Mit unendlicher Dankbarkeit den Lesern der Black Dagger und ein Hoch auf die Cellies – Ich fange gar nicht erst mit den Sofas an. So weit kann ich nicht zählen.
Ich danke euch so sehr: Karen Solem, Kara Cesare, Claire Zion, Kara Welsh.
Dank an euch, Dorine und Angie, dass ihr euch so gut um mich kümmert – und ich danke auch S-Byte und Ventrue für alles, was ihr aus der Güte eures Herzens tut!
Und wie immer Dank an meinen Exekutivausschuss: Sue Grafton, Dr. Jessica Andersen, Betsey Vaughan und meinen Partner. Und mit dem größten Respekt an die unvergleichliche Suzanne Brockmann.
DLB – rate mal: deine Mami liebt dich immer noch × × × NTM – wie immer in Liebe und Dankbarkeit. Wie du weißt.
Und ich muss sagen, nichts von all dem wäre möglich
ohne:
meinen liebenden Mann, der immer zu mir hält;
meine wunderbare Mutter, die für mich da ist, seit … na ja,
von Anfang an;
meine Familie (die blutsverwandte wie auch die frei ge-
wählte) ;
und meine liebsten Freunde.
Die Autorin
J. R. Ward begann bereits während ihres Studiums mit dem Schreiben. Nach ihrem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestseller-Listen eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als neuer Star der romantischen Mystery.
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»Das geht ja ü-ber-haupt nicht.«
Vishous blickte von seiner Computerwand auf. Butch O’Neal stand mitten im Wohnzimmer ihrer Höhle, an den Beinen eine schwarze Lederhose und auf dem Gesicht einen Ausdruck von Das-ist-jetzt-nicht-dein-Ernst.
»Passt sie dir nicht?«, fragte V seinen Mitbewohner.
»Darum geht es nicht. Nimm’s mir nicht übel, aber ich bewerbe mich doch nicht bei den Village People.« Butch hob die Arme und drehte sich im Kreis, die nackte Brust fing das Licht ein. »Ich meine, mal ehrlich …«
»Die sind zum Kämpfen da, nicht für den Laufsteg.«
»Das sind Kilts auch, aber trotzdem würde ich mich nicht mal tot im Schottenkaro erwischen lassen.«
»Das ist mit deinen O-Beinen auch besser so.«
Butch setzte eine gelangweilte Miene auf. »Beiß mich doch.«
Nichts dagegen, dachte V.
Gleichzeitig krümmte er sich innerlich und tastete nach seinem Tabaksbeutel. Während er ein Blättchen bereitlegte, den Tabak darauf ausbreitete und sich eine Kippe drehte, tat er, womit er generell ziemlich viel Zeit verbrachte: Er erinnerte sich selbst daran, dass Butch glücklich vereint mit der Liebe seines Lebens war, und dass er – selbst wenn das nicht zutreffen würde – einfach nicht so drauf war.
Als V sich die Zigarette anzündete, bemühte er sich, den Ex-Cop nicht anzusehen. Und scheiterte. Scheiß peripheres Sehvermögen. Brach ihm jedes Mal das Genick.
Mann, er war vielleicht ein perverser Freak. Besonders, wenn man bedachte, wie eng sie befreundet waren.
In den vergangenen neun Monaten war V Butch näher gekommen als irgendeinem anderen Wesen in seinen über dreihundert Jahren auf dieser Erde. Er hatte sich die Wohnung mit dem Kerl geteilt, sich mit ihm betrunken, mit ihm trainiert. War mit ihm durch Leben und Tod, Prophezeiung und Verdammnis gegangen. Hatte ihm geholfen, die Gesetze der Natur zu beugen, um ihn von einem Menschen zum Vampir zu wandeln, und ihn dann jedes Mal geheilt, wenn er seine Spezialnummer mit ihren Feinden abzog. Er hatte ihn für die Mitgliedschaft in der Bruderschaft vorgeschlagen … und neben ihm gestanden, als er den Bund mit seiner Shellan einging.
Während Butch auf und ab wanderte, als wollte er sich mit seiner Lederhose anfreunden, starrte V die sieben Buchstaben an, die in altenglischer Schrift über den Rücken des Ex-Cops verliefen: MARISSA. V hatte beide As geschrieben, und sie waren gut geworden, obwohl seine Hand die ganze Zeit gezitterte hatte.
»Hm«, murmelte Butch. »Ich weiß nicht, ob ich mit dem Ding klarkomme.«
Nach der Hochzeitszeremonie hatte V die Höhle für einen Tag geräumt, um dem glücklichen Paar etwas Privatsphäre zu gönnen. Er war über den Hof hinüber ins große Haus gegangen und hatte sich mit drei Flaschen Wodka in einem Gästezimmer eingeschlossen. Er hatte sich professionell betrunken, richtig knietief geflutet, hatte aber sein Ziel, sich ins Koma zu befördern, nicht erreicht. Die Wahrheit hatte ihn unbarmherzig wach gehalten: V fühlte sich zu seinem Mitbewohner auf eine Art hingezogen, die alles verkomplizierte und doch nichts änderte.
Butch wusste, was los war. Zum Henker, sie waren beste Kumpel, und er kannte V besser als irgendjemand sonst. Und Marissa wusste es, weil sie nicht dumm war. Und die Bruderschaft wusste es, weil diese albernen alten Waschweiber leider irgendwann hinter jedes Geheimnis kamen.
Keiner von ihnen hatte ein Problem damit.
Er schon. Er hasste diese Gefühle. Und sich selbst auch.
»Probierst du jetzt mal den Rest der Ausrüstung an?«, fragte er mit einem Seufzen. »Oder willst du lieber noch ein bisschen wegen der Hose heulen?«
»Wenn du nicht die Klappe hältst, zeig ich dir den bösen Finger.«
»Warum sollte ich dir eins deiner liebsten Hobbys verwehren? «
»Weil ich sonst bald eine Sehnenscheidenentzündung bekomme.« Butch ging zu einem der Sofas und nahm ein Brusthalfter in die Hand. Er streifte es über die breiten Schultern, das Leder passte sich dem Oberkörper perfekt an. »Scheiße, wie hast du es geschafft, dass der so gut sitzt?«
»Ich hab deine Maße genommen, schon vergessen?«
Butch schloss die Schnallen, dann beugte er sich herunter und strich mit den Fingerspitzen über den Deckel einer schwarzen Lackdose. Er verharrte bei dem goldenen Wappen der Black Dagger, dann fuhr er die Zeichen der Alten Sprache nach, die seinen Namen bezeichneten: Dhestroyer, Nachkomme des Wrath, Sohn des Wrath.
