Hans-Werner Niemann

Europäische Wirtschaftsgeschichte

Vom Mittelalter bis heute

 

 

 

 

Impressum

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ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-534-21802-8
© 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Redaktion: Christina Kruschwitz, Berlin
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim
eBook ISBN 978-3-534-70442-2 (epub)
Als epub veröffentlicht 2010.

 

www.wbg-wissenverbindet.de

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Inhaltsverzeichnis

Geschichte kompakt

Einleitung

I. Die europäische Wirtschaft im Mittelalter

1. Der wirtschaftliche Niedergang im frühen Mittelalter

Die Auflösung des Imperium Romanum

Fernhandel im frühen Mittelalter

Landwirtschaft im frühen Mittelalter

2. Der hochmittelalterliche Aufschwung (11.– 13. Jh.)

Die „Agrarrevolution“ des 11. Jahrhunderts

Die demographische Expansion und die Ausbreitung der Städte

Flandern und Oberitalien als gewerblich-kommerzielle Zentren

Die „kommerzielle Revolution“

Gewerblich-technische Fortschritte

Faktoren des europäischen Aufstiegs und sein Ende in der „Krise des Spätmittelalters“

3. Die Schlüsselrolle Venedigs in der europäischen Wirtschaft des Mittelalters

Etappen des Aufstiegs

Grundlagen der venezianischen Macht

4. Die Deutsche Hanse

Der Aufstieg der Hanse

Ursachen des Niedergangs

II. Die europäische Wirtschaft in der Frühen Neuzeit

1. Die koloniale Expansion Europas

Voraussetzungen

Portugal als kolonialer Pionier

Die spanische Kolonisation

Die Folgen der kolonialen Expansion

2. Der Aufstieg der Niederlande

Der europäische Handel der Niederlande

Der niederländische Überseehandel

Der Amsterdamer Kapitalmarkt

Der wirtschaftliche Niedergang

3. Die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft

Demographische und klimatische Grundlagen

Betriebsweise, Besitzrechte und Erträge

Die „Agrarrevolution“

4. Die gewerbliche Entwicklung

Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen gewerblicher Entwicklung

Das Textilgewerbe

Bergbau und Metallgewerbe

Räumliche Verlagerungen des Gewerbes: Auf- und Absteiger

Gewerbliche Organisationsformen

Merkantilismus

5. Handel und kommerzielle Organisation

Die Strukturen des neuen Welthandelssystems

Von Antwerpen nach Amsterdam

Die oberdeutschen Handelshäuser

Handelsgesellschaften und Monopole

Handelsgüter

III. Die europäische Wirtschaft im Zeitalter der Industriellen Revolution

1. Der Aufstieg Englands und die Industrielle Revolution

Begriff, Verlauf und Wesen der Industriellen Revolution

Warum England?

Die Bedeutung des Außenhandels und der Kolonien

Die Baumwollindustrie als Leitsektor

Kohle und Eisen

2. Die Industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent

Pfade der kontinentaleuropäischen Industrialisierung

Belgien

Frankreich

Deutschland

Russland

Wohlstands- und Entwicklungsunterschiede (Disparitäten)

3. Europa und die Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert

Verflechtungstendenzen der europäischen Wirtschaft

Welthandel, internationale Arbeitsteilung, Zahlungsverflechtungen

Die wirtschaftliche Bedeutung der Kolonien

IV. Die europäische Wirtschaft im 20. Jahrhundert

1. Die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen

Die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges

Ursachen und Verlauf der Weltwirtschaftskrise

Das Versagen der Politik und das Ausbleiben internationaler Kooperation

Die NS-Wirtschaftspolitik im Zeichen von Aufrüstung und Krieg

2. Die europäische Wirtschaft im „Goldenen Zeitalter“

Das weltwirtschaftliche Modernisierungsprogramm der USA

Marshallplan, OEEC und EZU

Die Montanunion (EGKS)

Der Boom der 50er und 60er Jahre

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)

3. Die Jahrzehnte der Neuorientierung: Verlangsamtes Wachstum, Globalisierung, Krise des Sozialstaates, Währungsunion

Wirtschaftliche Kennziffern der Jahre 1974 – 1990

Die Desintegration des internationalen Währungssystems und die Einrichtung des EWS

Neoliberalismus und Globalisierung

Der Weg zur Währungsunion (Vertrag von Maastricht)

Erosion und Zusammenbruch des Ostblocks

V. Rück- und Ausblick: Europa um die Jahrtausendwende

Statistischer Anhang

Auswahlbibliographie

Sach- und Personenregister

Geschichte kompakt

In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch)

Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.

Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.

Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissenstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.

