Buch
Die ersten Nachkriegsdeutschen sind im Rentenalter. Fühlen sich beim wehmütigen Blick zurück aber noch jung. Michael Jürgs, geboren im Mai 1945, gehört zu dieser Generation. In heiterer Gelassenheit schildert er jene aufregenden Zeiten, in denen aus der von Nazis geprägten Demokratur ein Land der Freien wurde – die Bundesrepublik. In denen jede noch so kleine Liebe ein großes Abenteuer war, die Helden John Lennon und Willy Brandt, John F. Kennedy und Rudi Dutschke hießen, es nur zwei Fernsehprogramme gab, in den Milchbars die Hormone tanzten und in verrauchten Kneipen die Revolution besungen wurde. Seine Reise in die Vergangenheit wird immer wieder unterbrochen durch Abstecher in die heutige Welt oder durch Begegnungen mit jungen Propheten und Machern des digitalen Fortschritts. Er geißelt zwar zornig die weltweit wachsende Verrohung und Verblödung im Netz, bestaunt jedoch ebenso im neugierigen Blick nach vorn die unendlichen Möglichkeiten des Internet.
Autor
Michael Jürgs war u. a. Chefredakteur des Stern. Er hat Biografien über Romy Schneider und Günter Grass, Axel Springer und Eva Hesse geschrieben, Sachbücher wie Der kleine Frieden im Großen Krieg und Wer wir waren, wer wir sind oder Seichtgebiete, eine zornige Polemik wider die Verwahrlosung der Sitten, die monatelang ganz oben in den Bestsellerlisten stand.
Michael Jürgs
Gestern waren wir doch noch jung
Eine Liebeserklärung
an aufregende Zeiten
C. Bertelsmann
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1. Auflage
© 2017 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-18761-3
V001
www.cbertelsmann.de
Inhalt
PROLOG
Ein Mann mit Hund will seine Erinnerungen vearkaufen
1
Vom Geschmack auf der Zunge prickelnder Brausewürfel
2
Vom Tag, an dem unsere Geliebte vergewaltigt wurde
3
Vom Kampf der alten gegen die neuen Medienmächte
4
Von der Einsamkeit vernetzt lebender Großstadtsingles
5
Vom Klavier meines Großvaters und der göttlichen Software Gehirn
6
Von Smartphone-Zombies, Cyberhackern und Mördern im Darknet
7
Von analogen Maulhelden und digitalen Hohlköpfen
8
Von selbstverliebten Kindsköpfen und der Kopfgeburt Peter Pan
9
Vom herzzerreißenden, wunderbaren Brimborium Liebe
10
Vom plötzlich in Sichtweite auftauchenden Lebensende
LITERATUR
PROLOG
Ein Mann mit Hund will seine Erinnerungen verkaufen
Das Gesicht des Mannes ist glatt rasiert. Sein weißes Hemd hängt locker über den Jeans, sein schwarzes Leinenjackett am Lenker des Fahrrads, das hinter ihm an einem Laternenpfahl lehnt. Er steht genau dort, wo oben die Rolltreppe der U-Bahn-Station Heussallee endet, und er fällt auf, weil er vor seinem Bauch einen Kasten trägt, der von einem um seinen Nacken geschlungenen Riemen gehalten wird. Einst boten in halbseidenen Etablissements junge blonde Mädchen in solchen aufklappbaren Bauchläden Zigaretten und Zigarren an. Der Verkäufer hier ist alt, und seine Haare sind grau, aber auch er will eine Ware verkaufen.
»Treten Sie näher«, ruft er, »bei mir finden Sie Geschichten, da drüben«, und mit einer Hand weist er zum Eingang des Museums, »dann die passende Geschichte. Drinnen die Noten, nach denen Sie alle mitsingen können, draußen bei mir die Lieder, die nur ich für Sie anstimmen kann.«
Das klingt ziemlich verschwurbelt, verwirrend und vor allem einstudiert.
