Dieses Buch zu schreiben war ein Abenteuer, eine Reise, die fast drei Jahre dauerte. Ganz allein bin ich aufgebrochen, habe abends in meinem Zimmer geschrieben, ohne die leiseste Ahnung, wohin mich das Ganze führen sollte, und bin jetzt schließlich bei der Veröffentlichung des letzten Bandes der Trilogie angekommen. Dass ich es bis hierher geschafft habe, ist gewiss nicht bloß das Verdienst meiner Willenskraft oder der Tatsache, dass ich immer an die Geschichte, die ich erzählte, geglaubt habe. Daher liegt es mir am Herzen, all denen zu danken, die mich bei diesem Abenteuer begleitet und es mir ermöglich haben, das Ziel zu erreichen. Mein erster Dank gebührt dabei zweifellos Sandrone Dazieri, ohne den dieses Abenteuer gar nicht begonnen hätte; er hat als Erster an meine Arbeit geglaubt und mir mit seinen Ratschlägen geholfen, immer besser zu werden.
Die drei Romane wären gewiss weniger flüssig und angenehm zu lesen ohne die Hilfe meiner beiden Lektorinnen Francesca Mazzantini und Roberta Marasco. Auch ihnen Dank für den Feinschliff meiner Manuskripte und all das, was sie mir in der Zeit unserer Zusammenarbeit beigebracht haben.
Noch einmal herzlichen Dank meinen Freunden, die mich während meiner Arbeit unterstützt haben; mehr als einmal mussten sie einspringen, wenn meine Willensstärke nachließ; sie haben immer an mich geglaubt. Hätte ich mich nicht so geliebt gefühlt, wäre es mir wahrscheinlich nicht gelungen, bis zum Ende durchzuhalten.
Ein Dank auch an meine Eltern, die mir die Liebe zur Literatur mitgaben. Ohne sie und ihre enorme Bibliothek hätte ich sicher nicht zu schreiben begonnen. Sie haben es mir immer ermöglicht, meine Talente zu entdecken und zu entfalten, und haben mich, ohne mir etwas vorzuschreiben, in meinen Entscheidungen unterstützt, egal wie richtig oder falsch sie auch sein mochten.
Schließlich noch einen riesengroßen Dank an Giuliano. Ich habe ihn gezwungen, das ganze Manuskript in Folgen zu je zwanzig Seiten zu lesen und mir jeweils seine Meinung dazu zu sagen. Er war mein erster Leser und mein erster Kritiker, und von ihm kam auch die Anregung zum Finale der Geschichte. Ich danke ihm vor allem, weil er immer für mich da ist, mich erträgt und unterstützt.
Als der Tyrann in meinen Geist eindrang, erfuhr ich, was wahre Verzweiflung ist. Zuvor hatte ich schon manches Mal geglaubt, wirklich verzweifelt zu sein: Als ich Nihal halbtot inmitten der Sümpfe Salazars fand, als ich in Zalenia in meiner Zelle saß oder als ich über das Blutbad nachgrübelte, das ich im Land der Nacht angerichtet hatte. Aber erst in dem Moment, als der Tyrann meinen letzten Widerstand brach und meiner Seele Gewalt antat, wusste ich, was es bedeutet, keinerlei Hoffnung mehr zu haben. Denn während er in meinem Geist nach jenem Geheimnis suchte, das er mir durch die Folter nicht hatte entreißen können, konnte ich für einen kurzen Augenblick in seine Seele schauen und fühlen, was er selbst fühlte. So entdeckte ich, dass dieser Mann hoffnungslos verzweifelt war.
Vor langer Zeit schon hatte er aufgehört, an etwas zu glauben, alle Gewissheiten waren ihm unter den Händen zerfallen, bis zum Schluss nur noch Schmerz und Leere übrig waren. In jenem Augenblick wurde mir dies alles klar. Bis dahin hatte ich mir nicht erklären können, wie ein lebendes Wesen so ausschließlich die Zerstörung suchen konnte. Ich hatte immer geglaubt, auch hinter der Todessehnsucht des Selbstmörders stehe im Grunde der verzweifelte Wunsch zu leben. Der Tyrann strebte eine völlige Auslöschung seiner Person und der Welt an, denn er war erfüllt von einem grenzenlosen Mitleid mit sich selbst und allen Geschöpfen der Aufgetauchten Welt. Was ihn bewegte, war also weniger Grausamkeit, als vielmehr eine absonderliche Form der Liebe zur Welt. Eine vollkommene Vernichtung, so war er überzeugt, sei die einzige Hoffnung für die leidgeplagten, verlorenen Länder dieser Erde.
Und obwohl ich wusste, dass er anders nicht aufzuhalten war, empfand ich Trauer um ihn, als ich hörte, dass er getötet worden war, denn letztendlich war auch er ein Opfer gewesen – so wie wir alle übrigens.
Als Nihal Aster erstach, habe, so wurde mir erzählt, plötzlich die Erde zu beben und seine Festung zu wanken begonnen. Von all dem merkte ich zu diesem Zeitpunkt nichts, weil ich mehr tot als lebendig in meiner Zelle hing. Doch allen, die es erlebten, war sofort klar, dass nun die vierzigjährige Herrschaft des Terrors und des Todes beendet war. Sie reckten ihre Schwerter in die Höhe und schmetterten einen Siegesschrei zum Himmel. Dieser Schrei des Jubels und der Freude pflanzte sich überallhin fort, bis zum Saar im Westen und der Großen Wüste im Osten, wurde ausgestoßen von den Kehlen all jener, die bis dahin nur die Leiden der Knechtschaft kennengelernt hatten. Es war überstanden, eine neue Zeit brach an für die Aufgetauchte Welt.