Kai Brodersen

Martin Kintzinger

Uwe Puschner

Volker Reinhardt

Einleitung

Wer die Grundlinien der wirtschaftlichen Entwicklung Europas nachzeichnen und erklären will, erzählt zunächst einmal (wie jeder Historiker) eine Geschichte. Geschichten lassen sich auf unterschiedliche Arten erzählen. Der Autor sollte daher offenlegen, wie er seine Geschichte zu erzählen gedenkt, welches Modell ihr zugrunde liegt, kurz: unter welchen Voraussetzungen sie gültig ist. Er sollte – auch im Rahmen dieses knappen Überblicks – auf kontroverse Interpretationen und konkurrierende Deutungsangebote hinweisen. Nur dann ist der Leser in der Lage, den Erzählgang kritisch zu begleiten, ihn teilweise oder gegebenenfalls auch ganz zu verwerfen.

Kommen wir zunächst zu dem, was unstrittig ist: Um das Jahr 1000 war Europa wirtschaftlich und kulturell gegenüber anderen Kulturräumen und Regionen der Welt wie China oder dem islamischen Bereich weit zurückgeblieben. 900 Jahre später beherrschte es wirtschaftlich und politisch große Teile der Welt, war Europa das Zentrum der Weltwirtschaft. Um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend lag das westeuropäische Durchschnittseinkommen nach den Berechnungen Maddisons deutlich unter demjenigen der anderen Hochkulturen. 1820 lag das westeuropäische Einkommen doppelt so hoch wie das chinesische, 1973 um das Vierzehnfache darüber.

In Europa, genauer gesagt in Großbritannien, gelang mit der sog. Industriellen Revolution seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zuerst der Durchbruch zu einer neuen Wirtschaftsweise, die etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einer stark angewachsenen Bevölkerung erstmals ein Leben ohne Hunger ermöglichte. Von hier aus breitete sich der industrielle Kapitalismus zunächst über Europa und dann über die Welt aus. Der Prozess hält im Zeichen der Globalisierung bis heute an.

Vielfältige Faktoren hat man herangezogen, um den jahrhundertelangen Prozess wirtschaftlichen Aufstiegs (das sog. Wunder Europa) verständlich zu machen. Die naturräumlichen Charakteristika, aber auch das Klima wurden dabei ebenso bemüht wie Besonderheiten der europäischen politischen und gesellschaftlichen Struktur, die Herausbildung wachstumsfördernder Institutionen und Mentalitäten oder auch schlicht die Ausbeutung peripherer Räume durch politische und militärische Machtausübung. Einigkeit über die jeweilige Bedeutung dieser Faktoren besteht keineswegs.

Die Uneinigkeit beginnt schon bei der Frage, wann denn die great divergence stattfand, mit anderen Worten: ab wann Europa begann, in seiner wirtschaftlichen Entwicklung andere Großregionen der Welt, etwa China, zu überholen. Die meisten Autoren setzen die entscheidende Zäsur bereits in das Spätmittelalter. Andere Autoren sehen China, aber auch Bengalen noch Ende des 18. Jahrhunderts als die reichsten Regionen der Erde an. Erst danach seien diese Länder durch das Vordringen der Europäer und den Ruin ihrer Wirtschaft zurückgefallen. Für den unbefangenen Leser, der an akkurate Statistiken und ausgefeilte volkswirtschaftliche Gesamtrechungen gewöhnt ist, sind derartig grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten nur schwer verständlich. Zu bedenken ist aber, dass sich der größte Teil des langsamen Aufstiegs der Europäer im vorstatistischen Zeitalter vollzieht. Das öffnet unterschiedlichen, gelegentlich ideologischen Interpretationen Tür und Tor.

Keineswegs soll es in diesem Buch darum gehen, eine legitimatorische oder identitätsbildende „Vorgeschichte“ der Europäischen Union aus wirtschaftshistorischer Perspektive zu schreiben. Das Thema ist bei allem denkbaren Stolz auf die wissenschaftlichen und technischen Leistungen Europas dafür auch wenig geeignet: Der Aufstieg Europas verlief nicht linear, er erfuhr immer wieder Rückschläge und hatte auch seine dunklen Seiten, die nicht verschwiegen werden dürfen (man denke nur an die auch wirtschaftlich bedeutsamen Kreuzzüge, den Sklavenhandel der Frühen Neuzeit oder den neuzeitlichen Kolonialismus und Imperialismus).

