Walt Whitman

Grashalme 

Den fremden Ländern

Ich hörte, daß ihr etwas erheischet, dies Rätsel, die neue Welt, zu erklären,
Amerika und seine athletische Demokratie:
So sende ich euch denn meine Gedichte, damit ihr in ihnen schaut, wonach ihr verlangt.

Ein Selbst sing' ich

Ein Selbst sing' ich; eine einfache abgesonderte Person;
Doch sprech' ich das Wort Demokratisch aus, das Wort En Masse.
Die Physiologie sing' ich vom Kopf bis zum Fuße;
Weder Physiognomie noch Geist allein sind der Muse preiswürdig; ich sage, weit preiswürdiger ist ihr die Gestalt in ihrer Gesamtheit.
Ich singe das weibliche ebensogut wie das männliche Prinzip.
Das Leben, unermeßlich an Leidenschaft, Puls und Kraft,
Fröhlich, zur freiesten Tätigkeit gestaltet nach göttlichen Gesetzen,
Den neuen Menschen sing' ich.

Als ich mit stillem Sinnen

Als ich mit stillem Sinnen
Zu meinen Dichtungen mich zurückwandte, und in Betrachtung lang' verweilte,
Erhob sich mit zweifelvoller Miene vor mir ein Phantom,
Schrecklich in Schönheit, Alter und Kraft,
Der Genius der Dichter der alten Länder;
Und seine Augen wie zwei Flammen auf mich richtend
Wies er mit seinem Finger auf so manche unsterbliche Dichtung
Und sprach mit drohender Stimme dies: »Was singst Du da?
Weißt Du nicht, daß es nur einen Stoff gibt für unsterbliche Sänger?
Den Krieg, das Geschick der Schlachten,
Und wie vollkommene Krieger herangebildet werden?«
»Sei es so«, gab ich zur Antwort;
»Auch ich, hochmütiger Schatten, singe den Krieg; und einen langwierigeren und gewaltigeren als irgendeinen sonst;
Mit wechselndem Glück wogt er in meinem Lied; mit Flucht, Angriff, Rückzug, verzögertem und ungewissem Sieg,
(Der dennoch, denk' ich, schließlich sicher oder so gut wie sicher ist), auf dem Schlachtplan der Welt,
Um Tod und Leben, Leib und ewige Seele.
Wohl! auch ich bin gekommen, den Sang der Schlachten zu singen,
Und auch ich fördere vor allem tapfre Krieger.«

Einem Historiker

Ihr, die ihr feiert, was gewesen,
Die ihr die Außenseite erforschtet, die Oberflächen der Rassen und das Leben, soweit es sich aus sich selbst nach außen gesetzt hat,
Die ihr den Menschen behandelt als Geschöpf der Politik, der Haupt- und Staatsaktionen, der Machthaber und Priester:
Ich, ein Bewohner der Alleghanies, handle von ihm, wie er ist nach eigenen Rechten,
Ertaste den Puls des Lebens da, wo es sich bisher nur selten aus sich selbst nach außen setzte (den großen Wert des Menschen, den er in sich selbst trägt);
Ein Sänger des Persönlichen, zeichne ich das, was erst im Werden ist
Und entwerfe die Geschichte der Zukunft.

