Inhaltsverzeichnis
Buch
Autorin
Widmung
Ein Mädchen
Eine Entscheidung
Ein Amulett
Eine Verführung
Ein Schuss
Eine Entdeckung
Eine Lüge
Eine Ahnung
Ein Wunder
Eine Prüfung
Ein Aufbrechen
Ein Unfall
Eine Mädchenhure
Eine Treppe
Ein Auftrag
Eine Trennung
Ein Stall
Eine Verlobung
Eine Enthüllung
Ein Plan
Eine Lösung
Eine Niederlage
Copyright
Buch
In der rauen Schönheit des afghanischen Berglandes wird einem Kommandanten das erste Kind geboren. Bei allem Stolz und aller Freude bleibt ein Makel: Es ist ein Mädchen. Dennoch verstößt der Vater das Kind nicht, aber um sein Gesicht nicht zu verlieren, verheimlichen er und seine Frau Daria die Wahrheit über das Geschlecht des Kindes. So wächst Samira als Junge auf und wird Samir gerufen. Sie lernt Reiten und Schießen und genießt Freiheiten, die sonst keinem Mädchen am Hindukusch zustehen. Eines Nachts jedoch wird der Kommandant von gegnerischen Truppen erschossen und tot zu seiner Familie zurückgebracht. Damit ist das Schicksal des Mädchens besiegelt. Um ihr eigenes Leben und das ihrer Mutter zu schützen, muss Samira als Junge weiterleben. Auch wenn sie niemals ein richtiger Mann sein wird, bewahrt ihr Geheimnis sie vor der engen Welt der Traditionen und Schleier, die den Frauen das Leben zu einer schweren Last machen. Samira wächst zu einem schönen jungen Mann heran, der von Männern und Frauen gleichermaßen begehrt wird, bis ihr Jugendfreund Bashir entdeckt, dass sie eine Frau ist. Samira, die schon seit langem eine tiefe Zuneigung zu Bashir verspürt, ist hin- und hergerissen, aber dieses eine Mal will sie der Stimme ihres Herzen folgen: Sie möchte als Frau mit Bashir zusammenleben, auch wenn sie dafür ihre Freiheit aufgeben muss. Die beiden beschließen, in die Fremde zu gehen, wo niemand weiß, dass Samira bisher als Mann gelebt hat. Doch Samira kann sich mit den Fesseln, die ihr das Leben als Frau anlegt, nicht abfinden. Und zum letzten Mal trifft sie eine folgenreiche Entscheidung …
Autorin
Siba Shakib wurde im Iran geboren und wuchs in Teheran auf. Als Perserin sind ihr Religion, Tradition und Mentalität der Menschen in Afghanistan vertraut. Seit vielen Jahren arbeitet sie dort als Autorin und Filmemacherin. Ihre zum Teil preisgekrönten Dokumentationen, vor allem für die ARD, sind aufrüttelnde Belege für die verheerende Situation der Bevölkerung in Afghanistan. Ihr erstes Buch »Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen« wurde ein internationaler Bestseller und in 16 Länder verkauft. Die Verfilmung bereitet die Autorin derzeit vor. Seit deutsche Soldaten mit dem Mandat der UN in Afghanistan stationiert sind, steht Siba Shakib ihnen beratend zur Seite und arbeitet eng mit ISAF (International Security Assistance Force) zusammen. Sie lebt abwechselnd in Deutschland, New York und Italien.
Von Siba Shakib ist außerdem als Goldmann Taschenbuch lieferbar
Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen.
Die Geschichte der Shirin-Gol. (45515)
Für meinen Vater,
meine Brüder,
ihre Söhne.
Für die Gefallenen.
Für die Nichtgefallen.
Wenn du ein Geheimnis hast,
nimm es,
trag es zum Hindukusch
und leg es unter einen Stein.
Ein Mädchen
Ist er tot?
Sei unbesorgt. Er ist so lebendig wie du und ich.
Bist du sicher?
Großer Gott im Himmel. Aus welchem Grund soll er tot sein?
Wenn er nicht tot ist, warum sagt er nichts?
Daria will antworten, kann nicht, beißt die Zähne zusammen, krümmt sich.
Der Kommandant sieht den Schmerz seiner schönen Frau nicht, er will eine Antwort von ihr.
Daria will nicht, dass die Leute in den anderen Zelten sie hören. Sie erstickt den Schrei in ihrer Kehle. Der Geschmack von Blut kommt in ihren Mund, macht ihr Angst. Sie verliert die Farbe aus ihrem Gesicht.
Antworte, sagt der Kommandant.
Lass mich in Ruhe. Daria zischt ihre Worte wie eine Schlange. Kaum hat sie sie gesprochen, da bereut sie es auch schon. Obwohl er hinter ihr auf dem Boden hockt, sieht Daria es, der Kommandant erschreckt sich wie ein Kind, zuckt, zieht seinen Körper zusammen, schlingt die Arme um seine Knie, senkt den Blick, macht sich klein, schweigt.
Daria mag es nicht, wenn sie die Geduld verliert und mit ihrem Mann schimpft. Sie dreht sich zu ihm herum, lächelt trotz ihres Schmerzes, sagt, hab Geduld. Gott ist groß. Er wird alles richten. Sie spricht leise. Weil es wichtig ist, was sie zu sagen hat. Weil kein anderer es hören soll. Nur ihr Kommandant.
Er hebt den Blick, senkt ihn wieder. Schluckt. Umarmt seine Knie nicht mehr, malt mit dem Finger Bilder auf den Boden aus Lehm. Unsichtbare Bilder. Mein Sohn soll Samir heißen, sagt er und lächelt. Ein halb trauriges, halb dankbares Lächeln, das nur Daria kennt. Und vor ihr die tote Mutter des Kommandanten. Es ist nicht das Lächeln eines Mannes. Es ist das eines kleinen Jungen. Der Kommandant hat es aus seiner Kindheit, aus einer Zeit, die er als Damals kennt, in sein Leben als Mann mitgebracht.
Damals ist längst verloren. Der Kommandant ist ein Krieger, ein Beschützer, ein Unbesiegbarer, sagen die Leute, senken ihre Stimme, sehen sich um, und wenn der Kommandant nicht in der Nähe ist, sagen sie, nur einen Schmerz erträgt er nicht. Das ist der Schmerz, wenn seine Frau Wut auf ihn hat und mit ihm schimpft.
Niemand weiß das besser als Daria selber. Es würde ihren Kommandanten töten, würde sie ihm die Liebe, die er braucht, nicht schenken. Davor hat Daria Angst. Vor seinem Tod und vor Schuld. Deshalb gibt Daria ihm alles, was er braucht, damit er stark sein kann, damit er ein ehrlicher und gottesfürchtiger Mann, ein kluger und gerechter Kommandant sein kann, damit er seine Männer führen und sein Volk beschützen kann, damit er ein gütiger Vater für ihre Kinder werden kann. Daria gibt ihm, was er braucht, damit sie seinen Schutz nicht verliert.