Dies vorausgeschickt, ist vor allem zu definieren, was hier unter „Europa“ verstanden werden soll. Die Grenzen Europas sind (wie schon der Blick auf die gegenwärtige Diskussion um die Grenzen der EU zeigt), keineswegs eindeutig zu bestimmen. Die Frage, welche Regionen dazugehören, welche nicht, ist zudem in verschiedenen historischen Zeiträumen unterschiedlich zu beantworten. Im Rahmen dieser Überblicksdarstellung auf knappstem Raum kann ohnehin keine flächendeckende Vollständigkeit angestrebt werden (dafür sind mehrbändige Handbücher zuständig). Da der wirtschaftliche Aufstieg Europas und seine Bedingungsfaktoren im Mittelpunkt stehen sollen, gilt es den Blick auf die im Zeitverlauf wechselnden innovativen Zentren der europäischen Wirtschaft zu richten und nach den dort jeweils herrschenden Bedingungen zu fragen. Die semiperipheren oder peripheren Regionen Europas geraten dabei in erster Linie unter der Fragestellung in den Blick, wie sie sich dem jeweiligen Zentrum zuordnen und wie sie integriert sind in die sich ausdehnenden Märkte. Kurz: der geographische Fokus der Darstellung wechselt im Zeitverlauf. So stehen z.B. Venedig und die Hanse bei der Betrachtung der hoch- und spätmittelalterlichen Wirtschaft (Kap. I.3.–4.) im Vordergrund, Portugal, Spanien und die Niederlande im Zeitalter der Kolonialexpansion (Kap. II.1.–2.) und England als Mutterland der Industriellen Revolution in Kap. III.1. Während die Industrialisierung des europäischen Kontinents (Kap. III.2.) im nationalwirtschaftlichen Rahmen behandelt wird, um die unterschiedlichen Industrialisierungspfade zu verdeutlichen, sind die das 20. Jahrhundert behandelnden Kap. IV. und V. stärker aus einer gesamteuropäischen Perspektive geschrieben. Dies ist nicht nur pragmatisch aus Platzgründen geboten, sondern auch Ausdruck des Zusammenwachsens der europäischen Wirtschaft.

Ausbruch aus der malthusianischen Falle

Der Aufstieg Europas begann nicht erst mit der Industriellen Revolution. Über Jahrhunderte wuchsen im Schoße der traditionellen Agrargesellschaft die vielfältigen materiellen und immateriellen Voraussetzungen heran, die Europa seit dem 18. Jahrhundert den Ausbruch aus der malthusianischen Falle ermöglichten. So beruhte die Industrielle Revolution in Großbritannien auf der Grundlage eines seit längerem in Gang gekommenen vorindustriellen Wachstums. Den vielfältigen Neuerungen im agrarischen, gewerblichen und kommerziellen Bereich während der Frühen Neuzeit (16.–18. Jh.) wird daher in den Kap. II.3.–5. besondere Aufmerksamkeit zuteil.

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Malthusianische Falle

Der Begriff der malthusianischen Falle bezieht sich auf die Bevölkerungstheorie des englischen Sozialforschers Robert Malthus (1766–1834). In seiner Schrift „An Essay on the Principle of Population“ (1798) führte er das Elend seiner Zeit auf das starke Anwachsen der englischen Bevölkerung zurück und stellte damit als Erster einen Bezug zwischen Demographie und Ökonomie her. Während die Bevölkerung in geometrischer Progression (1,2,4,8,16 …) anwachse, nehme die Nahrungsmittelmenge infolge des abnehmenden Bodenertrags nur in arithmetischer Reihe (1,2,3,4,5 …) zu. In unregelmäßiger Folge komme es daher immer wieder zu existenzbedrohenden Krisen, Hungersnöten, Seuchen oder ähnlichen Katastrophen (positive checks). Die malthusianische Bevölkerungstheorie ist statisch und sieht eine dynamische Steigerung der ökonomischen Produktivität, wie sie im 19. Jahrhundert mit der Anwendung der modernen Technik und der künstlichen Düngung erfolgte, nicht vor. Sie hat insoweit nur Gültigkeit für eine statische Agrargesellschaft ohne nennenswerte Produktivitätsfortschritte.

Bedeutung der Institutionen

Unter Entwicklung wird hier ein langfristiger und komplexer Prozess wirtschaftlichen und sozialen Wandels verstanden. Er findet seinen Ausdruck in einer zunehmenden Ökonomisierung der Ressourcenverwendung, etwa durch fortschreitende Arbeitsteilung, Überwindung von Handelshemmnissen, zunehmende Marktausdehnung und -integration. Sein Ergebnis besteht in der Regel in wirtschaftlichem Wachstum, das durch den vermehrten Input der Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital und die Produktivitätssteigerung dieser Faktoren zustande kommt. Nach der Neuen Wachstumstheorie kommt dabei der Innovationstätigkeit und den Investitionen sowie dem technischen Fortschritt eine besondere Bedeutung zu. Für den produktiven Einsatz der materiellen Kapitalgüter sind die immateriellen Güter wie Wissen, Ideen, Risikobereitschaft und die Institutionen im weitesten Sinne von großem Belang.