Idole

Ich traf einen Seher;
Er schritt durch Braus und Schau der Welt,
Der Kunst und Wissenschaft Gebiete, der Freuden und der Sinne
Idole zu sammeln.
Nimm in dein Lied, sprach er,
Nicht so die kunterbunte Stunde und den Tag, noch Ausschnitte, noch Teile;
Vielmehr vor allem andren nimm als Licht für alles und als Anfangslied
Das von Idolen.
Ewig Beginn aus Dunkel
Wachstum ewig und des Zirkels Rundung,
Ewig Gipfelhöhe und Versinken schließlich (sicher nur zu Neubeginn);
Idole! Idole!
Ewig Veränderung,
Ewig Wechsel der Stoffe, ihr Zerfall und ihre neue Einheit;
Ewige Werkstätten und göttliche Fabriken,
Die Idole ausströmen;
Sieh! Sei's ich, sei's du,
Sei's Mann, sei's Weib, Zustand, Bekannt oder Unbekannt:
Wir alle, scheinbar fester Reichtum, Kraft, Gebild der Schönheit:
In Wirklichkeit gestaltete Idole.
Vergängliches Gebild,
Substanz für eines Bildners Stimmung oder eines Weisen mühevollen Fleiß,
Des Kriegers, Märtyrers, des Helden Arbeit hat
Zum Vorbild sein Idol.
Und jeglich Menschenlebens,
(Die Einzelteile genommen und hingestellt, kein einziger Gedanke ausgenommen, kein Gefühl und keine Handlung)
Weit oder knapp gefaßte und aufaddierte Summe
Ist in ihrem Idol.
Der alte, alte Trieb,
Sieh! errichtet auf den früheren Gipfeln neue, höhere Gipfel
Von Wissenschaft und Neuzeit stets getrieben,
Der alte, alte Trieb: Idole.
Und allerjüngste Gegenwart,
Amerikas Betriebsamkeit, ihr trächtiger und verzwickter Strudel,
Von vereinten wie getrennten Stoffen für immer nunmehr tief entbindend,
Jüngste Idole.
Dazu Vergangenheit:
Von verschwundnen Ländern, alten Königreichen, jenseits der See,
Erobern der Vorzeit, Feldzügen und Meerfahrten:
Eine Reihe von Idolen.
Dichtheit, Wachstum, Oberfläche,
Gebirgszug und Gelände, Fels und Riesenbaum,
Urzeitgeboren und in ferner Zukunft sterbend, langlebig, dann mal aufzuhören:
Ewige Idole.
Exaltation, Entrücktheit und Ekstase;
Das Sinnfällige ihr Geburtsschoß doch,
Das Rund mit seinem Triebe zu gestalten, gestalten und gestalten,
Das ungeheure Erd-Idol.
All' Raum und alle Zeit,
(Die Sterne, die furchtbaren Sonnenrevolutionen;
Sie schwellen auf und sinken, enden, erfüllen ihren längeren oder kürzeren Zweck):
Einzig gefüllt sie von Idolen.
Die stillen Myriaden,
Die unendlichen Ozeane, in die alle Ströme münden,
Die abgesonderten, zahllosen freien Identitäten, wie das Sichtbare,
Die wahren Realitäten: Idole.
Nicht dies die Welt,
Noch diese die Weltalls, noch sie alle Weltalls:
Sinn und Ende und des Lebens ew'ges Leben,
Idole! Idole!
Über deine Vorlesung hinaus, gelehrter Lektor,
Über alle deine Teleskope, deine Spektroskope, scharfsichtiger Beobachter, und über alle Mathematik,
Über des Arztes Chirurgie und Anatomie hinaus und aller Chemiker Chemie
Des Seienden Sein: Idole.
Unstetes oder Stetes:
Immer werden sein, immer sind gewesen, immer sind
Und schwingen Gegenwärtiges in Zukunft endlos
Idole! Idole! Idole!
Der Seher und der Sänger,
Soll sie noch wahren und in höhere Stufen leiten jetzt,
Vermitteln jetzt der Demokratie und Neuzeit und soll ihnen deuten:
Gott und die Idole.
Und meine Seele, du!
Deine Wonnen, unablässigen Betätigungen und Begeisterungen,
Dein unersättlich Sehnen, schließlich doch gestillt, geschaffen um gestillt zu werden,
Sind deine Weggeleiter: Idole!
Dein ewiger Leib,
Dein in diesem Leib verborgener Leib,
Der einzige Sinn der Kunstform und das wahre Ich und Selbst:
Ein Bild und ein Idol.
Deine wahren Lieder, die nicht deine Lieder sind,
Und nicht besondre Singweisen und nicht um ihrer selber willen sind,
Sondern aus dem Ganzen kommen und steigen bis zum Höchsten und fluten:
Ein volles und gerundetes Idol.