Butchs neuer Name. Butchs alte, edle Abstammung.
»Ach, Mann, jetzt mach das Ding schon auf.« V drückte seine Zigarette aus, drehte sich eine neue und zündete sie an. Schön, dass Vampire keinen Krebs bekommen konnten. In letzter Zeit hatte er Kette geraucht, wie ein Schwerverbrecher. »Los doch.«
»Ich kann es immer noch nicht fassen.«
»Klapp einfach die verdammte Kiste auf.«
»Ehrlich, ich kann nicht …«
»Aufmachen.« Mittlerweile war V gereizt genug, um aus seinem bescheuerten Stuhl zu levitieren.
Der ehemalige Cop löste den massivgoldenen Verschlussmechanismus und hob den Deckel an. Auf einem Kissen aus roter Seide lagen vier identische Dolche mit schwarzer Klinge, deren Gewicht exakt für Butchs Brustmuskeln kalibriert war, und deren Schneiden einen tödlichen Schliff aufwiesen.
»Heilige Maria, Mutter Gottes … Sie sind wunderschön. «
»Danke.« Wieder stieß V beim Sprechen die Luft aus. »Ich kann übrigens auch gut Brot backen.«
Ein Blick aus den haselnussbraunen Augen des Ex-Cops flitzte quer durch den Raum. »Du hast die für mich gemacht? «
»Ja, aber das ist keine große Sache. Ich mache sie für uns alle.« V hob seine behandschuhte rechte Hand. »Ich kann gut mit Hitze umgehen, wie du weißt.«
»V … danke.«
»Ist ja gut. Wie gesagt, ich bin der Klingenmann. Mach ich ständig.«
Klar … nur vielleicht nicht mit genau derselben Hingabe. Für Butch hatte er in den letzten vier Tagen durchgehend an den Dolchen gearbeitet. Nach den sechzehnstündigen Marathonschichten, in denen er sich mit seiner verfluchten Hand an dem Verbundstahl zu schaffen gemacht hatte, brannte sein Rücken, und die Augen waren überanstrengt, aber verflucht noch mal, jedes einzelne Stück sollte des Mannes wert sein, der es führen würde.
Sie waren immer noch nicht gut genug.
Butch holte einen der Dolche aus der Schachtel, und seine Augen blitzten auf, als er ihn in der Handfläche spürte. »Herr im Himmel … fass das Ding mal an.« Er vollführte ein paar Bewegungen vor der Brust. »Ich hab noch nie eine Waffe in der Hand gehalten, die so perfekt ausbalanciert war. Und dieser Griff. Einfach perfekt.«
Das Lob freute V mehr als jedes andere, das er je erhalten hatte.
Was bedeutete, dass es ihn auch total nervös machte.
»Tja, so sollen sie ja wohl auch sein, oder?« Wieder drückte er die Selbstgedrehte im Aschenbecher aus, zermalmte die fragile glühende Spitze. »Hätte ja keinen Zweck, dich mit ein paar Kartoffelschälern ins Feld zu schicken.«
»Danke.«
»Schon gut.«
»V, im Ernst …«
»Ich nehm’s zurück und sage lieber: Leck mich.« Als keine passende Retourkutsche kam, hob er den Kopf.
Shit. Butch stand direkt vor ihm, die braunen Augen verdunkelt von einem Wissen, das der Bursche lieber nicht haben sollte, wenn es nach V ging.
Er senkte den Blick wieder auf sein Feuerzeug. »Ist ja gut, Bulle. Sind doch nur Messer.«
Die schwarze Spitze des Dolches glitt unter Vs Kinn und neigte seinen Kopf nach oben. Als er gezwungen war, Butch in die Augen zu sehen, verspannte sich Vs gesamter Körper. Dann begann er zu zittern.
Über die Waffe mit ihm verbunden, sagte Butch: »Sie sind wunderschön.«
V schloss die Augen, er verachtete sich selbst. Dann lehnte er sich absichtlich auf die Klinge, so dass sie sich in seinen Hals grub. Er schluckte den Schmerz hinunter, hielt ihn unten in seinem Magen fest, benutzte ihn als Ermahnung, dass er ein kaputter Freak war, und Freaks es verdienten, verletzt zu werden.
»Vishous, sieh mich an.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Zwing mich doch dazu.«
Den Bruchteil einer Sekunde lang wollte V sich auf Butch stürzen und ihm eine verpassen. Aber dann sagte der Cop: »Ich bedanke mich einfach nur für ein großartiges Geschenk bei dir. Das ist kein Staatsakt.«
Kein Staatakt? Vs Augenlider klappten hoch, und er spürte, dass sein Blick glühte. »Das ist doch großer Quatsch. Aus Gründen, die du verdammt gut kennst.«
Butch zog die Klinge weg, und als er den Arm sinken ließ, spürte V ein Rinnsal Blut über seine Kehle fließen. Es war warm … und weich wie ein Kuss.
»Sag jetzt nicht, dass es dir leidtut«, murmelte V in die Stille hinein. »Sonst werde ich gewalttätig.«
»Tut es mir aber.«
»Das ist nicht nötig.« Mann, er hielt es nicht mehr aus, hier mit Butch zu wohnen. Besser gesagt mit Butch und Marissa. Ständig vor Augen zu haben, was er nicht haben konnte und gar nicht wollen dürfte, brachte ihn um. Und er war weiß Gott schon in ausreichend schlechter Verfassung. Wann hatte er das letzte Mal einen Tag durchgeschlafen? Das musste Wochen her sein.
Butch steckte den Dolch in das Brusthalfter, mit dem Griff nach unten. »Ich möchte dir nicht weht-«
»Kein Wort mehr über die Angelegenheit.« Er legte den Zeigefinger an die Kehle und fing das Blut auf, das die von ihm hergestellte Klinge ihm entlockt hatte. Als er es ableckte, ging die Geheimtür zum unterirdischen Tunnel auf, und der Duft des Meeres erfüllte die Höhle.
Marissa kam um die Ecke, strahlend wie Grace Kelly, wie üblich. Mit ihrem langen blonden Haar und ihren perfekt ebenmäßigen Gesichtszügen galt sie als die größte Schönheit unter den Vampiren, und selbst Vs Miene wurde vor Liebe weich, obwohl er eigentlich nicht so auf ihren Typ stand.