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Institutionen

Institutionen sind die formalen oder informellen Begrenzungen und Spielregeln, die das politische, wirtschaftliche und soziale Handeln der Menschen regulieren. Zu den formalen Institutionen zählen Verfassungen, Gesetze und Eigentumsrechte, zu den informellen gehören Sitten, Tabus, Sanktionen, kulturelle Traditionen, Wertorientierungen und Weltbilder.

Den formalen wie informellen Institutionen ist daher bei der Analyse des wirtschaftlichen Aufstiegs Europas ebenso Beachtung zu schenken wie etwa der Ausdehnung der materiellen Inputs durch Vermehrung des bewirtschafteten Landes oder der demographisch bedingten Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials.

I. Die europäische Wirtschaft im Mittelalter

1. Der wirtschaftliche Niedergang im frühen Mittelalter

Die Auflösung des Imperium Romanum

Das Imperium Romanum beherrschte auf dem Höhepunkt seiner Macht im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert ein Gebiet von der schottischen Grenze bis nach Ägypten. Da im gesamten Römischen Reich die gleichen Gesetze und die Pax Romana galten und der Urbanisierungsgrad mit 5% der Bevölkerung relativ hoch war, wurden Handel und Gewerbe begünstigt. Aus Alexandria und Karthago gelangten Schiffsladungen mit Getreide nach Italien. Auf dem Landwege über Antiochia oder dem Seewege durch das Rote Meer kamen Seide und Gewürze in den Mittelmeerraum. Als römische Bürger hatten Griechen, Syrer und Juden im 1. Jahrhundert gelernt, die Monsunwinde für einen direkten Handel mit dem westlichen Indien zu nutzen. Die Höhe der materiellen Kultur der großen Römerstädte mit ihren Aquädukten, Amphitheatern, Bädern, Tempeln und Bibliotheken ist allgemein bekannt.

Niedergang des Römischen Reiches

Das Römische Reich beruhte letztlich auf militärischer Kontrolle, Plünderung und Versklavung. Entscheidend für seine Existenz war die Fähigkeit, Steuern und Tribute einzutreiben. In zunehmendem Maße war die römische Militärmaschine auf Soldaten der „Barbaren“ angewiesen. Bald aber konnte die westliche Reichshälfte die Gelder für die germanischen Bundesgenossen nicht mehr eintreiben, da sich die großen Grundbesitzer der Steuerzahlung verweigerten. Der wirtschaftliche Schwerpunkt des Römischen Reiches lag schon seit dem 4. Jahrhundert in der östlichen Reichshälfte. Byzanz beherrschte den Karawanenhandel mit dem Osten und verfügte über die einträglichen Bergwerke Makedoniens.

Steuerdruck und Kriegsnöte ruinierten das gewerbliche Bürgertum in den Städten. Mit dem Verfall der kaiserlichen Macht im 5. Jahrhundert wurde es üblich, dass die großen Grundherren ihre Klienten und Sklaven eigenmächtig bewaffneten, um so ihre Güter zu beschützen, aber auch höchst eigennützige Ziele ohne Rücksicht auf den Staat zu verfolgen. Immer mehr Bauern wählten den Weg in die Unfreiheit, indem sie sich den großen Herren unterstellten. Daraus ging die mittelalterliche Hörigkeit hervor.

Im 5. Jahrhundert löste sich der westliche Teil des Römischen Reiches auf. Gallien, Spanien, Nordafrika und der größte Teil Italiens wurden eine Beute der Germanenstämme.

Zwar gelang dem oströmischen Kaiser Justinian (527–565) noch einmal für kurze Zeit die Rückeroberung von Italien, Spanien und Nordafrika, doch die arabische Expansion in Ägypten, Nordafrika, Spanien, Sizilien, Syrien und Palästina zwischen 640 und 800 setzte diesem Intermezzo ein Ende. Lediglich das byzantinische Ostreich konnte den zivilisatorischen Standard des einstigen römischen Weltreiches bewahren. Im Westteil löste sich die Zentralgewalt auf, und an ihre Stelle trat eine Vielzahl instabiler politischer Einheiten. In dieser Welt spielten Klöster und Herrensitze die Hauptrolle, die nur für ihren eigenen Bedarf Güter produzierten. Der Adel gewann seit dem 7. Jahrhundert im Merowingerreich gegenüber dem Königtum an Macht, und das Reich zerfiel mehr und mehr in Adelsherrschaften, die oft einen beträchtlichen Umfang erreichten.

Binnenverkehr und Geldwesen erlebten einen Niedergang. Viele alte Römerstädte verfielen. Besonders schwer von der Völkerwanderung betroffen waren die römischen Städte an Rhein und Donau, während die Städte in Gallien und im Mittelmeergebiet weniger unter Krieg und Eroberung litten. Überall aber setzten sich die seit dem 3. Jahrhundert erkennbare Schrumpfung der Städte und der Verfall ihrer Wirtschaft und Steuerkraft aus merowingischer Zeit (6. und 7. Jh.) fort. In den Gebieten zusammenhängender germanischer Siedlung kam es zu einem Verschwinden des römischen Städtewesens, in Gebieten mit vorwiegend romanischer Bevölkerung überlebten sie als Festungen oder Bischofssitze, verloren aber auch hier ihre Eigenschaft als Selbstverwaltungskörperschaften.