Für ihn, den ich singe

Für ihn, den ich singe,
Baue ich die Gegenwart auf die Vergangenheit,
(Gleich einem immerdauernden, von seinen Wurzeln emporsteigenden Baum die Gegenwart auf die Vergangenheit),
Erweitere ihn mit Zeit und Raum und verschmelze die ewigen Gesetze,
Um durch sie ihn selbst zu seinem eigenen Gesetz zu machen.

Auf Reisen durch die Staaten

Auf Reisen durch die Staaten brechen wir auf,
(Ja, durch die Welt von diesen Liedern getrieben,
Treiben wir hinfort zu jeglichem Land, zu jeglicher See),
Wir, willig alles zu lernen, alles zu lehren, alles zu lieben.

Wir haben beobachtet, wie die Jahreszeiten sich selbst entfalteten und vorübergingen,
Und haben gesagt: weshalb sollte ein Mann oder ein Weib nicht ebenso tun, wie die Jahreszeiten und ebenso sich entfalten?

Wir verweilen eine Zeit in jeder Stadt und jedem Flecken;
Wir ziehen durch Kanada, den Nordosten, das weite Mississippital und die Südstaaten;
Wir verhandeln in gleicher Weise mit jedem der Staaten:
Wir stellen Prüfungen mit uns selbst an und laden Männer und Weiber, uns zu hören;
Wir sagen zu uns selbst: Sei eingedenk, fürchte dich nicht, sei lauter, verkünde den Leib und die Seele,
Verweile eine Zeit und ziehe dann weiter; sei ergiebig, mäßig, keusch und magnetisch,
Und was du ergießest, wird dann wiederkehren, wie die Jahreszeiten wiederkehren
Und wird genau so viel wert sein wie sie.

Der ich unerschütterlich

Der ich unerschütterlich und mit Gelassenheit in der Natur stehe,
Herr oder Herrin über alles, fest mitten im Bereich der vernunftlosen Dinge,
Beseelt wie sie, passiv, empfänglich, und wie sie in Schweigen,
Finde meine Beschäftigungen, Armut, Ruhm, Schwächen, Verbrechen weniger wichtig als ich glaubte;
Ich, an der mexikanischen See, oder in Mannahatta, oder in Tennessee, oder fern im Norden oder im Inland,
Ein Mann vom Fluß, oder ein Mann der Wälder, oder irgendein Farmer dieser Staaten, oder von der Küste oder den kanadischen Seen,
Ich, wo immer auch ich mein Leben lebe: o, Zufällen gegenüber im Gleichgewicht zu sein!
Der Nacht, dem Sturm, Hunger, Spott, Unfällen, Niederlagen Widerstand zu leisten wie Baum und Tier!

Als ich meine Studien begann


Als ich meine Studien begann, gefiel mir der erste Schritt so wohl; 

Die bloße Tatsache des Bewußtseins, diese Gestaltung, die Kraft der Bewegung, 

Das geringste Insekt oder Lebewesen, die Sinne, Gesicht, Liebe; 

Der erste Schritt schon, sag' ich, erweckte mir Ehrfurcht und gefiel mir so wohl. 

Rüstig rückte ich vor und wünschte, rüstig wohl noch weiter vorzurücken; 

Doch steh' ich nun und vertändle alle Zeit, dies alles in verzückten Liedern zu besingen. 

