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Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Energiemuster-Grafiken: Gisela von Löhneysen

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2014

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-87387-974-4
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-975-1

Einführung: Warum sollten Sie sich mit dem System der Energiemuster beschäftigen?

„Jede Jeck is anders“, sagen wir in Köln. Im Laufe unseres Lebens haben wir alle typische Eigenarten erworben, die uns auszeichnen und zu einem unverwechselbaren Individuum machen. Diese Eigenarten entwickeln sich nicht von ungefähr. Jeder erlebt und betrachtet die Welt aus der Perspektive seiner kulturellen, familiären und persönlichen Filter. Das, was wir wahrnehmen, ist nicht die Realität, sondern das, was unser Gehirn daraus macht, sagt uns die Gehirnforschung.

Anaïs Nin hat es einst folgendermaßen ausgedrückt: „Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.“[1] So gesehen lebt jeder in seiner eigenen Welt. Nun gibt es aber gewisse Grundmuster, die sich aus der Evolution heraus entwickelt haben und sich von Familie zu Familie, von System zu System ähneln. Wenn der eine vorangeht, folgen die anderen oder sie bleiben zurück. Wenn mich jemand angreift oder anklagt, wehre oder ergebe ich mich bzw. flüchte oder erstarre ich. Wenn sich jemand zurückzieht, gehe ich ihm nach oder ich bleibe, wo ich bin. Wenn jemand erstarrt, gehe ich zu ihm oder ich meide ihn. Sich in Sekundenschnelle richtig zu verhalten war für unsere urzeitlichen Ahnen überlebenswichtig – und auch für uns ist es nicht gänzlich unbedeutend. Gewohnheitsmäßige Muster helfen uns, das Wahrgenommene schnell einzuordnen. Freund oder Feind? Hier müssen wir flexibel reagieren können, je nachdem wie die Antwort ausfällt.

Darüber hinaus gibt es weitere Signale, die wir wahrnehmen. Körperhaltung und Stimme machen einen Großteil dessen aus, was und wie wir über eine Person denken. Frisur, Kleidung und Fahrzeug lassen heute oft Rückschlüsse auf ihre Werte und Einstellungen zu. In früheren Jahrhunderten konnte man an solch äußeren Merkmalen den Status eines Menschen sofort erkennen. Die Breite des Spitzenbesatzes zeigte zum Beispiel zentimetergenau an, ob jemand der Bürgermeister, die Frau des Bürgermeisters, seine Mutter, eine Adelspeson, ein einfacher Handwerker oder Bauer war. Heute hingegen sieht man an Reichen zerschlissene Vintage-Klamotten, während Einkommensschwächere sich vielleicht mit paillettenglitzernden, goldenen Tops zieren. Stände und Zünfte regelten früher, wer wohin gehörte. Heute sind die Unterschiede viel subtiler geworden, wie auch die soziale Mobilität. Wir benötigen von daher verfeinerte Erkennungszeichen, um uns bei unseren Mitmenschen zurechtzufinden.

Gleichmacherei ist ungerecht

Meiner Erfahrung nach eignet sich das Persönlichkeitsmodell der vier Energiemuster ganz hervorragend, um jedem einzelnen Menschen gerecht zu werden. Es wurde von Gundl Kutschera entwickelt, um unsere eigenen Landkarten, die der anderen Menschen und die zwischen uns bestehenden Beziehungsgeflechte leichter zu identifizieren. Wer die vier Energiemuster als typische, systemische Verstrickungen und Ausdrucksweisen von individuellen Haltungen im beruflichen und persönlichen Alltag erkennt, kann dieses Wissen dazu nutzen, besser zu kommunizieren, sich zu „ent-ärgern“ und insgesamt zufriedener zu werden.

Je intensiver man sich mit den Energiemustern beschäftigt, je deutlicher wird einem: Wenn wir alle Menschen gleich behandeln, tun wir ihnen unrecht. Mir jedenfalls ist völlig klar, dass es keinen Sinn macht, irgendein Motivationsprogramm, Projekt, Training, Coaching oder eine Kooperation mit anderen Menschen anzugehen, ohne mir nicht im Klaren darüber zu sein, nach welchem Muster sich mein Gegenüber verhält und welche Vorstellungen seiner Haltung zugrunde liegen. Wie Sie in Kapitel 1.4 „Die vier Energiemuster in der Interaktion“ lesen werden, macht es einen himmelweiten Unterschied, ob ich z. B. mit einem „Kleinen Kind“ als Co-Trainer ein Seminar durchführe, oder mit einem „Aggressiven Einschüchterer“. Auch bei der Zusammenstellung von Teams, wie Sie in Kapitel 4.1.3 „Die Energiemuster in der Teamarbeit“ sehen werden, ließe sich viel Zeit und Energie sparen, wenn Menschen entsprechend ihren Potenzialen, Stärken und Schwächen eingesetzt würden, denn das scheinbar gerechte Gleichheitsprinzip schafft in Wirklichkeit große Ungerechtigkeiten. Das illustriert ein Cartoon von Hans Traxler sehr schön, wo ein Hund, eine Robbe, ein Goldfisch im Glas, ein Elefant, ein Vogel und ein Affe vor einem Prüfer stehen. Dieser deutet auf einen Baum und sagt: „Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich. Klettern Sie auf diesen Baum.“

Laut dem aktuellen „Human Engagement Index“ des Gallup-Institutes machen seit zehn Jahren unverändert zwei Drittel aller deutschen Angestellten „Dienst nach Vorschrift“, ohne tiefere emotionale Bindung an ihren Arbeitgeber und ohne großes Engagement. Gleichzeitig liegt in den Unternehmen die Diskussion über „Werte“ hoch im Trend. Solange man aber nicht die unterschiedlichen Auslegungen dieser Werte berücksichtigt und individuelle Anpassungen an abstrakte Begrifflichkeiten wie Anerkennung und Wertschätzung macht, wird sich an der betrüblichen Motivationssituation nichts ändern. Ob Menschen sich engagieren oder nicht, hängt von unbewussten Belohnungsmechanismen im Gehirn ab, was Hirnforscher wie Gerhard Roth wissenschaftlich belegen konnten[2]. Im Neurolinguistischen Programmieren (NLP) beschäftigen wir uns ebenfalls seit Jahrzehnten mit der Tatsache, dass sinnesspezifische Auslöser, z. B. ein bestimmtes Lied, bestimmte Reaktionen zur Folge haben, z. B. Gänsehaut. Aber abhängig von ganz individuellen Filtern kann diese Reaktion mehr oder weniger stark ausfallen oder überhaupt nicht erfolgen. Menschen haben also ganz unterschiedliche Landkarten und nehmen die Welt jeweils anders wahr. Hieraus lässt sich schließen, dass Realität konstruiert und individuell erzeugt ist, d. h. auch von Mensch zu Mensch variiert.