»Hallo, Jungs …« Marissa blieb abrupt sehen und starrte Butch an. »Gütiger … jetzt sieh sich einer diese Hose an.«
Butch krümmte sich. »Ja, ich weiß. Die ist …«
»Hast du mal einen Augenblick Zeit für mich?« Rückwärts ging sie über den Flur Richtung Schlafzimmer. »Ich bräuchte dich hier mal für eine Minute. Oder zehn.«
Butchs Bindungsduft flackerte auf, und V wusste verdammt genau, dass sein Körper hart wurde. »Baby, du kannst mich so lange haben, wie du willst.«
Als er schon halb aus der Tür war, blickte er noch einmal über die Schulter. »Diese Hose ist ja so geil. Sag Fritz, ich will fünfzig Stück davon. Aber dalli.«
Allein gelassen, legte Vishous Music Is My Savior von MIMS ein und drehte die Anlage auf volle Lautstärke. Zum hämmernden Rap sinnierte er, dass er den Sound früher benutzt hatte, um die Gedanken anderer zu übertönen. Seit seine Visionen versiegt waren und die ganze Gedankenlesesache sich verflüchtigt hatte, brauchte er die Bassbeats, um seinem Mitbewohner nicht beim Sex zuhören zu müssen.
V rieb sich das Gesicht. Er musste echt hier raus.
Eine Zeitlang hatte er versucht, sie zum Ausziehen zu bewegen, aber Marissa blieb dabei, dass die Höhle so »gemütlich« sei, und dass sie gern dort wohne. Was eine Lüge sein musste. Das halbe Wohnzimmer wurde von einem Kickertisch eingenommen, den lieben langen Tag lief der Sportkanal auf stumm und ständig donnerte Hardcore-Rap durch alle Räume. Der Kühlschrank war eine entmilitarisierte Zone, gefüllt mit verwesenden Opfern aus diversen Imbissketten. Grey Goose und Lagavulin waren die einzigen im Haus verfügbaren Getränke. Der Lesestoff beschränkte sich auf die Sports Illustrated und … na ja, alte Ausgaben der Sports Illustrated.
Also alles in allem nicht gerade ein niedlicher Frauentraum. Das Haus war eine Mischung aus Studentenwohnheim und Männerumkleidekabine.
Und was Butch betraf? Als V ihm einmal eine kleine Möbelpackeraktion vorgeschlagen hatte, hatte der ihm quer durch den Raum einen finsteren Blick zugeworfen, einmal den Kopf geschüttelt und war in die Küche gegangen, um sich einen Nachschlag Lagavulin zu holen.
V weigerte sich zu glauben, dass sie blieben, weil sie sich Sorgen um ihn machten oder so einen Blödsinn. Allein schon der Gedanke machte ihn irre.
Er stand auf. Wenn eine räumliche Trennung stattfinden sollte, dann musste er sie initiieren. Der Mist war nur, Butch nicht immer um sich zu haben, war … undenkbar. Besser die Folter, die er jetzt hatte, als das Exil.
Er sah auf die Uhr. Er könnte genauso gut gleich durch den Tunnel ins große Haus gehen. Obwohl der gesamte Rest der Bruderschaft der Black Dagger in diesem Ungetüm von einem Herrenhaus mit dem steinernen Antlitz wohnte, gab es noch reichlich freie Räume. Vielleicht sollte er einfach mal einen ausprobieren. Nur für ein paar Tage.
Bei der Vorstellung drehte sich ihm der Magen um.
Auf dem Weg zur Geheimtür fing er den Bindungsduft auf, der aus Butchs und Marissas Schlafzimmer drang. Als er sich ausmalte, was dort drin gerade geschah, heizte sich sein Blut auf, obwohl ihm gleichzeitig vor Scham Eiszapfen wuchsen.
Fluchend marschierte er zu seiner Jacke und holte ein Handy aus der Tasche. Beim Wählen fühlte sich seine Brust so warm an wie ein Kühlschrank, aber wenigstens unternahm er etwas gegen seine Obsession.
Als die weibliche Stimme ertönte, fuhr V ihr schneidend durch das rauchige Hallo. »Sonnenuntergang. Heute. Du weißt, was du zu tragen hast, und dein Nacken ist frei. Wie heißt das?«
Die Antwort war ein unterwürfiges Schnurren. »Ja, mein Lheage.«
V legte auf und schleuderte das Telefon auf den Schreibtisch, wo es mehrmals abprallte und schließlich vor einer der vier Tastaturen liegen blieb. Die Partnerin, die er sich für heute Nacht ausgesucht hatte, mochte es besonders hart. Und er würde sie nicht enttäuschen.
Scheiße, er war wirklich pervers. Bis ins Mark. Ein amtlicher sexueller Außenseiter ohne jede Reue … der für das, was er war, innerhalb seiner Art eine gewisse Berühmtheit genoss.
Es war schon absurd; andererseits waren die Geschmäcker der Vampirinnen schon immer schräg gewesen. Und sein schriller Ruf hatte für ihn nicht mehr Bedeutung als seine verschiedenen Subs. Für ihn zählte nur, dass er Freiwillige für das fand, was er sexuell brauchte. Das, was man sich über ihn erzählte, das, was die Frauen über ihn glauben wollten, war nur orale Selbstbefriedigung für gelangweilte Mäuler.
Auf dem Weg durch den Tunnel ins Haupthaus war er gründlich genervt. Dank diesem blöden Rotationsplan, den die Bruderschaft ausgearbeitet hatte, durfte er heute Nacht nicht raus auf die Straße, und das war ihm verhasst. Er würde viel lieber Untote, die seiner Spezies nachstellten, jagen und töten, als faul auf seinem Allerwertesten zu hocken.
Aber es gab noch andere Wege, die schädelspaltende Frustration zu verbrennen.
Dazu waren Fesseln und willige Leiber doch da.
Phury spazierte in die Großküche des Hauses und erstarrte wie beim Anblick eines Unfalls der blutigen Sorte: Seine Fußsohlen blieben am Boden kleben, der Atem stockte, das Herz setzte erst kurz aus und geriet dann in Hektik.
Bevor er noch leise rückwärts durch die Schwingtür fliehen konnte, wurde er jedoch erwischt.
Bella, die Shellan seines Zwillingsbruders, blickte auf und lächelte. »Hallo.«
»Hallo.« Bloß weg hier. Schnell.
Gott, sie roch gut.
Sie wedelte mit dem Messer in ihrer Hand, mit dem sie sich an dem gebratenen Truthahn zu schaffen machte. »Soll ich dir auch ein Sandwich machen?«
»Was?«, fragte er wie ein Vollidiot.
»Ein Sandwich.« Sie deutete mit der Klinge auf das fast leere Mayonnaiseglas und den Kopfsalat. »Du musst doch Hunger haben. Beim Letzten Mahl hast du nicht viel gegessen. «
»Äh, ja … nein, ich hab keinen …« Sein Magen strafte diesen Unsinn Lügen, indem er knurrte wie eine hungrige Bestie. Verräter.
