zu befreien – nur um dort zu erfahren, dass man gar nicht entführt worden war.

Man hatte nur seine verfluchte Familie besucht.

Diese edelmütige Tat seinerseits, verwurzelt in seinem Bedürfnis, sich als Retter zu gerieren, war der Beginn ihrer beider Albtraum gewesen. Seine Entscheidung, sie zu suchen, hatte den Kurs ihrer beider Leben nachhaltig verändert, denn sie hatte ihre wahre Natur vor ihm geheim gehalten.

Und nun … weitere Nachwirkungen, unerwartet und unbestreitbar, waren über ihn hereingebrochen. Wenigstens würden sie aber letztendlich vielleicht zu einer Lösung führen, die er mit so etwas wie Frieden mit ins Grab nehmen konnte.

Murhder fächerte die Briefe auf. Eins, zwei, drei. Erster, zweiter, dritter.

Er war dieser Aufgabe nicht gewachsen.

Und so, wie er tief in seinem Inneren wusste, dass er diese Pilgerschaft nicht verkraften würde, war er sich bewusst, dass es keine Rückkehr von der Reise geben würde. Dennoch war es an der Zeit, alldem ein Ende zu setzen. Als er ursprünglich hierhergekommen war, hatte er einen Rest Hoffnung gehabt, dass er mit der Zeit vielleicht wieder in seinen Körper zurückfinden würde, wieder darin wohnen, seine Bestimmung erneuern und die Verbindung zu der gewöhnlichen Wirklichkeit, in der alle anderen Sterblichen lebten, wiederherstellen würde.

Zwei Jahrzehnte waren lang genug, um abzuwarten, was passierte, und in diesen zwanzig Jahren hatte sich rein gar nichts geändert. Er war noch genauso durch den Wind wie damals, als er angekommen war. Das Mindeste, was er tun konnte, war, sich selbst ein für alle Male aus diesem Elend zu befreien, und das auf die redliche Art.

Seine letzte Tat sollte tugendhaft sein. Für die Frau, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte.

Ungefähr so, wie man einen Raum nach der Benutzung sauber hinterließ, würde er, bevor er aus dieser Welt schied, das Chaos wieder in Ordnung bringen, das er unwissentlich ausgelöst hatte. Und danach? Das Nichts.

Er glaubte nicht an den Schleier. Er glaubte an gar nichts.

Außer an das Leiden. Und das würde für ihn bald vorüber sein.