Unter den zerstörten Bollwerken der Feste wütete die Schlacht noch bis in die Nacht weiter. Und so begann auch diese neue Zeit mit Blutvergießen. Viele Gefolgsleute des Tyrannen ergaben sich, andere führten den Kampf fort, doch niemand wurde geschont, weder jene, die blieben, noch die Fliehenden. Die Soldaten der Freien Länder, die »für den Frieden kämpften«, wie Nihal dem Tyrannen gegenüber betont hatte, machten sich mit dem Hochmut und der Grausamkeit, zu der nur Sieger fähig sind, über die Besiegten her. Erst in tiefster Nacht kam der Friede über die Erde.
Am nächsten Morgen beschien eine bleiche Sonne die blutdurchtränkte und mit Trümmern übersäte Ebene vor der Tyrannenfeste. Von dem Reich, das der Tyrann gegründet hatte, waren nur Blöcke schwarzen Kristalls und die Leichen derer übrig, die für ihn gekämpft hatten. Doch es war nicht nur das Blut seiner Gefolgsleute, das die Erde rot färbte; auch viele Tausende unserer Soldaten waren gefallen. Ravens Leiche fand man vor den aus den Angeln gerissenen Torflügeln der Festung; trotz allen Hochmuts, er war ein großer General gewesen, und viele weinten um ihn.
Mit Ido hingegen zeigte sich das Schicksal milde, wobei Vesa daran größeren Anteil hatte als das Schicksal selbst. Als der Gnom bewusstlos zu Boden stürzte, wütete um ihn herum die Schlacht, und mehr als ein feindlicher Soldat machte Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, um den neben ihm liegenden Deinoforo zu rächen. Da ließ sich Vesa neben seinem Herrn nieder, bedeckte ihn mit seinen riesigen Flügeln und schützte ihn gegen die Feinde; er zerriss sie, verbrannte sie, gab alles, um sie fernzuhalten. Nur so kam Ido mit dem Leben davon. Gewiss, er war übel zugerichtet, und es dauerte lange, bis alle seine Wunden geheilt waren. Nach anderthalb Monaten aber war er, mit einigen zusätzlichen Narben, wieder an seinem alten Platz und half mit, das neue Zeitalter zu gestalten, das sich alle ersehnten.
Die Truppen der Untergetauchten Welt leisteten einen wichtigen Beitrag zum Sieg, und auch Varen selbst schlug sich vortrefflich. Viele seiner Leute sah er fallen, doch er kämpfte unverdrossen weiter, bis schließlich auch seine leichte Rüstung von einer feindlichen Lanze durchbohrt wurde. Aber der Graf hatte Glück und überlebte trotz seiner schweren Verwundung an der Schulter diesen denkwürdigen Tag.
Den höchsten Blutzoll hatten die vom Tyrannen unterjochten Länder zu entrichten. Ein Großteil der dortigen Rebellen wurde niedergemacht. Von den dreitausend Mann, die Aires um sich versammelt hatte, kamen nur dreihundert mit dem Leben davon. Sie selbst wurde lebend unter einem Berg von Leichen gefunden. Lange weinte sie um ihre Gefährten, wusste aber gleichzeitig auch, dass dieser Sieg nur mit Blut und Opfern zu erkaufen war und dass diese Kameraden nicht umsonst gestorben waren.
Was mich selbst betrifft, so wurde ich mehr tot als lebendig vor der Feste gefunden. Es waren weniger die körperlichen Verletzungen, durch die mein Leben am seidenen Faden hing, als die seelischen. Was der Tyrann mir angetan hatte, war verheerend für mich; mein Geist war erschüttert, mein Lebensmut dahin. Doch diejenigen, die mich pflegten, entrissen mich dem Tod, und langsam kehrte ich ins Leben zurück. Als ich aus diesem langen, langen Schlaf endlich erwachte, war ich unwissend wie ein Kind, und viele glaubten, ich hätte den Verstand verloren. Ich musste neu zu leben lernen und meinen Geist noch einmal von dieser Welt formen lassen. Langsam nur kehrte die Erinnerung an das, was ich gewesen war, zurück, und ich wurde neu geboren.
Nicht zu retten jedoch war mein Bein. Es ist noch an seinem Platz, aber ich kann es nicht mehr benutzen und schleppe es nur noch hinter mir her. Mittlerweile habe ich mich jedoch daran gewöhnt und finde, dass mir der Stock etwas von einem Veteranen verleiht und mich älter und weiser wirken lässt. Da nun auch mein Bart weiter gewachsen ist, gleiche ich heute tatsächlich jenen weisen Männern aus dem Rat der Magier, wie Aster und ich sie uns als Kinder vorstellten. Gewiss, bei all dem half mir das, was Aster nie bekam, sich aber so sehr ersehnte: Liebe.
Als man mich zu Füßen der Festung fand, lag Nihal neben mir. Der Talisman an ihrem Hals war schwarz geworden, und sie atmete nicht mehr.
Viele Tage hielt man sie für tot. Man brachte sie in den Waffensaal der Akademie, wo man sie in ihrer Rüstung mit dem grellweiß hervorstechenden Wappen auf der Brust aufbahrte und mit ihrem Schwert, das man neben Asters zerborstenem Thron gefunden hatte. Alle erwiesen ihr die letzte Ehre, denn sie war es gewesen, die den Tyrannen getötet hatte, ihr verdankten wir die Rettung der Aufgetauchten Welt. Oarf kauerte neben ihr. Die ganze Zeit über hatte er in der Arena auf sie gewartet und tapfer gegen die Feinde gekämpft. Er erinnerte sich an Nihals Versprechen, dass sie sich wiedersehen würden, wenn alles überstanden sei, und sie dann für immer zusammenbleiben würden, und nun war er gekommen, um diesem Versprechen treu zu bleiben, das Nihal ihrerseits nicht mehr hatte halten können. Es sah so aus, als wolle er dort bis in alle Ewigkeit über seine Herrin wachen.