Bella schüttelte den Kopf und machte sich wieder über die Truthahnbrust her. »Hol dir doch einen Teller und setz dich.«
Okay, das war jetzt so ungefähr das Letzte, was er gebrauchen konnte. Besser noch lebendig begraben zu werden, als allein mit ihr in der Küche zu sitzen, während sie ihm mit ihren schönen Händen etwas zu essen machte.
»Phury«, sagte sie ohne aufzublicken. »Teller. Setzen. Hopp.«
Er fügte sich, weil er sich trotz seiner Abstammung aus einer Kriegerblutlinie und seiner Zugehörigkeit zur Bruderschaft und seinen gut fünfzig Kilo mehr an Körpermasse kraftlos und matt fühlte, wenn es um Bella ging. Die Shellan seines Zwillingsbruders – die schwangere Shellan seines Zwillingsbruders – war jemand, dem Phury nichts abschlagen konnte.
Nachdem er einen Teller neben ihren gestellt hatte, setzt er sich ihr gegenüber an die Kochinsel aus Granit und schärfte sich ein, ihre Hände nicht anzusehen. Solange er ihre langen, eleganten Finger mit den kurzen, glänzenden Nägeln nicht …
Mist.
»Ich schwöre dir«, begann sie, während sie noch mehr Fleisch absäbelte. »Zsadist will mich ungefähr auf Bungalowgröße füttern. Wenn er mich noch dreizehn Monate lang so vollstopft, dann passe ich nicht mehr in den Swimmingpool. Ich bekomme meine Hosen kaum noch zu.«
»Du siehst gut aus.« Von wegen gut, sie sah vollkommen aus, mit ihrem langen dunklen Haar und den Saphiraugen und dem sportlichen Körper. Das Baby in ihr konnte man unter dem weiten Shirt noch nicht erkennen, aber die Schwangerschaft zeigte sich deutlich an ihrer schimmernden Haut und der Häufigkeit, mit der sie ihre Hand auf den Bauch legte.
Ihr Zustand war ebenfalls klar erkennbar an der Unruhe in Zs Augen, wann immer er sich in ihrer Nähe aufhielt. Da Vampirschwangerschaften von einer hohen Sterblichkeit sowohl der Mütter als auch der Kinder bedroht wurden, waren sie gleichzeitig Segen und Fluch für den jeweiligen Hellren.
»Fühlst du dich denn gut?«, fragte Phury. Zsadist war ja nicht der Einzige, der sich um sie sorgte.
»Im Prinzip schon. Ich werde schnell müde, aber so schlimm ist das nicht.« Sie leckte sich die Finger ab, dann griff sie nach dem Mayonnaiseglas. Als sie darin herumkratzte, machte das Messer ein rasselndes Geräusch, als würde eine Münze auf und ab geschüttelt. »Aber Z treibt mich in den Wahnsinn. Er weigert sich, sich zu nähren.«
Phury erinnerte sich daran, wie ihr Blut geschmeckt hatte, und wandte den Kopf ab, als seine Fänge sich unwillkürlich verlängerten. In dem, was er für sie empfand, lag kein Edelmut, nicht im Mindesten, und als Mann, der sich immer etwas auf seine Ehrenhaftigkeit zugutegehalten hatte, konnte er seine Gefühle nicht mit seinen Prinzipien in Einklang bringen.
Und was da von seiner Seite aus stattfand, wurde definitiv nicht erwidert. Sie hatte ihn dieses eine Mal trinken lassen, weil er es dringend gebraucht hatte, und weil sie selbst eine Frau von Wert war. Nicht, weil sie das Bedürfnis hatte, ihn zu nähren, oder weil sie sich nach ihm sehnte.
Nein, all das galt seinem Zwillingsbruder. Von der ersten Begegnung an hatte Zsadist sie gefesselt, und das Schicksal hatte für sie vorgesehen, die Einzige zu sein, die ihn wahrlich aus der Hölle, in der er eingesperrt gewesen war, zu retten vermochte. Phury mochte Zs Körper nach einhundert Jahren als Blutsklave gerettet haben; aber Bella hatte seinen Geist wiederauferstehen lassen.
Was selbstverständlich nur ein weiterer Grund war, sie zu lieben.
Verflucht, er wünschte, er hätte etwas roten Rauch bei sich. Sein Vorrat lag oben in seinem Zimmer.
»Und wie geht es dir?«, fragte sie jetzt, während sie dünne Scheiben Truthahnbrust auf die Salatblätter legte. »Macht die neue Prothese immer noch Ärger?«
»Es geht schon ein bisschen besser, danke.« Die heutige Technologie war Lichtjahre weiter entwickelt als noch vor einem Jahrhundert, aber in Anbetracht all der Kämpfe, die er bestreiten musste, war sein verlorener Unterschenkel eine Dauerkrise.
Verlorener Unterschenkel … ja, verloren hatte er ihn, das stimmte. Hatte ihn sich abgeschossen, um Z aus den Händen dieser kranken Hexe zu befreien. Das Opfer war es wert gewesen. Genau wie sein eigenes Glück zu opfern es ihm wert war, damit Z mit der Frau, die sie beide liebten, zusammenleben konnte.
Bella legte eine Brotscheibe oben auf das Sandwich und schob ihm den Teller über die Granitplatte zu. »Bitte schön.«
»Das ist genau das, was ich jetzt brauche.« Er kostete den Moment aus, in dem seine Zähne in dem weichen Brot versanken.
Beim Schlucken wurde ihm mit trauriger Freude bewusst, dass sie dieses Essen für ihn zubereitet hatte, und dass sie es mit einer gewissen Liebe getan hatte.
»Gut. Das freut mich.« Jetzt biss sie in ihr eigenes Sandwich. »Also … ich wollte dich schon seit ein oder zwei Tagen etwas fragen.«
»Ach ja? Was denn?«
»Ich habe mit Marissa im Refugium gearbeitet, wie du weißt. Es ist so ein großartiges Projekt, lauter großartige Leute …« Eine lange Pause entstand – von der Art, dass er sich innerlich wappnete. »Jedenfalls hat eine neue Sozialarbeiterin dort angefangen, die die Frauen und ihre Kinder betreut.« Sie räusperte sich. Wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Sie ist wirklich toll. Warmherzig, lustig. Ich dachte, vielleicht …«
O gütige Jungfrau im Schleier. »Danke, aber nein.«
»Sie ist aber wirklich nett.«
»Nein, danke.« Seine Haut zog sich am ganzen Körper zusammen, und er biss sich jetzt im Eiltempo durch sein Sandwich.
