Stefan Rinke
Lateinamerika und die USA
Von der Kolonialzeit bis heute
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© 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Redaktion: Frank Schlumm, Berlin
Karten: Peter Palm, Berlin
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
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ISBN 978-3-534-24551-2
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-72300-3
eBook (epub): 978-3-534-72301-0
Geschichte kompakt
Karte
Einleitung
I. Neue Welten: Die Kolonialzeit bis 1760
1. Wurzeln der Konflikte
2. „Kein Frieden jenseits der Linie“
3. Wurzeln der Vorurteile
II. Amerika gegen Europa: Unabhängigkeitsrevolutionen, 1760–1830
1. Der Wandel in den internationalen Beziehungen
2. Die US-amerikanische Revolution und Lateinamerika
3. Die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsrevolutionen
4. Zwischen Monroe und Bolívar
III. „Manifest Destiny“ und „freier“ Raum, 1830–1860
1. Nachbarschaftskonflikte: Mexiko und die USA
2. Die umstrittene Karibik
3. Filibuster in Nicaragua
4. Verdichtung der Kontakte
IV. Panamerika, 1860–1898
1. Die Krise der 1860er-Jahre
2. Lateinamerikanische Reaktionen
3. Die Erfindung des neuen Panamerikanismus
4. Kontinuität und Wandel der Konfliktfelder
V. Imperium, 1898–1910
1. Der Krieg von 1898
2. Die Entscheidung in der Kanalfrage
3. Interventionismus in „Bananenrepubliken“
4. „Unser Amerika“
VI. Globale Gewalt, 1910–1918
1. Die mexikanische Revolution und die USA
2. Kriegsausbruch und Neutralität, 1914–1917
3. Der Krieg kommt nach Amerika, 1917–1918
VII. Nationen und Nationalismus, 1919–1933
1. Der Tanz der Millionen
2. Konfliktfelder und Interventionismus
3. Der Aufstieg der lateinamerikanischen Nationalismen
4. Die Weltwirtschaftskrise
VIII. Verteidigung der Hemisphäre, 1933–1945
1. Die „gute Nachbarschaft“ bis 1939
2. Das neutrale Amerika
3. Der Kriegseintritt
4. Der Weg zum Frieden
IX. „Zentrum“ und „Peripherie“ im Kalten Krieg, 1945–1969
1. Enttäuschte Hoffnungen
2. Gegenstimmen aus der „Peripherie“
3. Die Kubanische Revolution
4. Krisenherde der späten 1960er-Jahre
X. Dritte Welt, 1970–1990
1. Der chilenische 11. September
2. Die Entdeckung der Menschenrechte
3. Die katastrophalen 1980er-Jahre
XI. Trans-Amerika seit 1990
1. Wirtschaftliche Verflechtungen
2. Politische Verflechtungen
3. Soziokulturelle Verflechtungen
Karten
Literatur
Register
Geschichte kompakt
Herausgegeben von
Kai Brodersen, Martin Kintzinger,
Uwe Puschner, Volker Reinhardt
Herausgeber für den Bereich 19. / 20. Jahrhundert:
Uwe Puschner
Beratung für den Bereich 19. / 20. Jahrhundert:
Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Für Silke
In der Geschichte, wie auch sonst,
dürfen Ursachen nicht postuliert werden,
man muss sie suchen. (Marc Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissenstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai Brodersen
Martin Kintzinger
Uwe Puschner
Volker Reinhardt
„Schert Euch zum Teufel, Scheiß-Yankees!“ („¡Váyanse al carajo, Yankees de mierda!“), diese wenig diplomatischen Worte benutzte der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez am 11. September 2008, als er unter Protest gegen die US-amerikanische Politik gegenüber Bolivien den Botschafter Washingtons außer Landes verwies. Aggressive Äußerungen und Handlungen wie diese sind Ausdruck des schwierigen Verhältnisses, das die anglo- und lateinamerikanischen Teile des Doppelkontinents miteinander verbindet. Die Beziehungen zwischen Nord und Süd in Amerika basieren auf einer langen und zumeist konfliktreichen geteilten Geschichte mehrerer Jahrhunderte, die sich von der Kolonialzeit bis auf den heutigen Tag erstreckt. Dieses Spannungsfeld hat sich seit dem 19. und 20. Jahrhundert parallel zum machtpolitischen Aufstieg der Vereinigten Staaten und ihrer weltweiten Machtentfaltung vertieft. Es entstand das Bild vom armen „Hinterhof“, den die hegemonialen USA quasi naturgesetzmäßig dominierten. Für die Geschichte des unabhängigen Lateinamerikas, die in diesem Buch im Mittelpunkt steht, ebenso wie für die der USA waren und sind die Beziehungen zu den amerikanischen Nachbarn bis in die Gegenwart hinein grundlegend.
