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Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG
© 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Redaktion: Elke Austermühl, Berlin
Satz: Lohse Design, Heppenheim
Umschlaggestaltung: Harald Braun, Berlin, unter Verwendung
einer Illustration von Karel Rafferty, UK
Besuchen Sie uns im Internet: www.lambertschneider.de
ISBN 978-3-650-40160-1
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-650-40161-8
eBook (epub): ISBN 978-3-650-40162-5
Von Büchern und Bluttaten
1.
Historische Büchermörder und ihre literarischen Doppelgänger
2.
Das Buch als Objekt der Begierde: Warum Bibliophile morden
3.
Dem Täter auf der Spur: Buchhändler sind die besten Detektive
4.
Wenn Bücher töten: Das Buch als Waffe
5.
Der Mord in der Bibliothek: Ein Tatort sorgt für Überraschung
6.
Bildung schützt vor Blutdurst nicht: Gelehrte Mörder lauern an der Universität
7.
Postmoderne Bücherkrimis: Wenn Fiktion und Realität verschmelzen
Von unendlichen Büchern und glücklichen Lesern: Im Labyrinth mit Jorge Luis Borges
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Dank
Zugegeben: »Büchermorde« ist nur ein anderes Wort für Kriminalroman. Denn der Kriminalroman ist ein Buch, in dem Morde geschehen, und zwar Morde in der fiktionalen Welt der Literatur – nicht in der Wirklichkeit.1 Aber Büchermorde sind nicht nur Morde, die ausschließlich in Büchern geschehen, es sind auch Morde, die wegen, mit und im Umfeld von Büchern, also zum Beispiel in Bibliotheken2, begangen werden. Dass es sich lohnt, die Bücher, die hier vorgestellt werden, zu lesen, versteht sich von selbst. Es sind eben »Mordsbücher« in dem Sinne, in dem man von einer »Mordsgaudi« als einem großen Spaß spricht.
Aber muss es im Kriminalroman immer gleich um Mord gehen? Nach den Richtlinien der klassischen Detektivgeschichte hat man die Frage zu bejahen. In einer der bekanntesten Regelsammlungen dieser Art wird festgelegt: »Im Detektivroman muß es ganz einfach eine Leiche geben, und je toter sie ist, desto besser.«3 Denn andernfalls lohne es sich gar nicht, solche Romane und Erzählungen zu schreiben und zu lesen. Dass diese Regel nicht immer eingehalten wurde, steht auf einem anderen Blatt. Schon die ersten drei Sherlock-Holmes-Geschichten kamen ohne Leiche aus4, was dem Erfolg des berühmtesten Detektivs der Weltliteratur durchaus keinen Abbruch getan hat. Aber hier soll es, wie gesagt, ums Ganze gehen – gemäß der Regel, dass auch ein Bücherkrimi eine Leiche haben muss, wie sie toter nicht sein kann. Und – keine Angst! (oder gerade doch?) – davon wird es in den folgenden Kapiteln genug geben.
Von Anfang an sah man eine enge Verbindung zwischen Detektiven und Büchern. Jene Detektivgeschichte, die für die gesamte Gattung stilbestimmend werden sollte, verdankt ihr Zustandekommen der Liebe zu Büchern. Die »erste Begegnung« zwischen einem anonym bleibenden Erzähler und dem Amateurdetektiv C. Auguste Dupin »fand in einer kleinen Buchhandlung in der Rue Montmartre statt«.5 Der aus wohlhabender Familie stammende, aber nun verarmte Dupin hat sich als einzigen Luxus, dem er noch frönt, seine Leidenschaft zu Büchern bewahrt – und wo kann man diese Leidenschaft besser pflegen als bei den Buchhändlern und Antiquaren von Paris? Dort lernt ihn in Der Mord in der Rue Morgue jener Erzähler kennen, der von den Abenteuern des brillanten Detektivs berichten wird.