»Phury, ich weiß ja, dass mich das nichts angeht. Aber warum das Zölibat?«
Scheiße. Noch schneller kauen. »Können wir vielleicht das Thema wechseln?«
»Es ist wegen Z, oder? Dass du nie mit einer Frau zusammen warst. Es ist dein Opfer für ihn und seine Vergangenheit. «
»Bella, bitte …«
»Du bist über zweihundert Jahre alt, und es wird endlich Zeit, an dich zu denken. Z wird nie ganz normal sein, und niemand weiß das besser als du und ich. Aber er ist jetzt stabiler. Und er wird mit der Zeit noch gesünder werden. «
Das stimmte schon, vorausgesetzt Bella überlebte diese Schwangerschaft: Bis sie die Entbindung nicht lebend überstanden hatte, wäre sein Zwillingsbruder nicht über den Berg. Und dementsprechend auch Phury nicht.
»Bitte, lass mich euch doch miteinander bekannt …«
»Nein.« Phury stand auf. Seine Zähne mahlten wie die eines Ochsen. Tischmanieren waren sehr wichtig, aber dieses Gespräch musste ein Ende haben, bevor ihm noch der Kopf platzte.
»Phury …«
»Ich möchte keine Frau in meinem Leben.«
»Du würdest einen wunderbaren Hellren abgeben, Phury.«
Er wischte sich den Mund an einem Geschirrtuch ab und sagte in der Alten Sprache: »Danke für diese Mahlzeit, zubereitet von deinen eigenen Händen. Einen gesegneten Abend, Bella, geliebte Partnerin meines Fleisch und Blut Zsadist.«
Zwar hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er nicht beim Abräumen half, aber das war besser, als auf der Stelle ein Aneurysma zu bekommen. Also drückte er sich durch die Schwingtür ins Esszimmer. Auf halbem Weg an der zehn Meter langen Tafel vorbei ging ihm allerdings der Saft aus, er zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen.
Mann, sein Herz hämmerte.
Als er aufsah, stand Vishous auf der anderen Seite des Tisches und musterte ihn. »Hast du mich erschreckt!«
»Bisschen verspannt, was, mein Bruder?« Mit seinen knapp zwei Metern und seiner Abstammung von dem großen Krieger, den man nur als den Bloodletter kannte, war V eine wuchtige Erscheinung. Seine schneeweißen Iris mit dem blauen Rand, das pechschwarze Haar und das kantige, intelligente Gesicht hätten ihn durchaus als schönen Mann durchgehen lassen. Aber das Ziegenbärtchen und die warnenden Tätowierungen an der Schläfe verliehen seinem Aussehen etwas Dunkles, Bösartiges.
»Nicht verspannt. Kein bisschen.« Phury legte die Hände flach auf die glänzende Tischplatte und dachte an den Joint, den er sich anzünden würde, sobald er in sein Zimmer kam. »Eigentlich wollte ich dich gerade suchen.«
»Ach ja?«
»Wrath war nicht begeistert von der Stimmung bei der Versammlung heute Morgen.« Was noch eine Untertreibung war. Am Ende hatten V und der König wegen einiger Dinge Nase an Nase voreinander gestanden, und das war nicht der einzige Streit, der sich entladen hatte. »Er hat uns für heute Nacht alle vom Kampfplan gestrichen. Meinte, wir könnten alle eine kleine Verschnaufpause gebrauchen. «
V zog die Augenbrauen hoch, wodurch er schlauer aussah als Einstein im Doppelpack. Die Genie-Ausstrahlung war keine rein äußerliche Angelegenheit. Der Kerl sprach sechzehn Sprachen, entwickelte nur so zum Zeitvertreib Computerspiele und konnte die gesamten zwanzig Bände der Chroniken auswendig aufsagen. Gegen den Bruder wirkte Stephen Hawking wie ein Berufsschulanwärter.
»Uns alle?«, fragte V.
»Ja, ich wollte gerade los ins ZeroSum. Lust, mitzukommen? «
»Hab gerade einen privaten Termin gemacht.«
Ah, ja. Vs unkonventionelles Sexleben. Junge, Junge, er und Vishous lagen wirklich an genau entgegengesetzten Enden des sexuellen Spektrums: Er hatte von nichts eine Ahnung, Vishous hatte schon alles ausprobiert, und das meiste davon bis zum Exzess … der nicht beschrittene Pfad und die Autobahn. Und das war nicht der einzige Unterschied zwischen ihnen beiden. Wenn man es recht überlegte, hatten sie absolut nichts gemein.
»Phury?«
Er schüttelte sich selbst wieder wach. »Entschuldige, was?«
»Ich sagte, ich habe einmal von dir geträumt. Vor vielen Jahren.«
Gütiger Himmel. Warum war er nicht einfach direkt in sein Zimmer geflüchtet? Er könnte jetzt schon an seinem Joint ziehen. »Wieso?«
V strich sich über das Bärtchen. »Ich sah dich an einer Kreuzung auf einem Feld aus reinem Weiß stehen. Es war ein stürmischer Tag … genau, ein großer Sturm. Aber als du eine Wolke vom Himmel geholt hast und sie um den Brunnen wickeltest, versiegte der Regen.«
»Klingt poetisch.« Und was für eine Erleichterung. Die meisten von Vs Visionen waren total gruselig. »Aber bedeutungslos. «
»Nichts von dem, was ich sehe, ist bedeutungslos, und das weißt du genau.«
»Dann eben bildhaft. Wie kann jemand einen Brunnen einwickeln?« Phury zog die Stirn kraus. »Und warum erzählst du mir das jetzt?«
Vs schwarze Brauen senkten sich tief über die spiegelgleichen Augen. »Ich … Himmel, ich habe keine Ahnung. Ich musste es einfach sagen.« Mit einem schmutzigen Fluch ging er Richtung Küche. »Ist Bella noch da drin?«
»Woher weißt du, dass sie da drin-«
»Du siehst immer völlig fertig aus, wenn du ihr begegnet bist.«
Eine halbe Stunde und ein Truthahnsandwich später materialisierte sich V auf die Terrasse seines privaten Penthouses in der Innenstadt. Die Nacht war ekelhaft, März-kalt und April-nass, der bittere Wind schlängelte sich herum wie ein Betrunkener mit mieser Laune. Vishous stand vor dem Panorama der Brücke von Caldwell, und die Postkartenansicht der glitzernden Stadt langweilte ihn.
Genau wie die Aussicht auf das abendliche Spiel- und Spaßprogramm.
So ähnlich musste es einem langjährigen Koksabhängigen gehen. Das Hoch war einmal intensiv gewesen, aber jetzt diente er seiner Sucht nur noch mit wenig Begeisterung. Es war nur noch Zwang, keine Linderung mehr.
