Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Die Autorin
Widmung
DANKSAGUNG
GLOSSAR DER BEGRIFFE UND EIGENNAMEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
DUNKLES ERWACHEN
Copyright

DANKSAGUNG

Mit unendlicher Dankbarkeit den Lesern der Black Dagger und ein Hoch auf meine Cellies! Ich danke euch so sehr: Karen Solem, Kara Cesare, Claire Zion, Kara Welsh, Rose Hilliard.

 

Dank auch an die besten Zahnarztteams der Welt:

Dr. Robert N. Mann und Ann Blair

Dr. Scott A. Norton und Kelly Eichler

und ihre unvergleichlichen Mitarbeiter.

 

Und wie immer heißen Dank an meinen Exekutivausschuss: Sue Grafton, Dr. Jessica Andersen, Betsey Vaughan.

 

In Liebe zu meiner Familie.

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während ihres Studiums mit dem Schreiben. Nach ihrem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestseller-Listen eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als neuer Star der romantischen Mystery.

 

Besuchen Sie J. R. Ward unter: www.jrward.com

J. R. Wards BLACK DAGGER wird fortgesetzt in:

DUNKLES ERWACHEN

Leseprobe

 

Ein weiteres Beben erschütterte das Haus und brachte die Männer im Raum ins Wanken. Zsadist umklammerte die Tischkante, und damit war er nicht allein. Vishous’ Knöchel waren schon ganz weiß, so verkrampft hielt er sich fest.

Bella … das war Bella. Sie musste es sein. Die Triebigkeit der Vampirin hatte eingesetzt.

Havers hatte ihn gewarnt, dachte Zsadist. Bei der Untersuchung hatte der Arzt festgestellt, dass sie offenbar kurz vor ihrer fruchtbaren Zeit stand.

Hölle und Granaten. Eine triebige Vampirin. In einem Haus mit sechs Männern.

Wäre es nicht helllichter Tag gewesen, hätten sie einfach das Weite suchen können. Doch sie waren auf dem Anwesen gefangen, und bis es dunkel genug sein würde, um hinauszugehen, wäre es längst zu spät. Wenn ein Vampir diesem Sog zu lange ausgesetzt war, würde er sich instinktiv dagegen sperren, die Nähe der Frau aufzugeben. Egal, was sein Gehirn ihm befähle, sein Körper würde sich dagegen zur Wehr setzen; und falls er sich doch entfernte, wären die Entzugsqualen noch schlimmer als vorher sein Verlangen. Wrath und Rhage hatten ein Ventil für ihre körperliche Reaktion, doch der Rest der Brüder steckte schwer in der Klemme. Ihre einzige Hoffnung lag darin, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betäuben.

Und Bella … Sie litt mehr Schmerzen als alle anderen zusammen.

V stand auf und stützte sich mühsam an seiner Stuhllehne ab. »Komm schon, Phury. Wir sollten was rauchen. Jetzt sofort. Z, du gehst zu ihr, oder?«

Zsadist schloss die Augen.

»Z? Z, du wirst ihr doch dienen – oder?«

 

Vor seiner Zimmertür blieb Z stehen. Er würde nur kurz hineingehen, nach Bella sehen und sich danach schnurstracks zu Phury verkrümeln und sich ordentlich bedröhnen. Er hasste zwar jede Art von Drogen, aber alles war besser als dieser wütende Drang nach Sex.

Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt und sackte sofort gegen den Pfosten. Der Duft im Raum war wie ein Garten in voller Blüte, das Wunderbarste, was ihm jemals in die Nase gestiegen war.

In seiner Hose hämmerte es, Es schrie danach, herausgelassen zu werden.

»Bella?«, forschte er in die Dunkelheit.

Als er ein Stöhnen hörte, ging er hinein und schloss die Tür hinter sich.

Gütige Jungfrau. Ihr Duft … Ein Knurren löste sich tief aus seiner Kehle, seine Finger krümmten sich zu Klauen. Seine Füße übernahmen das Kommando, marschierten zum Bett; der Verstand wurde dabei von den Instinkten einfach zurückgelassen. Vollkommen in die Laken verwickelt, wand Bella sich auf der Matratze. Bei seinem Anblick schrie sie auf, fasste sich dann aber wieder, als zwänge sie sich selbst zur Ruhe.

»Alles in Ordnung bei mir.« Sie drehte sich auf den Bauch, die Oberschenkel rieben aneinander, als sie sich die Decke über den Körper zog. »Wirklich … alles … ich komm schon …«

Wieder entströmte ihr eine Druckwelle, so vehement, dass sie Zsadist nach hinten drückte. In einer fließenden Bewegung rollte Bella sich zu einem Ball zusammen.

»Geh weg«, ächzte sie. »Schlimmer … wenn du hier bist. O … Gott …«

Als sie einen heftigen Fluch ausstieß, taumelte Z rückwärts, obwohl sein Körper danach brüllte, zu bleiben.

Sich auf den Flur zu schleppen, war so einfach, wie ein Raubtier von seiner Beute wegzuzerren. Er schaffte es schließlich dennoch, die Tür zu schließen, und raste zu Phurys Zimmer.

Den ganzen Statuenflur hinunter konnte er bereits den Rauch riechen, den sein Zwillingsbruder und V produzierten. Und als er durch die Tür gestürmt kam, war die Qualmwolke schon so dicht wie Nebel.

Vishous und Phury saßen auf dem Bett, jeder einen fetten Joint zwischen den Fingern, die Gesichtszüge verkrampft, die Körper aufs Äußerste angespannt.

»Was, zum Henker, machst du hier?«, verlangte V zu wissen.

»Gebt mir auch was.« Z deutete mit dem Kopf auf die Mahagonikiste zwischen den beiden.

»Warum hast du sie allein gelassen?« V zog fest an der Selbstgedrehten, die orangefarbene Spitze leuchtete hell auf. »Die Triebigkeit ist doch noch nicht vorüber.«

»Sie hat gesagt, es wäre schlimmer, wenn ich da bin.« Z beugte sich über seinen Zwilling und schnappte sich einen Joint. Seine Hände zitterten so stark, dass er es kaum schaffte, ihn anzuzünden.