Samir ist ein schöner Name, sagt Daria, krümmt sich, richtet sich auf. Ihr Rücken wird zur Wüste, ihre Muskeln werden zu Hügeln aus Sand, die sich vom Wind hierhin und dorthin tragen lassen.
Der Kommandant hört jedes Wort seiner Daria. Die Gesprochenen und die Nichtgesprochenen.
Daria hockt auf dem Boden, sieht nichts, nur das Feuer im Brotofen und den Topf darauf, in dem das Wasser kocht. Es spricht zu ihr, brodelt und schimpft. Daria antwortet. Die Blasen sind frech und mutig, springen aus dem Topf. Manche fängt Daria in der Luft. Manche springen ins Feuer. Dumme Blasen, sagt Daria halb zu sich selber, halb zum Wasser im Topf. Dumme Blasen, die ins Feuer springen, nur um dort zu sterben. Mit einem Zisch. Dumm wie die Männer, wie die Krieger, dumm wie mein eigener Mann, der Kommandant, der in den Krieg zieht, nur um zu töten und, der Tag wird kommen, um selber getötet zu werden.
Am Anfang hat der Kommandant gedacht, seine Daria betrügt ihn. Nach Tagen im Krieg ist er zurück in seine Hochebene gekommen, hat in seinem Zelt Stimmen gehört, hat gedacht, seine Frau hat hinter seinem Rücken Leute in sein Zelt gelassen. Er ist vom Pferd gesprungen, hat sich angeschlichen, hat seinen Dolch gezogen, ist ins Zelt und hat sich gewundert, dass seine Frau allein ist. Ich wusste nicht, dass du die Sprache des Wassers sprichst, hat er gesagt, sich neben seine Daria gehockt und abwechselnd das Wasser und seine Frau angesehen.
So viel er auch hinhört und es versucht, bis heute kann der Kommandant die Worte, die seine Daria brabbelt, nicht verstehen. Am Anfang wollte er sie zu ihrem Vater zurückbringen, denn er hat gedacht, sie hat keinen Verstand. Schließlich spricht kein Mensch, der Verstand hat, mit dem Wasser. Dann hat er gedacht, besser sie spricht mit dem Wasser als mit fremden Männern.
Vorsichtig, ganz vorsichtig, wie damals, als er ein kleiner Junge gewesen ist und zum ersten Mal seine Hand in Richtung der heißen Flammen im Feuer ausgestreckt hat, als wenn seine Hand eine Schlange ist, die sich anschleicht, streckt der Kommandant seine Finger aus. Er will den Rücken seiner Daria berühren, da erhebt Daria wieder ihre Stimme, spricht mit dem Wasser und den Blasen. Wie die Schlange, die zurückschreckt, zieht der Kommandant seine Hand zurück. Daria jammert und stöhnt, beißt die Zähne zusammen, dass der Kommandant sie knirschen und knacken hört. Daria krümmt sich, hält ihren dicken Bauch, greift zwischen ihre Beine, fühlt den Kopf ihres Sohnes, rutscht ab.
Der Kommandant greift neben sich, findet das frische, warme Brot, reißt ein Stück ab, schiebt es sich in den Mund, kaut darauf herum. Nicht weil er hungrig ist. Mehr um die Unruhe aus seinem Kopf zu verscheuchen. Bevor sie sich hingehockt hat, seinen Sohn aus ihrem Körper zu ziehen, hat seine fleißige Wasserfrau das Brot aus dem Ofenloch im Zeltboden gezogen. Damit es nicht verbrennt. Mehl ist teuer, hat sie gesagt, hat sich hingehockt und gesagt, mein Sohn will nicht mehr in meinem Bauch sein, er will aus meinem Körper heraus.
Daria kratzt den Boden unter sich auf, schiebt die Erde beiseite, gräbt eine kleine Mulde, damit sie unter sich genügend Platz hat.
Du bist wie meine Mutter, sagt der Kommandant, kaut weiter auf seinem Brot herum.
Ich bin wie die Kommandantenmutter, sagt Daria.
Es vergeht kein Tag, an dem du nicht irgendetwas irgendwo herausziehst, sagt der Kommandant. Frauen ziehen immer alles Mögliche irgendwo heraus. Heute hast du zuerst die Fische aus dem Wasser gezogen, dann den Stachel aus meiner Hand, dann das Brot aus dem Ofen, und gleich wirst du meinen Sohn aus deinem Körper ziehen. Der Kommandant sieht den Rücken seiner Frau und sagt etwas, was er noch nie zu ihr gesagt hat. Das Einzige, was du niemals wirst herausziehen können, ist die Sehnsucht, die ich für dich in mir trage.
Daria wischt den Schweiß von ihrer Stirn, sagt, meine Mutter hat gesagt, Männer achten ihre Frau nur so lange, wie sie Söhne für ihn aus ihrem Körper zieht.
Das stimmt, sagt der Kommandant, aber es stimmt auch, dass ich dich gewollt habe, noch bevor ich zu dir geritten bin und dich bei deinem Vater abgeholt habe. Noch bevor irgendjemand mir von dir erzählt hat, bevor ich mein Gesicht in deine schwarzen Haare vergraben, deinen Duft gekannt habe. Der Kommandant streicht mit dem Finger über die Erhebungen ihres Rückens, sagt, meine Sehnsucht nach dir hat angefangen, in mir zu leben und zu wachsen, als ich das erste Mal deinen Namen gehört habe. Daria, das Meer, der Fluss.
Es war an dem Tag, als sein Vater ihm die Führung über zwölf seiner Männer übergeben hat. Vom heutigen Tag an bist du ein Kommandant, hat der Vater gesagt, hat seinen Sohn in die Arme geschlossen und ihn in die Schlacht geschickt. Den ganzen Tag hat der junge Kommandant zusammen mit seinen Männern den Feind gejagt. Mal haben die einen, mal die anderen geschossen. Mal waren die einen, mal die anderen überlegen. Sie haben Angst gehabt, haben gezweifelt, den Mut verloren, getötet. Noch bevor die Sonne hinter dem Berg verschwunden ist, hat der junge Kommandant über den Feind gesiegt. Er ist mit seinen Männern zurück zu ihren Zelten im Hochland, die Männer haben dem Kommandantenvater von dem Mut seines Sohnes berichtet. Von seiner Tapferkeit, davon, wie er sich allein hinter die Stellungen des Feindes geschlichen und zwei von ihnen eigenhändig getötet hat. Er hat ihnen sein patu über den Kopf geworfen, hat seinen Dolch gezogen, hat ihre Kehle aufgeschlitzt, mit einem schnellen Schnitt.