Fernhandel im frühen Mittelalter

Fernhandel kommt nicht vollständig zum Erliegen

Auch nach der Auflösung des weströmischen Reiches kam der Fernhandel nicht vollständig zum Erliegen. Die reichen Kunden wie Könige, hohe Adlige und Klöster beauftragten sog. Palast- oder Abteikaufleute mit der Heranschaffung der begehrten orientalischen Luxusgüter wie Seidenwaren und Spezereien (Gewürze, Gewürzwaren). Unter den Händlern und Kaufleuten spielten im 6. Jahrhundert zunächst die „Syrer“ (eine Bezeichnung, die möglicherweise auch andere christliche Völker des Nahen Ostens wie Armenier und Kopten umfasste) sowie Juden die beherrschende Rolle. Sie waren es, die die begehrten Erzeugnisse Indiens und Chinas über die Levante nach Europa brachten.

Der arabische Vorstoß ins Mittelmeer und der jahrhundertelange Streit zwischen Byzanz und dem Islam seit dem 7. Jahrhundert beeinträchtigten den Ost-West-Handel schwer. Da Byzanz die syrische und ägyptische Küste blockierte, konnten die begehrten Produkte des Orients wie Gewürze, Heilpflanzen, Farbstoffe, Edelsteine und Seide nur noch über die Hauptstadt des oströmischen Reiches ins Abendland gelangen. Für ihren Vertrieb nach Europa spielten die als Kommissionäre oder Staatsmonopolisten tätigen Juden eine zentrale Rolle, da sie über gute Marktkenntnisse und Verbindungen verfügten. Seit dem Ausgang des 7. Jahrhunderts lösten sie die Syrer als führende Fernhändler ab und konnten ihre Stellung in den Städten Galliens und des Rheinlandes bis ins 11. Jahrhundert behaupten.

Eine neue Lage im Fernosthandel ergab sich im 8. Jahrhundert, als die Chasaren, ein Volk umstrittener Herkunft, nördlich des Kaspischen Meeres zwischen unterer Wolga und Don ihr Reich gründeten, das den Landweg nach Indien und China öffnete. Von Cherson, dem bedeutendsten Hafen an der nördlichen Küste des Schwarzen Meeres, gelangten die orientalischen Luxusprodukte nach Byzanz und in die Provinzen des oströmischen Reiches.

Aufstieg der italienischen Städte kündigt sich an

Von diesem Warenstrom profitierten auch die politisch zu Byzanz gehörigen Städte an der Süd- und Ostküste Italiens, die sich so in dieser schwierigen Zeit ein gewisses Maß an kommerzieller Bedeutung bewahren konnten. Die Kaufleute von Ravenna bspw. versorgten den langobardischen Königshof in Pavia mit Salz und Orientwaren, und seit dem 9. Jahrhundert machte sich bereits die zukünftige Herrscherin der Weltwirtschaft, der damals neu gegründete Handelsplatz Venedig, bemerkbar. Venedig baute seine erste Flotte und begann mit der Erschließung der Märkte des Binnenlandes. Mit dem Bau eigener Flotten durchbrachen Venedig, Bari, Amalfi, Neapel und andere italienische Städte das Monopol der byzantinischen Handelsschifffahrt. Trotz des kaiserlichen Verbotes unterhielten sie Handelsbeziehungen zu den Arabern in Ägypten und Nordafrika.

Kaum Bedeutung besaß der Außenhandel dagegen im fränkischen Reich – der Westen hatte im Austausch mit dem Osten wenig zu bieten. Die wichtigste Rolle spielten Sklaven. Dabei handelte es sich z.B. um Leute, die bei den Auseinandersetzungen zwischen Angelsachsen und Kelten in England gefangen genommen worden waren, oder um Slawen, auf die zuweilen regelrecht Jagd gemacht wurde. Für die byzantinischen Städte in Italien (darunter Venedig) spielte der Handel mit Sklaven aus Dalmatien eine wichtige Rolle.

autarke Höfewirtschaft und Tauschhandel im Westen

Da der Westen unfähig war, Güter herzustellen, die im Osten absetzbar waren, aber selbst orientalische Luxuswaren einführte, besaß er im 7. Jahrhundert kein Gold mehr und musste sein Münzwesen auf das Silber aus zentralfranzösischen und deutschen Minen umstellen. Lediglich Byzanz und die Araber konnten in den nächsten vier Jahrhunderten bei der Goldwährung bleiben – ein deutliches Zeichen ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit über die agrarische Produktions- und Lebensweise des Abendlandes. Der Westen hingegen ging allmählich zu einer autarken Höfewirtschaft und zum Tauschhandel über.

