Das Buch
Hans Neuenfels sorgte mit seinen Arbeiten für stürmische Auseinandersetzungen, die ihn über die Theaterwelt hinaus weit bekannt machten. Mit seinen letzten Texten gibt er einen persönlichen Einblick in sein Leben und Wirken.
Ehrlich und schonungslos – vor allem sich selbst gegenüber – beschreibt der provokante Theater- und Opernregisseur, Intendant und Schriftsteller das Leben mit einer chronischen Krankheit. Für das Buch hat seine lebenslange Freundin Elke Heidenreich einen Nachruf verfasst.
Der Autor
HANS NEUENFELS war einer der erfolgreichsten Theater- und Opernregisseure Deutschlands. Geboren 1941 in Krefeld, studierte Neuenfels Schauspiel und Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Ein Jahr lang war er Assistent des Malers Max Ernst, mit dem er in Paris lebte, bevor seine Karriere als Regisseur am Theater am Naschmarkt in Wien begann. 1965 wurde er dort Chefdramaturg, in den 1970ern erzeugte er mit seiner Inszenierung von Verdis Aida ein Publikumsecho, das weit über die Theaterwelt hinaus nachhallte. Neuenfels’ Inszenierungen waren stets getrieben von dem Anspruch, sich auf der Bühne mit Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen – ein Umstand, der oft für Furore sorgte. Hans Neuenfels galt als künstlerischer Grenzgänger, der neben seiner Arbeit als Theater- und Opernregisseur auch schriftstellerisch tätig war. 1991 veröffentlichte er seinen ersten Roman Isaakaros, 2011 das autobiografische Werk Das Bastardbuch. Hans Neuenfels war mit der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar verheiratet, ihr gemeinsamer Sohn Benedict Neuenfels ist international als Director of Photography tätig. Das Paar lebte zuletzt gemeinsam in Berlin.
HANS NEUENFELS
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LETZTE TEXTE
MIT EINEM NACHRUF VON
ELKE HEIDENREICH
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www.eisele-verlag.de
ISBN 978-3-96161-148-5
© 2022 Julia Eisele Verlags GmbH, München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Autorenfoto: © Oliver Mark
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für Elisabeth, Benedict
und Emil
VORWORT
Die Rosen, sie blühn und verwehen,
Wir werden das Christkindlein sehen!
(Aus: »Die Schneekönigin«
von Hans Christian Andersen)
Ich mochte etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Das Fieber nach der Mandelentzündung war gesunken, und ich begann wieder zu lesen. Die Geschichte handelte von einem Jungen, der Kay hieß, und einem Mädchen namens Gerda. Das Märchen war in sieben Geschichten eingeteilt und nicht leicht für mich zu verstehen, aber bereits in der zweiten Geschichte tauchte der Reim auf, den ich als Titel zitiere, und er elektrisierte mich dermaßen, dass ich weiter und weiter las in der ständigen Hoffnung, wieder auf ihn zu treffen.
Ich rief meine Mutter an und trug ihr den Reim vor.
»Nun ja«, sagte sie, »es klingt ganz einfach und ist doch verwirrend. Was haben die Rosen mit dem Christkind zu tun?«
»Das ist der Klang, Mama«, erwiderte ich. »Du musst auf den Klang hören. Er verbindet das Unwahrscheinliche. Das ist Musik.« Ich schloss die Augen und sprach die zwei Zeilen mit erhobener Stimme, wobei ich die letzten Worte verwehen und sehen etwas übertrieben zerdehnte.
»Wir müssen sofort Fieber messen«, meinte meine Mutter besorgt und schien noch besorgter, als meine Temperatur kaum erhöht war.
Ich musste lange auf die Wiederkehr des Reims warten, denn das Märchen schildert den mühsamen Weg Gerdas und Kays von der Kindheit bis zu ihrem Erwachsenwerden, und wir wissen alle, wie verästelt die Wege dorthin sind, von Disteln und Sümpfen durchsetzt, von Raben und Wölfen umlauert, und selten ist Hilfe da wie die des Räubermädchens, das Gerda ein Rentier schenkte, um mit seiner Unterstützung Kay zu suchen, der eines Tages verschwunden war und ohne den Gerda nicht glücklich wurde.
Am Ende des letzten, des siebten Kapitels, trifft sie ihn, und auch der Reim, die Musik erklingt wieder, und ganz am Schluss, als sie merken, dass sie endlich erwachsen geworden sind, sich gefunden haben, jeder sich und sie sich beide, da ertönt zum dritten Mal der Reim, und alles ist gut.