Vom heutigen Tag an bist du ein richtiger Kommandant, hat der Vater gesagt, hat seinen Sohn in den Arm geschlossen und ihn losgeschickt, das ihm versprochene Mädchen abzuholen. Ein Mann ist erst ein richtiger Mann, wenn er eine Frau hat. Eine Frau, die ihm zuerst einen und dann noch viele Söhne schenken wird. Der Kommandantenvater hat seinem Sohn ein Bündel Geldscheine gegeben, glänzende und glitzernde Stoffe, ein Pferd, ein Gewehr und so viele andere Geschenke für die Braut und ihren Vater, dass die Leute hinter vorgehaltener Hand geflüstert haben, ist sie das wert?
Reite los, und hole das Mädchen, hat der Kommandantenvater gesagt. Ihr Name ist Daria.
Daria. Der Körper des Jungen zuckt, als wenn ein Schuss ihn trifft.
Vier Tage und vier Nächte dauert der Ritt von seinem Hochland in das, in dem die Braut lebt. Der junge Kommandant, seine Männer, sein Vater legen ihre schönsten Kleider an und hocken mit ihren Waffen zusammen mit dem Vater von Daria, seinen Männern und ihren Waffen auf der Wiese abseits vom Zelt, in dem Daria wartet. Die Männer sprechen über den Krieg, den Feind, die Freunde, die Verbündeten, über die Nachbarn, über dieses und jenes, nur nicht über Daria, ihren Preis und die bevorstehende Hochzeit. Die Frauen der Familie hocken im Zelt, begutachten das Mädchen.
Die Stunden kommen und gehen. Die Männer reden und reden. Die Frauen reden und reden, kommen heraus, sagen, Daria ist schön. Schöner als jedes andere menschliche Wesen. Sie ist wie eine Blume. Frisch wie der erste Schnee auf den Gipfeln der Berge im Hindukusch. Sie ist ein Engel. Ihr Name lügt nicht, sie ist wie der sprudelnde Anfang des Baches, der oben zwischen den Felsen der Berge entspringt. Die Frauen sagen, sie wird unserem jungen Kommandanten gesunde Söhne gebären. Dem jungen Kommandanten läuft das Wasser im Mund zusammen. Sein Herz wird zu hundert Herzen. Hundert Herzen, die seine Brust sprengen wollen.
Für den Vater des jungen Kommandanten ist es längst beschlossene Sache. Daria ist das richtige Mädchen für seinen Sohn. Der junge Kommandant will nicht länger warten, er will seine Braut sehen, sie berühren, sie besitzen, das Mädchen zur Frau machen.
Es ist nicht gut, sagt der Kommandantenvater, wenn man gleich nach dem ersten Besuch und den ersten Gesprächen um die Hand der Braut anhält. Es ist nicht klug, bei derartigen Geschäften Eile zu zeigen. Das treibt den Preis der Braut in die Höhe. Die Familie der Braut soll nicht denken, der Vater des Bräutigams hat es eilig, seinen Sohn zu verheiraten. Die Familie der Braut könnte denken, der Bräutigam hat nur dieses eine Mädchen zur Wahl.
Ich habe keine andere Wahl, sagt der junge Kommandant.
Die Familie des Mädchens könnte denken, mit dir stimmt etwas nicht. Sie könnten denken, dir fehlt etwas.
Mir fehlt nichts, sagt der junge Kommandant.
Seine Männer lachen, halten sich die Bäuche, schlagen sich auf die Schenkel.
Wieder sagt der junge Kommandant, mir fehlt nichts.
Noch hast du keine Nacht mit einer Frau verbracht. Es wird sich zeigen, ob dir etwas fehlt, sagen die Männer und lachen immer mehr.
Der Kommandantenvater lacht nicht.
Die Männer schweigen.
Am Abend gehen die Frauen der Familie und die Mutter des jungen Kommandanten zurück ins Zelt zur schönen Daria und ihrer Mutter. Der Kommandantenvater, sein Sohn und seine Männer gehen zum Vater von Daria, bitten ihn, seine Tochter dem jungen Kommandanten zu geben. Die Männer reden, handeln den Preis für die Braut aus, stellen Fragen, geben Antworten, sagen Aber, sagen Nein, sagen Ja. Der junge Kommandant hockt und wartet, wartet und hockt. Er will seine Daria. Jetzt. Der arme, junge Kommandant ist krank, ist fiebrig. Blut rast in seinen Kopf. Alle Geschichten, die er in sich trägt, verlieren ihren Anfang, verlieren ihr Ende. Seine Männer hocken da, sehen ihren jungen Kommandanten, stoßen sich gegenseitig an, lachen. Einer der Männer beugt sich zu ihm herüber, spricht leise hinter vorgehaltener Hand, damit nur sein neuer Anführer es hören kann. Gleich ist es so weit. Nicht mehr lang und du wirst vor deiner schönen Braut stehen.
Kleine Wasserperlen kommen auf die Stirn des jungen Kommandanten, rennen seinen Rücken herunter. Der junge Kommandant will seine Meerfrau, will sie anfassen. Seine Daria, die wie das kühle Wasser ist, wie das leise Plätschern der Bäche, die oben in den Bergen aus dem Felsen entspringen und unten in den Tälern zu wilden Flüssen werden. Flüsse, die alles und jeden mit sich reißen. Seine Daria, der Fluss, in den er eintauchen, untertauchen, verschwinden wird.
Junge, sagt sein Vater. Was ist mit dir? Beweg dich. Deine Braut wartet.
Die Frauen schlagen ihre Trommeln, klatschen in die Hände, trällern mit der Zunge, singen. Die Männer erheben sich, stützen ihren neuen Anführer, führen ihn zum Zelt seiner Braut, schieben ihn hinein, warten draußen.
Der junge Kommandant hockt neben seiner Daria. Das Tuch auf ihrem Kopf rutscht, gibt den Blick frei auf ihr Gesicht. Der Kommandant tut Verbotenes, sieht in ihre Augen. Der Mullah hockt vor Daria und dem jungen Kommandanten, spricht Verse des Koran, singt, wiegt seinen Körper vor und zurück, stellt tausendundeine Fragen, tut dieses, tut jenes. Der arme junge Kommandant sieht und hört nichts von dem ganzen Mullahgerede, Mullahtun und Nichttun. Alles, was der arme junge Kommandant weiß, ist, gleich wird er das Wesen unter dem Tuch besitzen.
Als er endlich allein ist mit seiner Daria, das Tuch von ihrem Kopf nimmt, in ihre Augen blickt, endlich ihr Lächeln sieht, mit ihr spricht, als alles dieses und alles andere endlich erlaubt ist, sagt der Kommandant etwas, was er nie vorgehabt hat zu sagen. Er sagt, ich habe Angst vor dir. Ich habe Angst zu ertrinken. Ich werde in dir ertrinken, tot sein, und du wirst allein sein.