Während der Handel mit dem Mittelmeerraum unter der Ausbreitung des Islams litt, fand seit dem 7. Jahrhundert eine für die Zukunft entscheidende Neuorientierung der europäischen Handelswege statt. Dabei zeichnete sich bereits die zukünftige Hauptachse der europäischen Wirtschaft ab. So ist seit dieser Zeit archäologisch ein lebhafterer Handelsverkehr von Italien über das Rheintal zur Nordsee und weiter nach England und Skandinavien nachgewiesen. Insbesondere der Nordosten des Frankenreiches, das Gebiet um Rhein, Maas und Schelde, wurde zu einem neuen wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum. Fränkische Gläser und Wollstoffe wurden in herrschaftlichen Gräbern Schwedens aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts gefunden und belegen die wirtschaftliche Ausstrahlungskraft dieser Region, die über den Rhein bzw. die Rhone zugleich auch mit dem Mittelmeer verbunden war. Zurückzuführen war diese Entwicklung auf die Absperrung der alten ostmitteleuropäischen Handelswege durch die Slawen und das Reich der Awaren in Ungarn sowie auf die Wiederöffnung der Alpenpässe durch das konsolidierte Langobardenreich in Italien.

friesische Wanderkaufleute

Vor allem in den Niederlanden verbreitete sich in karolingischer Zeit das germanische Wanderkaufmannstum. Diese Kaufleute, zunächst Angelsachsen, dann seit dem 7. Jahrhundert auch die Friesen, zogen umher und trafen sich zu bestimmten Terminen auf auswärtigen Märkten, um ihre Waren zu tauschen. In einer feudalen Welt stellten sie ein dynamisches freies Element dar. Ihre Niederlassungen wie Dorestad, Utrecht, Maastricht, Namur, Valenciennes, Tournai, Gent, Antwerpen, Brügge usw. werden seit dem 9. Jahrhundert urkundlich erwähnt. Viele Städte an Rhein, Maas und Schelde hatten Friesenviertel, die von der Bedeutung dieses Handels zeugten. Seit dem 7. Jahrhundert erschloss sich der friesische Handel Skandinavien. Der alte Handelsweg verlief von der Rheinmündung über den an der Schlei in Schleswig-Holstein gelegenen Knotenpunkt Haithabu zum schwedischen Mälarsee.

Die friesischen Kaufleute handelten mit Tuch, das von so guter Qualität war, dass Karl der Große und seine Höflinge es für ihre Bekleidung verwendeten und der Kaiser eine Partie dieses kostbaren Gewebes an den berühmten Kalifen Harun-al-Raschid verschenkte. Friesisches Tuch, wahrscheinlich in Flandern hergestellt, fand seinen Absatz bis ins Elsass und nach Skandinavien.

Die Wikingereinfälle des 9. und 10. Jahrhunderts brachten Erschütterungen mit sich, die Westeuropa zivilisatorisch auf den Stand der vorrömischen Zeit zurückwarfen. Die Normannen ersetzten das nordeuropäische Handels- und Verkehrssystem der Friesen durch ein skandinavisches. Die Hauptlinien dieses Handelssystems umgingen das fränkische Reich. Die wichtigsten Verbindungen liefen nunmehr an den russischen Strömen entlang zum Vorderen Orient.

Landwirtschaft im frühen Mittelalter

Ausbreitung der Grundherrschaft

Mit der Auflösung des westlichen Teils des Imperium Romanum hatte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt in die sich selbst versorgende Landwirtschaft verschoben. Die mittelalterliche Wirtschaft und Gesellschaft bauten auf der Landwirtschaft und dem Besitz an Grund und Boden auf. Die Landwirtschaft war die Grundlage des (relativen) Reichtums, der Macht und der sozialen Stellung der maßgebenden Aristokratie.

Im nordöstlichen Teil des Frankenreiches und seinen Nachbarländern entwickelte sich im 7. und 8. Jahrhundert die Grundherrschaft zur dominierenden Wirtschaftsform.

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Grundherrschaft

Bei der Grundherrschaft ließ der Herr nur einen kleinen Teil seines Landes, das sog. Salland, durch seine Haushaltssklaven selbst bearbeiten. Der Hauptteil wurde von seinen in eigenen Hütten wohnenden Hörigen bearbeitet, die für die Landnutzung Abgaben an ihren Herrn zu leisten hatten. Das Betriebssystem der Grundherrschaft setzte eine planmäßige Kooperation der beteiligten Menschen voraus. Bedingung dafür war ein mäßig feuchtes Klima, das eine ganzjährige Viehhaltung im Freien ermöglichte, und ein Boden, der sich zum Getreideanbau eignete. Notwendig war ferner das Vorhandensein von Wald oder Ödland als Viehweide, da der Boden nur durch tierische Exkremente oder Düngung mit Plaggen (einem mit der Hacke aus der obersten Schicht der Heide- und Moorböden abgehauenen Stück) fruchtbar erhalten werden konnte.