Edgar Allan Poes Dupin ist aber bei weitem nicht der einzige fiktive Detektiv, der zugleich Buchliebhaber und -sammler ist. Auch Sherlock Holmes besitzt eine kleine Bibliothek. Zwar ist sie auf wenige Spezialgebiete – wie die Geschichte der Kriminalität – beschränkt, aber im Laufe seiner langen Karriere als »Detektivberater«6 oder als »inoffizieller Berater und Helfer für jeden, der absolut ratlos ist«7, konsultiert er diese Büchersammlung immer wieder. Auf Sherlock Holmes folgen Ermittlerfiguren wie S. S. Van Dines Philo Vance, R. Austin Freemans John Thorndyke, Rex Stouts Nero Wolfe, Elizabeth Dalys Henry Gamadge oder Dorothy Sayers’ Lord Peter Whimsey. Sie alle kennzeichnet eine ausgeprägte Leidenschaft für Bücher – was dazu führt, dass sie manchmal als etwas verschrobene, aber doch immer als sympathische, ehrliche, intelligente, verlässliche, traditionsbewusste und humanistisch gebildete Figuren erscheinen. Wer Bücher liebt, kann kein schlechter Mensch sein.
Wie ein Kenner der Detektivliteratur feststellte, gehört der »Konnex von Detektorik und Bibliophilie« zur »Topik des Detektivromans«8, die Liebe der Detektive zum Buch ist also festes Motiv dieses Genres.
Aber die Liebe zum Buch kann sich auch derartig steigern, dass sie zur perversen Leidenschaft und zur Obsession wird. Der Oberbegriff für alle diese Abirrungen lautet »Bibliomanie« (von gr. biblíon = das Buch und manía = der Wahn). Es handelt sich um einen medizinischen Fachbegriff für eine Krankheit mit Suchtcharakter. Zu ihren Symptomen gehört u.a. die »Beschaffungskriminalität«9, die in literarischen Darstellungen nur allzu oft tödlich verläuft10. In Krimis eröffnet sich für das Thema Bibliomanie natürlich ein weites Anwendungsfeld. Da sind zuerst einmal die krankhaften Büchersammler. Eine kleine Übersicht zeigt, dass sie zu allen Zeiten vertreten waren und auch in unseren Tagen noch zu finden sind. Zu den berühmtesten gehören Apellikon von Teos (in der Antike), Papst Innozenz X. (1574–1655) und Conte Libri Carucci della Sommaja (der 1869 starb).11
Es gibt aber auch die Bibliophagen oder Bücherfresser und Büchertrinker, die sich die Objekte ihrer Begierde regelrecht einverleiben müssen. Wenn wir sagen, dass wir ein Buch »verschlingen«, meinen wir das im übertragenen Sinn. Wir sprechen dann von einer Lektüre, die derartig fesselnd ist, dass wir alles um uns her vergessen, bis wir das Buch ausgelesen haben. Von einem wahren Bücherfresser oder -trinker im wörtlichen Sinn spricht dagegen die Offenbarung des Johannes, wo davon berichtet wird, dass der Apostel das Buch buchstäblich verschlingt;12 ein bekanntes Bild von Albrecht Dürer zeigt diese Szene. Am Ende von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (über den später mehr zu sagen ist) tritt ein solcher Bücherfresser in Gestalt des Mönchs Jorge auf. Und Klaas Huizings Roman Der Buchtrinker verwendet die Geschichte des Bibliomanen Johann Georg Tinius aus dem 19. Jahrhundert (darüber ebenfalls später mehr) als Folie, um über einen Bücherfreak von heute zu schreiben.