»Wie kann das sein?«

»Sehe ich aus, als hätte ich Erfahrung damit?«

»Aber es heißt doch, dass es besser wird, wenn ein Mann bei ihr ist.« V rieb sich das Gesicht, dann sah er ungläubig zu Z hinüber. »Moment mal – du hast gar nicht bei ihr gelegen, oder? Z? Z, antworte gefälligst!«

»Nein, hab ich nicht«, fauchte er. Ihm war bewusst, dass Phury sehr, sehr still geworden war.

»Wie konntest du die arme Frau in ihrem Zustand im Stich lassen?«

»Sie hat gesagt, es wäre alles in Ordnung.«

»Kann ja sein, aber es fängt doch gerade erst an. Nichts ist in Ordnung. Die Schmerzen können nur dadurch gelindert werden, dass ein Mann in ihr zum Ende kommt, verstehst du mich? Du darfst sie nicht damit allein lassen. Das ist grausam.«

Z wanderte unruhig zu einem der Fenster. Die Rollläden waren noch für den Tag heruntergelassen, und er dachte an die Sonne, diesen großen, hellen Gefängniswärter. O, wie sehr er sich wünschte, das Haus verlassen zu können. Er fühlte sich, als schnappte eine Falle zu, und der Drang wegzulaufen war beinahe so stark wie die Lust, die ihn völlig handlungsunfähig machte.

Er dachte an Phury, der den Blick gesenkt hielt und kein Wort sagte.

Das ist deine Chance, dachte Z. Schick einfach deinen Zwillingsbruder zu ihr. Er soll ihr dienen.

Mach schon. Sag ihm, er soll in dein Zimmer gehen, seine Kleider ausziehen und sie mit seinem Körper bedecken.

O … beim Schleier und der Ewigkeit …

Vishous’ Stimme schnitt durch seine Selbstquälereien, klang durchdringend und vernünftig. »Zsadist, das ist nicht richtig, und das weißt du auch, hab ich recht? Du darfst ihr das nicht antun, sie ist …«

»Wie wär’s, wenn du mir mal vom Leib bleibst, mein Bruder.«

Eine kurze Pause entstand. »Na gut, dann kümmere ich mich eben um sie.«

Zs Kopf wirbelte herum, als Vishous seinen Joint ausdrückte und aufstand. Er zog sich die Hose hoch, wobei seine Erregung unübersehbar war.

Zsadist warf sich so schnell durch den Raum, dass er seine Füße nicht einmal spürte. Er riss Vishous zu Boden und umklammerte den kräftigen Hals seines Bruders mit den Händen. Die Fänge schossen aus seinem Oberkiefer wie Messer, und er fletschte sie knurrend.

Wenn du in ihre Nähe kommst, bringe ich dich um.

Hinter sich hörte er ein hektisches Gemenge, zweifellos Phury, der sie trennen wollte, doch V durchkreuzte jeglichen Rettungsversuch.

»Nicht, Phury!« Mühsam rang V nach Atem. »Nur zwischen mir … und ihm.«

Vishous’ Diamantaugen blickten scharf nach oben, und obwohl er kaum Luft bekam, war seine Stimme so kraftvoll wie immer.

»Komm wieder runter, Zsadist … du Vollidiot …« Er sog die Luft tief in seine Lungen. »Ich gehe nirgendwohin … wollte nur deine Aufmerksamkeit erregen. Jetzt … lass los.«

Z lockerte den Griff, blieb aber immer noch auf dem Bruder sitzen.

Gierig atmete Vishous ein. Mehrere Male. »Spürst du deine Vibes, Z? Spürst du diesen Revierinstinkt? Du hast dich an sie gebunden.«

Z wollte es einfach leugnen, doch das war nach der Rugbynummer, die er gerade abgezogen hatte, ein bisschen schwierig. Und angesichts der Tatsache, dass seine Hände immer noch um den Hals des anderen Vampirs lagen.

V senkte seine Stimme zu einem Flüstern herab. »Dein Pfad aus der Hölle heraus wartet auf dich. Sie ist am Ende des Flurs, Mann. Sei kein Dummkopf. Geh zu ihr. Es wird euch beiden einen Dienst erweisen.«

Z schwang sein Bein zur Seite und stieg von Vishous herab, dann rollte er sich auf den Boden.

Um nicht an Pfade aus der Hölle und Frauen und Sex denken zu müssen, überlegte er abwesend, was wohl mit dem Joint passiert war. Ein Blick zum Fenster sagte ihm, dass er immerhin den Anstand gehabt hatte, ihn auf der Fensterbank abzulegen, bevor er sich wie eine Rakete auf Vishous gestürzt hatte.

Er war eben ein echter Gentleman.

»Sie kann dich heilen«, sagte V.

 

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J.R. Ward: DUNKLES ERWACHEN

1

»Verflucht noch mal, Zsadist! Lass den Scheiß …«

Phurys Stimme übertönte nur mit Mühe das Geräusch des Aufpralls vor ihnen. Und sie hielt seinen Zwillingsbruder nicht davon ab, bei achtzig Sachen aus dem fahrenden Escalade zu springen.

»V, er ist draußen! Kehrtwende!«

Phurys Schulter knallte gegen das Fenster, als Vishous das Steuer des SUVs gekonnt herumriss. Die Scheinwerfer wirbelten herum und strichen über Z hinweg, der sich auf dem schneebedeckten Asphalt abrollte. Nur den Bruchteil einer Sekunde später sprang er wieder auf die Füße und sprintete auf die qualmende, zerknitterte Limousine zu, die jetzt einen Baumstamm als Dekoration auf der Motorhaube trug.

Ohne seinen Bruder aus den Augen zu lassen, tastete Phury nach seinem Sicherheitsgurt. Die Lesser, die sie hier hinaus an den Rand von Caldwell gejagt hatten, mochten vielleicht von den Gesetzen der Physik rüde an der Weiterfahrt gehindert worden sein, aber das hieß nicht, dass sie aus dem Verkehr gezogen waren. Diese untoten Dreckskerle waren ziemlich hart im Nehmen.