Der öffentliche Scheiterhaufen, auf den alle gefallenen Drachenritter ein Anrecht haben, sollte in Kürze errichtet werden, doch der Zeitpunkt wurde verschoben, weil sich in der Zwischenzeit etwas Unerwartetes, etwas Unerhörtes zutrug. Nihals Körper zeigte keinerlei Anzeichen von Verwesung, er war rosafarben und fest, so als wenn sie noch lebte.
»Bitte, wartet noch«, sagte Soana unter Tränen an Nelgar gewandt, der darauf drängte, die Trauerfeier so schnell wie möglich abzuhalten. »Ich kann es Euch auch nicht genau erklären, aber ich fühle, dass die Geschichte dieser Drachenritterin auf Erden noch nicht beendet ist.«
Die Anwesenden bedachten sie mit mitleidigen Blicken, entsprachen aber ihrer Bitte.
Es geschah, als die Sonne über Makrat unterging. Bis auf zwei Wachen neben Nihals Leichnam war der Saal leer, als ein winziges, geflügeltes Geschöpf hereingeflattert kam. Die Wachen beobachteten, wie es auf Nihal zuflog, und nahmen an, es wolle, wie so viele andere, der Heldin die letzte Ehre erweisen.
Das Geschöpf näherte sich Nihals Gesicht, ließ sich auf ihrem Kinn nieder und blickte sie traurig an. »Was ist, Nihal«, sagte es leise, »hast du dich aufgegeben? Willst du auf deinen Traum verzichten? Sennar liegt nur einige Zimmer entfernt. Er ringt um sein Leben und wartet auf dich. Meinst du nicht, du solltest zu ihm gehen?« Es lächelte. »Du hast dein Leid bis zur bitteren Neige erdulden müssen, du hast alles, was dir gegeben war, dem einzigen Menschen zum Geschenk gemacht, den du retten konntest. Zum Schluss hast du deinen Daseinsgrund gefunden. Die neue Welt, von der ich sprach, nimmt jetzt Gestalt an, und du musst dabei sein!«
So wie beim letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, streichelte Phos Nihal über die Wange.
»Der Vater des Waldes wartet auf sein Herz. Nähme ich den Stein, der auf deiner Brust liegt, und brächte ihn zu ihm, würde er zu neuem Leben erwachen. Aber hätte sein Leben jetzt einen Sinn? Wer würde sich an seinem Dasein erfreuen? Du wirst von vielen gebraucht, von Sennar in erster Linie, und noch so viel liegt vor dir, während mein lieber Vater des Waldes, mein Zuhause, meine Zuflucht, mein bester Freund, bereits alles getan hat, was er nur tun konnte. Um ihn herum ist nichts als verbrannte Erde, abgestorbene Bäume, Ödnis; der Bannwald, der sein Leben war, ist tot. Ich habe es dir schon einmal gesagt, der Vater des Waldes und ich, wir sind Überbleibsel der alten Welt. Und das Schicksal derer, die lange gelebt haben und sehr alt sind, ist es nun einmal, Platz zu machen. « Er schwieg wieder, so als suche er nach den richtigen Worten. »Der Vater des Waldes hat sich entschieden: Er möchte dein Vater sein, er möchte dir seinen Lebenssaft schenken, damit du weiterlebst und all das erleben kannst, was noch vor dir liegt. Das ist keine kleine Sache. Das Geschenk des Lebens ist mit das Schönste und Verantwortungsvollste, was man erhalten kann, denn es ist Ehre und Last zugleich. Doch der Vater des Waldes und ich wissen, dass du dieser Gabe würdig bist.« Phos streckte seine winzigen Hände zu Mawas, dem Stein aus dem Land des Windes, aus und sprach eine unverständliche Litanei. Da erstrahlte der Edelstein in einem hellen Licht und übertrug seine Kraft auch auf alle anderen Steine des Medaillons, die ebenfalls wieder aufleuchteten, nicht so strahlend wie am Tag des Zaubers, doch in einem sanften und beruhigenden Licht. Und zusammen mit diesem Licht kehrte Farbe auf Nihals Wangen zurück, und das Leben beseelte sie von Neuem.
»So stirbt denn der Vater, damit die Tochter lebe. Solange du diesen Talisman am Hals trägst, wirst du leben. Verliere ihn niemals, denn dies würde deinen Tod bedeuten.« Offenbar erschöpft, stützte sich Phos auf seine Ellbogen. »Nun hast du nichts weiter zu tun, als deinem Traum entgegenzugehen und den Lohn in Empfang zu nehmen, der dir zusteht. Aber missbrauche nicht, was ich und mein alter Baum dir gaben.«
Leise, wie er gekommen war, machte sich Phos wieder davon. Seitdem wurde er nie wieder gesehen.
Nihal hat sich vollkommen erholt. Sie erinnert sich an nichts, weder an ihren vermeintlichen Tod noch an die Begegnung mit Phos, doch die Worte, die der Kobold damals zu ihr sprach, haben sich ihrem Geist eingeprägt, und so trägt sie das Amulett immer bei sich. Sie war es, die mir half, wieder zu mir selbst und ins Leben zurückzufinden, die mich gesunden ließ. Manchmal müssen wir lachen, wenn wir daran denken: Ich bin ein Hinkebein, und ihr Leben hängt bis zum Ende ihrer Tage von einem Talisman ab. Vielleicht sind wir ja die Ruinen der alten Welt.