Vielfalt und Überforderung

Jeder Mensch stellt also sein eigenes Modell der Welt her und verfügt entsprechend über eine ganz einzigartige Persönlichkeit. Bei einer Weltbevölkerung von mittlerweile über 7 Milliarden Menschen und bei einer gleichzeitigen Überforderung jedes einzelnen Menschen angesichts von mehr als sechs bis zehn Alternativen[3] liegt auf der Hand, dass wir Modelle brauchen, um die überfordernde Vielfalt einzudämmen. Und tatsächlich nutzen wir alle Modelle, Tag für Tag, um handlungsfähig zu bleiben.

Die einfachste Unterteilung ist: Freund oder Feind? Basierend auf vorher gemachten positiven oder negativen Erfahrungen (sogenannten Ankern) läuft unbewusst in Bruchteilen von Sekunden ein Einordnungsprozess ab. Dass wir diesen Ablauf stark verlangsamt mithilfe von Feinwahrnehmungen (den sogenannten Submodalitäten) analysieren können, ist nicht zuletzt ein Verdienst des NLP. Zahlreiche Modelle – insbesondere das der Metaprogramme – bieten ein abstraktes Repertoire, um das Wahrgenommene begrifflich fassbar zu machen. (Auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen NLP und dem System der vier Energiemuster gehe ich in Kapitel 4.1.2 näher ein.)

Die Metaprogramme und weitere NLP-Modelle (Graves-Ebenen, neuro-logische Ebenen) bieten noch eine recht große Fülle an Merkmalen. Die meisten Persönlichkeitstypologien beschränken sich hingegen auf drei bis zwölf Typen. Die Astrologie z. B. unterscheidet zwölf Sternzeichen, für die es eine noch weiter gefasste Zuordnung nach den in vier Elementen (Feuer, Wasser, Erde und Luft) gibt; das neunteilige Enneagramm unterscheidet drei Intelligenzzentren: Bauch-Typen (Instinkttriade), Herz-Typen (Gefühlstriade) und Kopf-Typen (Denktriade).

Schon im antiken Griechenland unterschied Hippokrates vier Temperamente. Es gibt vier Himmelsrichtungen, vier ursprüngliche Elemente ... Viele auf C. G. Jungs Archetypen basierende Typologien (z. B. DISG, Farbtypen etc.) legen vier Grundtypen zugrunde. Die Zahl vier findet sich also häufig und wie mir scheint aus gutem Grund: Sie ist symmetrisch und ausgewogen, wie der Viervierteltakt.

Vier grundlegende Energiemuster scheinen also eine sinnvolle, nachvollziehbare und nicht überfordernde Anzahl an Kategorien zu sein. Natürlich sind weitere Verfeinerungen möglich und wie Sie im Abschnitt „Die Vier-Energiemuster-Übersicht“ sehen werden, habe auch ich jeweils zwei Unterkategorien eingeführt. Angesichts der großen Unterschiede im Verhalten, die sich aus den Grundmustern ergeben können, erscheint mir das notwendig. Ähnlich wie im Enneagramm gibt es auch im Energiemuster-System Mischformen und Möglichkeiten, sich mithilfe der anderen Muster und weiterer kreativer Ideen weiterzuentwickeln.

Bei allen selbsteinschätzenden typologischen Verfahren gibt es den sogenannten Barnum-Effekt[4]: Man erkennt sich in verschiedenen Beschreibungen wieder und die Einteilung ist niemals zu 100 % zutreffend. Das ist bei den Energiemustern nicht anders und dessen bin ich mir bewusst. Wissenschaftlichkeit können die Energiemuster also nicht beanspruchen. Sie sollen ein nützliches Instrumentarium sein und jeder, der damit arbeitet, muss ständig offen und achtsam für Unterschiede und individuelle Ausprägungen sein. Mit der Zeit wird jeder sein individuelles Modell kreieren, das der eigenen Wahrnehmung entspricht. Das System ist also stets veränderbar, wenn es neue Erkenntnisse gibt, und darf niemals zum Dogma erstarren. Dafür ist die menschliche Natur einfach viel zu komplex.

Warum haben die Energiemuster keine „schöneren“ Namen?

Im ersten Kapitel geht es um theoretische Grundlagen und die ausführliche Darstellung der einzelnen Energiemuster: „Aggressiver Einschüchterer“, „Kleines Kind“, „Besserwisser“ und „Rückzieher“ sowie um ihre positiven und negativen Entwicklungswege bzw. Ausprägungsintensitäten. Die Entstehung der Energiemuster aus den spezifischen Kernkränkungen, die jeder Mensch in seiner frühen Kindheit erfährt, sind hierbei genauso Thema wie ein Test zur Selbsteinschätzung, der Ihnen helfen kann, Ihr eigenes Energiemuster zu bestimmen.

Zugegeben: Die Bezeichnungen der vier Energiemuster klingen wenig schmeichelhaft. Die Muster sind jedoch kein fest zementierter Zustand, auf dem wir uns „ausruhen“ können. Entsprechend sollen die Bezeichnungen verdeutlichen, dass es sich um Vermeidungs- bzw. Bindungsmuster handelt, also um Verhaltensweisen und Strategien, die wir in der Kindheit unter Stress entwickelt haben, um zu überleben. Laut Gundl Kutschera entstehen sie aus „Treue“ zur Familie!

Natürlich möchte niemand z. B. „Aggressiver Einschüchterer“ genannt werden, das entspricht nicht dem, wie wir uns gern nach außen hin darstellen. Vielleicht sind Sie mit dem Begriff des „Schattens“ von C. G. Jung vertraut? Damit werden alle ungeliebten, verdrängten Anteile in uns bezeichnet, die wir gern unter den Teppich kehren. Vor dem Schatten fürchten wir uns und nach Möglichkeit soll ihn niemand sehen. Und doch gelingt es nicht wirklich, ihn zu verbergen. Und warum sollte man das auch tun. Ich meine, dass es ohnehin klüger ist, sich mit seinem Schatten auseinanderzusetzen, denn gerade hier liegt enormes Potenzial verborgen, das uns zuverlässig unterstützt und vor Gefahren bewahrt.


Man könnte sagen, unsere negativen Verhaltensweisen sind nicht das Problem, sondern die Lösung, denn hinter jedem als negativ empfundenen Verhalten verbirgt sich eine gute Absicht. Wenn jemand beispielsweise besonders eifrig und fleißig ist, wird er sich an einer gelegentlich einsetzenden „Komplettlähmung“, die ihn geradezu auf dem Sofa festnagelt, sehr stören. Für Außenstehende liegt jedoch auf der Hand, dass nur so der Niemals-ruhen-Wollende überhaupt etwas Ruhe und somit einen nötigen Ausgleich finden kann. „Harte Schale, weicher Kern“ oder das Yin-und-Yang-Modell, bei dem im Schwarzen stets ein weißer und im Weißen stets ein schwarzer Fleck zu finden ist, sind weitere Beispiele dafür, dass Licht und Schatten zusammengehören.