Was sich in den drastischen Worten von Chávez Bahn brach, war eine Mischung aus Wut und Frustration, die für die Haltung vieler Lateinamerikaner gegenüber dem großen Nachbarn im Norden spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange Zeit bezeichnend war. Sie spiegelt die sich stetig vertiefende ungleiche Machtverteilung und die Erfahrungen der Unterlegenheit gegenüber dem „Koloss des Nordens“ wider. Allerdings ist dies nur eine Seite der Medaille, denn die Wahrnehmung der anderen Amerikaner im Norden war stets mit Bewunderung und Hochachtung gepaart. Wenn auch oft nur zähneknirschend, so wurden die USA doch als Vorbild angesehen.
Außerdem war Lateinamerika nie nur passives Objekt in den interamerikanischen Nord-Süd-Beziehungen, sondern gestaltete diese aktiv mit. Dies ist bislang noch zu wenig bekannt, denn lange Zeit dominierte eine Wissenschaftstradition, die sich mit dem Thema aus Sicht der Vereinigten Staaten beschäftigte – zunächst affirmativ, später kritisch. In der Tat war die Lateinamerikapolitik der USA schon in der Entstehungszeit der Lateinamerikastudien als neuer Forschungsrichtung um den Ersten Weltkrieg ein sehr wichtiges Thema der Geschichtsschreibung. Ihr kam seitdem erhebliche tagespolitische Relevanz zu als Argument im Kampf um die öffentliche Meinung. Erstaunlich ist, dass es bisher noch kaum Überblicksdarstellungen zu diesem Gegenstand aus der lateinamerikanischen Perspektive gibt. Wenn aus dieser Sicht wissenschaftlich dazu gearbeitet wurde, dann mit Blick auf bilaterale Beziehungen. In diesem Buch wird daher die Perspektive der Region Lateinamerika im Mittelpunkt stehen, ohne die US-amerikanischen Motive zu vernachlässigen, denn das Gesamtbild lässt sich nur erkennen, wenn man die Wechselbeziehung im Blick behält. Dabei ist zu bedenken, dass der Begriff „Lateinamerika“ eine Einheit impliziert, die der Realität nur sehr eingeschränkt entspricht. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts so bezeichnete Region zeichnet sich ja gerade durch ihre Vielfalt und ihre enormen internen Unterschiede aus.
Eine zentrale Frage, die vor dem Hintergrund der Diskussionen um den Begriff des Empire seit einigen Jahren wieder an Relevanz gewonnen hat, ist die nach dem Charakter der Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika, oder kurz: Gab und gibt es noch immer einen US-amerikanischen Imperialismus in Lateinamerika? Die Antwort auf diese Frage hängt von der Definition ab. In der klassischen US-amerikanischen Historiographie bis in die 1950er-Jahre wurde sie verneint, wenngleich die so genannten Realisten einräumten, dass um 1898 ein kurzes imperialistisches Zwischenspiel zu verzeichnen gewesen sei. Die Vereinigten Staaten hätten dann ihre Besitzungen wieder abgeben und der Imperialismus sei daher kein Charakteristikum der nationalen Geschichte. Der zu dieser Zeit sehr bekannte Historiker Samuel Flagg Bemis nutzte zwar den Begriff, schränkte dessen Gültigkeit aber ein und sprach in Hinblick auf die Beziehungen zu Lateinamerika von einem „beschützendem“ Imperialismus (protective imperialism). Indem er die US-amerikanische Variante vom aus seiner Sicht „selbstsüchtigen“ europäischen Imperialismus unterschied, versuchte er, diese zu rechtfertigen. Dahinter stand die Überzeugung, dass sich die Interventionen der USA in Lateinamerika letztlich positiv auswirkten, weil sie die Modernisierung vorantrieben.