Ich höre, daß man mich anklagt, ich wolle die Institutionen zerstören

Ich höre, daß man mich anklagt, ich wolle die Institutionen zerstören;
Doch in Wirklichkeit bin ich weder für noch gegen die Institutionen.
(Was überhaupt habe ich mit ihnen gemein, oder was mit ihrer Zerstörung?)
Einzig will ich in Mannahatta und in jeder Stadt dieser Staaten, im Inland und an der Seeküste,
In den Feldern und Wäldern, und über jeden Kiel, groß und klein, der das Wasser furcht,
Ohne Bauwerke, Regeln, Vertrauensmänner oder irgendeine Beweisführung
Einrichten die Institution der teuren Liebe von Kameraden.

Beginner

Wie sie für das Erdendasein vorbestimmt sind, (und periodisch auch erscheinen),
Wie wertvoll und fruchtbar sie der Erde sind;
Wie sie sich mit sich selbst zurechtfinden, ebensogut wie mit irgend etwas anderem – so paradox ihr Zeitalter sich darstellt;
Wie die Menge auf sie reagiert, ohne sie doch zu erkennen;
Wie da in allen Zeitaltern in ihrem Schicksal etwas Erbarmungsloses liegt;
Wie alle Zeitalter sich in den Gegenständen ihrer Verehrung und Belohnung vergreifen;
Und wie derselbe unerbittliche Preis immer wieder gezahlt werden muß für denselben großen Kauf.

Den Staaten

Den Staaten oder einem beliebigen von ihnen oder einer beliebigen Stadt der Staaten: »Widersetzt euch viel, gehorcht wenig!«
Einmal unbesehens gehorcht heißt einmal völlig versklavt,
Einmal völlig versklavt aber wird weder eine Nation, noch ein Staat, noch eine Stadt der Erde nachher jemals ihre Freiheit wiedergewinnen.

Obgleich ich immer die Einheit singe

Obgleich ich immer die Einheit singe,
(Die jedoch aus Widersprüchen wird): so weih' ich doch der Nation,
Laß ich in ihr doch den Aufruhr. – (Oh heimliches Recht der Empörung! Oh unauslöschliches und unentbehrliches Feuer!)

Ich höre den Gesang Amerikas

Ich höre den Gesang Amerikas; höre seine mannigfachen Hymnen;
Die der Werkleute; jeder singt die seinen, je nachdem, heiter oder ernst;
Der Zimmermann die seine, wenn er seine Bohle mißt oder seinen Balken;
Der Maurer die seine, wenn er sich an seine Arbeit begibt oder Feierabend macht;
Der Bootsmann singt, was mit ihm und seinem Boot zu tun hat; der Matrose singt auf seinem Dampfboot;
Der Schuhmacher auf seinem Schemel, der Hutmacher Sonnenuntergang.
Das Preislied des Sägemüllers, des Pflugknechtes auf seinem Stand;
Das wundersame Lied der Mutter oder des jungen Weibes bei seiner Arbeit, oder des Mädchens beim Nähen oder Waschen;
Ein jeder singt das, womit er zu tun hat, oder sie, und von nichts sonst;
Der Tag, was des Tages ist – und zur Nachtzeit die Kumpanei der jungen Burschen: fröhlich, herzhaft
Singt sie aus voller Kehle ihre kräftigen und melodischen Lieder.

Dichter der Zukunft

Dichter der Zukunft! Redner, Sänger, Musiker der Zukunft!
Nicht das Heute kann mich rechtfertigen noch Antwort geben auf die Frage nach meiner Bestimmung,
Wohl aber ihr, ein neues Geschlecht, eingeboren, athletisch, festländisch, größer als alle bisherigen.
Erhebt euch! Denn ihr müßt mich rechtfertigen!
Ich für mein Teil schreibe nur ein Wort oder zwei andeutungsweise für die Zukunft;
Nur für einen Augenblick tret' ich hervor, um dann gleich wieder in Dunkel zu tauchen.
Ich bin ein Mann, der dahinschlendert ohne völlig anzuhalten, der einen gelegentlichen Blick euch zuwirft und dann sein Gesicht wieder abwendet,
Der es euch überläßt, zu beweisen und zu deuten,
Und der die Hauptsache von euch erwartet.