Entsprechend sind auch in den negativ klingenden Energiemuster-Bezeichnungen wertvolle Schätze enthalten, die es zu entdecken gilt! Nehmen Sie das Energiemuster, in dem sie sich wiedererkennen, als Anreiz zur Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit und nutzen Sie es zum Aufbau wertschätzender Beziehungen, ganz im Sinne der Erfinderin Gundl Kutschera! Sie hat mir übrigens verraten, dass Kinder und Jugendliche in ihren Trainings den Energiemustern mittlerweile positive Adjektive voranstellen, um sich besser damit zu fühlen. So gibt es nun also den: „Mutigen aggressiven Einschüchterer“, den „Fürsorglichen Besserwisser“, das „Charmante kleine Kind“ und den „Beobachtenden Rückzieher“.


Die Liste der positiven Attribute für die vier Muster ließe sich fortsetzen: „Edelmütiger aggressiver Einschüchterer“, „Verständnisvoller Besserwisser“, „Ehrliches kleines Kind“ und „Friedliebender Rückzieher“. Trotzdem sollte man, um die kraftvolle Wirkung des Modells nicht abzuschwächen, bei den Grundenergien und -bezeichnungen bleiben und sich durch die nicht ganz so schmeichelhaften Namen eher zum Nachdenken und zu Diskussionen anregen lassen. Im Enneagramm gelten die einzelnen Typen als Konstrukte der Persönlichkeit, als Landkarten des „Egos“, die es spirituell zu transformieren gilt, um wieder in Kontakt zu unseren spirituellen Tiefen zu gelangen (Maitri 2001, S. 15). In ähnlicher Weise ist auch das Modell der vier Energiemuster als Spiegel aufzufassen, der uns unsere Schattenseiten zeigt.

Übrigens: Die vier Energiemuster sind geschlechtsneutral. Es gibt genauso Aggressive Einschüchterer wie Aggressive Einschüchtererinnen, Besserwisser und Besserwisserinnen, männliche und weibliche Kleine Kinder, Rückzieher und Rückzieherinnen. Zur besseren Lesbarkeit verzichte ich in diesem Buch zumeist darauf, z. B. von „Aggressiven Einschüchter/inne/n“ zu sprechen. Auch die Reihenfolge der Energiemuster-Darstellung ist rein alphapetisch bedingt und beinhaltet keine Wertung.

Was haben Sie davon, sich mit dem System der Energiemuster zu beschäftigen?

Ich glaube – und viele Teilnehmer meiner Seminare haben mich zwischenzeitig darin bestätigt –, dass die Kenntnis der vier Energiemuster Sie dabei unterstützen kann, sich von unreflektierten und eingefahrenen Verhaltensweisen und schädlichen Haltungen zu lösen. Bewusst können Sie sich so für günstigere Verhaltensweisen neu entscheiden – und aus der eigenen Kernkränkung ein Erfolgsmodell machen! Und, was besonders für die eher außenorientierten Menschen von Interesse ist: Sie können mit etwas Übung und Reflektion erkennen, welche Energiemuster in Ihren Systemen (Partnerschaft, Familie, Firma, Freundeskreis etc.) vorhanden sind und wie Sie sich vor ihnen schützen bzw. gut mit ihnen kooperieren können, ohne sich selbst dabei zu verlieren.

Einige praxisnahe Übungen, Fallgeschichten und vor allem Textauszüge aus der „Energiemuster-Story“, einem eigens zur Verdeutlichung der Energiemuster von mir verfassten Roman, unterstützen Sie in Kapitel 2 dabei, die einzelnen Muster besser zu verstehen und voneinander zu unterscheiden. Typgerecht-konstruierte Personen der Story, wie z. B. Leon Magnus, Werner Unterhausen, Bärbel Brillant, Patrizia Süßkind und andere, werden Sie mit ihren aus dem Leben gegriffenen Eigenheiten und Marotten an viele Menschen in Ihrem familiären und beruflichen Umfeld erinnern. Wenn Sie erkennen, welche Bedürfnisse und Gedanken hinter den zum Teil problematischen Verhaltensweisen stehen, die in den Szenen anschaulich vor Augen geführt und anschließend – im imaginären „Hörsaal“ von Professor Jenkins mit seinen Studenten – analysiert werden, gehen Ihnen die Augen auf. Das verspreche ich Ihnen! Zusätzlich habe ich Teilnehmer meiner Seminare gebeten, von ihren Erfahrungen und dem praktischen Nutzen des Systems zu berichten. So erhalten Sie wertvolles Wissen, das Sie gezielt für ein stärkenorientiertes und harmonischeres Miteinander in Ihrem beruflichen und persönlichen Alltag einsetzen können.

Eines liegt mir besonders am Herzen und soll deshalb zum Abschluss in aller Deutlichkeit noch einmal gesagt sein: Die vier Energiemuster sind grundsätzlich nur ein Modell für Beziehungen und Persönlichkeitsmerkmale, kein für alle Zeiten unveränderliches Urteil über Sie oder andere Menschen! Zusammengenommen bilden die Muster ein ineinander verschränktes System, das sich gegenseitig in Balance hält. Und natürlich kann man nicht alle Menschen in nur vier Kategorien einteilen – so ist das System auch nicht gemeint. Deshalb möchte ich in möglichst vielen Dimensionen vorstellen, wie sich die Energiemuster ausdrücken können. Neben den theoretischen Ausführungen bietet das Buch aus diesem Grund auch die kleine Geschichte rund um Leon Magnus, Werner Unterhausen und all die anderen Figuren, die in verschiedenen Episoden verdeutlicht, welche Dynamiken, Konflikte und Lösungen sich im Alltag ergeben können, wenn typische Vertreter der Energiemuster aufeinandertreffen. Somit ist dieses Buch als lebendige Charakterstudie und anekdotisches Lehrbuch der menschlichen Verhaltensweisen gemeint. Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei!

Jenison Thomkins

1. Was ist das System der Energiemuster?

Gundl Kutscheras Verdienst ist es, das systemische Persönlichkeitsmodell der vier Energiemuster entwickelt zu haben. Zum Grundverständnis des Systems ist es wichtig zu wissen, dass jeder Mensch Anteile der vier Grundenergien „Aggressiver Einschüchterer“, „Besserwisser“, „Kleines Kind“ und „Rückzieher“ in sich trägt, dass sie aber jeweils unterschiedlich verteilt sind. Bei den meisten Menschen überwiegt eines der Energiemuster. Diese Grundenergie kann sich sodann, je nach Kindheitserfahrungen und persönlicher Entwicklung, in „positiven“ oder „negativen“ Entwicklungswegen unterschiedlich entfalten. Wertungen, die hier vorgenommen werden, liegen immer im Auge des Betrachters.