Historisch gesehen meint das »Verschlingen von Büchern« deren massenhafte Lektüre. Diese Begriffsbedeutung setzt den Wandel des sogenannten intensiven Lesens zum extensiven Lesen voraus, der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stattfand. Bis dahin hatte man wenige Bücher immer wieder gelesen. Meist war das die Bibel oder ein Buch mit Kalendergeschichten. Erst nach der weitgehenden Alphabetisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts und zu einer Zeit, als Bücher durch die Vereinfachung und Verbreitung des Buchdrucks billiger und damit für viele erschwinglich wurden, setzte das extensive Lesen, also das weniger gründliche Lesen möglichst vieler Bücher ein. Damit wurde auch die Bibliomanie als Vielleserei möglich.
Andere Vertreter der Bibliomanie sind der Bibliotaph (gr. taphos: Grab) – das ist »jemand, der zwanghaft seine Bücher verbirgt«13 –, der Biblioklast oder Bücherzerstörer sowie der Büchernarr. Unter Letzterem verstand man schon seit dem griechischen Satiriker Lukian den nichtlesenden Scheingelehrten, der sich als bloßer Büchersammler betätigt.14
Nicht immer führen die Varianten der Bibliomanie zu Verbrechen oder gar Mord, aber in jedem Fall geben sie Einblicke in menschliche Abgründe. Wenn sich die Liebe zu Büchern zur Büchersucht steigert, dann zeigt sich, dass alle Hemmungen fallen und die Gier die Vorherrschaft gewinnt – ob es nun um den Besitz eines bestimmten Werks geht oder einfach nur darum, möglichst viele Bücher anzuhäufen.
Berühmte historische Fälle dieser Art und ihre literarischen Verarbeitungen werden in den ersten beiden Kapiteln vorgestellt. Wie wir schon gesehen haben, werden Detektive bereits in den frühesten Kriminalgeschichten als Bücherliebhaber charakterisiert. Deshalb liegt es nahe, dass Menschen, die hauptberuflich mit Büchern zu tun haben, sich auch detektivisch betätigen. In Kapitel 3 zeigen Bibliothekare und Buchhändlerinnen, warum sie so erfolgreiche Ermittler sein können. Dass man mit einem Buch auf indirekte oder sogar sehr handfeste Weise aber auch einen Mord begehen kann, demonstriert Kapitel 4. Hier geht es um das mörderische Potential von Büchern, das sich manchmal auf sehr ungewöhnliche Art manifestiert. Warum ein Mord nicht in eine Bibliothek passt, gerade deshalb aber oft dort begangen wird, erläutert Kapitel 5. An beispielhaften Romanen aus dem Golden Age des Kriminalromans wird hier gezeigt, dass gerade ein Mord in einer Bibliothek als ein unerhörter Skandal empfunden wird. Kapitel 6 führt in die Welt des in Deutschland nicht sehr verbreiteten, dafür aber in den angelsächsischen Ländern sehr beliebten Campus-Krimis ein. An ihm lässt sich ablesen: Wenn Akademiker in Streit geraten, kann es recht leidenschaftlich zugehen, und auch auf dem Campus schreckt man vor Mord nicht zurück – insbesondere dann nicht, wenn es um Bücher geht. In Kapitel 7 schließlich wird es gänzlich unheimlich. Denn hier kann man erleben, was alles geschehen kann, wenn die Grenze zwischen Buch und Wirklichkeit, auf die wir uns als Leser gerade bei Kriminalromanen verlassen, plötzlich durchlässig wird und der Mord in unsere eigene Welt eindringt.
Die in den einzelnen Kapiteln beschriebenen Romane und Erzählungen decken ein breites Spektrum ab. Der Bogen reicht von älteren und teilweise klassischen Detektivromanen der Zwischenkriegszeit bis zu Kriminalromanen15 der Gegenwart, von englischen und US-amerikanischen Autoren und Autorinnen bis zu solchen aus anderen europäischen Ländern und aus Südamerika.
Die folgenden Kapitel müssen nicht in chronologischer Reihenfolge gelesen werden. Hier wird kein historischer Leitfaden vorgelegt, und es wurde weder eine strenge Systematik verschiedener Büchermorde noch Vollständigkeit angestrebt. Manche Bücher hätte man unter mehreren Überschriften besprechen können. Deshalb kann der Leser mit dem Kapitel beginnen, das ihn am meisten interessiert.