Die Geister aber, die so lange in Nihals Kopf herumspukten, sind fort; sie haben sich aufgelöst wie Schnee in der Sonne, wurden endlich zum Schweigen gebracht. »Fast fühle ich mich alleingelassen, jetzt, da die Stimmen nicht mehr da sind. Aber sie ist schön, diese Stille, ich empfinde eine Ruhe, die ich gar nicht kannte …«, sagte sie eines Abends zu mir. Von dem Zauber, der sie so lange quälte, ist nichts mehr übrig geblieben, denn auch Rais ist tot. Sie wurde Opfer ihres eigenen Hasses. Am Tag der Schlacht hielt sie sich mitten im Getümmel auf, um der Vernichtung ihres Todfeindes beizuwohnen. Und in dem Moment, da Nihals Schwert ihn durchbohrte, schrie Rais aus Leibeskräften, während ihre milchig weißen Augäpfel weit aus den Höhlen traten: »Er ist tot! Endlich ist das Ungeheuer vernichtet!«
Von der Anhöhe nahe bei der Festung, auf der sie stand, zog es sie in die Ebene hinunter. Berauscht von einer schier unmenschlichen Freude, rannte sie, so als seien all ihre Lebensjahre plötzlich verflogen, auf das einstürzende Bauwerk zu und wurde dort unter den Trümmern begraben. Am nächsten Tag fand man sie, von einem Steinblock erschlagen, in ihren weit aufgerissenen Augen noch derselbe Hass, der sie ihr ganzes Leben geleitet hatte. Von allen Personen dieser Geschichte ist sie die einzige, für die ich kein Mitgefühl empfinden kann, nur eine tiefe Abscheu.
»Letztendlich ist auch sie ein Opfer«, meint Nihal hingegen, »wir sind alle Opfer des Hasses, der in uns schlummert und der nur auf einen Moment der Schwäche von uns wartet, um uns zu ersticken.«
Nachdem wir beide wiederhergestellt waren, erlebten wir eine glückliche Zeit. Die Welt schien uns jung und wie für uns gemacht, und eine Weile glaubten wir, der Tod des Tyrannen habe alles verändert, das Böse sei besiegt und eine Zeit des Friedens angebrochen. Wir hatten überlebt und waren zusammen, was hätten wir uns Schöneres wünschen können? Doch diese Zeit währte nicht lange.
Bald stellten wir fest, dass es nicht nur schwer gewesen war, den Tyrannen zu besiegen, sondern ebenso hart werden würde, aus den Trümmern etwas Neues entstehen zu lassen. Aster und seine Getreuen waren nicht die Schöpfer des Bösen, sondern bloß dessen ahnungslose Kreaturen. Auch wenn wir sie bezwungen hatten, Hass und Niedertracht blieben bestehen.
Zum ersten Mal wurde mir das bewusst, als wir die Fammin aufsuchten. Gleich von Beginn an stellte sich das Problem, wie mit diesen Wesen zu verfahren wäre. Wehrlos und unwissend geworden wie Kinder, hatten sie sich in das Land der Tage geflüchtet, weit entfernt von den grollerfüllten Blicken und den Rachegelüsten der Sieger. Im Rat der Magier berieten wir lange über ihr Schicksal. Die einen schlugen vor, sie auszurotten, andere, sie zu Sklaven zu machen. Erst nach langen, hitzigen Debatten konnte sich meine und Dagons Linie durchsetzen: Die Fammin sollten im Land der Tage bleiben und allein versuchen, ihre Zukunft zu gestalten.
Und so machten sich an einem Morgen Nihal, Ido und ich auf den Weg zu ihnen, um sie über diese Entscheidung in Kenntnis zu setzen. Als wir ihnen entgegentraten, blickten uns viele von ihnen mit Mienen voller Furcht und Entsetzen an, denn sie hatten nicht vergessen, was unsere Leute, auch Nihal, ihnen angetan hatten.
Nihal stieg auf eine Erhebung. Die Ebene zu ihren Füßen war jene, die wir damals zornerfüllt und hoffnungslos auf unserer Reise durchwandert hatten. Es hatte sich nichts verändert, hier herrschte immer noch dieselbe Trostlosigkeit wie zu der Zeit, als Aster an der Macht war, dieselbe Atmosphäre des Todes. Nun jedoch drängten sich hier zitternde, verängstigte Wesen, in eine Welt geworfen, von der sie nichts begreifen konnten.
»Ich weiß, viele von euch werden mich wiedererkennen und sicher nicht in guter Erinnerung haben«, begann Nihal zu ihnen zu sprechen, während sie nervös mit dem Amulett an ihrem Hals spielte. »Ich weiß, dass ich eine Mörderin bin, und ich will euch auch nicht bitten, darüber hinwegzusehen. Begangenes Unrecht kann und darf nicht vergessen werden, es verbleibt in den Herzen und gräbt sich tief in den Seelen ein. Um was ich euch aber bitte, ist, keine Rache zu üben. Rache kann weder den Toten noch den Lebenden Frieden schenken.«
Sie schwieg einen Moment und ließ den Blick über ihre ungewöhnliche Zuhörerschaft schweifen. »Deswegen bitte ich euch um Vergebung für alles, was euch von mir und meinesgleichen angetan wurde und teilweise immer noch angetan wird. Gleichzeitig verspreche ich euch, dass auch eure eigenen Taten vergeben sein sollen, zumal ihr nicht aus freien Stücken gehandelt habt. Die Zeit des Friedens ist angebrochen. Die Zeit, da ein jeder den Krieg hinter sich lässt und sich daran macht, eine neue Welt aufzubauen, in der Hoffnung, dass sie gerechter als die alte sein möge.« Sie hielt wieder inne und fuhr dann mit lauterer Stimme fort: »Die Verantwortlichen meiner Seite haben beschlossen, dass dies hier von nun an euer Land sein soll. Hier seid ihr eure eigenen Herrn, hier seid ihr frei, in Frieden eure Bestimmung zu finden. Von nun an soll Eintracht herrschen zwischen eurem und allen anderen Völkern, und ich schwöre euch, dass ich niemandem erlauben werde, die Hand gegen euch zu erheben. Ich weiß, dass ihr im Moment verwirrt seid und nicht wisst, was ihr tun sollt. Wenn ihr das wollt, werden wir euch helfen, euren Weg zu finden.« Sie ließ den Blick wieder über die Menge verängstigter Gesichter zu ihren Füßen schweifen. »Das war alles. Ihr seid frei, frei für immer.«
An diesem Tag hatten wir das Gefühl, nun tatsächlich Frieden zu schaffen. Doch heute weiß ich, dass damals ein Problem entstand, das bis heute noch nicht gelöst ist. Denn der Friede zwischen den Fammin und den anderen Völkern liegt in weiter Ferne, und immer noch schwelt Feindschaft zwischen den Stämmen.