Grundsätzlich gilt: Kein Muster ist besser oder schlechter als ein anderes. Alle sind gleichwertig und sie bedingen, brauchen und erzeugen sich gegenseitig. Das ist der systemische Aspekt des Modells. Nur wenn in einem Team, einer Familie oder Gruppe alle vier Energiemuster vertreten sind und frei ausgelebt werden, können Balance und Glück entstehen. Dasselbe gilt nach dem alten Resonanzgesetz „innen wie außen“ auch für die persönliche Kompetenz; bei jedem einzelnen Menschen sollten die Energien ebenfalls vorhanden sein und ausgelebt werden. Im Idealfall sollte man also in der Lage sein, flexibel mit einem breiten Repertoire an Verhaltensweisen auf unterschiedliche Situationen zu reagieren. Im NLP spricht man in diesem Zusammenhang von „Wahlmöglichkeiten“. In Verhandlungen mit säumigen Dienstleistern z. B. ist es gut, aggressiv sein zu können: „Wie lange soll ich noch auf meinen Anschluss warten? Langsam reicht’s mir!“ Streiten sich zwei Mitarbeiter, empfiehlt sich die verständnisvoll-vernünftige Herangehensweise des Besserwissers: „Nun schauen Sie doch mal, er meint es doch nicht so!“ Streikt die Technik, ist man besser besonnen und geduldig wie ein Rückzieher: „Es ist nur ein Computer, früher oder später werde ich die Lösung gefunden haben!“ Und im Urlaub ausgelassen und fröhlich wie ein kleines Kind: „Hurra, die Sonne scheint, ich laufe mit nackten Füßen durch den warmen Sand! Gleich springe ich ins blaue Meerwasser und nachher gibt’s was Gutes zu essen. Mmh, ich kann es mir hier so richtig gut gehen lassen!“

Der bedeutende deutsche Psychoanalytiker Fritz Riemann, in dessen Werk „Die Grundformen der Angst“ ich wertvolle Anregungen zur psychologischen Grundlage der Energiemuster fand und den ich im Weiteren des Öfteren zitieren werde, erklärt, warum normalerweise jeder Mensch Aspekte jedes Musters in sich trägt:

„Wenn es sich bei den Grundimpulsen und den dazugehörenden Ängsten um allgemein menschliche Gegebenheiten handelt und wenn ihre Ausformung mit den durchlaufenen frühkindlichen Entwicklungsphasen zusammenhängt, die wir alle durchmachen müssen, müssen wir sie auch alle als Möglichkeit und im Ansatz in uns kennen. Wir können demnach sogar sagen, dass wir in gewissem Sinne umso lebendiger sind, je mehr wir in allen vier Bereichen zu Hause sind bzw. wenn keiner der Grundimpulse in uns völlig ausfällt – das würde bedeuten, dass wir die Kindheitsphasen, in denen die Impulse und Ängste ihrer Erstprägung erhalten, relativ gesund durchlaufen konnten“ (Riemann 1999, S. 255 f.).

Wenn Sie sich möglicherweise nicht eindeutig einem Muster zuordnen können, bedeutet das demnach: Sie hatten das Glück, dass Ihre frühkindlichen Grundbedürfnisse in ausreichendem Maße befriedigt wurden. Kein Grund zur Sorge also, eher einer zur Freude.

Wichtig ist mir noch, Ihnen nahezulegen, dieses System mit Sorgfalt und Respekt zu verwenden. Sowohl was Sie selbst betrifft als auch im Umgang mit anderen. Gundl Kutscheras Maxime der „gleichwertigen Beziehungen“ sollte auch im Zusammenhang mit den Energiemustern immer der Maßstab sein und niemals Herabsetzung, Bloßstellung oder „Schubladisierung“ anderer!

1.1 Erste Selbsteinschätzung und spezifische Leseempfehlung für jedes Energiemuster

Natürlich gehe ich bei diesem Buch nicht von einer homogenen Leserschaft aus, sondern behaupte, dass auch bei Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eins dieser Muster besonders stark ausgeprägt ist. Deshalb beginnen wir zunächst mit einer Selbsteinschätzung Ihres eigenen Energiemusters. Je nach Ausprägung habe ich anschließend ganz spezifische Empfehlungen für Sie, wie Sie dieses Buch am besten nutzen können. Lesen Sie dafür zunächst aufmerksam die folgende Entscheidungsgeschichte:

1.1.1 „Wer hat recht?“ – die Entscheidungsgeschichte

Es lebte einmal eine schöne arme Frau in einem fernen Land an einem breiten Fluss. Sie liebte einen Mann, der auf der anderen Flussseite wohnte. Der Mann liebte sie auch sehr und sie hatten vor zu heiraten. Aber der Mann stellte die Bedingung, dass sie noch ein Jahr warten sollten, um zu prüfen, ob ihre Liebe stark genug sei. In dem Jahr sollten sie sich nicht sehen und auch keinen anderen Partner haben. Sie willigte ein und so schlossen sie einen Vertrag, dass sie in einem Jahr zu ihm kommen und seine Frau werden solle, wenn sie sich dann noch liebten und sie noch Jungfrau sei.

Es fiel der Frau sehr schwer, auf ihren Geliebten zu verzichten, aber sie hielt durch. Als das Jahr vorüber war, freute sie sich sehr, ihn endlich wiederzusehen und seine Frau zu werden. Da brach ein großes Unwetter im ganzen Land aus, das alle Brücken über den Fluss zerstörte. Es gab nur noch einen mutigen Fährmann, der Fahrgäste für horrende Summen ans andere Ufer brachte. Die Frau hörte lange Zeit nichts von ihrem Geliebten und sorgte sich sehr, ob er durch das Unwetter zu Schaden gekommen sei. Nach einem halben Jahr vergeblichen Wartens auf eine Nachricht wollte sie unbedingt hinüber, um ihn zu sehen.

Sie ging zum Fährmann und bat ihn, sie über das reißende Wasser zu bringen. Der Fährmann war zu der gefährlichen Aktion bereit, aber nur, wenn er viel Geld von ihr bekäme. Sie sagte ihm, dass sie arm sei. Daraufhin grinste er sie dreist an und schlug ihr vor, mit ihrem schönen Körper zu bezahlen. Die Frau bat sich Bedenkzeit aus. Sie ging zu einem Weisen und fragte ihn um Rat. Der alte Mann strich über seinen langen weißen Bart und dachte lange nach. Schließlich schüttelte er bedauernd den Kopf und sagte, dass er ihr nicht raten könne. Sie müsse selbst die Entscheidung fällen. Sie rang sehr mit sich, fand aber keine andere Lösung und willigte schließlich in den Handel mit dem Fährmann ein.