Er legte seine Hände auf den Sims, beugte sich weit hinüber und bekam einen Sandstrahl eiskalter Luft ins Gesicht, der ihm die Haare wie bei einem Fotoshooting nach hinten blies. Oder vielleicht … mehr wie in einem Superheldencomic. Genau, das war eine bessere Metapher.
Nur dass er darin der Schurke wäre, oder nicht?
Er bemerkte, dass er mit den Händen über den glatten Stein strich, ihn liebkoste. Der Sims war etwas eins zwanzig hoch und verlief um das gesamte Gebäude herum wie der Rand eines Serviertabletts. Oben war er einen Meter breit und lud geradezu zum Herunterspringen ein, ein freier Fall über zehn Meter auf der anderen Seite wäre das perfekte Vorspiel zum harten Tritt des Todes.
Das war eine interessante Aussicht.
Er wusste aus eigener Erfahrung, wie süß dieser freie Fall war. Wie die Kraft des Windes gegen die Brust drückte, das Atmen schwer machte. Wie die Augen feucht wurden und die Tränen zu den Schläfen hochflossen, nicht die Wangen herunter. Wie der Boden einem mit ausgestreckten Armen entgegeneilte, ein Gastgeber, der ihn bei der Party willkommen hieß.
Er war nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sich damals zu retten. Im letzten Augenblick aber hatte er sich zurück auf die Terrasse materialisiert. Zurück in … Butchs Arme.
Scheiß Butch. Alles führte immer wieder zu diesem Penner zurück.
V wandte sich von der Versuchung ab, einen weiteren Flugversuch zu unternehmen, und entriegelte mit seinem Geist eine der Schiebetüren. Die drei Glaswände des Penthouses waren kugelsicher, aber sie konnten das Sonnenlicht nicht herausfiltern. Nicht, dass er sich untertags hier aufhalten wollte.
Das war kein Zuhause.
Als er eintrat, drang der Raum und wofür er ihn benutzte auf ihn ein, als wäre die Schwerkraft hier von anderer Beschaffenheit. Wände, Decke und Marmorfußböden des einen großen Raums waren schwarz. Genau wie die hundert Kerzen, die er nach seinem Willen aufflackern lassen konnte. Das Einzige, was man als Möbelstück bezeichnen konnte, war ein breites Doppelbett, das er nie benutzte. Der Rest war Ausrüstung: der Tisch mit den Fesseln. Die in der Wand verankerten Ketten. Die Masken und die Knebel und die Peitschen und die Rohrstöcke und die Seile. Der Schrank voller Brustwarzengewichte und Stahlklammern und Edelstahlspielzeug.
Alles für die Frauen.
Er zog seine Lederjacke aus und warf sie aufs Bett, dann streifte er das Shirt ab. Seine Hose ließ er während der Sessions immer an. Die Subs sahen ihn nie vollständig nackt. Niemand tat das, außer seinen Brüdern während der Zeremonien in der Grotte, und das nur, weil die Rituale es verlangten.
Wie er unten aussah, ging niemanden einen feuchten Kehricht an.
Er ließ Kerzen aufflammen, das flüssige Licht wurde von dem glänzenden Boden zurückgeworfen, bevor es von der schwarzen Kuppel der Zimmerdecke aufgesaugt wurde. Es lag nichts Romantisches in der Luft. Diese Wohnung war ein Bunker, in dem das Weltliche an den Willigen vollzogen wurde, und die Beleuchtung diente nur dazu, die sachgemäße Platzierung von Leder und Metall, von Händen und Fängen zu gewährleisten.
Zudem konnten Kerzen auch noch für andere Dinge als zur Beleuchtung verwendet werden.
Er ging zu seiner Bar, goss sich einen großzügigen Wodka ein und lehnte sich an die kurze Theke. Es gab Vampirinnen, die es als eine Art Initiationsritus betrachteten, einmal mit ihm eine Session durchzustehen. Dann gab es andere, die nur bei ihm Befriedigung fanden. Und wieder andere wollten erforschen, wie Schmerz und Sex sich vermischen konnten.
Die Entdeckertypen waren diejenigen, die ihn am wenigsten interessierten. Meistens hielten sie es nicht aus und mussten schon auf halber Strecke das Safeword oder das Handzeichen, das er ihnen vorher zeigte, benutzen. Er ließ sie immer bereitwillig gehen, wobei das Trocknen der Tränen ihnen selbst überlassen blieb. In neun von zehn Fällen wollten sie es noch einmal probieren, aber das kam nicht in Frage. Wenn sie das erste Mal zu leicht einknickten, dann würden sie es wahrscheinlich wieder tun, und er fühlte sich nicht berufen, Leichtgewichten Nachhilfe in diesem Lifestyle zu geben.
Diejenigen, die es aushielten, nannten ihn Lheage und verehrten ihn, wobei ihre Ehrfurcht ihm persönlich scheißegal war. Seine innere Getriebenheit musste zur Ruhe kommen, und ihre Körper waren der Stein, an dem er sich wetzte. Nicht mehr, nicht weniger.
Er ging zur Wand, nahm eine der Stahlketten und ließ sie durch die Handfläche gleiten, Glied für Glied. Zwar war er von Natur aus ein Sadist, aber es gab ihm nichts, seinen Subs Schmerzen zuzufügen. Seine sadistische Ader wurde durch das Töten der Lesser befriedigt.
Für ihn ging es um die Kontrolle über Körper und Geist seiner Unterworfenen. Was er sexuell und anderweitig mit ihnen machte, was er sagte, was er sie tragen ließ … das alles war sorgfältig auf den Effekt ausgerichtet. Klar, es gab auch Schmerzen, und sicher, sie weinten auch manchmal aus Verletzlichkeit und Furcht. Aber hinterher bettelten sie um mehr.
Was er ihnen auch gewährte, wenn ihm danach war.
Jetzt betrachtete er die Masken. Er zog ihnen immer Masken an, und es war ihnen untersagt, ihn zu berühren, außer er befahl ihnen, wo und wie und womit. Wenn er während einer Session einen Orgasmus hatte, dann war das ungewöhnlich und wurde von der jeweiligen Sub mit großem Stolz betrachtet. Und wenn er sich nährte, dann nur, weil er unbedingt musste.
Nie erniedrigte er diejenigen, die hierherkamen, nie zwang er sie zu den widerlichen Dingen, für die andere Doms, wie er verdammt gut wusste, eine solche Vorliebe hatten. Aber ebenfalls tröstete er sie weder am Anfang noch in der Mitte noch am Schluss, und die Sessions verliefen ausschließlich nach seinen Bedingungen. Er teilte ihnen mit, wann und wo, und wenn jemand irgendwelchen eifersüchtigen Anspruchsquatsch abzog, dann war er raus. Für immer.