Schließt eure Tore nicht

Schließt eure Tore nicht vor mir, ihr Bibliotheken;
Denn das, was auf euren wohlgefüllten Brettern fehlte und doch am dringendsten gebraucht wird, das bring' ich!
Aus Kampf und Streit tauch' ich empor und habe ein Buch verfaßt:
Nichts seine Worte, alles sein Geist.
Ein Buch für sich, nicht verwandt mit den andern und vom Intellekt nicht begriffen,
Aber ein ausgesprochen Geheimes wird euch von jeder Seite entgegenschauen.

Salut au monde

1.

Oh nimm meine Hand, Walt Whitman!
All das Gleiten solcher Wunder! All solche Gesichte und Töne!
All solche Verknüpfung unendlicher Glieder, ein jedes an das nächste gekettet;
Jedes allen andern entsprechend; jedes die Erde mit allen andern teilend!
Was dehnt sich in dir, Walt Whitman?
Was für Wogen und was für dampfendes Erdreich?
Was für Klimate? Was sind das hier für Menschen und Städte?
Wer sind diese Kinder? Einige beim Spiel, andre im Schlummer?
Wer sind diese Mädchen? Wer sind diese Eheweiber?
Wer sind diese Gruppen von Greisen, die langsam einherschreiten, die Arme einander auf den Nacken gelegt?
Was für Flüsse sind das? Was sind das für Wälder und Früchte?
Wie heißen die Berge, die so hoch in den Nebel hineinsteigen?
Was für Myriaden von Wohnungen sind dies, die von Bewohnern wimmeln?

 

2.

In mir weitet sich Weite, dehnt sich Länge.
Asien, Afrika, Europa liegen im Osten – für Amerika vorgesehen ist der Westen;
Den Bauch der Erde umgürtend windet sich der heiße Äquator;
Sorgsam im Norden und Süden dehnen sich die Enden der Achse.
In mir ist der längste Tag – in schrägen Ringen kreist die Sonne, monatelang geht sie nicht unter.
Zu ihrer Stunde steigt in mir die Mitternachtssonne empor; sie hebt sich kaum über den Horizont und sogleich senkt sie sich wieder.
In mir sind Zonen, Meere, Katarakte, Forste, Vulkane, Gruppen,
Die Sunda-Gruppe, Polynesien und die großen Inseln von West-Indien.

 

3.

Was hörst du, Walt Whitman?
Ich höre den Handwerker singen und höre das Farmerweib singen,
Aus der Ferne hör' ich in der Morgenfrühe die Laute der Kinder und der Tiere;
Ich höre die wetteifernden Schreie der Australier, die wilden Pferden nachjagen;
Ich höre den spanischen Tanz mit Kastagnetten im Schatten der Kastanien, zu Geige und Gitarre.
Ich höre endloses Getöse von der Themse her;
Ich höre wilde französische Freiheitslieder;
Ich höre des italienischen Gondoliers melodisches Rezitativ alter Gedichte;
Ich höre die Heuschrecken in Syrien, wie die Schauer ihrer schrecklichen Wolken niederrauschen auf Getreide und Gras;
Ich höre den koptischen Kehrreim bei Sonnenuntergang schwermütig auf die Brust der dunklen, ehrwürdigen, mächtigen Mutter herabfallen, den Nil;
Ich höre das Zirpen des mexikanischen Maultiertreibers und die Glöckchen des Maultieres,
Ich höre den Ruf des arabischen Muezzin von der Zinne der Moschee herab,
Ich höre die christlichen Priester vor dem Altar ihrer Kirchen, ich höre den respondierenden Baß und Sopran;
Ich höre den Schrei des Kosaken und die Stimme des Matrosen, wenn er bei Otosk in See sticht;
Ich höre das Keuchen des Sklavenzuges, wenn die Sklaven vorwärts marschieren, wenn die heiseren Scharen vorbeischreiten zu zwei und drei, mit Hand- und Fußschellen aneinander gebunden;
Den Hebräer höre ich seine Chronik und seine Psalmen lesen;
Ich höre die rhythmischen Mythen der Griechen und die kräftigen Legenden der Römer;
Ich höre die Erzählungen vom göttlichen Leben und blutigen Tod des holden Gottes, des Christ;
Ich höre den Hindu seine Lieblingsschüler die Sprüche der Liebe und der Kriege lehren, die von Dichtern, welche vor 3000 Jahren schrieben, treulich bis auf diesen Tag überliefert wurden.