Daria lacht, hebt den Blick, sieht ihrem Kommandanten geradewegs in die Augen, sagt, wenn du stirbst, weil du in mir ertrunken bist, werde ich nicht allein sein.
Der Kommandant schweigt.
Die Worte von Daria klingen wie das Gurgeln des Baches. Wenn du in mir ertrinkst, werde ich nicht allein sein, denn dann werden du und ich eins sein.
Der Kommandant berührt die Hand seiner Daria, als wenn seine Finger die Füße eines Schmetterlings sind. Ein Schmetterling, der sich auf die Hand von Daria setzt, mit den Flügeln schlägt und gleich wieder davonfliegt.
Der Sommer kommt und geht. Der Winter kommt und geht.
Der Kommandant hat die Wahrheit gesprochen. Er versinkt, ertrinkt in seiner Daria. Mal versinkt er für immer. Mal taucht er wieder auf.
Der Kommandant tut Verbotenes, bleibt im Zelt, wartet, dass seine Daria seinen Sohn aus ihrem Körper zieht. Wüssten die Leute davon, sie würden ihn und sie dafür verachten. Die Leute würden hinter ihrem Rücken reden, Daria eine schlechte Frau nennen, weil sie ihren Mann nicht hinausgeschickt hat. Daria weiß, dass sie Schuld auf sich lädt.
Der Körper des Kommandanten bebt, sein Kopf ist schwer, sein Herz rast, seine Haut ist heiß. Bilder und Geschichten rennen in seinem Kopf hin und her, spielen mit seiner Vernunft, wollen ihm den Verstand rauben. Er will aufhören, das Brot zu kauen, will zu seiner Daria kriechen, sie von hinten umarmen, ganz fest an sich ziehen, sie an seine Brust pressen, ihren Rücken spüren.
Wann kommt er endlich?, fragt er.
Daria will antworten, will ihrem Mann sagen, er soll ohne Sorge sein, will ihm sagen, dass er ein Mann ist, dass er stark sein muss. Sie will sagen, Gott ist groß, er wird es richten. Die Worte sind bereit in ihrem Kopf, sie schließt die Augen, damit sie die Worte nicht verliert. Daria verliert die Worte. Himmel und Erde vertauschen ihren Platz. Endlich spürt Daria unter ihren Fingern das kleine, feuchte Gesicht ihres Sohnes, den sie den halben Sommer, den gesamten Winter und den Anfang des Frühlings in ihrem Bauch getragen hat. Langsam, als wenn sie aus tiefem Schlaf erwacht, kommt Leben in den Körper der jungen Frau.
Und was wirst du tun, wenn es kein Sohn wird?
Der Kommandant richtet sich auf, sagt, alle ersten Kinder in meiner Familie sind Söhne. Nur wenn es ein Sohn ist, hat er das Recht zu leben.
Daria stöhnt. Gib mir ein Stück Holz.
Der Kommandant springt auf. Ein Stück Holz? Wofür?
In Gottes Namen. Frag nicht, sagt Daria. Ich brauche es, um darauf zu beißen.
Der Kommandant trifft aus größter Entfernung den Feind zwischen die Augen, doch jetzt findet er nicht einen einzigen klaren Gedanken. Alles, was sie will, ist ein Stück Holz, der Kommandant aber wankt, rennt im Zelt herum, haut sich selber auf den Kopf, hofft, seine Daria sieht seine Ohnmacht nicht.
Daria sieht alles. Seine Ohnmacht. Seine Hilflosigkeit. Seine Schwäche. Komm her, sagt sie, zieht ihren Kommandanten zu sich auf den Boden, schiebt ihn hinter sich, nimmt seine Hand, legt sie auf ihren dicken Bauch, sagt, drück. Der Atem von Daria wird ruhig, ihr Körper entspannt sich. Der Kommandant küsst die Schweißperlen von dem Nacken seiner Daria, leckt seine Lippen. Einmal noch krümmt sie sich, greift unter ihren Bauch, atmet heftig, stößt einen letzen befreienden, erstickten Schrei aus, zieht das Kind aus ihrem Körper, hält das zerknitterte, mit Schleim und Blut bedeckte Wesen in ihren Händen. Das Kind zieht die Beine an seinen Bauch aus Pergamenthaut, rudert mit den Armen, nimmt die winzigen Hände in den Mund, zittert. Daria greift die Sichel, taucht sie in das kochende Wasser. Mit einem leisen be-isme-Allah auf den Lippen trennt sie die Lebensschnur durch, knotet den Faden darum, den sie aus dem bunten Stoff ihres Kleides gezogen hat. Daria wischt das Blut von der Haut des Frischgeborenen, wickelt es in das weiße Brottuch. Hast du gesehen?, fragt sie. Es ist nur ein Mädchen.
Der Kommandant schweigt.
Sein Sohn ist ein Mädchen.
Eine Entscheidung
Mit einem leisen Klatsch fällt die Nachgeburt aus dem Körper von Daria. Der Kommandant erhebt sich, zieht seine bunt bestickten Stiefel an, schultert sein Gewehr und verlässt das Zelt. Draußen sieht er in den Himmel, wischt Tränen aus seinen Augen, dankt Gott, dass seine Daria sie nicht gesehen hat.
Am Himmel schweben zwei große Vögel. Der Kommandant macht die Augen zu Schlitze, nimmt sein Gewehr von der Schulter, spannt es, legt es an, zielt. Drinnen im Zelt hört Daria das trockene Klacken des Gewehres. Leise, so leise, dass nur das Wasser und ihr Neugeborenes es hören können, sagt sie, er wollte einen Sohn, jetzt hat er Tränen in den Augen. Hab keine Sorge, sagt Daria, mehr zu sich selber als zu ihrer Tochter. Er wird nicht schießen.
Der Kommandant verfolgt die Vögel durch das Visier seines Gewehres, bis er sie nicht mehr sehen kann, bis sie hinter dem Gipfel des Berges verschwunden sind. Später wird er sagen, die Vögel haben ihr Leben deiner Geburt zu verdanken. Was er seinem Kind nicht sagen wird, ist, ich hätte keine Tränen gehabt, wärst du ein Junge geworden.
Der Kommandant schwingt sich auf den Rücken seines Hengstes, galoppiert los. In Richtung der Berge. Seiner Berge. Da, wo er dem Himmel und seinem Gott am nächsten ist. Er treibt seinen Hengst an, dass er laut schnauft, seine lange Mähne im Wind weht wie eine Fahne, seine Hufe polternd aufstampft, als wollte er sie in die Erde rammen, dass keines seiner vier Beine die Erde berührt. Die Zelte der anderen Nomaden, ihre Tiere, die Nomadenkinder, Sträucher, Felsen, der Bach, alles verschwimmt. Die Welt ist ein buntes Gemisch aus Farben und dem Poltern der Hufe, dem Schnaufen des Hengstes, dem Atem des Kommandanten. Er fliegt vorbei an den Rufen der Männer und Jungen. Salam. Komandan. Zende bashi. Koja miri? Sei gegrüßt. Kommandant. Mögest du leben. Wohin gehst du?