Dieses System des Feudalismus ließ der dörflichen Selbstverwaltung beträchtlichen Raum. Die Gemeinde regelte die Organisation der Produktion (Flurzwang) oder die Nutzung der Allmende, d.h. des gemeinsam genutzten Teils der Flur.

Die militärtechnische Entwicklung kam der Ausbreitung der Grundherrschaft entgegen. Die Eroberungen der Araber in Europa beruhten u.a. auf der Verwendung des Steigbügels in ihrer schnellen Kavallerie. Seit der Karolingerzeit wurde der Steigbügel im Westen übernommen, allgemein aber erst im 12. Jahrhundert verbreitet. Der Steigbügel garantierte den festen Halt des Reiters und ermöglichte es diesem, eine lange Lanze mit großer Stoßkraft zu führen. Dagegen schützte man sich mit schweren eisernen Rüstungen. In den sich über 30 Jahre erstreckenden Eroberungskriegen Karls des Großen erfuhr das fränkische Heerwesen eine grundlegende Umgestaltung: An die Stelle des aus den freien und wehrfähigen Männern des Volkes bestehenden Heeres traten die Reitertruppen mit Land belehnter und schwer bewaffneter Grundbesitzer, deren Stellung in der Gesellschaft damit immer bedeutsamer wurde.

Um den drückenden Kriegs- und Gerichtspflichten zu entkommen, suchten sich viele ehemals Freie einen Beschützer. Gegen entsprechende Dienste und Abgaben sowie Einräumung eines Obereigentums am Grundbesitz des Bauern übernahm der Grundherr diese Pflichten seiner Hintersassen. Die Ausübung der Herrenrechte geschah in Form der Grundherrschaft. Der Herr schlichtete die Streitigkeiten seiner Hintersassen untereinander, vertrat ihre Forderungen nach außen und schützte sie gegen solche von außen. Daraus entwickelte sich die Gerichtsbarkeit des Grundherrn über seine Hörigen.

Im militärisch unruhigen 9. Jahrhundert machte die Ausbreitung der Grundherrschaft große Fortschritte. Mit Ausnahme einiger Gebiete an der Nordseeküste, in den Alpen und vereinzelt in Niedersachsen und Westfalen verloren die Bauern ihre alte Freiheit und wurden einem weltlichen oder kirchlichen Grundherrn hörig.

Die Grundherrschaft sicherte den nordöstlichen Gebieten des Frankenreichs einen größeren agrarischen Ertrag und war damit auch die Grundlage für das dort entstehende rasche Bevölkerungswachstum, das dasjenige der übrigen Länder der damaligen Welt übertraf. Im Bereich der Grundherrschaft lebten vom 8. Jahrhundert an wahrscheinlich mehr Menschen als im ganzen übrigen Europa. Unter den Karolingern bildeten diese Regionen das wirtschaftliche und politische Herz Europas.

Nicht überall in Europa verbreitete sich allerdings die Grundherrschaft. In Skandinavien hielten sich die Genossenschaften freien Bauerntums. In den slawischen Gebieten Osteuropas standen die geringe Dichte der Bevölkerung und die nomadische Herkunft der awarischen oder ungarischen Herrenschicht dieser Betriebsweise entgegen. In den Mittelmeerländern war wegen der ungünstigen Verteilung von sommerlicher Dürre und Regenzeit, die die Errichtung von Terrassen oder Wasserhaltungsanlagen bedingte, der bäuerliche Betrieb mit Hakenpflug und Esel sowie freiem römischen Eigentumsrecht die am besten geeignete Betriebsform. In der Viehzucht lagen Sommer- und Winterweide oft weit auseinander und hatten großräumige Viehtrecks (Transhumanz) zur Folge.

geringe Produktivität der frühmittelalterlichen Landwirtschaft

Die Produktivität der frühmittelalterlichen Landwirtschaft litt nicht nur unter dem Fehlen geeigneter Bearbeitungsgeräte, sondern ebenso unter dem Mangel an Dünger. So behalf man sich damit, dass man von den Bauern Abgaben in Form von Mist erhob oder sie verpflichtete, ihr Vieh eine bestimmte Anzahl von Tagen auf die Ländereien des Grundherrn zu treiben. Als Dünger dienten neben tierischen Exkrementen verbranntes Gras, Stroh oder Asche von verbranntem Strauchwerk, Kalk, Mergel und Torf. Unter diesen Voraussetzungen erreichten die Erträge der Getreidearten in der Karolingerzeit nicht einmal das Doppelte der Aussaat.