Der brachte sie nach erfolgter Gegenleistung schließlich über den Fluss, wo sie gleich ihren Geliebten aufsuchte, der das Unwetter glücklicherweise gut überstanden hatte. Er freute sich sehr, sie zu sehen, und schloss sie in die Arme. Sie war selig und fragte ihn, ob er sie nun heiraten würde. Daraufhin fragte er sie, ob sie sich an den Vertrag gehalten habe. Sie bejahte: „Ich liebe dich immer noch genau wie vor einem Jahr!“ „Und warst du mir auch treu?“ fragte er weiter. „Natürlich!“ antwortete sie heftig, denn die Sache mit dem Fährmann war ja nur ein notwendiges Opfer gewesen. Nun wollte er aber genau wissen, wie sie das viele Geld für die Überfahrt aufgebracht habe. Sie zögerte und gestand schließlich, wie sich die ganze Geschichte mit dem Weisen und dem Fährmann zugetragen hatte.

Da stieß er sie heftig von sich und warf ihr vor, dass sie den Vertrag nicht eingehalten habe und er sie nun nicht mehr heiraten könne, weil sie keine Jungfrau mehr sei. Die Frau erschrak. Sie versuchte verzweifelt, ihm zu erklären, wie sehr sie sich nach ihm gesehnt und dass es keine andere Lösung gegeben hätte. Aber der Mann ließ sich nicht mehr umstimmen und schickte sie fort. So ging die Frau verzweifelt fort und verfiel in eine tiefe Depression.

So viel zu der Geschichte. Bleiben Sie nun bitte ganz bei sich und spüren Sie zur Einschätzung Ihres bevorzugten Energiemusters den Überzeugungen in Ihrem tiefsten Inneren nach. Überlegen Sie für sich – und schreiben Sie sie dann auf!

Die Geschichte eignet sich im Übrigen auch als abendfüllendes Gesellschaftsspiel, als Einstellungstest oder als kreative Seminarmethode, wenn sie das Thema Werte, Einstellungen und Persönlichkeit behandeln möchten.

Fragen zu „Wer hat recht?“

Wer hat aus Ihrer Sicht in der Geschichte richtig und wer falsch gehandelt? Und warum?

Der Mann, weil

Die Frau, weil

Der Fährmann, weil

Der Weise, weil

Wen verstehen Sie am besten? Warum?

Den Mann, weil

Die Frau, weil

Den Fährmann, weil

Den Weisen, weil

Wen verstehen Sie am wenigsten? Warum?

Den Mann, weil

Die Frau, weil

Den Fährmann, weil

Den Weisen, weil

Was hätten Sie als Berater zum / zur ... gesagt?

Mann:

Frau:

Fährmann:

Weisen:

Was glauben Sie, ist aus ihnen geworden?

Mann:

Frau:

Fährmann:

Weiser:

Wie hätte man das Problem aus Ihrer Sicht verhindern können?

Welche der vier angebotenen Wahlmöglichkeiten stellt für Sie den wichtigsten Wert dar?

Gewinn

Liebe

Ehre

Ratio

Was machen Sie mit dem Ergebnis?

Die meisten Menschen können die Einstellungen und Handlungen verschiedener Figuren aus der Geschichte nachvollziehen, identifizieren sich jedoch im Regelfall am stärksten mit einer der vier. Nehmen Sie diese Identifikationsfigur als ersten Hinweis auf Ihr eigenes präferiertes Energiemuster:

Warum jede der Figuren jeweils einem Energiemuster entspricht, erfahren Sie in den Beschreibungen der vier Grundmuster in Kapitel 1.3. Diese erste Selbsteinschätzung kann Sie dabei unterstützen, sich auf eine individuell für Sie passende Art und Weise weiter mit den Energiemustern zu beschäftigen. Denn je nachdem, ob Sie sich in der Geschichte am ehesten mit dem „Aggressiven Einschüchterer“, dem „Besserwisser“, dem „Kleinen Kind“ oder dem „Rückzieher“ identifiziert haben, empfehle ich Ihnen folgenden Umgang mit diesem Buch:

Als Aggressiver Einschüchterer lesen Sie bitte zuerst das Begleitwort von Dr. Gundl Kutschera (vermutlich haben Sie das sogar längst getan). Sie ist die „Grande Dame“ des Neurolinguistischen Programmierens in Österreich und war eine der Ersten, die NLP aus Amerika nach Europa gebracht hat. Im Rahmen des von ihr selbst aufgebauten großen Trainingsunternehmens in Österreich und Deutschland engagiert sie sich stark für NLP und führt auch spezielle Trainings für Kinder und Jugendliche durch, die ihr sehr am Herzen liegen. Sie setzt sich für einen wertschätzenden Umgang miteinander und gehirngerechtes Lernen an Schulen ein und kämpft mit beachtlichem Erfolg für die Anerkennung des NLP an Universitäten.

Aufbauend auf Gundl Kutscheras Begleitwort finden Sie auf den nächsten Seiten weitere Ausführungen zur Relevanz und Bedeutung des Systems. Auch wenn Ihnen Typologien im Allgemeinen vielleicht nicht liegen mögen, möchte ich Sie bitten, die Energiemuster „gnädig“ zu beurteilen, ihre Nützlichkeit und nicht die strenge Forderung nach Wissenschaftlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Bitte sehen Sie sich nicht „in eine Schublade gesteckt“, sondern nehmen Sie die vier Energiemuster als Bereicherung für Ihren privaten und beruflichen Alltag an. Viele Aggressive Einschüchterer haben nach anfänglicher Skepsis die großen Vorteile des Wissens um die Energiemuster bei Personalentscheidungen, Familienstreitigkeiten oder persönlichen Entwicklungszielen erkannt und nutzen es heute in allen Lebenslagen. In Kapitel 3.2.2 kommt Beatrice, eine wohlwollende, soziale Aggressive zu Wort, die die Energiemuster mitlerweile mit großem Gewinn in der Personalauswahl einsetzt.

Als Besserwisser machen Sie am besten erst mal die vertiefende Selbsteinschätzung in Kapitel 3, denn Sie brennen sicherlich darauf, das System selbst anzuwenden! Nehmen Sie es gewohnt spielerisch und nicht zu ernst. Schauen Sie, was es an Geschichten und Übungen zu den Energiemustern gibt, mit denen Sie die nächste langweilige Party energetisieren und mit Ihren Freunden und Freundinnen richtig Spaß bekommen können. Wenn Sie erst einmal loslegen, all Ihre Familienmitglieder und Kollegen den Mustern zuzuordnen, und Ihnen klar wird, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, werden Sie Feuer fangen. Am liebsten werden Sie ab sofort immer nur noch durch diese neue Brille schauen wollen. Seien sie jedoch etwas vorsichtig! Aggressive Einschüchterer, Kleine Kinder und Rückzieher sind nicht immer gleich so begeistert von den Energiemustern wie Sie. Aggressive Einschüchterer möchten nicht eingeteilt, Kleine Kinder nicht durchschaut und Rückzieher nicht diskriminiert werden. Eine gute Gelegenheit also, um Ihr Einfühlungsvermögen effektiv zum Einsatz zu bringen!