Das kann natürlich – wie alles, was lebt – nicht bleiben.
»Die Rosen, sie blühn und verwehen, Wir werden das Christkindlein sehen«, hörte ich mich einmal wütend-höhnisch nach einer katastrophal misslungenen Generalprobe eines Theaterstückes, das ich inszeniert hatte, schreien, und erst als alle mich anschauten wie meine Mutter dreißig Jahre zuvor, konnte ich in ein wieherndes Gelächter ausbrechen, was die eingefrorenen Mienen der Beteiligten aber auch nicht löste. Nie werden wir das Christkindlein sehen, nie und nimmermehr das, was ich mir gewünscht, erträumt hatte, dachte ich damals, wobei ich schon lange nicht mehr Andersens Christkindlein meinte, das endgültig 1956 während eines Gesprächs mit meinem Freund Wolfgang über Friedrich Nietzsche in der Nähe von Düsseldorf-Büderich im Rhein ertrunken war, sondern mir etwas erhoffte – und das ist auch nicht wenig und nicht geringzuschätzen –, das mehr verhieß als das Gegebene, das automatisch Vorhandene, das Selbstverständliche, das Angeordnete, das sogenannte Normale.
Wenn ich ganz ruhig bin oder ganz verzweifelt, spreche ich die Worte des Zweizeilers vor mich hin wie eine beschwörende Formel gegen das Gefühl der überwältigenden Vergeblichkeit, und manchmal gelingt es, sie in eine Melodie zu bringen. Irgendeine Art sei als Beispiel festgehalten:
Die Rosen, sie blühn und verwehen,
Wir werden das Christkindlein sehen,
Sie blühn und verwehen,
Sie blühn, sie blühn,
Wir werden, wir werden
Verwehen, verwehen,
Das Christkindlein sehen
Und Rosen und Rosen!
Als ich einen Freund besuchte, der im Sterben lag, starrte er lange an die Decke, ehe er mich fragte: »Hörst du die Musik?«
Ich hörte sie glücklicherweise noch nicht, erwiderte aber: »Selbstverständlich!«
Darauf meinte er beruhigt: »Ja, das ist der Rhythmus, bei dem man mit muss.«
Die Musik, die mir damals unmittelbar aus den Worten, durch die Worte hindurch, hinter den Worten hervor in den Kopf und in das Herz drangen, war wie ein anonymes Geschenk, das von weither kam wie die Märchen und Mythen. Vielleicht lagerte es schon in mir und wartete nur auf einen durchlässigen Augenblick, um sich anzubieten, und ich hatte Glück, dass Zeit und Zustand zusammentrafen. Die Komposition änderte sich im Laufe der Jahrzehnte beständig, aber was blieb, war, dem scheinbar Unfassbaren Ausdruck zu geben, der Überrumpelung Luft, der Überraschung Raum.
Ich habe niemals Noten dazu geschrieben. Das Einzigartige, ja, das Nachhaltige, war gerade das Flüchtige, das augenblicklich Verschwindende – der Empfindungsfetzen, dessen Melodie und Rhythmus nie vorher zu hören und zu spüren waren. Das Geheimnisvolle ließ mich eine winzige Szene jenes Schöpfungsaktes ahnen, um den die Komponisten, die Dichter, die Künstler wissen.
»Ich habe einmal eine heiße Nadel in das Wachs gestochen, mit dem das Schlüsselloch der Tür, die in den großen Saal der Verwandlungen führt, versiegelt ist«, sagte ich zu meiner Mutter. Da war sie fünfundachtzig und ich über fünfzig. Meine Mutter sorgte sich nicht mehr um meine Temperatur, sondern antwortete: »Du trinkst zu viel, mein Junge.«
»Erinnerst du dich noch«, überging ich ihren Einwand, »an den Reim: Die Rosen, sie blühn und verwehen, Wir werden das Christkindlein sehen?«
»Natürlich«, nickte sie lächelnd, »du hattest so hohes Fieber, dass du glaubtest, Musik zu hören. Schon damals kam ich aus der Sorge um dich nicht heraus.«
»Aber jetzt sitzen wir zusammen«, meinte ich fröhlich, und während ich mir ein neues Glas Wein einschenkte und meine Mutter still vor sich hin grübelte, sang ich, damit es vorerst todsicher und gut enden würde:
Die Rosen, sie blühn und verwehen,
Wir werden sehen, wir werden sehen.