Der Escalade blieb ruckartig stehen. Phury riss die Tür auf seiner Seite auf, während er gleichzeitig die Beretta zog. Schwer zu sagen, wie viele Lesser in dem Auto saßen, oder was für Munition sie dabeihatten. Die Feinde der Vampire traten normalerweise in Rudeln auf und waren immer schwer bewaffnet – Verfluchte Scheiße! Drei hellhaarige Jäger stiegen aus, und nur der Fahrer wirkte von dem Unfall ein bisschen angeschlagen.

Das miserable Kräfteverhältnis bremste Zsadist nicht im Mindesten. Lebensmüder Wahnsinniger, der er war, stürzte er sich mit gezogenem schwarzem Dolch unbeirrbar auf die untote Dreiergruppe.

Inzwischen stürmte auch Phury quer über die Straße, dicht gefolgt von Vishous. Leider waren sie völlig überflüssig.

Die Luft war von geräuschlosem Schneegestöber erfüllt, und der süße Duft der Kiefern mischte sich mit dem aus dem zerstörten Auto austretenden Benzin. Zsadist erledigte alle drei Lesser allein mit seinem Dolch. Zuerst zerschnitt er ihnen die Sehnen der Kniekehlen, damit sie nicht mehr weglaufen konnten, dann brach er ihnen die Arme, damit sie sich nicht mehr wehren konnten, und schließlich schleifte er sie über den Boden und reihte sie nebeneinander auf wie schauerliche Puppen.

Das Ganze dauerte maximal viereinhalb Minuten, inklusive dem Einsammeln der Ausweise und Führerscheine. Danach hielt Zsadist kurz inne und schöpfte Atem. Als er so auf die Ölspur aus schwarzem Blut blickte, die sich über den weißen Schnee zog, stieg Dampf von seinen Schultern auf, ein merkwürdig sanft wirkender Dunst, der vom eiskalten Wind verweht wurde.

Phury steckte seine Beretta wieder in das Holster zurück und verspürte eine leichte Übelkeit, als hätte er eine Familienpackung Butter verdrückt. Unbehaglich rieb er sich das Brustbein, sah sich zuerst nach links um, dann nach rechts. Die Route 22 war zu dieser nachtschlafenden Zeit außerhalb Caldwells wie ausgestorben. Menschliche Zeugen waren höchst unwahrscheinlich. Und Rehe zählten nicht.

Er wusste, was jetzt kam. Versuchte erst gar nicht, es aufzuhalten.

Zsadist kniete sich hin und beugte sich über einen der Lesser, das vernarbte Gesicht verzerrt vor Hass, die zerstörte Oberlippe gefletscht, die Fänge länger als die eines Tigers. Mit seinem kurz geschorenen Haar und den eingefallenen Wangen sah er aus wie der Sensenmann höchstpersönlich; und wie Gevatter Tod störte es auch ihn nicht im Geringsten, in der Kälte zu arbeiten. Er war besser bewaffnet als angezogen; trug lediglich einen schwarzen Rolli und eine weite schwarze Hose am Leib, doch über seine Brust spannte sich das Markenzeichen der Bruderschaft der Black Dagger, die gekreuzten Dolchhalfter. Um die Oberschenkel hatte er zwei weitere Messer geschnallt, und in seinem Pistolengurt steckten zwei SIG Sauer.

Wobei er die Neun-Millimeter-Waffen nie benutzte. Er wurde lieber persönlich, wenn er tötete. Das waren die einzigen Momente, in denen er überhaupt jemandem nahe kam.

Jetzt packte Z den Lesser am Kragen seiner Lederjacke, riss seinen Oberkörper heftig vom Boden hoch und hielt ihn sich ganz dicht vor das Gesicht.

»Wo ist die Frau?« Als er außer einem gemeinen Lachen keine Antwort bekam, verpasste Z dem Vampirjäger einen Fausthieb. Der Schlag hallte in den Bäumen wider, ein hartes Geräusch wie von einem zerbrechenden Ast. »Wo ist die Frau?«

Das höhnische Grinsen machte Z so wütend, dass er sein eigener Polarkreis wurde. Die Luft um seinen Körper herum lud sich magnetisch auf und wurde kälter als die Nacht. Keine Schneeflocke war mehr in seiner Nähe zu sehen, als lösten sie sich durch die Kraft seines Zorns in Nichts auf.

Hinter sich hörte Phury ein leises Knistern und blickte sich um. Vishous zündete sich eine Selbstgedrehte an, die Tattoos um seine linke Schläfe herum und das Ziegenbärtchen um seinen Mund leuchteten im orangefarbenen Schein der Flamme auf.

Beim Geräusch eines weiteren Faustschlags nahm V einen tiefen Zug und ließ den Blick seiner diamantklaren Augen zur Seite wandern. »Alles klar bei dir, Phury?«

Nein, nichts war klar. Zs aggressives Wesen war schon immer legendär gewesen, doch in letzter Zeit war er so brutal geworden, dass man ihm kaum noch zusehen konnte. Das bodenlose, seelenlose Nichts in ihm war völlig entfesselt, seitdem Bella von den Lessern entführt worden war.

Und immer noch gab es keine Spur von ihr. Die Brüder hatten keine Hinweise, keine Anhaltspunkte, absolute Fehlanzeige, wohin sie auch blickten. Trotz Zs knallharter Befragungstechnik.