Unter dem Eindruck des Vietnamkriegs und der Kubanischen Revolution änderten sich die Interpretationen der Lateinamerikapolitik Washingtons seit den 1960er-Jahren grundlegend. In den einflussreichen Werken von Historikern wie William A. Williams, die auch in Deutschland – etwa von Hans-Ulrich Wehler – stark rezipiert wurden, galten die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Politik gegenüber Lateinamerika eindeutig als imperialistische Macht. Nach dieser Sichtweise handelte es sich um einen (Sozial-)Imperialismus, der sich aus wirtschaftlichen Motiven speiste und von den sich zuspitzenden sozialen Problemen im Innern der USA ablenken sollte. Die Interpretation speiste ihre Argumente nicht zuletzt auch aus der Kritik in Lateinamerika selbst, die sich im Zeichen des Anti-Imperialismus seit den 1920er-Jahren und der Dependenztheorie seit den 1960ern zu einer regelrechten Bewegung ausgewachsen hatte. Bis heute ist anti-imperialistische Kritik sowohl im Norden wie im Süden der Amerikas einflussreich. Durch die US-amerikanischen Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, insbesondere die so genannte Bush-Doktrin, hat sie neue Nahrung bekommen, auch wenn Lateinamerika darin nur eine Nebenrolle zukommt.
In der Tat sind die Sonderrolle der Vereinigten Staaten im amerikanischen Doppelkontinent und ihre machtpolitische Dominanz seit dem 19. Jahrhundert nicht zu verleugnen. Die Hegemonie der USA lässt sich an der Vielzahl von Interventionen oder an der wirtschaftlichen Abhängigkeit ablesen, unter denen die lateinamerikanischen Staaten jahrzehntelang gelitten haben. Der Begriff Imperialismus, zumal in seiner informellen Variante, trifft daher für einzelne Phasen der Geschichte der US-amerikanischen Lateinamerikapolitik durchaus zu. Doch trotz der durchgängigen Machtasymmetrie unterlagen die interamerikanischen Beziehungen einem erheblichen historischen Wandel.
Außerdem hat die neueste von postkolonialen Theorien beeinflusste Geschichtsschreibung seit den 1990er-Jahren die kulturelle Dimension des Beziehungsgeflechts in den Amerikas betont. Vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierungsprozesse hat man sich innovativen Fragestellungen geöffnet und den Blick für transnationale Interaktionen und Verflechtungen in Bereichen wie Wirtschaft, Kultur oder Telekommunikation geschärft. Dabei geht es um die Dynamik von Identitäten vor dem Hintergrund eines Begriffes von Kultur, der diese als Geflecht von Symbolen und als ständig sich wandelnden Prozess versteht. Bilder und Repräsentationen vom Anderen und vom Selbst spielen dabei eine zentrale Rolle. So wie sich der Westen nach Edward Said, dem Theoretiker des Orientalismus, sein orientalisches Anderes schuf, so schufen sich die Vereinigten Staaten mit Lateinamerika ihr Anderes. Angesichts der durch diese Erkenntnis ausgelösten Debatten spricht man in den US-amerikanischen Kulturwissenschaften jüngst gar von einem „Hemispheric Turn“.
Allerdings – und das blieb bislang in der Regel unbeachtet – gilt diese Aussage auch umgekehrt. Die Beziehungen zwischen den Amerikas kann man nicht als Einbahnstraße verstehen. Die einfachen Dichotomien von wohlwollenden Modernisierern und traditionalen Empfängern oder von imperialistischen Eroberern und bedauernswerten Opfern greifen für die Charakterisierung des Verhältnisses von den USA und Lateinamerika zu kurz. Vielmehr haben Lateinamerikaner die Konflikte und Begegnungen mit den großen Nachbarn auf ihre eigene Art erlebt, gedeutet und beeinflusst. Die Auseinandersetzung mit dem anderen Amerikaner spielte sich auf unterschiedlichen Ebenen ab. Dabei änderte sich das Raumverständnis beständig. In der Unabhängigkeitsepoche positionierte sich Amerika als eigene Sphäre im Weltkontext neu und löste sich von der kolonialen europäischen Vorstellung der „Neuen Welt“, in der alles möglich und erlaubt war. Doch auch innerhalb der Amerikas waren die Raumvorstellungen beständig im Fluss, etwa wenn die Staatsgrenzen zwischen Nord und Süd verschoben oder durch Migrationsprozesse monolithische Nationsvorstellungen unterwandert wurden. Durch diese permanenten Bewegungen ergaben sich vielfältige Kontaktzonen zwischen den vermeintlich fest gefügten Räumen von Anglo- und Lateinamerika, die sich vor dem Hintergrund der Einbindung in den globalen Kontext dynamisch veränderten. Diese Verflechtungsprozesse zwischen Räumen interessieren im Folgenden besonders, denn die Geschichte der interamerikanischen Beziehungen ist eine geteilte Geschichte, in der und durch die sich nicht nur Latinos, sondern auch Anglos verändert haben.