Der Kommandant antwortet nicht, will nicht, dass die Leute seine Tränen sehen. Er beugt sich tief über den Hals seines Hengstes, krallt sich in seine Mähne. Der Kommandant und sein Hengst kleben aneinander, sind eins. Halb Tier. Halb Mensch.
Der Kommandant galoppiert, bis er am anderen Ende der Ebene zum Fuß des höchsten Berges kommt. Da, wo das Hochland seinen Anfang hat und sein Ende.
Die Leute unten im Dorf, im Tal, jene, die von Gott und der Welt mehr verstehen als die Leute hier oben in den Bergen, sagen, die Berge, die das Hochland umgeben und schützen, sind siebentausend Meter hoch. Sie sagen, die Ebene ist viertausend Meter hoch. Der Kommandant weiß weder wie viel siebentausend noch wie viel viertausend Meter sind, er weiß nur, diese Berge sind die höchsten, die er je bestiegen, die schönsten, die er je gesehen hat. Die Leute aus dem Tal und dem Süden des Landes nennen den Kommandanten und seine Leute Bergvolk. Dummes Bergvolk. Der Kommandant weiß, er versteht nicht viel von der Welt, hat nicht viel von ihr gesehen. Er weiß aber, dieses Stück Erde, seine Heimat, ist von Gott geschaffen. Die Leute sagen, der Kommandant und seine Sippe sind gefährlich, sie gehören zum Volk der Hazara. Sie sind ohne Wissen, sind Wilde, kennen weder Gesetz noch Vernunft, noch Freund, noch Feind.
Wir können kämpfen, sagt der Kommandant. Kämpfen können ist auch Vernunft. Wären wir dumm, wäre der Feind längst zu uns ins Hochland gekommen, hätte uns überfallen, ausgeraubt, unser Hab und Gut, unsere Zelte und unsere Tiere geraubt, unsere Frauen und Töchter verschleppt, vergewaltigt und die Ehre unserer Männer genommen. Unser Wissen ist genug für uns, sagt der Kommandant. Es ist das Wissen, was mich zum Herrscher über das Hochland macht.
Alles, was der Kommandant weiß, was vor ihm sein Vater und seine Vaterväter gewusst haben, ist Wissen, was nur dem ersten Kind, der ein Sohn sein muss, weitergegeben werden darf. Es ist das Wissen, was eingeschlossen ist in dem Felsen des Kommandanten und seiner Vorfahren.
Am Fuß des höchsten Berges steht die flache Felsplatte auf einem Steinsockel. Der Felsen, auf dem der Kommandant hockt, liegt, in der Sonne döst, nachts schläft, wenn er in den Bergen unterwegs ist. Es ist sein Felsen. Der, den kein anderer jemals betreten darf.
Das ist der Felsen Gottes, hat sein Vater gesagt, als der Kommandant noch ein kleiner Junge gewesen ist. Es ist ein heiliger Felsen, es ist das Geschenk des gütigen Herrn für Männer wie dich und mich. Männer, die als erstes Kind, als erster Sohn geboren sind. Erstgeborene Söhne von erstgeborenen Söhnen. Söhne wie du und ich, wie mein Vater und unsere Vaterväter. Der Kommandantenvater hat leise gesprochen. Weil es wichtig ist, was er zu sagen hat. Wir alle haben unsere Kraft, unsere Macht, unser Wissen von diesem Felsen bekommen. Nur ihm haben wir zu verdanken, dass du und ich und alle unsere Vaterväter Herrscher über unsere Ebene sind. Nur ihm haben wir zu verdanken, dass wir unbesiegbar sind. Seit der Herrgott mir das Leben geschenkt hat, hat mein Vater mich hierher mitgenommen. Seit mein Vater im Krieg gefallen und Märtyrer, shahid, geworden ist, seit er mich allein in dieser grausamen nichtgrausamen Welt zurückgelassen hat, gehört dieser Platz mir. Und jetzt, mein Sohn, jetzt soll dieser Felsen dir gehören. Und auch du wirst dein erstes Kind, einen Sohn, den Gott dir schenken wird, hierherbringen und ihn in die Wahrheiten der Welt und des Lebens einweisen. Auch du und dein Sohn werdet unserem Namen Ehre erweisen und über das Hochland und die Menschen, die darin leben, herrschen. Der Felsen ist das Tor zu dieser und allen anderen Welten. Denen, die es gibt, und denen, die es nicht gibt. Alles, was dein Auge sehen muss und sehen will, kannst du von hier oben sehen.
Das stimmt nicht, hat der kleine Junge seinem Vater widersprochen. Das stimmt nicht, ich kann weder die Menschen in ihren Zelten sehen noch die im Tal und dem Rest der Welt.
Hab Geduld, hat der Kommandantenvater geantwortet. Du wirst sehen. Schließe die Augen und vertraue auf den Felsen und seine göttliche Kraft. Er wird dich sehen lassen, was immer du zu sehen wünschst, und auch das, was du nicht sehen willst, wirst du sehen. Der Vater hat vor seinem Sohn gekniet, ihn an den Armen gepackt, ihm in die Augen gesehen und gesagt, du siehst es bereits, du weißt es nur nicht.
Viele Jahre sind gekommen und gegangen. Der Kommandant hat auf seinem Felsen gehockt, die Augen geschlossen, hat gewartet, doch alles, was er gesehen hat, waren die nackten Steine und Felsen um ihn herum, der blaue Himmel über ihm, die Vögel darin und die vielen Berge und Täler.
Manche sagen, seit der Kommandant auf seinen Felsen geht, ist er ein Geweihter geworden. Sie sagen, der Kommandant trägt die Kraft des heiligen Felsen in sich. Er hat viele Männer getötet und sie von ihrem schlechten Dasein befreit, viele seiner Krieger haben den Heldentod gefunden und sind shahid geworden. Die Geister all dieser Toten kommen zu ihm auf seinen Felsen, sprechen zu ihm und erzählen ihm alles, was sie wissen und sehen, das ist der Grund für all die Kraft und Macht des Kommandanten.
Daria sagt, der Kommandant ist weder ein Geweihter, noch sprechen die Toten zu ihm.
Dem Kommandanten selber ist sowohl das eine wie auch das andere Gerede Recht. Er sagt, je mehr über einen Mann gesprochen wird, desto wichtiger ist dieser Mann.