Phury war selbst völlig fertig wegen der Entführung. Zwar kannte er Bella noch nicht lange, doch sie war eine so schöne Frau, aus der obersten Adelsschicht ihrer Rasse. Für ihn allerdings hatte sie mehr bedeutet als nur eine edle Blutlinie. So viel mehr. Sie hatte jenseits seines Zölibatsschwurs den Mann hinter der Selbstbeherrschung berührt, hatte etwas in ihm aufgewühlt, das er tief in sich verborgen hatte. Er versuchte ebenso verzweifelt, sie zu finden wie Zsadist, doch nach sechs Wochen verlor er langsam den Glauben daran, dass sie noch lebte. Die Lesser folterten Vampire, um Informationen über die Bruderschaft aus ihnen herauszubekommen, und wie der Rest der Zivilbevölkerung wusste sie nur wenig über die Brüder. Sicherlich hatte man sie inzwischen getötet.

Seine einzige Hoffnung war, dass sie nicht tage- oder gar wochenlang durch die Hölle hatte gehen müssen, bevor sie in den Schleier eingehen durfte.

»Was habt ihr mit der Frau gemacht?«, knurrte Zsadist den nächsten Lesser an. Als er nur ein »Leck mich« zu hören bekam, biss er den Scheißkerl in einer bemerkenswerten Imitation von Mike Tyson.

Warum allerdings Zsadist sich überhaupt derart um eine vermisste Vampirin kümmerte, kapierte keiner in der Bruderschaft. Er war bekannt für seinen Frauenhass – ach was, er war dafür geradezu gefürchtet. Warum also ausgerechnet Bella ihm etwas bedeutete, blieb ein Rätsel.

Während das Echo von Zs schmutziger Arbeit die Einsamkeit des Waldes durchbrach, spürte Phury, wie er selbst der Befragung nicht standhielt, obwohl die Lesser stark blieben und keinerlei Information preisgaben.

»Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte«, flüsterte er kaum hörbar.

Zsadist war das Einzige, was er im Leben hatte, außer der Mission der Bruderschaft, die Vampire gegen die Lesser zu verteidigen. Jeden Tag schlief Phury allein, wenn er überhaupt schlief. Essen verschaffte ihm nur wenig Lust. Frauen standen wegen seines Zölibats nicht zur Debatte. Und jede einzelne Sekunde machte er sich Sorgen, was Zsadist als Nächstes abziehen und wer dadurch verletzt werden würde. Er fühlte sich, als stürbe er an tausend Stichen, als verblutete er ganz langsam. Eine Ersatzzielscheibe für die gesammelte Mordlust seines Zwillingsbruders.

V streckte die Hand mit dem Handschuh aus und umschloss Phurys Hals. »Sieh mich an, Mann.«

Phury schielte zu ihm herüber und zuckte zusammen. Die Pupille von Vishous’ linkem Auge – dem mit der Tätowierung darum – dehnte sich, bis man nichts mehr sah als ein schwarzes Loch.

»Vishous, nein … ich will nicht …« Scheiße. Das fehlte ihm gerade noch, jetzt etwas über die Zukunft zu erfahren. Wie sollte er, bitte schön, damit umgehen, dass alles nur noch schlimmer werden würde?

»Der Schnee fällt heute Nacht langsam«, sagte V und rieb sich mit dem Daumen über eine pulsierende Halsader.

Phury blinzelte, eine merkwürdige Ruhe senkte sich über ihn, sein Herzschlag verlangsamte sich auf den Rhythmus von Vs Daumen.

»Der Schnee … er fällt so langsam.«

»Ja … ja, das tut er.«

»Und wir hatten in diesem Jahr viel Schnee, nicht wahr?«

»Ähm … ja.«

»Ja … viel Schnee, und es wird noch mehr kommen. Heute Nacht. Morgen. Nächsten Monat. Nächstes Jahr. Die Flocken kommen, wann sie wollen, und fallen, wo sie wollen.«

»Das stimmt«, entgegnete Phury leise. »Man kann es nicht aufhalten.«

»Nur der Boden kann es aufhalten.« Der Daumen hörte auf zu reiben. »Mein Bruder, für mich siehst du nicht aus wie der Erdboden. Du wirst den Schnee nicht aufhalten. Niemals.«

Eine Reihe von Knallgeräuschen ertönte, gefolgt von Lichtblitzen, als Z den Lessern den Dolch in die Brust stieß, und die Körper sich in nichts auflösten. Dann hörte man nur noch das Zischen des kaputten Kühlers und Zs schweres Atmen.

Wie ein Gespenst erhob er sich von dem schwarz durchtränkten Boden, das Blut der Lesser strömte ihm über Gesicht und Arme. Seine Aura war ein schimmernder Dunst der Gewalt, der die Szenerie hinter ihm zum Flimmern brachte und den Wald um den Umriss seines Körpers herum unscharf wirken ließ.

»Ich fahre in die Stadt«, sagte er und wischte sich die Klinge am Oberschenkel ab, »und suche mir ein paar weitere.«

 

Unmittelbar bevor Mr O wieder loszog, um Vampire zu jagen, öffnete er die Trommel seiner Neun-Millimeter-Smith-&-Wesson und untersuchte das Innere des Laufs. Die Waffe musste dringend gereinigt werden, genau wie seine Glock. Er hatte zwar noch jede Menge andere Sachen auf seiner Erledigungsliste stehen, aber nur ein Vollidiot pflegte seine Knarren nicht. Ein Lesser musste immer tadellose Waffen bei sich haben. Bei einem Gegner wie der Bruderschaft der Black Dagger durfte man sich keine Nachlässigkeit erlauben.

Auf seinem Weg quer durch das Überzeugungszentrum machte er einen Schlenker um den Autopsietisch herum, den sie für ihre Arbeit benutzten. Das Gebäude bestand aus einem einzigen Raum ohne Isolierung und ohne Bodenbelag, doch da keine Fenster eingebaut waren, drang immerhin kaum Wind ein. Es gab eine Pritsche, auf der er schlief. Eine Dusche. Keine Toilette oder Küche, da Lesser nicht aßen. Das Gebäude roch immer noch nach frischem Holz, da es erst vor eineinhalb Monaten erbaut worden war. Es roch außerdem nach dem Petroleumradiator, mit dem sie es beheizten.