 

4.

Was siehst du, Walt Whitman?
Wer sind die, die du grüßest, und die einer nach dem andern dich grüßen?
Ein großes rundes Wunder seh' ich sich durch den Raum wälzen;
Ich sehe kleine Güter, Dörfer, Ruinen, Friedhöfe, Gefängnisse, Fabriken, Paläste, Spelunken, Hütten der Wilden, Nomadenzelte auf der Oberfläche;
Ich sehe den beschatteten Teil auf der einen Seite, wo man schläft, und den von der Sonne beleuchteten auf der andern Seite;
Ich sehe den seltsamen raschen Wechsel von Licht und Schatten;
Ich sehe ferne Länder, ihren Bewohnern nicht sicherer und näher als mir mein Land.
Ich sehe gewaltige Wassermassen.
Ich sehe Bergspitzen, ich sehe die Sierren der Anden sich aneinander reihen;
Deutlich gewahre ich den Himalaja, den Tschian-Schan, den Altai und die Ghats;
Ich sehe die mächtigen Zinnen von Elbrus, Kasbek und Basardjusi;
Ich sehe die steirischen Alpen und die karnischen Alpen;
Ich sehe die Pyrenäen, den Balkan, die Karpathen und nach Norden die Dovrefjields und fern im Meer den Hekla;
Ich sehe den Vesuv und Ätna, das Mondgebirge und die roten Berge von Madagaskar;
Ich sehe die libyschen, arabischen und asiatischen Wüsten;
Ich sehe die ungeheuren, furchtbaren arktischen und antarktischen Eisberge;
Ich sehe die größeren Ozeane und die kleineren, den atlantischen und den stillen Ozean, das Meer von Mexiko, das brasilianische und das Meer von Peru;
Die Gewässer von Hindostan, das chinesische Meer und den Busen von Guinea;
Die japanischen Gewässer, die liebliche Bucht von Nagasaki, eingeschlossen in ihren Bergen;
Die Breiten des Baltischen, Kaspischen und Bottnischen Gestades und den Golf von Biskaja;
Das mittelländische Meer im klaren Sonnenschein, und eine seiner Inseln nach der andern;
Das Weiße Meer und das Meer von Grönland.
Ich erblicke die Seefahrer der Welt.
Einige ringen mit dem Sturm, andre treiben in der Nacht mit ausgestellter Wache;
Hilflos andre, andre wieder mit ansteckenden Krankheiten.
Ich erblicke die Segel und Dampfschiffe der Welt; einige in Geschwadern liegen im Hafen, andre sind auf der Fahrt;
Einige fahren um das Kap der Stürme, andre um das Kap Verde, andre um das Kap Guardafui, Bon oder Bajador;
Andre um das Dundra-Vorgebirge, andre passieren die Sundastraße, andre um Kap Lopatka, andre durch die Behringstraße;
Andre um Kap Horn; andre segeln im mexikanischen Busen oder bei Kuba oder Haiti; andre in der Hudson-Bai oder Baffins-Bai;
Andre passieren die Straße von Dover; andre fahren in den Wash ein, andre in den Solvey-Fjord, andre um Kap Klear, andre um Lands End;
Andre durchkreuzen die Zuidersee oder die Schelde;
Andre kommen und gehen bei Gibraltar oder in den Dardanellen;
Andre brechen entschlossen ihre Bahn durch das nördliche Packeis;
Andre fahren den Ob und die Lena hinauf und hinab;
Andre den Niger oder den Kongo; andre den Indus, den Brahmaputra und durch Kombodja;
Andre warten mit vollem Dampf fertig zum Aufbruch in die australischen Häfen;
Warten in Liverpool, Glasgow, Dublin, Marseille, Lissabon, Neapel, Hamburg, Bremen, Bordeaux, im Haag, in Kopenhagen;
Warten in Valparaiso, Rio Janeiro, Panama.