Die Leute reden über den Mut und die Tapferkeit ihres jungen Kommandanten. Sie reden darüber, wie er, genauso wie sein Vater und seine Vaterväter, sie selber und ihre Familien beschützt. Er hält den Krieg von seinem Volk fern. Die Zahl der Russen, Taleban und anderen Feinde der Heimat, die er getötet hat, kennt niemand, aber alle wissen, es sind viele gewesen. Sehr viele. Frauen wie Männer hocken um die Feuer in ihren Zelten und erzählen, nur dem Kommandanten ist zu verdanken, dass wir keinen Hunger leiden müssen, dass wir ein Leben in Ruhe und Frieden leben, selbst dann, wenn überall anders in unserer Heimat der Krieg tobt.
Der Kommandant steht da, blickt in die Ferne, weiß, alles ist, wie es immer ist. Alles ist anders, als es immer ist. Auch jetzt werden die Leute über ihn reden. Sie werden sagen, das erste Kind des Kommandanten ist kein Sohn. Sie werden sagen, sein Sohn ist ein Mädchen geworden. Sie werden sagen, der Kommandant ist kein Mann. Kein richtiger Mann.
Der Kommandant hat seinen Vater nicht gefragt, was geschehen wird, wenn ein anderer als er selber und sein Sohn den Felsen betreten. Er weiß es. Ein Unglück wird geschehen. Ein großes Unglück. Der Kommandant hat das Gesetz des Felsen niemals gebrochen, das große Unglück ist dennoch geschehen. Das erste Kind, das seine Frau für ihn aus ihrem Körper gezogen hat, ist ein Mädchen geworden.
Auch seine Daria weiß, es wäre ihre Pflicht gewesen, für ihren Kommandanten als erstes Kind einen Sohn aus ihrem Körper zu ziehen. Sie hockt vor ihrem Feuer, sieht den Blasen zu, wie sie aus dem Topf springen und in den Flammen landen. Jetzt wird er mich verachten, sagt Daria zu dem brodelnden Wasser. Ich habe meinen Wert verloren.
Hätte sie einen Sohn aus ihrem Körper gezogen, wäre der Kommandant stolz auf sie und seinen Sohn gewesen. Alle hätten es sehen können, der Kommandant ist ein richtiger Mann, denn sein erstes Kind ist ein Sohn geworden. Der Kommandant wäre nicht zu seinem Felsen geritten, wäre im Zelt bei seinem Sohn und seiner Frau geblieben, er hätte ihr gedankt, hätte sie geehrt und geachtet, er hätte ihr Geschenke gemacht, ein Lamm geschlachtet und ein Fest gegeben, um die Geburt seines ersten Sohnes zu feiern.
Was er stattdessen tun wird, weiß Daria nicht. Sie kennt Männer, die ihre Tochter verleugnet oder sogar getötet haben, die eine zweite Frau genommen und geschwängert haben, in der Hoffnung, die neue Frau zieht einen Sohn aus ihrem Körper. In der Hoffnung, die Leute reden nicht hinter seinem Rücken und sagen, der und der ist nicht Manns genug, einen Sohn zu zeugen. Ein Mann ist erst ein richtiger Mann, wenn er einen Sohn gezeugt hat. Daria kennt Frauen, die deswegen von ihren Männer geschlagen und verstoßen worden sind. Sie kennt Frauen, die keine Zähne im Mund haben. Ihre Männer haben sie ihnen ausgeschlagen, weil sie statt Söhnen nur Mädchen aus ihren Körpern gezogen haben. Daria hat die älteren Frauen gefragt, aus welchem Grund die Männer ihren Frauen die Zähne ausschlagen. Weil eine Frau, die ihrem Mann keinen Sohn gebärt, haben die älteren Frauen gesagt, keine Frau ist. Weil ihr Mann sie als Frau nicht mehr gebrauchen kann. Daria hat nicht verstanden. Eine Frau, die als Frau nicht zu gebrauchen ist, kann ebenso gut ihren Mund benutzen, um die Lust ihres Mannes zu befriedigen, haben die Frauen gesagt, sich umgesehen, haben leise gesprochen. Die Zähne der Frau stören, wenn der Mann seine Lust in ihrem Mund befriedigt.
Daria schluckt Tränen herunter, fängt eine Blase auf, die aus dem Topf springt, rettet sie davor, im Feuer zu landen und den Tod zu finden. Gott, gütiger, sagt Daria, steh mir und meiner Tochter bei.
Daria sieht an die schwere, dunkle Decke ihres Filzzeltes, sieht die frisch geborenen Lämmer, die dicht an dicht auf dem Boden kauern, sieht die Erde neben der ausgehobenen Mulde, sieht die Nachgeburt, die sie längst hätte hinaustragen sollen, sieht die Fliegen, die sich darauf versammelt haben, sich davon ernähren. Daria sieht die Sichel, mit der sie die Nabelschnur durchtrennt hat, hebt sie auf, hängt sie über den mittleren Holzpfosten, der das Filzdach stützt. Daria beugt sich über ihre Tochter in der kleinen Hängematte, sieht sie an, sagt, statt ein Mädchen zu werden wärst du besser als Tote aus meinem Körper gekommen.
Das Mädchen legt die Stirn in Falten und sieht aus, als wenn es darüber nachdenkt, was die großen Worte der Frau, die über ihr gebeugt ist, zu bedeuten haben. Als wenn sie weiß, die Worte der Mutter bedeuten nichts Gutes.
Ohne zu lächeln, ohne irgendeine Regung, ohne Liebe streicht Daria den Kopf ihrer Tochter, sieht sie an, sagt, und jetzt, da du ein Mädchen geworden bist, weiß nur Gott, was dein Vater mit dir und mir machen wird.
Daria nimmt ihr Kind auf den Arm, nimmt die Sichel vom Pfosten, sieht ihre Tochter an, schweigt. Die Tochter schließt die Augen, öffnet sie wieder, streckt den Arm aus, berührt mit ihren Fingern das Gesicht der Mutter. Es ist eine kleine Berührung, wie wenn ein Schmetterling sich auf das Gesicht von Daria setzt, mit den Flügeln schlägt, gleich wieder davonfliegt. Es ist eine kleine, große Berührung, die der Angst von Daria, dem Zweifeln, jeden Gedanken und alles und jedem die Bedeutung nimmt. Eine Berührung, die das Herz von Daria zu Papier macht und es zerreißt. Mit einem Ratsch. Einem leisen Ratsch, damit es ihr Kind nicht erschreckt.
Daria sieht die Sichel in ihrer Hand, weiß nicht, aus welchem Grund sie sie hält, wirft sie. Mit einem leisen Klatsch landet sie auf der Nachgeburt im Loch, dass die Fliegen sich erschrecken und auffliegen.
Eine sanfte, leichte Brise schwebt durchs Zelt, schenkt Daria Flügel. Sie lässt ihren Körper zurück, steigt empor, taucht ein, in den ersten der sieben Seen, hinten in den Bergen, steigt hoch hinauf, dorthin, wo nur die größten und stärksten aller Vögel fliegen. Weder Gestern noch Morgen ist wichtig. Das Leben ist richtig, so wie es ist.