Das Inventar beschränkte sich auf ein Regal, das sich über die gesamte, fünfzehn Meter lange Wand vom nackten Erdboden bis zu den Dachsparren erstreckte und in dem ihr Werkzeug ordentlich auf den Brettern aufgereiht lag: Messer, Schraubstöcke, Zangen, Hammer, Fuchsschwänze. Alles, was einer Kehle einen Schrei entreißen konnte, war hier vorhanden.

Doch das Gebäude war nicht nur eine Folterkammer; es diente auch zur Verwahrung Gefangener. Vampire über einen längeren Zeitraum einzusperren, war knifflig, denn sie konnten einem direkt vor der Nase weg verpuffen, wenn sie es schafften, sich zu entspannen und zu konzentrieren. Stahl hinderte sie an dieser Magie, aber eine Zelle mit Gitterstäben wiederum schirmte die Blutsauger nicht vor dem Sonnenlicht ab, und einen geschlossenen Raum aus massivem Stahl zu bauen, war unpraktisch. Was allerdings prächtig funktionierte, war ein Abflussrohr aus Wellblech, das vertikal in den Boden eingelassen war. Beziehungsweise drei davon.

O war stark versucht, zu den Aufbewahrungsrohren hinüberzugehen, wusste aber ganz genau, dass er dann den Absprung nicht mehr schaffen würde. Und er hatte Quoten zu erfüllen. Der stellvertretende Befehlshaber nach dem Haupt-Lesser zu sein, verschaffte ihm einige Boni, wie zum Beispiel diese Einrichtung leiten zu dürfen. Gleichzeitig musste er aber, wenn er seine Privatsphäre schützen wollte, eine angemessene Performance zeigen.

Was zum Beispiel auch bedeutete, seine Waffen in Schuss zu halten, selbst wenn er eigentlich lieber etwas anderes tun würde. Er schob einen Erste-Hilfe-Kasten beiseite, schnappte sich die Waffenreinigungskiste und zog einen Stuhl an den Autopsietisch.

Die einzige Tür des Gebäudes schwang ohne Anklopfen auf. O blickte über die Schulter, doch beim Anblick des Besuchers zwang er sich dazu, den entnervten Ausdruck von seinem Gesicht zu wischen. Mr X war nicht willkommen, aber da er nun mal der Boss der Gesellschaft der Lesser war, konnte er ihn schlecht abweisen. Schon alleine aus Selbsterhaltungstrieb.

Wie er so unter der nackten Glühbirne stand, sah der Haupt-Lesser deutlich wie ein Mann aus, mit dem man sich besser nicht anlegte, falls man an seinem eigenen Körper hing. Knapp zwei Meter groß und eine Statur wie ein Auto: quadratisch und stahlhart. Und wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft, die ihre Initiation schon längere Zeit hinter sich hatten, waren all seine Pigmente verblasst. Seine weiße Haut nahm niemals einen rosigen Schimmer an. Sein Haar hatte die Farbe eines Spinnennetzes. Die Augen zeigten das helle Grau eines bedeckten Himmels und waren ebenso glanzlos und stumpf.

Lässig begann Mr X durch den Raum zu schlendern und sich umzusehen. Er wollte nicht überprüfen, ob aufgeräumt war, so viel war klar – er suchte etwas. »Man hat mir erzählt, Sie hätten gerade einen Neuen bekommen. «

O ließ den Lappen sinken und zählte im Geiste die Waffen, die er am Körper trug. Ein Wurfmesser am rechten Oberschenkel; die Glock im Hosenbund. Er wünschte, er hätte mehr. »Den hab ich vor etwa fünfundvierzig Minuten in der Innenstadt vor dem Zero Sum aufgelesen. Er steckt in einem der Löcher und kommt gerade wieder zu sich.«

»Gut gemacht.«

»Ich hatte eigentlich vor, direkt noch mal loszugehen, jetzt sofort.«

»Ach ja?« Mr X blieb vor dem Regal stehen und nahm ein Jagdmesser mit Wellenschliff in die Hand. »Wissen Sie, ich habe etwas verdammt Beunruhigendes gehört. «

O hielt den Mund und ließ die Hand auf den Oberschenkel gleiten, näher an den Griff seines Messers.

»Wollen Sie mich gar nicht fragen, was?«, der Haupt-Lesser spazierte auf die drei Aufbewahrungsrohre in der Erde zu. »Vielleicht, weil Sie das Geheimnis bereits kennen? «

Unmerklich umschloss O das Messer mit der Handfläche, als Mr X über den Abdeckungen aus Drahtgeflecht verweilte, die auf den Abflussrohren lagen. Die ersten beiden Gefangenen gingen ihm am Allerwertesten vorbei. Der dritte jedoch ging niemanden etwas an.

»Nichts frei, Mr O?« Mit der Spitze seines schweren Stiefels tippte Mr X gegen eines der Seile, die in jedes der Löcher hinabreichten. »Ich dachte, Sie hätten zwei getötet, weil die Jungs nichts Weltbewegendes zu erzählen hatten.«

»Stimmt.«

»Einschließlich des Vampirs, den sie heute festgesetzt haben, müsste dann eines der Rohre frei sein. Stattdessen sind unsere Röhren voll besetzt.«

»Ich habe noch einen gefangen.«

»Wann?«

»Gestern Nacht.«

»Sie lügen.« Mr X schob den Drahtdeckel mit dem Fuß von der dritten Röhre.

Os erster Impuls war, auf die Füße zu springen, mit zwei Sätzen bei Mr X zu sein und ihm das Messer in die Kehle zu rammen. Doch so weit würde er gar nicht kommen. Der Haupt-Lesser hatte einen raffinierten Trick drauf, mit dem er seine Untergebenen auf der Stelle erstarren lassen konnte. Es genügte, den fraglichen Kandidaten einfach anzusehen.

Also blieb O, wo er war, und bebte vor Anstrengung, seinen Hintern unbeweglich auf dem Stuhl zu lassen.