 

5.

Ich sehe die Geleise der Eisenbahnen der Erde.
Ich sehe sie in Großbritannien, sehe sie in Europa;
Sehe sie in Asien und Afrika.
Ich sehe die elektrischen Telegraphen der Erde.
Ich sehe die Fäden der Neuigkeiten von Kriegen, Todesfällen, Verlusten, Gewinn, Leidenschaften meines Geschlechtes.
Ich sehe die langen Flußstreifen der Erde.
Ich sehe den Amazonenstrom und Paraguay.
Ich sehe die vier großen Flüsse von China, den Amur, den Gelben Fluß, den Jangtsekiang und die Perle;
Ich sehe, wo die Seine fließt; wo die Donau, die Loire, die Rhône und wo der Guadalquivir fließt:
Ich sehe die Windungen der Wolga, des Dnjepr, der Oder;
Ich sehe den Toskaner den Arno hinabfahren und den Venezianer auf dem Po;
Ich sehe die griechischen Matrosen aus der ägäischen Bai heraussegeln.

 

6.

Ich sehe den Sitz des alten assyrischen Reiches und den des persischen und des indischen;
Ich sehe den Sturz des Ganges über den hohen Rand von Saukara.
Ich sehe den Ort, wo man sich die Gottheit dachte als durch Awatâra in menschlichen Formen verkörpert;
Ich sehe die Stätten der Priester, die auf der Erde einander folgten; Orakel, Opferer, Brahmanen, Sabianer, Lamas, Mönche, Mufti, Beschwörer;
Ich sehe, wo die Druiden in den Hainen von Mona wandelten, ich sehe Mistel und Eisenkraut;
Ich sehe den Tempel, wo die Leiber von Göttern starben, sehe die alten Symbole.
Ich sehe Christus das Brot seines letzten Abendmahles inmitten der Jünglinge und Greise essen;
Ich sehe, wo der starke göttliche Jüngling, der Herkules, treu und lange diente und dann starb;
Ich sehe die Stätte des unschuldigen und üppigen Lebens und jammervollen Todes des schönen Nachtsohnes, des blühenden Bacchus;
Ich sehe den blühenden Kneph, im blauen Gewand, mit dem Federkranz auf dem Haupte;
Ich sehe Hermes, den wohlgeliebten, unerkannt sterben – er spricht zu dem Volk: »Weinet nicht über mich;
Dies ist nicht mein wahres Vaterland; ich habe in der Verbannung fern von meinem wahren Vaterland gelebt, jetzt kehre ich dahin zurück;
Kehre zurück nach der himmlischen Sphäre, wo ein jeder in der Reihe geht.«

 

7.