Was genau er damit eigentlich sagen will, versteht niemand von den Frauen und Männern, die aus dem U-Bahn-Schacht nach oben schweben, Richtung Haus der Geschichte. Die meisten sind alt wie er. Einige bleiben neugierig vor dem Bauchladen stehen und mustern den Inhalt. Doch darin liegen nur farbige kleine Schachteln und vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos. »Hier sind meine Erinnerungen gespeichert«, erklärt er, »wenn Sie was kaufen, werde ich die für Sie ausgraben und Ihnen dann erzählen von den Zeiten, als wir auf den Korken von geöffneten Champagnerflaschen in den Himmel flogen zu fremden Sternen.« Sein Hund, ein struppiger, brauner Mischling, der neben dem Fahrrad liegt, spitzt kurz die Ohren, als hätte er das Plopp der Champagnerkorken tatsächlich vernommen, schläft aber sogleich wieder ein.
Schon wieder so ein hochtrabender Satz. Ob der Alte schon vormittags betrunken ist?, flüstert eine junge Frau ihrem Begleiter zu. »Ich rieche keine Fahne«, antwortet der, »vielleicht ist er nur ein wenig verwirrt«, und tippt sich wie nebenbei an die Stirn. Der Mann mit dem Bauchladen lacht. Er scheint noch gut zu hören. Tippt sich ebenfalls an die Stirn. »Oben ist bei mir alles noch okay. Ich will meine Erinnerungen aber loswerden, hab’ zu viele davon, und keinen Platz mehr in meinem Depot«, wobei er sich erneut an die Stirn fährt, »und wo, wenn nicht hier vor dem Haus der Geschichte, müsste es Leute geben, die sich für gute Geschichten interessieren?«
»Zum Beispiel?«, fragt daraufhin sein Gegenüber und schüttelt den Arm seiner Freundin ab, die ihn wegziehen will. »Und wer ist überhaupt mit denen auf den Champagnerkorken gemeint?«
»Das sind die, also wir, also zum Beispiel ich, die mal so jung waren, wie Sie es heute sind«, antwortet er, »halt nur ohne Smartphones und ohne Facebook und ohne Twitter. Die waren noch nicht erfunden. Aber wir haben dadurch nicht weniger erfahren von der Welt.«
»Zum Beispiel?«
»Kommt darauf an, wofür Sie sich interessieren. Politik? Geschichte? Kultur? Skandale? Verbrechen? Liebe? Alles selbst erlebt. Alles abrufbar. Alles hier gesammelt.« Als bei seiner Aufzählung das Wort »Liebe« fällt, dreht sich die junge Frau, die schon den Rheinweg hin zum Eingang des Museums überquert hat, wieder um und kehrt zurück.
»Eine Liebeserklärung?«, fragt sie neugierig. »Eine bestimmte Liebe? Welche große Liebe denn?«
Der Alte kramt in einem der Dutzenden von kleinen Kästchen, die in seinem Bauchladen angeordnet sind wie Zinnsoldaten bei einer Parade. Holt eine Karteikarte heraus, auf der notiert ist »GROSSE LIEBEN und kleine lieben«, setzt sich eine Brille auf und liest vor: »Marianne Faithful hätte ich hier. Oder Grace Kelly. Schon mal was gehört von der? War allerdings lange vor Ihrer Zeit. Yoko Ono? John Lennon? Maria Callas? Ingeborg Bachmann?« Unterbricht seine Aufzählung und sagt: »Sind offenbar eher nicht interessant für Sie, aber«, und liest dann erneut von seinem Zettel ab, »diese Liebe hier, die könnte Sie interessieren. Eine große Liebe. Eine mörderisch große. Petra Kelly und Gert Bastian. Auch nicht? Aber immer wieder gern erlebt: Romy Schneider.«
Da nickt die junge Frau. »Was bekommen wir denn wirklich, wenn wir was kaufen?«, will sie wissen. »Das Museum läuft uns nicht weg, der hier vielleicht schon«, flüstert sie ihrem Mann zu.
»Ganz einfach. Sie sagen mir, welche Geschichte Sie gern hören wollen, ich sage Ihnen den Preis, und wenn wir uns geeinigt haben, dann fange ich an.«
»Fangen Sie an? Womit?«
»Meine Erinnerung aufzublättern.«
»Das ist alles?«
»Das ist alles. Ich erzähle Ihnen, was außer mir niemand erzählen kann, denn nur ich habe erlebt, was Sie dann zu hören bekommen.«
»Was wäre speziell für mich dabei?«, fragt jetzt doch neugierig der junge Mann.