Wer sich näher informieren will oder weitere Literaturempfehlungen sucht, sei hingewiesen auf den »Krimi-Navigator« von Thomas Wörtche16, der zum Stichwort »Bücher« eine umfangreiche Titelliste zusammenstellt (einige der dort genannten Bücher werden im vorliegenden Band diskutiert). Diese Krimis spielen im Umfeld von Autoren und Autorinnen, die zu Tatverdächtigen werden, es geht um Manuskriptfunde, um Buchhändler bzw. Buchhändlerinnen und Krimiautoren als Ermittler, um Morde in der Verlagswelt, um Todesfälle bei Literaturwettbewerben, um Morde nach literarischen Vorbildern und um Bücherdiebstähle, die durch Morde verschleiert werden sollen.
Doch sei zum Thema Büchermorde an dieser Stelle noch Folgendes bemerkt: Müsste man nicht heute in diesem Zusammenhang auch auf den Büchertod zu sprechen kommen, also auf den absehbaren Tod des Buches? Angesichts der Verbreitung neuer digitaler Medien wie des Internets und des E-Books diskutieren wir mittlerweile schon seit geraumer Zeit, ob nicht das Buch selber stirbt oder zumindest vom Aussterben bedroht ist. Medienwissenschaftler wie Marshall McLuhan, Norbert Bolz oder Manuel Castells, die die Geschichte und die Theorie der Medien erforschen, haben diese Entwicklung aufmerksam verfolgt.17 Ein Blick in die Tageszeitung oder in Wochenmagazine zum Thema Medienwandel – besonders im Vorfeld von Buchmessen – genügt, um zu sehen, wie sehr uns dieses Phänomen beschäftigt. Bücher werden zwar immer noch gekauft und gelesen, und es wird auch mit überzeugenden Argumenten dargelegt, dass Bücher nie ganz verschwinden werden. Aber wer den Büchermarkt beobachtet und die neuen Entwicklungen verfolgt, kann nicht übersehen, dass das gedruckte Buch das Monopol als Speichermedium und Datenträger, das es einmal hatte, verloren hat und dass es sich auf dem Rückzug befindet.
Das kann man mit guten Gründen beklagen, wird damit aber an der weiteren Entwicklung wenig ändern. Gerade deshalb lohnt es sich vielleicht, daran zu erinnern, wie oft um eines Buches willen gemordet wird, welch unterschiedliche Rollen Bücher in Kriminalromanen spielen können, welche zerstörerischen Leidenschaften von Büchern entfacht werden, wie wichtig ein Buch um seines Inhalts willen, aber auch aufgrund seines faszinierenden Äußeren sein kann. Ein Buch kann man ansehen und sich an seinem schönen Erscheinungsbild erfreuen, man kann es berühren und anfühlen, man kann sein Papier und seine Druckerschwärze riechen, und manche Menschen empfinden sogar Genuss dabei, ein Buch zu schmecken (aber da bewegen wir uns wieder im Bereich der Bibliomanie18). Bei digitalen Medien ist das alles nicht möglich, hier gehen die sinnlichen Eindrücke, die Bücher uns gewähren, verloren. Deshalb stellt sich die Frage, was ihr Verlust bedeuten würde.
Diese Sicht soll sich wie ein roter Faden durch dieses Buch ziehen: Was alles sind Menschen im Zeitalter des Büchertodes zu tun bereit, um in den Besitz eines Buches zu gelangen? Welch unersetzbaren Wert kann ein Buch für jemanden haben, der bereit ist, dafür zu morden? Wo berühren sich die Sphären des Buches und des Mordes, und welche Übereinstimmungen und Diskrepanzen entstehen dabei? Auch zur Klärung dieser Fragen wollen die Kapitel dieses Buches beitragen. Fairerweise sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass dabei auch oft preisgegeben wird, wie die Krimis ausgehen. Ich habe versucht, nicht allzu viel zu verraten, aber manchmal ließ es sich leider nicht vermeiden.