Ich sehe die Schlachtfelder der Erde – Gras wächst drauf, Blumen und Korn;
Ich sehe die Pfade der alten und neuen Forschungsreisen.
Ich sehe namenloses Mauerwerk, feierliche Botschaften von dunklen Ereignissen, Helden, Chroniken der Erde.
Ich sehe die Stätten der Sagen.
Ich sehe Fichten und Kiefern von nördlichen Stürmen zerrissen;
Ich sehe Granitblöcke und Klippen, sehe grüne Wiesen und Seen;
Ich sehe die Grabhügel der skandinavischen Krieger;
Ich sehe sie am Rande des ruhelosen Ozeans hoch aufgeschüttet, damit die Geister der Toten, wenn sie ihrer Grabesruhe müde, durch den Wald steigen und auf die springenden Wogen blicken können und an den tobenden Stürmen, der Weite, der Freiheit, der Bewegung sich erquicken können.
Ich sehe die Steppen von Asien.
Ich sehe die Hügelwohnungen der Mongolen, sehe die Zelte der Kalmücken und der Baschkiren;
Ich sehe die Stämme der Nomaden und Rinderherden;
Ich sehe die von Schluchten durchschnittenen Inselländer, die Dschungeln und Einöden.
Sehe das Kamel, das wilde Pferd, die Trappe, das Fettschwanzschaf, die Antilope und den Minirwolf.
Ich sehe die Hochländer von Abessinien.
Ich sehe die Ziegenherden weiden und sehe den Feigenbaum, die Tamarinde und Dattel;
Sehe die Felder von Taffweizen, grüne und goldige Gelände.
Ich sehe den brasilianischen Vaquero;
Sehe den Bolivier den Sorateberg ersteigen;
Sehe den Vacho die Ebenen durchkreuzen, sehe den unvergleichlichen Reiter mit dem Lasso um den Arm;
Sehe die Jagd über die Pampas nach dem wilden Getier seiner Häute wegen.

 

8.

Ich sehe die Schnee- und Eisregionen.
Ich sehe den scharfsichtigen Samojeden und den Finnen;
Sehe den Seehundjäger in seinem Boot, die Lanze in der Hand wägend;
Sehe den Sibirier in seinem leichten, von Hunden gezogenen Schlitten;
Sehe den Meerschweinjäger, die Walfischfänger im südlichen Stillen oder im nördlichen Atlantischen Ozean;
Sehe die Klippen, Gletscher, reißenden Gießbäche und Täler der Schweiz – empfinde die langen Winter und die Abgeschlossenheit.

 

9.

Ich sehe die Städte der Erde und mache mich ohne Unterschied zu einem Angehörigen von ihnen;
Ich bin ein echter Pariser;
Ich bin Einwohner von Wien, St. Petersburg, Berlin, Konstantinopel,
Ich bin aus Adelaide, Sidney, Melbourne,
Aus London, Manchester, Bristol, Edinburgh, Limerick,
Aus Madrid, Cadix, Barcelona, Oporto, Lyon, Brüssel, Bern, Frankfurt, Stuttgart, Turin, Florenz;
Gehöre nach Moskau, Krakau, Warschau, oder nordwärts nach Christiania oder Stockholm, oder in das sibirische Irkutsk, oder wohin auf irgendeine Straße in Island,
Ich lasse mich herab auf alle diese Städte und steige wieder von ihnen auf.

 

10.

Ich sehe die Dünste aufsteigen aus unerforschten Ländern,
Sehe die Symbole der Wilden, Bogen und Pfeil, den vergifteten Splitter, den Fetisch und den Obi.
Ich sehe afrikanische und asiatische Städte,
Sehe Algier, Tripolis, Derna, Mogadore, Timbuktu, Monrowia;
Sehe das Menschengewühl von Peking, Kanton, Benares, Delhi, Kalkutta, Tokio;
Sehe den Krumann in seiner Hütte, und den Dahomeyer und den Aschanti in ihren Hütten;
Ich sehe den Türken in Haleb Opium rauchen;
Ich sehe die malerische Menge auf den großen Messen in Khiwa und Herat;
Ich sehe Teheran, sehe Maskat und die Sandwüste dazwischen; ich sehe die Karawanen sich mühsam vorwärts schleppen;
Ich sehe Ägypten und die Ägypter, die Pyramiden und Obelisken;