Jetzt, wo ich dich habe, sagt Daria, was kümmern mich die Leute und ihr Gerede? Was kümmert mich der Felsen? Soll er doch zu seinem Felsen gehen, so oft er will. Sei ohne Sorge, sagt Daria sanft, mit einer Stimme, die weich ist. Mit einer Stimme, die nur ihre Tochter kennt. Daria legt ihre Worte und Gedanken auf die Flügel, die der Wind ihr gebracht hat, schickt sie hinauf zum Berg, zum Felsen, zu ihrem Kommandanten.
Der Kommandant weiß, bis zum heutigen Tag hat das erste Kind, das immer ein Sohn gewesen ist, den Platz der Väter eingenommen. Bis heute. Wer aber wird nach ihm, an dem Tag, an dem er selber nicht mehr hierherkommen wird, zum Felsen kommen? Seine Tochter? Ein Mädchen? Eine Frau?
Er bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Ich sollte dich sprengen, sagt der Kommandant zu seinem Felsen, weil kein anderer da ist, dem er es sagen kann. Der Kommandant zuckt die Schultern, meine Daria spricht zum Wasser, ich spreche zum Felsen, sagt er, schmiegt sein Gesicht an den Stein, döst vor sich hin, träumt. Zuerst von seiner Daria. Dann von anderen Frauen. Frauen, die keinem anderen Mann gehören. Frauen, die er nicht kennt. Frauen, die es nicht gibt. Nicht in der wirklichen Welt, nur in dem Kopf des Kommandanten.
Angst rast durch seinen Körper, dass er die Augen aufreißt. Angst, die seinen Kopf zum Drehen bringt, sich bewegt wie eine Schlange. Geschickt und schnell bewegt sie ihren langen, glatten Körper lautlos zwischen dem Sand der Wüste, den Steinen und Felsen. Die Angstschlange kriecht in sein Blut, bewegt sich durch seine Adern und Muskeln.
Am Ende sind genau diese Träume der Grund dafür, warum der gütige Herrgott mir keinen Sohn, sondern nur eine Tochter geschenkt hat, sagt der Kommandant. Denn es ist eine Sünde, an fremde Frauen zu denken. Dann ist es meine Schuld, dass mein Erstgeborener ein Mädchen geworden ist.
Der Kommandant hat gewusst, der Tag wird kommen, an dem der Herrgott ihn für seine Frauenbilder bestrafen wird. Er hat sich vor diesem Tag gefürchtet, hat versucht, die Angst zu vergessen. Hat sie vergessen. Weil Winter und Sommer gekommen und gegangen sind, Gott aber seine Strafe nicht geschickt hat, hat der Kommandant darauf vertraut, dass ihm verziehen ist. Denn schließlich hat er so viel Gutes getan. Er hat nicht geruht, hat für den Propheten, den Koran, den wahren Islam gekämpft. Er hat seine Heimat befreit, hat seinem Feind die Kehle aufgeschlitzt.
Der Kommandant denkt und denkt, grübelt und fragt. Doch eine Antwort bekommt er nicht. Er packt sein Gewehr, springt vom Felsen, schwingt sich auf den Rücken seines Pferdes, galoppiert los, stößt seinem Hengst die Fersen in den Bauch, treibt ihn an, dass er weißen Schaum vor den Mund bekommt, sein Fell warm und feucht wird.
Noch lange bevor Daria die Hufe des Hengstes hört, flüstert sie in das winzige Ohr ihrer Tochter, dein Vater kommt. Er wird dir nichts antun und dich nicht verstoßen, er weiß es nur noch nicht.
Der Kommandant kommt in sein Zelt. Gib mir mein Kind, sagt er. Er bittet seine Daria nicht. Es ist ein Befehl.
Was willst du von ihr?, fragt Daria.
Es ist mein Kind, ich kann mit ihm machen, was ich will, sagt er.
Das kannst du, sagt Daria, reicht die Tochter dem Kommandanten.
Gerade nimmt der Kommandant sein Kind in seine großen Hände, gerade will er mit ihm das Zelt verlassen, gerade weiß er nicht, aus welchem Grund er es genommen hat, was er mit ihm machen will, da leuchten die dunklen Augen der Kleinen wie der Felsen des Kommandanten. Sie gähnt, streckt ihre winzige Hand aus, die Haut ihrer Finger ist so durchsichtig, dass der Kommandant ihre zerbrechlichen Knochen sieht. Das Mädchen umfasst den Daumen ihres Vaters. Mehr macht sie nicht. Sie hält den Daumen, ihre Augen fallen zu, sie atmet ruhig, wird schwer, fällt in einen ruhigen und tiefen Schlaf.
Samira, sagt der Kommandant, leise, damit er sein Kind nicht weckt. So sollst du heißen. Samira.
Daria legt Holz in die noch warme Glut, facht das Feuer an, sagt, Samira, das bedeutet Herz, innerer Reichtum.
Samira bedeutet aber auch Geheimnis, sagt der Kommandant. Wir werden ihr den Namen Samira geben, werden sie Samir rufen, sagt er, senkt den Blick, sieht Daria nicht an, sagt, damit die Leute denken, du hast mir einen Sohn geschenkt.
Daria sieht ihren Kommandanten an, sagt, damit die Leute denken, ich habe dir einen Sohn geschenkt. Dann sagt Daria nichts mehr.
Den gesamten Rest der Nacht und den gesamten nächsten Tag lang spricht Daria nicht, der Kommandant gibt sein Kind nur aus der Hand, wenn es die Brust seiner Mutter will. Erst am Abend des langen Tages spricht Daria wieder. Mit einer Stimme, die ruhig und sanft ist. Sie sagt, Samir ist ein schöner Name. Dann lacht sie kurz auf. Es ist ein Lachen, was schnell wieder verloren geht. Daria sieht dem Kommandanten in die Augen und sagt, gib mir meinen Mädchensohn, ich vermisse ihn. Der Kommandant gehorcht, legt sein Kind in die Arme seiner Mutter, will das Zelt verlassen.
Geh nicht, sagt Daria, dich vermisse ich auch. Leg dich zu uns. Wir wollen schlafen.
Ein Amulett
Das ist er, sagen die Leute, wenn der Kommandant seinen Tochtersohn vor sich auf den Sattel setzt und an ihnen vorbeireitet. Das ist der Kommandant und sein Sohn Samir.
Vier Sommer und vier Winter sind seit der Geburt von Samira gekommen und gegangen. Es ist etwas geschehen, was der Kommandant nicht versteht. Etwas, was er nicht gewollt hat.
Er ist voll von Unglück, weil sein kleiner Samir, obwohl er kein richtiger Junge ist, das Herz seines Vaters erobert hat und inzwischen so wichtig und so sehr Teil seines Lebens geworden ist, dass der Kommandant sich nicht mehr vorstellen kann, ohne ihn zu leben.