Über berühmte Bücherdiebstähle gibt es viele Berichte. Selten enden diese Geschichten tödlich. Jedoch sind zwei Fälle mit einem solchen Ausgang überliefert. Auch wenn man jeweils nicht direkt von Mord sprechen kann, so enden sie doch tödlich: Menschen kommen auf gewaltsame Weise zu Tode bzw. werden Opfer einer Straftat, die – zumindest nach heutigen Maßstäben – der vorsätzlichen Tötung ziemlich nahe kommt.
In der Romanzeitschrift Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens erschien im sechsten Band des Jahrgangs 1912 unter der Rubrik »Mannigfaltiges« eine kurze Abhandlung zum Thema »Berühmte Bücherdiebe«. Gleich der erste Fall, der dort referiert wird, ist ein Bücherdiebstahl mit tödlichen Folgen – in diesem Falle für den Bücherdieb. Erzählt wird die Geschichte eines »Magister Silvanus« aus Köln, der als Hauslehrer bei reichen Patrizierfamilien arbeitete.
Es war die Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks, und die wohlhabenden Bürger der reichen Handelsstädte wetteiferten miteinander beim Aufbau wertvoller Bibliotheken. Anscheinend kam es dabei weniger auf den Inhalt der Bücher an als auf ihre Ausstattung: Einbände und Buchdeckel mit Schnitzereien aus Elfenbein und mit kostbaren Steinen besetzte »Goldarbeit« sollten den Reichtum der Besitzer solcher Bücher für alle sichtbar demonstrieren.
Das Buch galt als Statussymbol. Magister Silvanus soll sich dieses Besitzstreben und diese Vorzeigementalität auf ganz eigene Weise zunutze gemacht haben. Im Verlauf von nur zwei Jahren stahl er, so wird berichtet, die für damalige Verhältnisse ungeheure Zahl von 462 wertvollen Büchern und verkaufte sie nach Frankreich und Italien. Erwischt wurde er schließlich, als er beim Verlassen eines Patrizierhauses mit dem gerade heimkehrenden Hausherrn zusammenstieß und ihm dabei eine kostbar verzierte Bibel aus dem Mantel fiel. Die sofort einsetzenden Nachforschungen ergaben, dass gerade aus denjenigen Häusern wertvolle Bücher verschwunden waren, in denen der umtriebige Magister den Familiennachwuchs als Privatlehrer unterrichtet hatte. Magister Silvanus wurde am 2. September 1492 gehängt. Seine einträglichen Bücherdiebstähle hatten für ihn also fatale Folgen.
Ein anderer Fall dieser Art ereignete sich in England während der Herrschaft von Heinrich IV. (1367–1413). Ein gewisser John Leycester und seine Frau Cecilia wurden des Diebstahls eines Buches aus der Kirche von Stafford angeklagt.1 Die amtlichen Dokumente weisen aus, was mit den Beschuldigten geschah: »Sus. per coll.« Das ist die Abkürzung für das lateinische suspendatur per collum = man möge ihn am Hals aufhängen (bis der Tod eintritt). Es mag heute verwundern, dass der Diebstahl von Büchern mit dem Tod bestraft wurde, aber für die Justiz dieser Zeit, die auch für Bagatellvergehen die Todesstrafe vorsah, muss der hohe Wert der gestohlenen Bücher die Härte der Bestrafung gerechtfertigt haben.
Über solche Bücherdiebe und ihr unrühmliches Ende wird zunächst in Chroniken, Berichten und Falldarstellungen erzählt, aber einige von Büchern besessene Bibliomanen, die es nicht beim bloßen Diebstahl beließen, sondern deren Obsession sie bis zum Mord trieb, brachten es in der Folge auch zu besonderen literarischen Ehren.