Mr X holte eine Taschenlampe aus der Hosentasche, knipste sie an und richtete den Strahl in das Loch. Als ein ersticktes Quieken zu hören war, weiteten sich seine Augen. »Ich will verdammt sein, es ist wirklich eine Frau! Warum zum Teufel weiß ich davon nichts?«

Ganz langsam stand O auf. Das Messer hing unter der weiten Cargohose an seinem Oberschenkel. Den Griff hatte er fest in der Hand. »Sie ist neu«, sagte er.

»Darüber habe ich aber etwas anderes gehört.«

Mit schnellen Schritten ging Mr X ins Badezimmer und riss den Plastikduschvorhang zurück. Fluchend trat er gegen die Shampooflaschen und Babyöltiegel, die in einer Ecke aufgereiht standen. Dann lief er zum Munitionsschrank und zog die Kühlbox heraus, die dahinter versteckt war. Er stellte sie auf den Kopf, sodass die Vorräte darin auf den Boden fielen. Da Lesser keine Nahrung zu sich nahmen, war das ein eindeutiges Geständnis.

Mr Xs bleiche Miene war wutverzerrt. »Sie halten sich hier also ein Haustier?«

O wog seine möglichen Ausreden ab, während er gleichzeitig die Entfernung zwischen ihnen beiden abschätzte. »Sie ist wertvoll. Ich benutze sie bei den Befragungen. «

»Und wie?«

»Die männlichen Mitglieder der Gattung mögen es nicht, wenn eine Frau verletzt wird. Sie ist ein Ansporn, die Wahrheit zu sagen.«

Mr Xs Augen verengten sich. »Warum haben Sie mir nichts von ihr erzählt?«

»Das hier ist mein Zentrum. Sie haben es mir übertragen, und ich darf es nach meinem Ermessen leiten.« Und wenn er den Dreckskerl finden würde, der geplaudert hatte, würde er ihm die Haut in Streifen abziehen. »Ich kümmere mich gut um den Laden hier, und das wissen Sie auch. Wie ich meine Arbeit erledige, sollte Ihnen eigentlich egal sein.«

»Ich hätte davon erfahren müssen.« Urplötzlich wurde Mr X ganz ruhig. »Haben Sie mit dem Messer in Ihrer Hand etwas Bestimmtes vor, mein Sohn?«

Ja, Papi, stell dir vor, das hab ich. »Habe ich hier das Sagen oder nicht?«

Mr X verlagerte sein Gewicht auf die Fußballen, und O wappnete sich für eine Auseinandersetzung.

Bloß, dass genau in diesem Augenblick sein Handy klingelte. Das erste Klingeln klang schrill in der angespannten Stille, wie ein Schrei. Das zweite wirkte schon weniger aufdringlich. Das dritte war keine große Sache mehr.

Als ihre frontale Konfrontation abgebrochen worden war, dämmerte O langsam, dass er nicht ganz klar im Kopf war. Er war ein großer Bursche und ein extrem guter Kämpfer, aber gegen Mr Xs Tricks kam er nicht an. Und wenn O verletzt oder getötet wurde, wer sollte sich dann um seine Frau kümmern?

»Gehen Sie dran«, befahl Mr X. »Und stellen Sie auf Lautsprecher.«

Der Anruf kam von einem weiteren Elitekämpfer. Drei Lesser waren am Straßenrand keine drei Kilometer von hier entfernt eliminiert worden. Ihr Auto war um einen Baum gewickelt aufgefunden worden, die Brandflecke ihrer Auflösung hatten den Schnee geschmolzen.

Verdammter Mist. Die Black Dagger. Wieder einmal.

Als O aufgelegt hatte, fragte Mr X: »Wie sieht’s aus, wollen Sie sich mit mir anlegen, oder wollen Sie lieber an die Arbeit gehen? Eins davon wird ihr sicherer Tod sein. Sie können es sich aussuchen.«

»Habe ich hier das Sagen?«

»Solange Sie mir geben, was ich brauche.«

»Ich habe schon haufenweise Zivilisten hierher gebracht. «

»Leider erzählen die nicht gerade viel.«

O ging zu dem offenen Rohr und deckte es wieder ab, ohne Mr X auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dann stellte er seinen Stiefel auf die Abdeckung und blickte dem Haupt-Lesser direkt in die Augen.

»Ich kann auch nichts dafür, dass die Bruderschaft sich selbst ihrer eigenen Gattung gegenüber so geheimnisvoll gibt.«

»Möglicherweise müssen Sie sich ein bisschen mehr anstrengen.«

Sag nicht, er soll dich am Arsch lecken, dachte O. Wenn du diese Probe deiner Willenskraft nicht überstehst, ist deine Frau Hundefutter.

Während O mühsam versuchte, sich zurückzuhalten, lächelte Mr X. »Ihre Beherrschung wäre noch bewundernswerter, wenn sie nicht die einzig mögliche Reaktion wäre. Aber lassen Sie uns über die heutige Nacht reden. Die Brüder werden nach den Kanopen der ausgeschalteten Jäger suchen. Fahren Sie schleunigst zu Mr H nach Hause und holen Sie seine Kanope ab. Ich werde jemanden zu As Wohnung schicken und mich um D selbst kümmern.«

An der Tür blieb Mr X noch einmal stehen. »Und was die Vampirin betrifft … Wenn Sie sie als Werkzeug benutzen, dann behalten Sie sie von mir aus. Aber wenn Sie das Weibsstück hier aus einem anderen Grund einquartiert haben, dann haben wir ein Problem. Wenn Sie weich werden, verfüttere ich Sie Stück für Stück an Omega.«

O erschauerte nicht einmal. Er hatte Omegas Folter schon einmal über sich ergehen lassen, und er würde es sicher auch wieder überstehen. Für seine Frau würde er alles durchstehen.

»Also, was haben Sie mir zu sagen?«, herrschte ihn der Haupt-Lesser an.