»Die Fußballweltmeisterschaft 1954. Oder die von 1990. Die Mondlandung. Der Minirock. Eine rote Schreibmaschine. Mao-Jacken. Die erste Herztransplantation. Rusts Einmannflug nach Moskau. Der Tag, an dem Kennedy ermordet wurde. Drei, vier kleine Kriege, ein paar Attentate. Affären von Politikern hier in Bonn oder später in Berlin.«
»Und dafür, dass Sie mir davon erzählen, wollen Sie Geld haben?«
»Ja, dafür muss ich sogar Geld haben. Ich habe außer meinen Erinnerungen nichts, das ich verkaufen könnte. Mein Hund, er heißt nicht von ungefähr Cash, und ich müssen essen und trinken, und unter einer warmen Decke schlafen wollen wir auch. Wir sind zwar beide das, was gemeinhin Straßenköter genannt wird, aber auch die brauchen ein Dach über dem Kopf.« Dabei tätschelt er Cash sanft den Schädel. »Außerdem sind meine Geschichten echt preiswert angesichts der Tatsache, dass jede einzelne Geschichte wahr ist. Nur ich, niemand sonst, werde sie Ihnen so erzählen können.«
»Auf die Idee könnte aber jeder kommen.«
»Ja. Könnte jeder. Aber erstens muss man was erlebt haben, und zweitens ist noch keiner auf die Idee gekommen, und drittens erzählen zu viele Gutes von sich selbst, statt sich auf gute Geschichten zu beschränken, und viertens …«
»Was, zum Beispiel«, unterbricht ihn der Mann ungeduldig, »kostet es, wenn ich über die Affären von Willy Brandt oder Joschka Fischer oder Gerhard Schröder oder Helmut Kohl mehr wissen will?«
»Dreißig Euro, pro Mann natürlich. Nicht zusammen!«
»Aber warum sollte ich das zahlen, während alle um mich herum, ohne gezahlt zu haben, die Geschichte mithören könnten?«
»Ich flüstere Sie Ihnen ins Ohr, da hört keiner mit, und zudem kann uns kein Anwalt verklagen wegen Verletzung der Privatsphäre von diesem oder von jener.«
»Im Museum«, erwidert der Mann daraufhin und zieht seine Frau in diese Richtung, »gibt es Geschichte umsonst. Eintritt frei. Und alles, was wir dann drinnen sehen, können wir sogar anfassen. Alles haptisch, alles echt. Ihre Geschichten aber sind, wie soll ich sagen: unsichtbar, unfassbar. Und überhaupt, wie kann ich nachprüfen, ob die auch stimmen?«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass alles stimmt. Apropos Ehrenwort: Da hätte ich was, das Sie so nie gehört oder gelesen haben. Uwe Barschel und sein Ehrenwort. Über seinen Selbstmord in Genf weiß ich mehr. Ich war indirekt dabei. Für zwanzig Euro erzähle ich es Ihnen. Ein wahres Schnäppchen.«
Andere Passanten, die mit der Rolltreppe nach oben transportiert wurden, bleiben auf ihrem Weg zum Museum ebenfalls stehen und hören zu. Manche lachen nur bei der Vorstellung, dass einer für Erinnerungen Geld haben will, und dies just vor dem Haus, in dem siebzig Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte versammelt sind. Manchen wiederum gefällt zwar die verrückte Idee, Karteikärtchen und Fotos mit Erinnerungen Heutigen zum Kauf anzubieten, die sich jede x-beliebige Geschichte auf ihrem Smartphone angoogeln könnten. Auch solche Ereignisse, die vor ihrer Zeit die Menschen erschreckten oder berührten. Aber dafür Geld ausgeben will keiner.
Ein Polizist nähert sich der Gruppe.
»Darf ich Sie bitten«, sagt er sehr höflich zum Bauchladenträger, »mir Ihren Gewerbeschein zu zeigen?«
»Gewerbeschein? Ich habe keinen Gewerbeschein. Ich betreibe kein Gewerbe. Ich erzähle nur Geschichten.«
»Aber Sie nehmen Geld dafür, dass Sie Geschichten erzählen«, erwidert der Polizist, weiterhin sehr höflich.