Einer der berühmtesten Büchermörder war Don Vincente, der in den 1830er-Jahren acht Morde2 begangen haben soll, um seine Gier nach wertvollen Büchern zu befriedigen. Don Vincente war Mönch und Bibliothekar in einem Zisterzienserkloster in der Nähe von Tarragona im Nordosten Spaniens. Als das Kloster und die Bibliothek eines Nachts ausgeraubt wurden, verließ er den Orden und tauchte kurz darauf als Inhaber eines Buchantiquariats in Barcelona auf. Offenbar hatte er sich spontan mit den Räubern zusammengetan und selber die wertvollsten Bücher mitgehen lassen. Bald fiel er dadurch auf, dass er mehr Bücher kaufte als verkaufte, und besonders dadurch, dass er sich von wertvollen Büchern nicht trennen konnte.
Nachdem Don Vincente bei einer Auktion des einzigen verbliebenen Exemplars eines seltenen Buches aus dem Jahr 1482 von einem Buchhändlerkollegen überboten wurde, geschah es, dass drei Tage später der Laden dieses erfolgreichen Konkurrenten niederbrannte. In den Trümmern fand man die Leiche des Besitzers. Bald darauf ereigneten sich weitere Mordfälle in Barcelona, und immer waren die Opfer Besitzer wertvoller Bücher. Weil er nach der Auktion einen Wutanfall erlitten hatte, wurde Don Vincente als Hauptverdächtiger verhaftet. Bei einer Durchsuchung seines Hauses fanden sich neben dem besagten Exemplar aus dem Jahr 1482 auch Bücher, die den anderen Mordopfern in Barcelona gehört hatten. Don Vincente stritt zunächst alles ab. Doch als man ihm versicherte, seine Büchersammlung werde intakt bleiben, unabhängig davon, welche Strafe ihn ereilen werde, legte er ein Geständnis ab.
Bei der Gerichtsverhandlung argumentierte sein Verteidiger, dass es keine eindeutigen Beweise für die Schuld des Angeklagten gebe und dass die Anklage nur auf Indizien beruhe. Und wie erkläre er es dann, dass man das einzige Exemplar des bewussten Buches bei Don Vincente gefunden habe?, fragte der Ankläger. Woraufhin der geschäftige Verteidiger bewies, dass noch ein zweites Exemplar existierte. Als Don Vincente dies hörte, verlor er die Beherrschung und – mit dem Ausruf »Mein Exemplar ist nicht das einzige!« – anscheinend auch seinen Verstand. Bis zum Tag seiner Hinrichtung im Jahr 1836 wurde er nicht müde, diesen ungläubigen Ausruf immer wieder vor sich hin zu murmeln.
Damit aber nicht genug. Ein damals fünfzehnjähriger Schüler las von dem Fall Don Vincentes in einer Zeitungsnotiz mit dem reißerischen Titel Das Ungeheuer von Barcelona. Er schuf aus diesem Stoff die Erzählung Bibliomanie (Bücherwahn). Der junge Autor war kein Geringerer als Gustave Flaubert. Er nennt seinen mörderischen Bibliomanen Giacomo und verleiht dieser Gestalt deutliche Züge eines Bibliophilen, der auf liebevolle Weise mit Büchern und Handschriften umgeht. Giacomo liest Bücher nicht, er befühlt sie, er riecht an ihnen, er prüft ihre Einbände, erfreut sich an der Schrift und den Illustrationen – kurz: er verehrt sie als schöne Gegenstände und bewertet sie ausschließlich nach ihrer äußeren Schönheit.
Auch Flaubert greift die Auktion und den Brand sowie die Morde an anderen Besitzern wertvoller Bücher auf. Doch in seiner Erzählung rettet Giacomo das einzigartige Buch aus den Flammen des Hauses und beteuert, die Morde 3