»Ja, Sensei.«

Ungeduldig wartete O, bis er hörte, wie Mr X Auto sich entfernte. Sein Herz ratterte dabei wie ein Elektrotacker. Er wollte seine Frau aus der Röhre holen und ihren Leib an seinem Körper spüren, doch dann würde er nicht mehr die Kraft finden, hier wegzukommen. Um sich etwas zu beruhigen, reinigte er schnell seine S&W und füllte die Munition auf. Es half nicht besonders, aber wenigstens zitterten seine Hände nicht mehr, als er damit fertig war.

Auf dem Weg zur Tür nahm er die Schlüssel zu seinem Pick-up mit und aktivierte den Bewegungsmelder über dem dritten Loch. Diese kleine Spielerei war ein echter Lebensretter. Wenn irgendetwas den Infrarotlaser durchbrach, würde eine Gewehrsalve aus drei Richtungen gleichzeitig losgehen und dem Vorwitzigen ein paar richtig große Löcher verpassen.

Bevor er ging, blieb er noch einmal zögernd stehen. Gott, er wollte sie im Arm halten. Bei dem Gedanken, seine Frau zu verlieren, drehte er einfach durch. Diese Vampirin … sie war jetzt sein Grund zu leben. Nicht die Gesellschaft. Oder das Töten.

»Ich gehe aus, Frau, benimm dich anständig.« Er wartete. »Ich komme bald wieder, und dann werden wir dich waschen.« Als keine Antwort kam, fragte er: »Frau?«

O schluckte zwanghaft. Es half nichts, sich zu ermahnen, ein Mann zu sein, er konnte einfach nicht gehen, ohne ihre Stimme zu hören.

»Lass mich nicht ohne Abschied gehen.«

Stille.

Der Schmerz sickerte in sein Herz und steigerte seine Liebe für sie noch. Er atmete tief ein, das köstliche Gewicht der Verzweiflung setzte sich auf seiner Brust fest. Er hatte geglaubt, die Liebe zu kennen, bevor er ein Lesser wurde. Er hatte geglaubt, Jennifer, die Frau, mit der er jahrelang verbunden gewesen war, die er geliebt und geschlagen hatte, sei etwas Besonderes gewesen. Doch erst jetzt wusste er, was wahre Leidenschaft war. Seine Gefangene war der brennende Schmerz, durch den er sich wieder wie ein Mensch fühlte. Sie war die Seele, die seine eigene ersetzte, die er Omega geschenkt hatte. Durch sie lebte er, obwohl er untot war.

»Ich komme zurück, so schnell ich kann, Frau.«

 

In ihrem Loch sackte Bella zusammen, als sie die Tür zuschlagen hörte. Die Tatsache, dass der Lesser völlig neben der Spur war, bloß weil sie ihm nicht geantwortet hatte, gefiel ihr. Das hieß ja wohl, dass sein Wahnsinn jetzt vollkommen war, oder nicht?

Seltsam, dass ein Ende im Irrsinn auch auf sie wartete. Von dem Moment an, als sie vor wie vielen Wochen auch immer in diesem Rohr aufgewacht war, hatte sie angenommen, dass ihr Tod ganz konventionell sein würde, von der Sorte, die mit einem schwer beschädigten Körper einherging. Doch nein, zuerst starb ihr Geist, während ihr Körper bei relativer Gesundheit blieb.

Die Psychose hatte sich Zeit gelassen damit, Besitz von ihr zu ergreifen, und wie bei einer körperlichen Krankheit war sie in Stufen vorangeschritten. Zunächst war sie zu verängstigt gewesen, um an irgendetwas anderes zu denken als daran, wie sich die Folter anfühlen würde. Doch die Tage verstrichen, und nichts dergleichen war geschehen. Der Lesser schlug sie zwar, und seine Blicke auf ihrem Körper waren ekelerregend, aber er tat ihr nicht das an, was er den anderen Vampiren antat. Und er vergewaltigte sie auch nicht.

Als Reaktion darauf hatten sich ihre Gedanken allmählich verschoben, ihre Lebensgeister waren wieder erwacht, und sie hatte die Hoffnung genährt, doch noch gerettet zu werden. Diese Phönix-aus-der-Asche-Periode hatte einige Zeit angehalten. Eine ganze Woche vielleicht, obwohl der Lauf der Tage schwer nachzuhalten war.

Aber dann hatte ihr unaufhaltsamer Niedergang begonnen, und was sie nach unten gezogen hatte, war der Lesser selbst gewesen. Es hatte ein Weilchen gedauert, bis sie es begriffen hatte, doch sie hatte eine bizarre Macht über ihren Geiselnehmer, und nach einer gewissen Zeit hatte sie angefangen, diese zu benutzen. Erst hatte sie nur ihre Grenzen ausgetestet. Später quälte sie ihn einzig und allein aus dem Grund, weil sie ihn so sehr hasste und wollte, dass er litt.

Der Lesser, der sie verschleppt hatte … liebte sie aus irgendeinem Grund. Von ganzem Herzen. Manchmal brüllte er sie an, manchmal machte er ihr auch Angst, wenn er eine seiner Launen hatte, doch je härter, je ablehnender sie zu ihm war, desto besser behandelte er sie. Wenn sie ihn nicht in ihre Augen sehen ließ, geriet er vor lauter Panik ins Wanken. Wenn er ihr Geschenke brachte und sie sie zurückwies, weinte er. Mit wachsender Inbrunst sorgte er sich um sie und bettelte um ihre Aufmerksamkeit. Er kuschelte sich an sie, und wenn sie ihn nicht an sich heranließ, dann brach er zusammen.

Mit seinen Gefühlen zu spielen, stellte momentan ihre gesamte, hasserfüllte Welt dar, und die Grausamkeit, die sie nährte, brachte sie um. Einst war sie ein lebendiges Wesen gewesen, eine Tochter, eine Schwester … ein Jemand … Nun verlor sie alles Lebendige in diesem Albtraum, wurde so maskenhaft wie eine einbalsamierte Mumie, hart wie Zement.

O gütige Jungfrau der Schrift, sie wusste, er würde sie niemals gehen lassen. So sicher, als hätte er sie auf der Stelle getötet, hatte er ihr jede Zukunft genommen. Alles, was sie jetzt noch hatte, war diese grauenhafte, unendliche Gegenwart. Mit ihm.