Nihal wurde die Stellung eines Obersten Generals der Akademie angeboten. Doch sie lehnte ab.
»Dazu bin noch zu jung und unerfahren in strategischen Fragen«, erklärte sie, und so trug man Ido diese Position an. Auch er brachte einen ganzen Haufen Einwände vor, betonte mehrmals, dazu fehle ihm die Würde und außerdem habe er keine Lust, sich mit all den Problemen herumzuschlagen, die ein solches Amt mit sich bringe. Schließlich aber konnte Nihal ihn überzeugen, und nun sitzt Ido auf dem Sessel, auf dem einstmals Raven residierte, mit Vesa zu seinen Füßen.
Nihal und ich ließen uns im Land des Windes nieder. Es war ihr Wunsch, denn sie empfindet es als ihr Heimatland.
Ido kommt uns häufig besuchen und trainiert dann immer lange mit Nihal; es sind die einzigen Anlässe, da sie noch das Schwert zur Hand nimmt. Sie hat beschlossen, für eine Weile die Waffen ruhen zu lassen, und ihr Schwert hängt jetzt an der Wand unserer Kammer, doch kein Körnchen Staub ist darauf zu finden, und ich glaube, dass sie es bald wieder gebrauchen wird.
Wir reisten auch in das Land der Nacht, um Laios Grab zu besuchen. Er fehlt uns sehr, vor allem mit seiner unverdorbenen Art. Er war der Einzige von uns allen, der in diesen Kriegsjahren keine Schuld auf sich geladen hat. Nihal hinterließ ihre Rüstung an Laios Grab, ganz in der Nähe jener Lichtung, auf der ich damals viele Illusionen, vor allem über mich selbst, verloren und zurückgelassen habe.
Ich bin weiterhin Ratsmitglied. Auch wenn ich heute unter den anderen Magiern größeres Ansehen als früher genieße, bin ich immer noch unbequem und ecke häufig an. Meine Aufgabe kommt mir heute sogar noch schwieriger vor als in den Kriegsjahren, denn der Friede ist ein viel zerbrechlicheres Gut, als ich jemals geglaubt hätte.
Das Land des Windes ist eine Trümmerlandschaft. Es war sehr schmerzhaft für uns beide, nach der langen Zeit das zerstörte Salazar wiederzusehen. Durch die einsturzgefährdete, vom Feuer angesengte Stadtmauer betraten wir die Stadt. Nihal führte mich zu der Werkstatt, in der ihr Vater Livon ermordet wurde und wo alles begann.
»Manchmal fühle ich mich wie dieser Raum hier«, sagte sie, »verbrannt und zerstört. Meine Mission ist erfüllt, aber was geschehen ist, lässt sich nie mehr ungeschehen machen.«
Sie trat auf eine Ecke zwischen den Trümmern zu; dort hatte Livon seine herrlichen Waffen geschmiedet, und an der Wand hingen noch die Stümpfe vom Rost zerfressener Schwerter. Sie brach in Tränen aus.
»Und dennoch kann es in unserer Zukunft noch viel Schönes geben«, antwortete ich ihr. »Gewiss, das alles zu vergessen, ist unmöglich. Ich werde ja auch niemals die Schmerzen der Folter vergessen können oder die Verzweiflung, die ich in der Seele des Tyrannen erblickte. Vielleicht aber wird aus all diesem Leid etwas Gutes entstehen können. Und wir beide sind zusammen. Ist das nicht schon unglaublich viel?«
Sie lächelte und nahm mich fest in den Arm.
Nun leben wir also in diesem zerstörten Land und versuchen, Glück und Schmerz zu trennen. Aber ich weiß schon, dass wir auf lange Sicht nicht hier bleiben werden.
»Irgendwann brechen wir wieder auf«, hat Nihal zu mir gesagt. »Ich möchte meinen Kindheitstraum verwirklichen, frei sein, reisen, auf Oarfs Rücken einfach losfliegen und die reißenden Wasser des Saar überqueren. Mit dir. Dann aber nicht mehr als die tapfere Drachenkämpferin und das kluge Ratsmitglied, die die Welt vom Tyrannen befreiten, sondern einfach als Nihal aus der Turmstadt Salazar und Sennar der Magier. Dann entdecken wir Länder, die zuvor noch nie jemand gesehen hat, mit furchterregenden Ungeheuern, aber auch endlosen Wäldern von atemberaubender Schönheit. Ja, das machen wir.«
Sie hat Recht, auch ich möchte das, und ich weiß, dass dieser Tag nicht mehr fern ist. Daher war es mir wichtig, noch diese Geschichte aufzuschreiben: vielleicht, damit man uns nicht ganz vergisst, wenn wir die bekannten Länder hinter uns lassen, oder damit Nihal nicht vergisst, wie sie sich selbst besiegt hat, oder aber um den tieferen Sinn der Ereignisse jener Jahre begreiflich zu machen.
Es gibt da eine Frage, die der Tyrann mir gestellt hat und auf die ich bis heute noch keine Antwort gefunden habe: Lässt sich diese Welt tatsächlich retten? Zuweilen habe ich den Eindruck, dass er Recht hat, dass also nur der Hass alle Geschöpfe vereint und wir daher gewissermaßen alle gleichzeitig Opfer und Täter sind. Dann jedoch denke ich an Nihal und weiß wieder, dass es sich zu leben lohnt, zu kämpfen, auch wenn der Kampf vergeblich sein sollte. Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied zwischen Aster und mir: Ich bin auf meinem Weg Nihal und der Liebe begegnet, er nicht.