Als Kleines Kind empfehle ich Ihnen, am besten erst einmal für eine entspannte Atmosphäre zu sorgen. Legen Sie im Hintergrund schöne Musik auf, machen Sie sich einen großen, dampfenden Kakao in einer fröhlich-bunten Tasse. Sinken Sie dann in Ihr bequemes Sofa und tauchen Sie in ein neues Abenteuer ein. Ich verspreche Ihnen: Es wird Ihnen unendlich viel Freude machen, denn Sie erfahren in diesem Buch, dass Sie sich nicht mehr anstrengen müssen, sondern einfach wunderbar sind, so wie Sie sind! Vielleicht möchten Sie erst mal den Abschnitt in Kapitel 3.1 über sich selbst lesen und von dort aus weiterschauen. Lassen Sie sich bei all dem Zeit. Vielleicht möchten Sie zwischendurch immer mal eine kleine Pause machen, Ihren Hund streicheln, sich etwas Leckeres aus der Küche holen oder sich mit einer Freundin oder einem Freund über Ihre Kindheit unterhalten, die Ihre Kernkränkung und letztlich Ihr Energiemuster geprägt hat?

Als Rückzieher sage ich Ihnen eines gleich vorab: Sie müssen nichts von dem glauben, was ich hier schreibe. Bei den vier Energiemustern handelt es sich nicht um wissenschaftlich geprüftes Wissen. Es ist lediglich ein System, das auf Erfahrungswissen, Beobachtungen, Experimenten und Hypothesen beruht. Ich beanspruche keine Allgemeingültigkeit, schon gar nicht Wahrheit; so vermessen bin ich nicht. Mit allem Respekt: Vielleicht tun Sie mir und sich den Gefallen und lesen das Buch einfach von vorne bis hinten durch, kritisch natürlich, und geben mir danach eine Rückmeldung, ob es Ihnen etwas gebracht hat. Sachlich und objektiv. Es soll nützlich sein, das ist mein Anspruch. Die Implikationen der Energiemuster könnten Sie z. B. darin unterstützen, bei dominanten übergriffigen Menschen adäquater und erfolgreicher zu reagieren. Wenn Sie in Zukunft schnell und klar den Unterschied zwischen Aggressiven Einschüchterern und Kleinen Kindern erkennen können, brauchen Sie sich über Erstere nicht mehr zu ärgern und können Letzteren schneller aus dem Weg gehen. Das wird Ihnen ungemein viel Platz für sich selbst und Ihre Entfaltung schenken. Und wenn Sie die Vorteile des Rückzieherischen einmal anerkennen würden, könnten Sie sie – und sich selbst – auch endlich mehr wertschätzen.

Wie aber kommen wir nun zu unserem persönlichen Energiemuster und wodurch zeichnen sich die einzelnen Grundmuster aus? Darauf gehe ich in den nächsten Abschnitten ausführlich ein.

1.2 Die Entstehung der Energiemuster

Allgemein betrachtet sind die vier Energiemuster eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Sie entstehen als individuelle Antwort auf das, was A. H. Almaas (in „Existentielle Selbstverwirklichung“, 1987) als das „Mangelloch“ oder auch die „Kernkränkung“ bezeichnet. Eine Kernkränkung ist ein Gefühl von Mangel aufgrund unerfüllter Grundbedürfnisse und Sehnsüchte, die jeder Mensch in stärkerer oder schwächerer Form als Folge negativer Erfahrungen in der Kindheit entwickelt und zu individuellen Glaubenssätzen über die Welt manifestiert hat. Diese traumatischen Situationen, in denen wir schwere Kränkungen, Vernachlässigung, Verunsicherung oder Gewalt erlitten haben, waren so qualvoll, dass wir sie auf keinen Fall noch einmal erleben möchten. Es reicht schon, wenn man am Tisch neben wortgewaltigen Eltern nicht zu Wort gekommen ist oder sich gegenüber Geschwistern benachteiligt gefühlt hat – was meist einer verzerrten Wahrnehmung der Realität gleichkommt. Aber seit Entdeckung der Spiegelneuronen wissen wir, dass es für unser Empfinden keinen Unterschied macht, ob eine Situation tatsächlich so ist oder ob wir sie nur so empfinden. Die Reaktion darauf ist die gleiche: Schutz, Vermeidung von Schmerz.

Um uns vor diesen spezifischen Kernkränkungen zu schützen, haben wir in Kindheit und Pubertät spezielle Verhaltensmuster entwickelt, die wir, weil sie funktionieren, auch ins Erwachsenenalter hinübergenommen haben, wo sie mittlerweile wie eine selbstverständliche Identität erlebt werden. Wie der Reflex, die Hand nach einem Kontakt mit der heißen Herdplatte schnell zurückzuziehen, sind auch diese Verhaltensmuster automatisiert, d. h., sie laufen in Sekundenschnelle ab, ohne dass sie uns bewusst sind. Es gibt zum Beispiel Menschen, die – ihre Kernkränkung kompensierend – in jeder Situation die Stimme besonders laut erheben, um sich bemerkbar zu machen. Oder solche, die sich von allem automatisch das Beste aussuchen, weil sie in der Kindheit meinten, zu kurz gekommen zu sein.

Im Gegensatz zum Wegzieh-Reflex sind die Energiemuster jedoch deutlich umfassender und betreffen nicht nur das Verhalten, sondern auch Werte, Glaubenssätze, Metaprogramme, Identität und sogar unsere äußere Erscheinung, unseren Gang, die Gestik und Mimik. Zusammengefasst lässt sich in sieben Schritten darstellen, wie sich aus einer Kernkränkung ein Energiemuster entwickelt und immer weiter verfestigt.

  1. Kernkränkung: Aufgrund mehrfacher schwerer Kränkungen in der frühen Kindheit, die als Folge von zu hohen unbewussten Erwartungen an die Umwelt erlitten wurden, verfestigen sich die negativen Erfahrungen zu einem System von einschränkenden Glaubenssätzen über den eigenen Wert, die eigene Rolle und die Umwelt.

    Beispiel: Einem kleinen Mädchen wird die Verantwortung für ein jüngeres Geschwisterkind aufgebürdet, der es nicht gerecht werden kann. Es wird deswegen ausgeschimpft, fühlt sich überfordert und gleichzeitig schuldig. Andererseits gefallen ihm die überlegene Rolle und die Anerkennung, die es dadurch erfährt. Es verspürt ein „Mangelloch“ in Bezug auf Geborgenheit, Vertrauen, Entlastung und Leichtigkeit.

  2. Anpassung: Als Schutz gegen die Kernkränkung und um das Mangelloch aufzufüllen, entwickelt sich ein System von spezifischen Verhaltenweisen – unabhängig davon, ob es sich um eine objektive oder nur subjektiv empfundene Bedrohung handelt.