Bei den Slawen und Germanen waren im frühen Mittelalter vor allem die Feldgraswirtschaft und die uralte Einfeldwirtschaft verbreitet, die nur minimale Erträge brachten. Bei der Einfeldwirtschaft wurde durch Rodung Ackerland gewonnen, das man dann ein Jahr oder länger bebaute, solange es Erträge gab und dann brachliegen ließ, um andere Ländereien unter den Pflug zu nehmen, bis sich der Zyklus nach einigen Jahren wiederholte. Der beste Boden in der Nähe der Siedlungen wurde durchgehend bearbeitet. In den östlichen Niederlanden und in Nordwestdeutschland baute man darauf jahrein jahraus Roggen an.

Allmählich begann sich die Dreifelderwirtschaft durchzusetzen (der älteste urkundliche Nachweis fällt bereits in das Jahr 763). Dabei wurde abwechselnd 1/3 des Bodens mit Wintersaat und 1/3 mit Sommersaat bebaut, während 1/3 brachlag, um sich zu erholen.

Die adligen und klösterlichen Grundherrschaften organisierten im 8. und 9. Jahrhundert ausgedehnte Rodungsarbeiten in Waldgebieten, die sie aus Reichsgut oder der Allmende erhalten hatten. Es kam zu zahlreichen neuen Siedlungen, einer Ausweitung der Anbaufläche und in letzter Konsequenz zu einer starken Zunahme der Bevölkerung.

Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, die Schaffung eines auf dem Markte handelbaren Mehrproduktes, war die unabdingbare Voraussetzung für die Ausweitung des handwerklich-gewerblichen Produktionsbereiches und für zunehmende wirtschaftliche Arbeitsteilung mit den damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsgewinnen.

Im frühen Mittelalter aber war der Ertrag des Bodens noch so gering, dass die Menschen in der Karolingerzeit bei jeder Missernte von einer Hungersnot, nicht selten sogar vom Tod bedroht waren. Immer wieder ist in den karolingischen Annalen von Hungersnöten und Epidemien die Rede, denen die schlecht ernährten Menschen in Massen zum Opfer fielen.

Auf Landgütern der Karolinger in Nordfrankreich betrugen die durchschnittlichen Erträge im Jahre 810 bei Weizen das 2,7-Fache der Aussaat, bei Roggen das 2,6-Fache und bei Gerste das 2,8-Fache. Dabei ist zu bedenken, dass der Bauer zur neuerlichen Aussaat jedes Jahr die gleiche Menge Saatgut zurückhalten musste, die er im vorangegangenen Jahr eingesetzt hatte. Die Ertragszahlen müssen also noch um eine Einheit vermindert werden (d.h. sie betrugen beim Roggen lediglich das 1,6-Fache der Aussaat!). Von dieser geringen Erntemenge musste nicht nur die Familie des Bauern ernährt, sondern noch Zins, Pacht und der Zehnte an den Grundherrn entrichtet werden. Bei der Dreifelderwirtschaft standen jedes Jahr lediglich 2/3 der Fläche zum Anbau zur Verfügung, und von den darauf erwirtschafteten Überschüssen musste auch noch die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung ernährt werden. Die Steigerung der Agrarproduktion war unter diesen Bedingungen der Schlüssel für gesellschaftliche Spezialisierung und das Ingangsetzen von wirtschaftlichem Wachstum.

Die geringen Erträge des Bodens waren vor allem auf die mangelnde Düngung und das unzureichende Bearbeitungswerkzeug zurückzuführen. Vielfach wurde noch der antike Hakenpflug (aratrum), im Wesentlichen ein von zwei Ochsen gezogener Stock, verwendet. Dieser konnte zwar von jedem Bauern leicht selbst hergestellt werden, war aber eigentlich nur für die lockeren Böden des Mittelmeergebietes geeignet. Der Boden musste deshalb alle paar Jahre noch zusätzlich mit der Schaufel bearbeitet werden. Der eigentliche Pflug dagegen, der schwere sächsische Räderpflug, war auch für die schweren Böden des nordwestlichen Europa geeignet. Er hatte ein Messer (das sog. Sech), das die Grasnarbe aufriss, und ein Streichbrett, das die Erde wendete und gleichzeitig zerkrümelte. Der Räderpflug scheint von den eindringenden Germanen in die römische Welt gelangt zu sein. Spätestens im 8. oder 9. Jahrhundert drang er auch in Mittel- und Osteuropa vor.

Ob in der Karolingerzeit auch in West- und Mitteleuropa schon echte Pflüge in Gebrauch waren, ist in der Wissenschaft umstritten. Eiserne Pflüge waren aber zunächst schon deshalb nicht die Regel, weil die Kultur der Karolinger vor allem auf der Verwendung und Bearbeitung des Holzes beruhte.