Irgendwann in nächster Zeit werden wir uns verabschieden und eine Welt zurücklassen, in der ein stets gefährdetes Gleichgewicht herrscht; früher oder später wird es zerbrechen, und es wird wieder Krieg geben. Ich weiß aber auch, dass dann wieder Friede und Hoffnung einziehen werden und danach erneut Finsternis und Verzweiflung.
Liegt nicht in diesem ewigen Kreislauf der Sinn unseres Daseins?
SENNAR
RATSMITGLIED AUS DEM LAND DES WINDES
Ael | Naturgeist, der über das Wasser gebietet |
Aires | Piratin, Tochter von Rool |
Assa | Hauptstadt des Landes des Feuers |
Aster | Junges Ratsmitglied. Geliebter von Rais, wird zum Tyrannen |
Astrea | Nymphe, Königin des Landes des Wassers |
Avaler | Kommandant einer Garnison des Tyrannen |
Aymar | Drachenritter |
Barahar | Hauptstadt des Landes des Meeres |
Benares | Pirat, Geliebter von Aires |
Caver | Schüler aus der Akademie |
Dagon | Ratsältester im Rat der Magier |
Dameion | Ritter der Schwarzen Drachen, Zwillingsbruder von Semeion |
Debar | Name Deinoforos vor seiner Ernennung zum Ritter der Schwarzen Drachen |
Deinoforo | Ritter der Schwarzen Drachen |
Dohor | Schüler aus der Akademie |
Dola | Gnom, Krieger im Heer des Tyrannen, Bruder Idos |
Eleusi | Junge Frau aus dem Land der Sonne, Mutter von Jona |
Falere | General der Truppen des Landes des Meeres |
Fen | Drachenritter, Geliebter Soanas, fiel in einer Schlacht und wurde zum Gespenst |
Flar | Naturgeist, der über das Feuer gebietet |
Flogisto | Magier im Land der Sonne, betagter Lehrmeister Sennars während dessen Ausbildung zum Ratsmitglied |
Galla | König des Landes des Wassers |
Glael | Naturgeist, der über das Licht gebietet |
Goriar | Naturgeist, der über die Finsternis gebietet |
Ido | Gnom, Drachenritter und Lehrer Nihals, Bruder von Dola |
Jona | Sohn von Eleusi |
Laio | Knappe, Freund Nihals und früherer Mitschüler auf der Akademie |
Laodamea | Hauptstadt des Landes des Wassers |
Lefe | Gnom, Anführer einer Widerstandsgruppe |
Ler | Einstmals König im Land der Felsen |
Livon | Adoptivvater Nihals und glänzender Waffenschmied, Bruder von Soana, wurde von Fammin ermordet |
Londal | General des Landes der Sonne |
Makrat | Hauptstadt des Landes der Sonne |
Malerba | Gnom, Opfer der Experimente des Tyrannen, Küchenhilfe in der Akademie |
Marhen | Früherer König im Land des Feuers |
Mavern | General im Heer der Freien Länder |
Mawas | Naturgeist, der über die Luft gebietet |
Megisto | Geschichtsschreiber und Magier, über Jahre rechte Hand des Tyrannen |
Moli | Vater von Ido und Dola, König des Landes des Feuers |
Moni | Greise Wahrsagerin auf den Vanerien |
Nammen | Früherer König der Halbelfen, leitete eine Epoche des Friedens nach dem Zweihundertjährigen Krieg ein |
Nelgar | Kommandant des Hauptlagers im Land der Sonne |
Nereo | König Zalenias in der Untergetauchten Welt |
Nihal | Junge Kriegerin und Drachenritter, letzte Halbelfe der Aufgetauchten Welt |
Oarf | Nihals Drache |
Ondine | Junges Mädchen in Zalenia, verliebt in Sennar |
Oren | Ratsmitglied, Vater von Rais |
Parsel | Drachenritter, Fechtlehrer Nihals in der Akademie |
Pewar | General des Ordens der Drachenritter, Vater Laios |
Phos | Anführer der Kobolde |
Raven | Oberster General des Ordens der Drachenritter im Land der Sonne |
Rais | Gnomin, früheres Mitglied im Rat der Magier |
Salazar | Turmstadt im Land des Windes |
Sareph | Naturgeist, der über das Meer gebietet |
Sate | Gnom, Mitglied im Rat der Magier, Vertreter des Landes der Sonne |
Seferdi | Hauptstadt des Landes der Tage |
Semeion | Ritter der Schwarzen Drachen, Zwillingsbruder von Dameion |
Sennar | Mitglied im Rat der Magier, Vertreter des Landes des Windes, bester Freund von Nihal |
Sheireen | Nihals Name unter den Halbelfen, bedeutet »die Geweihte« |
Shevrar | Gott des Feuers und des Krieges |
Soana | Magierin, früheres Mitglied im Rat der Magier, erste Zauberlehrerin Sennars, Schwester von Livon |
Sulana | Blutjunge Königin des Landes der Sonne |
Tareph | Naturgeist, der über die Erde gebietet |
Tharser | Drache von Raven |
Theris | Nymphe, Mitglied im Rat der Magier, Vertreterin des Landes des Wassers |
Thoolan | Naturgeist, der über die Zeit gebietet |
Vanerien | Inselgruppe auf dem Weg in die Untergetauchte Welt |
Varen | Graf in Zalenia |
Vesa | Idos Drache |
Vrašta | Fammin, Freund von Laio |
Zalenia | Die Untergetauchte Welt |
Nihal mummelte sich bis über die Nase in ihren Umhang ein. Um diese Jahreszeit war es schon kalt im Wald. Die Pinien rauschten in einem eisigen Wind, der ihr Lagerfeuer zu löschen drohte.