»Stimmt. Aber bisher hat mir niemand etwas abgekauft.«
»Das ändert nichts an den Vorschriften. Ich schreibe Ihnen auf, wo Sie einen Gewerbeschein beantragen können, und sobald Sie den haben, können Sie hier vor dem Haus oder wo auch immer ganz legal und offiziell etwas verkaufen. Egal, ob es jemand haben will oder nicht, aber heute, tut mir leid, aber so lauten nun mal die Bestimmungen, heute müssen Sie den Platz hier räumen. Allerdings gibt es eine Ausnahmeregelung …«
»Und die wäre?«
»Wenn Sie Ihre Erinnerungen verschenken würden, statt sie zu verkaufen, wäre das erlaubt.«
Der Mann schüttelt den Kopf, nein, verschenken wolle er nichts. Lieber behalte er seine Erinnerungen für sich. »Ich weine zwar«, erklärt er trotzig , als er seinen Bauchladen zuklappt, »wische meine Tränen aber nicht ab, sondern sammle sie, stelle sie in den Kühlschrank und warte, bis sie gefroren sind, löse sie auf in einem Glas Whisky und trinke sie dann aus.«.
Er neigt offenbar hin und wieder unvermittelt zu hochtrabenden Treppensätzen, die vor allem er selbst genießt.
Einige der Umstehenden aber applaudieren, und die blonde junge Frau, die sich nach dem Preis von kleinen oder großen Lieben erkundigt hatte, sagt zu ihrem Begleiter, aber so laut, dass es alle hören: »Ein wunderbarer Satz. So was Schönes könnte dir doch auch mal einfallen.«
»Nein«, sagt der Gelobte, bindet seinen Hund los, packt seinen Bauchladen auf den Gepäckträger seines Fahrrads, steigt in den Sattel, bleibt jedoch noch stehen: »Sie sollten im Gegenteil glücklich sein, dass Ihrem Mann ein solcher Kitsch gar nicht erst in den Sinn kommt. Ich versichere Ihnen, mein Satz war reiner Kitsch. Würde ich aus einem Text sofort streichen, sogar aus einem eigenen, und ein guter Lektor ließe mir den eh nie durchgehen.«
Dann tritt er in die Pedale. Die Frau schaut ihm noch einen Moment nach, bevor sie sich umdreht Richtung Museum, wo man Geschichte ansehen, anhören, anfassen kann.
Vor einem spitzgiebeligen Haus mit grünen Fensterläden hält der Alte an. Er schließt das Fahrrad an den Zaun, hebt den Kasten vom Gepäckträger hoch, gibt Cash ein Zeichen, geht um das Haus herum in den Garten auf die Terrasse, legt den verschlossenen Bauchladen ab, rückt einen Stuhl zurecht, setzt sich hin, zieht den Überzug von einer roten Schreibmaschine, spannt einen Bogen Papier ein.
»Ich könnte«, sagt er zu Cash, der ihn aufmerksam anblickt, »ich könnte auch was Großes schreiben über die guten alten Zeiten statt nur eine kleine Kolumne über den gescheiterten Versuch, meine Erinnerungen zu verkaufen. War eh eine blöde Idee. Was meinst du?«
Sein Hund wedelt mit dem Schwanz.
»Ich interpretiere das als Zustimmung«, sagt er förmlich, öffnet seinen Koffer der Erinnerungen und verteilt die Fotos und die Zettel auf dem Tisch. Wartet. Raucht. Wartet. Tippt ein paar Zeilen in die Maschine. Löscht dann einige Wörter. Überlegt. Schaut in den Himmel. Schreibt erneut. Schließlich zieht er den Bogen Papier aus der Walze, liest laut:
Gestern waren wir doch noch jung. Eine Liebeserklärung an aufregende Zeiten. Eine nostalgische Tour durch traumhafte Welten, bevor es virtuelle Träume im Internet gab. Ein wehmütiger Rückblick auf Jahre ohne Twitter und SMS, E-Mails und Handys, bevor eine grenzenlose Welt im Netz entstand. Eine trotzige Hymne auf die Republik, bevor verrohte Wutbürger sie niederbrüllten. Eine Würdigung sozialer Medien, bevor asoziale Prolos sie schändeten. Eine Polemik gegen Selfie-Zombies in den digitalen Seichtgebieten Google, Facebook, Instagram und Snapchat. Eine neugierige Reise zu modernen Schulen des Lebens, Dorfgemeinschaften in Großstädten und den Propheten der künstlichen Intelligenz. Eine vorletzte Begegnung mit der Liebe, bevor das Alter sie umarmt.
»Klingt eigentlich ganz gut, oder? Macht doch zumindest neugierig, oder nicht?«, fragt er seinen Hund.
Doch der schläft bereits.