Panik, ein Gefühl, das sie schon länger nicht mehr gespürt hatte, wallte in ihrer Brust auf.

In ihrer Verzweiflung, die vorherige Empfindungslosigkeit wiederzuerlangen, konzentrierte sie sich darauf, wie kalt es in der Erde war. Der Lesser kleidete sie in die Sachen, die er aus der Kommode und dem Schrank in ihrem eigenen Haus mitgenommen hatte, und sie trug lange Hosen und Fleecepullis ebenso wie warme Socken und Stiefel. Trotz alledem war die Kälte erbarmungslos, sie kroch durch alle Schichten, schlich sich in ihre Knochen und drang bis ins Mark ein.

Ihre Gedanken wanderten zu dem Bauernhaus, in dem sie nur so kurze Zeit gewohnt hatte. Sie hatte sich ein fröhliches Feuer im Wohnzimmerkamin angezündet und war so glücklich gewesen, allein sein zu dürfen … Doch das waren böse Erinnerungen, böse Bilder. Sie erinnerten sie an ihr altes Leben, an ihre Mutter … an ihren Bruder.

Lieber Himmel, Rehvenge. Rehv hatte sie wahnsinnig gemacht mit seiner Bevormundung, doch er hatte recht behalten. Wäre sie bei ihrer Familie geblieben, hätte sie niemals Mary kennen gelernt, die menschliche Frau, die nebenan wohnte. Und niemals wäre sie in jener Nacht über die Wiese zwischen ihren Häusern gelaufen, um sicherzugehen, dass bei Mary alles in Ordnung war. Und niemals wäre sie dem Lesser in die Arme gelaufen … also wäre es niemals so weit gekommen, dass sie gleichzeitig tot und am Leben war.

Wie lange ihr Bruder wohl nach ihr gesucht hatte? Hatte er inzwischen aufgegeben? Vermutlich. Nicht einmal Rehv konnte so lange ohne jede Hoffnung weitermachen.

Sie wäre jede Wette eingegangen, dass er nach ihr gesucht hatte, doch in gewisser Weise war sie froh, dass er sie nicht gefunden hatte. Obwohl er ein hochgradig aggressiver Vampir war, blieb er doch ein Zivilist und wäre sehr wahrscheinlich verletzt oder getötet worden, wenn er zu ihrer Rettung käme. Diese Lesser waren stark. Brutal und kraftvoll. Nein, um sie zurückzuholen, bedurfte es eines Kriegers, der dem Monster ebenbürtig war, das sie gefangen hielt.

Ein Bild von Zsadist tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, so deutlich wie ein Foto. Sie sah seine wilden schwarzen Augen. Die Narbe, die über sein Gesicht lief und seine Oberlippe verzerrte. Die tätowierten Sklavenfesseln um Hals und Handgelenke. Sie erinnerte sich an die Narben der Peitschenstriemen auf seinem Rücken. Und die Piercings in seinen Brustwarzen. Und seinen muskulösen, viel zu schlanken Körper.

Sie dachte an seinen bösartigen, kompromisslosen Willen und an all seinen schnell entflammbaren Hass. Er war Furcht einflößend, eine düstere Legende ihrer Rasse. Nicht nur gebrochen, ein Wrack, in den Worten seines Zwillingsbruders. Er allein könnte dem Lesser die Stirn bieten. Zsadists Brutalität war vermutlich das Einzige, was sie noch retten konnte, wenn sie auch nicht ernsthaft damit rechnete, dass er nach ihr suchen würde. Sie war nichts als eine gewöhnliche Vampirin, der er zweimal begegnet war.

Und beim zweiten Mal hatte sie ihm schwören müssen, nie wieder in seine Nähe zu kommen.

Wieder überfiel sie die Angst; um das Gefühl im Zaum zu halten, redete sie sich ein, Rehvenge suche immer noch nach ihr. Und dass er der Bruderschaft Bescheid geben würde, wenn er irgendeinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort fände. Vielleicht käme Zsadist dann, um sie zu suchen, weil es zu seinem Job gehörte.

»Hallo? Hallo? Ist da jemand?« Die zittrige männliche Stimme klang gedämpft, blechern.

Der neueste Gefangene, dachte sie. Anfangs versuchten sie immer, Kontakt aufzunehmen.

Bella räusperte sich. »Ich bin … hier.«

Eine Pause entstand. »Gütige Jungfrau der Schrift … bist du die Frau, die sie entführt haben? Bist du … Bella?«

Ihren Namen zu hören, war ein Schock. Scheiße, der Lesser nannte sie schon so lange seine Frau, dass sie ihren eigenen Namen beinahe schon vergessen hatte. »Ja … ja, das bin ich.«

»Du lebst noch.«

Zumindest schlug ihr Herz noch. »Kenne ich dich?«

»I-ich war auf deiner Beerdigung. Mit meinen Eltern, Ralstam und Jilling.«

Bella fing an zu zittern. Ihre Mutter und ihr Bruder … hatten sie zu Grabe getragen. Andererseits war das nicht verwunderlich. Ihre Mutter war tief religiös und glaubte fest an die alten Traditionen. Wenn sie vom Tod ihrer Tochter überzeugt war, hatte sie mit Sicherheit auf der richtigen Zeremonie bestanden, damit Bella in den Schleier eintreten konnte.

O … lieber Himmel. Zu glauben, dass sie aufgegeben hatten, und es zu wissen, waren zwei ganz unterschiedliche Dinge. Niemand würde sie retten. Niemals.

Da hörte sie plötzlich etwas Seltsames. Und merkte, dass sie schluchzte.

»Ich werde fliehen«, sagte der Vampir mit Nachdruck. »Und dich nehme ich mit.«

Bella ließ ihre Knie nachgeben und glitt an der welligen Blechwand des Rohrs entlang bis ganz nach unten. Jetzt war sie wirklich tot, oder? Tot und begraben.

Wie grausam passend, dass sie in der Erde feststeckte.