Daria sagt, nimm eine neue Frau, die dir einen Sohn gebären kann.
Der Kommandant sagt, vielleicht werde ich das tun.
Daria weiß es, der Kommandant weiß es. Das Gesetz des Felsens und seiner Väterväter sagt, der Sohn muss das erste Kind seines Vaters sein. Das heiß, der Kommandant müsste einen Weg finden, seinen Samir los zu werden.
Wie soll ich das machen?, fragt der Kommandant.
Daria schweigt.
Lassen wir die Dinge, wie sie sind, sagt der Kommandant, und sehen, was wird.
So kommen die Sommer und Winter und gehen wieder, und Samira ist und bleibt das einzige Kind ihres Vaters.
Der Kommandant weiß, dass er seinen Samir biegen und brechen kann, aber einen Jungen wird er nicht aus ihm machen. Keinen richtigen Jungen. Er weiß, dass er die Menschen betrügen und belügen kann, aber nicht seinen Herrgott und den Felsen, er weiß, dass sein Vater und alle seine Vaterväter als erstes Kind Söhne gehabt haben, dass sein erstes Kind nur das Recht gehabt hätte zu leben, wenn es ein Sohn geworden wäre. Alles das weiß der Kommandant, er weiß nur nicht, welchen Ausweg es für ihn gibt.
Sommer und Winter kommen und gehen, ohne dass der Kommandant eine Entscheidung trifft. Er lässt alles, wie es ist, und hofft, dass Gott ihm den richtigen Weg weisen wird.
In den Wintern, wenn die Kälte und der Schnee in die Berge des Hindukusch kommen, führt er seine Leute in den warmen Süden. Wenn der Schnee wieder geht, bringt er sie zurück ins Hochland. Wann immer er nicht in den Krieg muss, um seine Leute und seine Hochebene zu beschützen, wann immer er die Nacht nicht auf dem Felsen verbringt, um seine Kraft und Weisheit in sich aufzunehmen, wann immer er nicht unten im Dorf ist, um ein Schaf, Felle oder sonst was zu verkaufen oder gegen Salz und Mehl oder sonst was zu tauschen, verbringt der Kommandant seine Zeit mit Samir, reitet mit ihm über die Ebene, nimmt ihn mit in die Berge, zur Jagd, zum boskashi-Spiel.
Sieh mir zu, sagt er zu seinem Tochtersohn, sieh genau hin. Der Kommandant hockt im Bach, rührt sich nicht, starrt ins Wasser, wartet auf die Fische. Sobald einer nah genug ist, verpasst er ihm mit flacher Hand einen Schlag, gibt ihm eine Ohrfeige und schleudert den Fisch aus dem Wasser ans Ufer. Der Fisch liegt auf dem Boden, zappelt und tanzt. Der Kommandant packt ihn am Schwanz, haut ihn mit dem Kopf auf einen Stein und legt ihn neben die anderen in eine schöne Reihe.
Ich will, dass sie tanzen, ruft Samira, schreit und kreischt, wirft die Fische einen nach dem anderen wieder ins Wasser, brüllt, ihr sollt leben.
Der Kommandant packt seinen Samir, stellt ihn zurück ans Ufer, sagt, sieh mir zu.
Samira reißt sich los, tritt ihren Vater, schlägt ihn, spuckt ihn an.
Der Kommandant packt seinen Tochtersohn an den Schultern, sagt, wir brauchen die Fische, weil wir sie essen wollen. Menschen töten Tiere, um selber nicht zu sterben. Gott will es so.
Mir ist egal, was Gott will, brüllt Samira, bewirft ihren Vater mit Steinen, schlägt ihn mit dem Stock, wirft sich auf den Boden, reißt Gras aus, wirft es in die Luft und auf sich selber, krallt ihre Hände in den Sand, wirft ihn in die Luft und auf sich selber. Sie tobt und macht so viel Krach, dass die Leute ans Ufer kommen, um zu sehen, was das ganze Geschrei zu bedeuten hat.
Daria kommt, geht an ihrem tobenden Kind vorbei, ohne es anzusehen, geht an ihrem hilflosen Kommandanten vorbei, ohne ihn anzusehen, steigt in den Bach, sammelt die toten Fische, die auf der Wasseroberfläche schwimmen, in ihr Kleid, bringt sie ans Ufer, reiht sie auf. Schön ordentlich, einen neben den anderen, dann lächelt sie, sieht zuerst ihren Kommandanten an, dann ihre Tochter und sagt, das sind schöne Fische.
Aber sie tanzen nicht mehr, schreit Samira und fängt an zu weinen. Ein leises Weinen, was Herzen zu Papier macht und sie zerreißt.
Es ist gut, dass sie nicht mehr tanzen, sagt Daria, hockt sich hin, breitet die Arme aus, wartet, bis ihr Kind zu ihr kommt.
Samira legt ihren Arm um den Hals der Mutter, lehnt ihren Körper an sie, zieht die Tränen in ihrer Nase hoch, fragt, warum ist es gut?
Weil wir die Fische essen wollen, sagt Daria.
Samira nickt. Ich weiß, sagt sie, zeigt auf ihren Vater. Der da hat es gesagt.
Dann weißt du doch auch, aus welchem Grund es gut ist, dass sie nicht mehr tanzen und tot sein müssen, sagt Daria.
Nein, das weiß ich nicht, sagt Samira.
Willst du nicht selber auch Fische fangen?, fragt Daria.
Samira nickt. Ich will sie fangen, aber ich will nicht, dass sie tot sind.
Sie müssen aber tot sein, sagt Daria mit einer Stimme, die voll ist von Geduld, von Verstand. Verstand, den nur die Mutter hat. Wie soll ich sie denn auf den Spieß schieben und über das Feuer hängen, wenn sie noch leben und zappeln und tanzen?
Samira zuckt die Schultern. Man tshe midanam.
Khob, na also, sagt Daria. Wir müssen sie töten, sonst bekommen wir sie nicht auf den Spieß und können sie nicht über das Feuer hängen und essen.
Khob, sagt das Kind. Es klingt wie das khob seiner Mutter. Khob. Lass mich los. Ich muss Fische fangen, ich muss sie töten, damit du sie aufspießen kannst und wir sie essen können.
Bass und khalass. Daria lässt ihr Kind los, geht zurück zu ihrem Zelt.
Der Kommandant steht da und weiß nicht, wie Daria es wieder geschafft hat, dass sein Kind sie versteht. Er geht seiner Daria nach. Dir folgt das Kind, sagt er. Mir nicht.
Daria hockt vor ihrem Feuer, zieht das Brot aus dem Ofen, sieht ihren Kommandanten an, sagt, dir würde sie viel lieber folgen als mir. Sieh sie dir an, sie hockt am Bach und versucht, Fische zu fangen. Sie will sein wie du. Groß, stark und unbesiegbar.