Er sah auf die Uhr und hob das Mhis, das sein Penthouse umgab. Die Vampirin, die heute kommen würde, konnte ihn aufspüren, weil er vor einigen Monaten ihre Vene genutzt hatte. Wenn er mit ihr fertig war, würde er dafür sorgen, dass sie keine Erinnerung an den Ort behielt, an dem sie gewesen war.
Sie würde allerdings sehr wohl wissen, was passiert war. Die Spuren des Sex würden überall auf ihrem Körper sein.
Als sich die Frau auf der Terrasse materialisierte, drehte er sich um. Durch die Schiebetür war sie ein anonymer Schatten, ein kurviger Umriss in einem schwarzen Lederbustier und einem langen, weiten schwarzen Rock. Ihr dunkles Haar trug sie hochgesteckt, wie er es verlangt hatte.
Sie wusste, dass sie zu warten hatte. Wusste, dass sie nicht klopfen durfte.
Er ließ die Tür aufgehen, doch sie wusste ebenfalls, dass sie nicht ohne Aufforderung eintreten durfte.
Er musterte sie von oben bis und unten und ihr Duft stieg ihm in die Nase. Sie war wahnsinnig erregt.
Seine Fänge verlängerten sich, aber nicht, weil er sonderlich an dem feuchten Geschlecht zwischen ihren Beinen interessiert war. Er musste sich nähren, und sie war eine Frau und besaß alle möglichen Venen, die man anzapfen konnte. Es war Biologie, keine Betörung.
V streckte den Arm aus und krümmte den Zeigefinger. Sie trat vor, zitternd, was durchaus angebracht war. Er war heute Nacht in besonders heftiger Stimmung.
»Zieh den Rock aus«, sagte er. »Der nervt mich.«
Sofort machte sie den Reißverschluss auf und ließ den Rock zu Boden rascheln. Darunter trug sie schwarze Strapse und Strümpfe. Kein Höschen.
Hmmm … ja. Er würde ihr die Strapse mit dem Dolch von der Hüfte schneiden. Später.
An der Wand suchte V eine Maske mit nur einer Öffnung aus. Sie würde durch den Mund atmen müssen, falls sie Luft kriegen wollte.
Er warf sie ihr zu und sagte: »Anziehen. Sofort.«
Ohne ein Wort bedeckte sie ihr Gesicht.
»Steig auf meinen Tisch.«
Er half ihr nicht, als sie sich durch den Raum tastete, er wusste, sie fände den Weg schon. Das taten sie immer. Frauen wie sie fanden immer den Weg zu seiner Folterbank.
Um sich die Zeit zu vertreiben, steckte er sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen und nahm eine schwarze Kerze aus ihrem Halter. Als er sich die Zigarette anzündete, starrte er in die kleine Lache von flüssigem Wachs zu Füßen der Flamme. Dann ging er nachsehen, wie die Vampirin vorankam. Brav. Sie hatte sich mit dem Gesicht nach oben hingelegt, die Arme ausgebreitet, die Beine gespreizt.
Nachdem er sie gefesselt hatte, wusste er genau, wie er heute Nacht anfangen würde.
Mit der Kerze in der Hand ging er auf sie zu.
Unter den vergitterten Deckenlichtern des Trainingsraums der Bruderschaft nahm John Matthew die Grundstellung ein und konzentrierte sich auf seinen Sparringspartner. Die beiden passten so gut zusammen wie zwei Essstäbchen, jeweils dünn und schwächlich, leicht zu zerbrechen. Wie alle Vampire vor der Wandlung.
Zsadist, der Bruder, der sie heute in Nahkampftechniken unterrichtete, pfiff durch die Zähne, und John und sein Klassenkamerad verbeugten sich voreinander. Sein Gegner murmelte die passende Formel in der Alten Sprache und John erwiderte sie in der Gebärdensprache. Dann fingen sie an. Kleine Hände und knochige Arme flogen ohne große Wirkung durch die Luft; Tritte wurden geschleudert wie Papierflieger; Ausweichmanöver ohne großes Geschick ausgeführt. All ihre Bewegungen und Positionen waren Schatten dessen, was sie sein sollten, Echos von Donnerschlägen, nicht das tiefe Brüllen selbst.
Der Donnerschlag kam aus anderer Richtung.
Mitten in der Runde ertönte ein gewaltiges RUMMS!, als ein fester Körper auf der blauen Matte auftraf wie ein Sandsack. John und sein Gegenüber schielten zur Seite … und gaben ihre kläglichen Kampfsportversuche auf. Zsadist arbeitete mit Blaylock, einem von Johns beiden besten Freunden. Der Rothaarige war bisher der einzige Trainingsschüler, der die Transition hinter sich gebracht hatte, weswegen er auch den doppelten Umfang von allen anderen aus der Klasse besaß. Und Zsadist hatte den Burschen gerade gefällt.
Blaylock sprang auf die Füße und stellte sich sofort wieder tapfer dem Kampf, aber er würde nur wieder den Hintern versohlt bekommen. So groß er auch war, Zsadist war nicht nur ein Riese, sondern auch ein Mitglied der Bruderschaft. Blay rannte also gegen einen Shermanpanzer mit einer Wagenladung Kampferfahrung an.
Mann, das sollte Qhuinn sehen. Wo war der überhaupt?
Alle elf Trainingsschüler stießen ein »Boah!« aus, als Z in aller Seelenruhe Blay von den Füßen holte, ihn bäuchlings auf die Matte schleuderte und in einen Knochenbrecher-Unterwerfungsgriff nahm. Sobald Blay sich ergab, ließ Z ihn los.
Z stand breitbeinig über dem Jungen, und seine Stimme war so warm, wie sie je wurde: »Erst vor fünf Tagen gewandelt, und du machst dich ziemlich gut.«
Blay lächelte, obwohl seine Wange in die Matte gedrückt war, als klebte sie dort fest. »Danke …« Er keuchte. »Danke, Herr.«
Z streckte die Hand aus und zog Blay vom Boden hoch. Genau in diesem Moment hörte man das Echo einer sich öffnenden Tür durch die Halle tönen.
John fielen fast die Augen aus dem Kopf bei dem, was da hereinkam. Ach du Scheiße … das erklärte auch, wo Qhuinn den ganzen Nachmittag lang gewesen war.
Der Vampir, der da langsam über die Matten trottete, war das eins fünfundneunzig große, hundertfünfzehn Kilo schwere Abbild eines Wesens, das bis gestern nicht mehr gewogen hatte als ein Sack Hundefutter. Qhuinn hatte die Wandlung durchgemacht. Mein Gott, kein Wunder, dass der Kerl den ganzen Tag nichts von sich hatte hören lassen. Er war vollauf damit beschäftigt gewesen, sich einen neuen Körper wachsen zu lassen.