Die Letzte aus dem Volk der Halbelfen – wie ihre blauen Haare und die spitz zulaufenden Ohren bezeugten – war durch ein Fieber geschwächt und wurde gequält von den Stimmen der Geister, die ihre Albträume beherrschten. Sie betrachtete das Medaillon, das sie am Hals trug, jenen Talisman, der sie das Leben kosten und gleichzeitig die Rettung der Aufgetauchten Welt bedeuten konnte, und verlor sich im Anblick der acht leeren Fassungen, die so viele Fragen und Zweifel aufwarfen.
Ihre Gefährten Sennar und Laio lehnten schlummernd an einem Baumstamm. Auch Oarf, ihr Drache, schlief; an ihrem Rücken, der auf seiner smaragdgrünen, schuppigen Haut ruhte, konnte Nihal seine langsamen, regelmäßigen Atemzüge spüren.
Sechs Tage zuvor hatten sie sich auf den Weg gemacht, nach einem weiteren Besuch bei der Zauberin Rais. Vor dem Feuer sitzend, schloss die Halbelfe die Augen und konzentrierte sich auf Oarfs beruhigenden Atem, um die Erinnerung an diese Begegnung zu vertreiben. Erneut sah sie die fast weißen Augen der Greisin und deren krumme Finger vor sich, und ihr war, als könne sie sogar ihre hasserfüllte Stimme hören.
Obwohl der Wind bitterkalt war, schwitzte die Halbelfe. Erneut betrachtete sie den Talisman. Der Edelstein in der Mitte funkelte in der Dunkelheit, im rötlichen Schein des Lagerfeuers, so wie er in Rais’ Hütte die verpestete Luft erhellt hatte. Die Worte der Zauberin dröhnten durch Nihals Schädel.
»Der Talisman wird dir, und nur dir allein, Sheireen, verraten, wo die Heiligtümer zu finden sind. Bist du dorthin gelangt und hast den magischen Edelstein erhalten, so sprich die Worte der Eingeweihten: Rahhavni sektar aleero, ›ich erflehe die Macht‹. Füge den Edelstein daraufhin in die passende Vertiefung des Amuletts ein, und seine Kraft wird auf dich übergehen. Zuletzt begib dich in das Reich des Tyrannen, in das Große Land, und rufe die acht Naturgeister herbei, indem du sie einzeln beim Namen nennst: Ael, Wasser; Glael, Licht; Sareph, Meer; Thoolan, Zeit; Tareph, Erde; Goriar, Finsternis; Mawas, Luft; Flar, Feuer. Dadurch werden alle acht Steine aktiviert und ihre Geister beschworen. Der Talisman wird deine Lebenskraft aufsaugen und sich davon nähren, um die Geister herbeizurufen. Die Kraft, die dir damit genommen wird, wird sich im Talisman sammeln. Sie kann entweder für einen weiteren Zauber genutzt werden – aber dadurch ginge sie ganz verloren und du stürbest –, oder sie wird freigesetzt, indem man den Talisman mit einer Klinge aus schwarzem Kristall zerschlägt. Doch vergiss nicht, der Talisman ist nur für dich allein bestimmt; trägt ihn ein anderer, so verliert er Glanz und Macht und beraubt den unrechtmäßigen Träger seiner Lebenskraft.«
Nihal erschauderte. Sie steckte den Talisman zurück und zog ihren Umhang noch fester um sich.
In aller Eile waren sie aufgebrochen, denn ihre Mission duldete keinen Aufschub. Sie selbst hatte darauf gedrungen, nicht zu warten, bis die Wunde an ihrer Schulter verheilt war, die ihr der Geist des gefallenen Fen zugefügt hatte, sondern sich gleich auf den Weg zu machen.
Nihal hätte es lieber gesehen, wenn Laio, ihr Knappe, im Hauptlager zurückgeblieben wäre, aber er wollte sich ihnen unbedingt anschließen. Sogar Ido, ihr Lehrer, hatte das einsehen müssen. »Es wäre sicher besser, ihn hierzulassen«, grummelte er zwischen zwei Pfeifenzügen. »Er ist einfach kein Krieger und überhaupt nicht für den Kampf geschaffen. Aber Laio würde sich niemals damit abfinden, im Lager zu bleiben und hier auf dich zu warten. Auch wenn du dich heimlich auf den Weg machtest, er würde dir folgen und sich wieder in Lebensgefahr bringen. Nein, ich sehe keine andere Möglichkeit: Du musst ihn mitnehmen.«
Der Knappe ließ sich nicht lange bitten, packte unverzüglich seine Sachen, mit einem Lächeln, das sein von blonden Locken eingerahmtes Gesicht erstrahlen ließ, und fieberte ungeduldig dem Aufbruch entgegen.
Als Nihal zum ersten Mal den Talisman befragte, tat sie es widerwillig. Solange sie seine Kräfte nicht erprobt hatte, konnte sie sich vormachen, nichts weiter zu sein als Nihal, die Drachenritterin. Sheireen, die Geweihte, jener Name, mit dem Rais sie angesprochen hatte, war mehr der Schatten eines Albtraums für sie.
Doch kaum hatte sie das Medaillon zur Hand genommen, da überkam sie eine Vision.
Ein verworrenes Bild. Nebel. Ein Sumpf. Und in der Mitte ein verschwommenes, bläuliches Gebäude. Dazu ein Wort: »Aelon«. Und eine Richtungsangabe. »Nach Norden, den Großen Fluss entlang, bis dorthin, wo er sich ins Meer ergießt.« Das war alles.
Dann stimmte es also. Sie war die Geweihte.
Von den düsteren Umrissen der Bäume umgeben, lag Nihal da und fand keinen Schlaf. Das Fieber war noch gestiegen, und die Wunde an der Schulter pochte. Sie schien sich entzündet zu haben.