    Das Mädchen versucht, sich gegen die Überforderung zu schützen, indem es aggressiv reagiert und andere verantwortlich macht. Gleichzeitig verlangt es für seinen Einsatz Bestätigung und Respekt. Es möchte letztlich wieder die Kontrolle über die Situation gewinnen, indem es andere kontrolliert. Die empfundene Überforderung löst in ihm ein Schwächegefühl aus, das es durch Stärkegebaren kompensiert.

  3. Generalisierung: Wenn das Anpassungsverhalten Erfolg zeigt, wird es im Rahmen eines Lernprozesses internalisiert. Nach und nach geht die bewusste Kompetenz in eine unbewusste Kompetenz über, d. h., das Verhalten wird automatisiert; gleichzeitig gerät der einstige Grund für dieses Schutzverhalten in Vergessenheit. Fortan wird das Verhalten auf bestimmte, auch diffuse Signale hin automatisiert ausgelöst – und zwar so schnell, dass der Verstand keine Chance hat, das Programm zu stoppen.

    Das Mädchen überträgt die häusliche Rolle nun auch auf andere Kontexte. Z. B. wird es Klassensprecherin und übernimmt Verantwortung für Dinge, die andere Schüler oder „unfähige“ Lehrer „verbockt“ haben. Kämpferisch setzt es sich mit den betreffenden Lehrern und Schülern auseinander. Es geht um die Sache, ohne Rücksicht auf zugrunde liegende Motive oder Bedürfnisse. Dafür erntet es Anerkennung – wird aber auch ausgegrenzt. Es fühlt sich leicht übergangen und ist stets darauf bedacht, dass man es wichtig nimmt.

  4. Neuronale Impulse: Bei der Ausprägung der Kernkränkung wurden im Gehirn bestimmte Synapsen gebildet. Wird das zunächst als Schutz entwickelte und später generalisierte Verhalten gezeigt, feuert das Stammhirn über diese Synapsen neuronale Impulse, die direkt an andere Gehirnzentren und den Körper weitergeleitet und dort gedeutet werden.

    Sobald jemand Schwäche zeigt und sich inadäquat verhält, springt das Mädchen ein und mischt mit. Es kann dieses Verhalten nicht mehr abstellen, selbst wenn es wollte. Es ist ein Automatismus geworden. Jede Äußerung eines anderen erlebt das Mädchen als Auftrag!

  5. Veränderte Wahrnehmung: Die Deutung der neuronalen Impulse erzeugt entsprechende Sinneswahrnehmungen und Gedanken. Das kann beispielsweise dazu führen, dass uns ein Gegenüber subjektiv genauso bedrohlich, groß, laut und heimtückisch erscheint wie ein bestimmter Erwachsener aus der Kindheit.

    Die Welt erscheint dem Mädchen als permanente Kampfarena. Überall ist es gefordert. Ständig drohen Unrecht, Manipulation, Verantwortungslosigkeit und Verrat. Es unterstellt anderen Menschen Faulheit, Drückebergerei, Egoismus und Feigheit. Und all das muss es ausbaden!

  6. Emotionen: Die veränderte Wahrnehmung erzeugt Gefühle, die sich psychisch und physisch bemerkbar machen. Je nach Art der Sinneswahrnehmung kann sich ein Mensch unsicher, verletzt, hintergangen oder betrogen fühlen. Erinnerungen an ähnliche Situationen verschärfen diese Emotionen weiter.

    Entspannung wird für das Mädchen zunehmend schwierig. Es gerät leicht in Wallungen, ist überaufmerksam, pusht sich, fühlt sich getrieben, vor den Karren anderer Leute gespannt und ausgenutzt.

  7. Verfestigung: Durch die so ausgelösten Gefühle werden die generalisierten Verhaltensweisen weiter bestätigt und das Energiemuster wird auf neuronaler Ebene noch tiefer gefestigt.

    Andere erzählen ihm ihre Ängste und Sorgen. Man erwartet, dass es dafür Lösungen findet, weil es so stark wirkt. Dadurch wird sein negatives Bild von den Menschen immer weiter verstärkt. Sein Zorn wächst.

An dieser Stelle gibt es – wie immer im Leben – für das Mädchen in unserem Beispiel drei Möglichkeiten: Love it, leave it or change it!

Love it würde bedeuten, dass sich das Mädchen ganz und gar mit seiner Rolle identifiziert und zu einer kämpferischen Aggressiven im Auftrag der Menschheit wird, z. B. als gefürchtete Revolutionärin, harte Gewerkschafterin oder unbestechliche Anwältin.

Leave it würde bedeuten, dass es an sich arbeitet, viel meditiert, alles über die wahren Motive anderer Menschen lernt, verzeiht und als fröhlicher und entspannter Buddha fortan das Leben mit Humor betrachtet.

Change it würde bedeuten, dass es durch Reflektionen und ehrliche Selbsterkenntnis eine sanftere Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen und sich selbst entwickelt und sich im sozialen Feld engagiert, etwa als Geschäftsführerin eines Kinderheims, im Bereich Training oder in der Wirtschaft als verständnisvolle Führungskraft.

Das Beispiel bezieht sich auf das Muster des „Aggressiven Einschüchterers“. Auch bei den anderen drei Mustern lässt sich in einer Abfolge von logischen Schritten nachvollziehen, wie sich aus einer Kernkränkung das jeweilige Energiemuster entwickelt.

Darüber werden Sie im Weiteren noch viel lesen. Zudem komme ich noch ausführlicher auf die verschiedenen Ausprägungen der Energiemuster-Grundtypen zu sprechen und auch auf die Wahlmöglichkeiten „Love it, leave it und change it“. Letztere bestehen darin, dass Menschen mit ihren Emotionen und Mangellöchern unterschiedlich umgehen können. So hat es auch die prominente, österreichische NLP-Lehrtrainerin und Erfinderin der Energiemuster, Dr. Gundl Kutschera, gesehen.

Begleitwort von Dr. Gundl Kutschera

Im Laufe vieler Jahre als Lehrtrainerin beobachte ich immer wieder, dass meine Teilnehmer es trotz zahlreicher Veränderungsvorhaben und Lösungsansätze nicht schafften, ihre problematischen Verhaltensmuster langfristig zu durchbrechen. Ich war frustriert und fragte mich: „Warum? Was ist der Grund dafür, dass sie immer wieder in ihr altes Verhalten zurückfallen?“ Zeitweise habe ich mich so darüber geärgert, dass ich mit der Trainerausbildung aufhören wollte. Stattdessen habe ich mich darauf konzentriert, einen Ansatz zu finden, der meinen Teilnehmern wirklich weiterhilft.