Als John die Hand hob, nickte Qhuinn angestrengt, als hätte er einen steifen Nacken oder hämmernde Kopfschmerzen. Der Junge sah furchtbar aus und bewegte sich, als täte ihm jeder einzelne Knochen im Leib weh. Außerdem nestelte er am Kragen seines neuen XXL-Fleecepullis herum, als wäre ihm das Gefühl auf der Haut unangenehm, und ständig riss er sich die Jeans hoch und zuckte dabei zusammen. Überraschend war sein blaues Auge, vielleicht war er mitten in der Transition gegen etwas gestoßen? Nach allem, was man sich so erzählte, schlug man dabei ganz schön um sich.
»Freut mich, dass du auftauchst«, sagte Zsadist.
Qhuinns Antwort klang tief, er besaß eine völlig andere Stimmlage als vorher. »Ich wollte kommen, obwohl ich nicht trainieren kann.«
»Finde ich gut. Du kannst dich da drüben hinsetzen.«
Auf dem Weg zum Seitenrand begegnete Qhuinn Blays Blick, und beide verzogen langsam den Mund zu einem Lächeln. Dann sahen sie John an.
In Gebärdensprache formulierte Qhuinn: Nach dem Unterricht gehen wir zu Blaylock. Hab euch beiden einiges zu erzählen.
Als John nickte, drang Zs Stimme durch die Halle. »Das Plauderstündchen ist vorbei, meine Damen. Zwingt mich nicht dazu, euch übers Knie zu legen. Das würde ich nämlich tun.«
John wandte sich seinem kleinen Trainingspartner zu und ging in die Grundstellung.
Auch wenn einer ihrer Klassenkameraden an der Wandlung gestorben war, konnte John kaum erwarten, bis es bei ihm so weit war. Natürlich hatte er die Hosen gestrichen voll, aber besser tot, als weiterhin als geschlechtsloser kleiner Scheißer in der Welt gefangen und anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.
Er war mehr als bereit, ein Mann zu werden.
Er hatte eine Familienangelegenheit mit den Lessern zu klären.
Zwei Stunden später war V so befriedigt, wie er eben sein konnte. Wenig überraschend war die Vampirin nicht in der Verfassung, sich selbst nach Hause zu dematerialisieren, weshalb er sie in einen Morgenmantel steckte, sie in einen Stupor hypnotisierte und sie im Lastenaufzug des Gebäudes nach unten brachte. Fritz wartete mit dem Wagen an der Straße, und der ältliche Doggen stellte keine Fragen, als V ihm die Adresse nannte.
Wie immer war der Butler ein Geschenk des Himmels.
Wieder allein im Penthouse goss sich V einen Grey Goose ein und ließ sich auf dem Bett nieder. Die Folterbank war bedeckt mit erkaltetem Wachs, Blut, ihrer Erregung und den Folgen seiner Orgasmen. Es war eine schmutzige Session gewesen. Das waren die annehmbaren immer.
Er nahm einen ausgiebigen Schluck aus dem Glas. In der dichten Stille nach seinen Perversionen traf ihn die schallende Ohrfeige seiner nicht vorhandenen Realität, eine Kaskade sinnlicher Bilder. Was er vor Wochen beobachtet hatte und ihm jetzt wieder ins Gedächtnis kam, hatte er versehentlich mit angesehen; trotzdem hatte er die Szene eingesackt wie ein Taschendieb, sie hinter seiner Stirn verstaut, auch wenn sie ihm nicht gehörte.
Damals hatte er Butch und Marissa gesehen … wie sie zusammenlagen. Das war, als der Bulle in Havers’ Klinik in Quarantäne gewesen war. Eine Videokamera hing in der Ecke des Krankenzimmers, und V hatte die beiden auf einem Monitor entdeckt: sie in einem leuchtend pfirsichfarbenen Kleid, er in einem OP-Kittel. Sie hatten sich lange und heiß geküsst, ihre Körper hungernd nach Sex.
V hatte das Herz bis zum Hals geschlagen, als Butch sich auf sie gerollt hatte, wobei der Kittel aufsprang und seine Schultern und den Rücken und die Hüften freigab. Er hatte sich rhythmisch bewegt, seine Wirbelsäule hatte sich aufgebäumt und wieder entspannt, während ihre Hände auf seinen Hintern glitten und ihre Nägel sich eingruben.
Es war wunderschön gewesen, die beiden zusammen zu sehen. Völlig anders als der Sex mit den harten Kanten, den V sein gesamtes Leben lang gehabt hatte. Da war Liebe und Vertrautheit gewesen und … Güte.
Vishous ließ seine Muskeln locker und fiel rückwärts auf die Matratze, das Glas kippte und beinahe vergoss er den Inhalt, als er sich ausstreckte. Mein Gott, er fragte sich, wie es wohl wäre, solchen Sex zu haben. Würde ihm das überhaupt gefallen? Vielleicht bekäme er klaustrophobische Anfälle. Er war sich nicht sicher, ob er es aushalten könnte, wenn jemand seine Hände überall auf ihm hätte, und er konnte sich nicht vorstellen, völlig nackt zu sein.
Doch dann dachte er an Butch und kam zu dem Schluss, dass es vermutlich davon abhing, mit wem man zusammen war.
V legte die gute Hand auf sein Gesicht und wünschte sich verzweifelt, seine Gefühle würden verschwinden. Er hasste sich für diese Gedanken, für seine Zuneigung, für sein sinnloses Sehnen und die allzu vertraute Litanei der Scham, die auf dem Rücken der Ermattung heranflog. Eine bodenlose Erschöpfung ergriff ihn von Kopf bis Fuß, er kämpfte dagegen an, wohl wissend, dass sie gefährlich war.
Dieses Mal gewann er nicht. Bekam nicht mal ein Mitspracherecht. Seine Augen klappten zu, obwohl die Angst ihm den Rücken hinaufkroch und seinen gesamten Körper mit Gänsehaut überzog.
O … Scheiße. Er schlief ein …
In Panik versuchte er, die Lider zu öffnen, aber es war zu spät. Sie waren zu Mauern geworden. Der Strudel hatte ihn erfasst, und er wurde in die Tiefe gezogen, egal, wie sehr er sich dagegen wehrte.
Sein Griff um das Glas lockerte sich und wie durch einen Nebel hörte er, wie es auf dem Boden auftraf und zersplitterte. Sein letzter Gedanke war, dass er genau wie dieses Gefäß war – er zersprang und ergoss sich, nicht in der Lage, weiter in sich zu bleiben.