Nihal blickte zu ihren Begleitern, dem Zauberer und dem Knappen, und ihr Blick blieb an Sennars rotem Haarschopf hängen, der unter seinem Umhang hervorschaute, und wieder einmal fragte sie sich, ob es ihnen tatsächlich gelingen würde, den Weg bis zu Ende zu gehen.
Am Morgen darauf brachen sie erst auf, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Sie zogen nach Norden, während es leicht zu schneien begann und der Wind die Baumkronen schüttelte und sich Oarfs Flügeln entgegenstemmte.
So flogen sie über Ebenen mit verschneiten Wäldern und über die Nebenflüsse des Saar. Zwischen dem kahlen Geäst erblickten sie von Menschen bewohnte Dörfer und Bäume, auf denen die Nymphen lebten. Nihal spürte, dass sie ihrem Ziel schon recht nahe waren.
»Hier müsste es sein«, rief sie irgendwann und ließ Oarf tiefer fliegen.
Unter ihnen teilte sich der Große Fluss in unzählige Arme, die den Boden tränkten, und die Bäume traten zurück und machten einem Feuchtgebiet Platz. Das mussten die Sümpfe sein, die Nihal bei der Befragung des Talismans erblickt hatte. Sie flogen näher heran, doch bald trübte dichter Nebel ihre Sicht. Hier und dort erblickten sie das dürre Geäst des einen oder anderen Baumes.
»Wir müssen ganz runter, sonst sehen wir gar nichts«, meinte Laio.
Kaum hatten sie wieder, umfangen vom weißlichen Licht des Nebels, festen Boden unter den Füßen, da stieg ihnen der Geruch fauligen Wassers in die Nase. Die Sümpfe.
Sie setzten sich auf einen Baumstamm, um zu beraten, was zu tun sei.
»Solange sich der Nebel nicht lichtet, können wir nicht weiterfliegen«, erklärte Sennar.
»Aber wir wissen doch gar nicht, wie weit das Heiligtum noch entfernt und wie ausgedehnt das Sumpfgebiet ist«, gab Laio zu bedenken.
Nihal schwieg. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken, und ihr Gesicht glühte. Sie versuchte, sich zu sammeln, und hörte nicht, was Laio und Sennar sagten. Schließlich entschied sie: »Wir müssen zu Fuß weiter.«
»Einverstanden«, antwortete Laio und machte Anstalten aufzustehen.
»Du kommst nicht mit«, hielt Nihal ihn zurück.
Laio erstarrte. »Warum das denn?«
»Es ist besser, wenn du bei Oarf bleibst.«
»Ach, du willst mich doch nur aus dem Weg haben«, empörte sich der Knappe, um gleich darauf jedoch eine reuige Miene aufzusetzen.
Nihal blickte ihn streng an. »Wie du vorhin selbst gesagt hast: Wir wissen nicht, wie weit es überhaupt noch ist. Oarf ist erschöpft, und du musst dich um ihn kümmern.«
»Schon, aber …«
»Kein Aber. Mein Entschluss steht fest. Sennar und ich machen uns morgen auf den Weg. Und du bleibst hier.«
An diesem Abend fand Nihal keinen Schlaf. Das Fieber war noch weiter gestiegen, und der Gedanke, dass sie in Kürze das erste Heiligtum betreten würde, versetzte sie in freudige Erregung und ängstigte sie zugleich. Sennar würde bei ihr sein, doch der Entschluss des Magiers, sie bei diesem Abenteuer zu begleiten und dafür seine Stellung im Rat aufs Spiel zu setzen, war eine zusätzliche Bürde für diese bereits arg belastete Mission.
Als Nihal vor dem Rat der Magier ihren Entschluss mitgeteilt hatte, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, war Sennar ruckartig aufgesprungen.
»Ich bitte um die Erlaubnis, sie zu begleiten.«
Nihal drehte sich zu ihm um. »Sennar!«
»Ausgeschlossen«, antwortete Dagon, »wir brauchen dich hier. Ohne deine magischen Künste wäre die Niederlage noch viel verheerender ausgefallen. «
»Bitte erlaubt mir, mit ihr zu dieser Mission aufzubrechen«, beharrte Sennar. »Auch ihr können meine magischen Künste von Nutzen sein.«
Dagon blickte ihn lange an. »Dann geben wir ihr eben einen anderen Zauberer mit. Du bist uns zu wertvoll, als dass wir auf dich verzichten könnten.«
»Auch Nihals Fähigkeiten sind wertvoll für unser Heer.«
»Du bleibst hier, Sennar. Die Sache ist entschieden.«
In diesem Moment ließ sich Sennar zu einer unerhörten Geste hinreißen. Er riss sich das Medaillon vom Hals, das seine Zugehörigkeit zum Rat bezeugte, das Symbol all der Werte, an die er geglaubt und für die er gekämpft hatte. »Dann bin gezwungen, meinen Abschied aus dem Rat zu nehmen.«
Ein verblüfftes Raunen durchlief den Saal.
»Ist dir der Rat so wenig wert?«, ergriff Sate, der Vertreter des Landes der Sonne, das Wort.
»Der Rat ist mein Leben, doch es gibt viele Wege, der Aufgetauchten Welt zu dienen. Der Drachenkämpferin Nihal bei ihrem schwierigen Unternehmen beizustehen, ist einer davon.«
»Wer soll deinen Platz einnehmen?«, fragte die Nymphe Theris. Soana erhob sich von ihrem Sessel. »Solange Sennar fort ist, stelle ich mich als Vertretung zur Verfügung.«
Dagon dachte lange nach. »Einverstanden«, erklärte er schließlich. »Sennar, ich stimme deinem Aufbruch zu. Doch wisse: Der Rat behält sich das Recht vor, dich nicht wieder in seinen Reihen aufzunehmen, wenn du zurückkehrst.«
Sennar nickte.
Nihal starrte in die Flammen, die mit ihrem rötlichen Schein die bitterkalte Nacht erhellten. Der Nebel, der sie umgab, schien alles verschluckt zu haben.