Stark damit verbunden war die Frage: „Wie kann ich so Feedback geben, dass es verstanden und gerne angenommen wird?“ Denn oft war es sehr schwierig, einem Hilfe suchenden Menschen einen Weg aus seiner Sackgasse zu zeigen. Sein Hauptanliegen war es oft, ein altes und störendes Verhalten so schnell wie möglich loszuwerden. Aber das kann nicht die Lösung sein! Jedes Verhalten ist eine wichtige Fähigkeit, die nicht einfach weggeworfen werden kann und darf. Es hat sich entwickelt, weil es einmal einen guten Grund dafür gab. Würde man das Verhalten einfach „löschen“, könnte es leicht passieren, dass es jemandem damit noch schlechter geht als vorher. Wer beispielsweise nicht mehr so viel für andere tun möchte, würde, wenn er sich überhaupt nicht mehr für andere einsetzt, vermutlich sehr einsam werden – und dann wieder in das alte Verhalten zurückfallen.

Diesen Kreislauf habe ich immer wieder erlebt. Ich brauchte also ein Modell, das einem Menschen dabei hilft, sein als problematisch betrachtetes Verhalten zunächst als wichtige Fähigkeit anzunehmen, um es dann um neue Verhaltensweisen zu erweitern und situationsgerecht einzusetzen. Kein leichtes Unterfangen!

Bei meiner Suche nach Antworten ist nach und nach das Modell der Energiemuster entstanden, das ich immer weiter verfeinert habe. Wie bei einem Puzzle fügten sich einzelne Ideen und Erkenntnisse ganz langsam zu einer neuen Ordnung zusammen, die hilft zu verstehen, warum wir Verhaltensmuster wiederholen, auch wenn es wehtut. Der Ursprung hierfür liegt in unserer Kindheit: Jeder Mensch will als Kind die Energie der eigenen Eltern erreichen, ihre Aufmerksamkeit gewinnen. Wir wurden in ein Familiensystem mit ganz bestimmten Konventionen hineingeboren und haben sehr schnell gelernt, was das effektivste Verhalten ist, um unsere Eltern innerhalb dieser Gegebenheiten am besten zu erreichen. Die vier Energiemuster Aggressiver / Mutiger, Besserwisser / Fürsorglicher, Kleines Kind / Charmeur und Zurückzieher / Beobachter stehen jeweils für ein Bündel solcher Verhaltensweisen und Kompetenzen, die für unser ganzes Leben richtungsweisend sind. Wir halten auch nach unserer Kindheit weiter an ihnen fest, da wir ansonsten Basisängste wie Existenzangst, Liebesentzug oder Einsamkeit erleben würden.

Auch wenn unsere Energiemuster so stark von den eigenen Eltern geprägt sind, geht es in der Arbeit mit den Mustern im Gegensatz zur klassischen Familientherapie nicht um Ablösung. Warum sollte sich auch jemand von seiner Familie lösen, wenn die alten Verhaltensmuster doch gerade aus Treue zur eigenen Familie beibehalten werden! Im Vordergrund steht vielmehr eine Fokusveränderung. Statt die eigenen Eltern und deren Aufmerksamkeit in den Blick zu nehmen, werden die ganz eigenen Bedürfnisse und Rollen einer Person fokussiert. Dabei hilft die Einsicht, dass jedes Verhalten als gute Fähigkeit zu würdigen ist, die früher die Aufmerksamkeit der Eltern sicherte und auch heute noch wichtige Bedürfnisse einer Person berücksichtigt. Aber am falschen Platz und zur falschen Zeit kann diese Kompetenz zu einem Problemverhalten werden. Die Fürsorglichkeit der Besserwisser ist z. B. eine solche Fähigkeit, die beim Genießen oder Sex nervt und dem Genuss und der Lust im Weg stehen kann.

Statt ein gelerntes Muster immer wieder und auch dort zu zeigen, wo es nicht gefragt ist, kann jeder mit dem Wissen um die Energiemuster selbst entscheiden: „Wo will ich diese Fähigkeit behalten? Wo ist sie hinderlich? Was möchte ich Neues dazulernen?“ Über die Energiemuster löst sich also niemand von seiner Familie, sondern findet neu zu ihr und bringt sogar Neues ein. Dazu muss jedoch der Angstgürtel des eigenen Energiemusters durchbrochen werden, denn eine nachhaltige Veränderung wird vor allem dann erreicht, wenn Ziele anvisiert werden, die nicht musterverstärkend sind. Das ist nicht leicht. Einer Person, die beispielsweise als Aggressiver Einschüchterer viele Jahre ihres Lebens mit „starkem“ Verhalten gemeistert hat, fällt es schwer sich vorzustellen, dass gerade „Schwach-Sein“ eine wichtige Ergänzung für sie sein kann. Genau diese Entwicklungsmöglichkeiten zeigen die Energiemuster als „Neues Lernen“ auf: Es geht nicht darum, sich im eigenen Muster noch bequemer einzurichten, sondern von den anderen Energiemustern dazuzulernen, um noch flexibler und situationsgerechter reagieren zu können. Wer den Mut hat, die Komfortzone des eigenen Energiemusters zu verlassen, kann auch im Neuen viel Sicherheit gewinnen. Das ist wie beim Skifahren: Wer gut Abfahrt fahren kann, kann nicht zwangsläufig auch gut Slalom fahren. Aber er kann sich entscheiden, Slalom dazuzulernen, und auch in dieser Disziplin durch Übung gut werden.

Das Auflösen und Öffnen eines Energiemusters geht automatisch mit einer Versöhnung mit den Eltern einher. Die Schuldfrage – auch Generationen zurück – stellt sich bei dieser Denkweise nicht. Es interessiert nicht die Schuld, die durch das verletzende Verhalten eines Energiemusters entsteht, sondern die Sehnsucht, die hinter diesem Verhalten steht. Diese Sichtweise hilft, sich selbst sowie die eigenen Verwandten und Ahnen versöhnend zu betrachten. Daraus ergeben sich auch für Kommunikation und Feedback völlig neue Richtungen und Blickwinkel: weg vom Problem, hin zur Lösung. Durch Trennung von Person und Verhalten kann Feedback wertschätzend und annehmbar gegeben werden, sodass Lösungen herbeigeführt und Beziehungen respektvoller und erfolgreicher gestaltet werden. Statt Mauern dicker zu machen, hilft das Modell der Energiemuster, Türen zu öffnen.

Je mehr ein Mensch dazugelernt hat, desto besser kann er andere Menschen in ihrer eigenen Welt abholen und weiter von ihnen lernen. Die Unterschiedlichkeit der vier Energiemuster und die damit verbundene Einstellung „Anders-Sein ist Reichtum“ machen es möglich, Konflikte mit Liebe zu lösen. So kann jemand bei Meinungsverschiedenheiten zu sich selbst sagen: „Der andere hat etwas, das ich nicht habe – und das möchte ich gerne lernen, statt mich dagegen aufzulehnen.“ Eine innere Sonne ist ein gutes Bild für ein solches gleichwertiges Miteinander. Wenn jeder seine innere Sonne zum Leuchten bringt, sind wir über Sonnenstrahlen miteinander verbunden und bereichern uns gegenseitig. Nach einem Resonanzprinzip schaukeln wir uns gegenseitig zu mehr Intensität auf.