In diesem Buch wird dem Wandel der Raumvorstellungen durch die Gliederung Rechnung getragen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, wobei chronologische Einschnitte die Unterteilung in Hauptkapitel vorgeben. Die Kapitelstruktur berücksichtigt die Vielfalt der Ebenen und bezieht auch die kulturelle Dimension mit ein. Neben der Rolle von staatlichen wird auch die von nicht-staatlichen Akteuren in die Darstellung mit einfließen.
Wie die „Neue Welt“ als europäische Raumvorstellung die Kolonialzeit prägte, wie sich hier aber auch schon früh durch konfessionelle und machtpolitische Gegensätze Räume herausentwickelten, deren Interaktionen sich verdichteten, ist das Thema des ersten Kapitels. Kapitel II zeigt die Wege zur Unabhängigkeit, um danach die interamerikanischen Beziehungen und Wahrnehmungen im Schatten der Kriege darzustellen. In dieser Zeit wurde ein dezidierter Gegensatz zwischen Amerika und Europa konstruiert, der auch die folgende Phase bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch prägen sollte. Dieser Antagonismus gipfelte in der Vorstellung von einer eigenen „westlichen Hemisphäre“, die die interamerikanischen Beziehungen im Kontext der europäischen Bedrohung beeinflusste. Die vorübergehende Abwehr dieser Bedrohung, so die These von Kapitel III, schuf die Voraussetzung für den räumlichen Expansionismus der Vereinigten Staaten, durch den sich die Beziehungen vor allem zu den Nachbarn in Mexiko und in der Karibik radikal wandeln sollten. Worauf das panamerikanische Raumkonstrukt gegen Ende des 19. Jahrhunderts basierte und inwiefern es integrative Wirkung entfalten konnte, fragt Kapitel IV. Nur scheinbar paradoxerweise, so argumentiert Kapitel V, liefen die panamerikanischen Bemühungen teils parallel zu den imperialistischen Bestrebungen der Vereinigten Staaten, die im Krieg gegen Spanien von 1898 / 99 und im Interventionismus im karibischen Raum gipfelten. Das informelle Imperium der USA blieb jedoch nicht unwidersprochen. Insbesondere durch die mexikanische Revolution ab 1910, die einen der Schwerpunkte von Kapitel VI bildet, kam es in die Kritik, wenngleich der Erste Weltkrieg die Stellung Washingtons im Süden dann wieder festigte. Allerdings ging auch der lateinamerikanische Nationalismus gestärkt aus diesem Weltkonflikt hervor, wie Kapitel VII verdeutlicht. In Kapitel VIII stehen erneut hemisphärische Solidaritätsbestrebungen im Mittelpunkt, die auf den zweiten großen Gewaltausbruch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückzuführen waren. Kapitel IX und X begeben sich in die Zeit des Kalten Kriegs, in der Lateinamerika in der US-amerikanischen Sicht kaum mehr als eine Peripherie im Kampf gegen den Kommunismus war, in der jedoch auch das Gegenkonzept eines unabhängigen Raums, einer Dritten Welt, im Süden entstand. Das Spannungsfeld zwischen den sich verdichtenden transamerikanischen Verflechtungen und den zeitgleichen Abschottungsbemühungen andererseits ist Thema des Schlusskapitels XI.
Mein Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs 1571 „Zwischen Räumen“ sowie des Sonderforschungsbereichs 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“. Beide Forschungskontexte lieferten wichtige Anregungen zur Arbeit an diesem Buch. Den Kolleginnen und Kollegen dieser Projekte und insbesondere am Lateinamerika-Institut und im Netzwerk Area Histories sei für wichtige Kommentare, Diskussionen und Kritiken gedankt.
Meiner Frau Silke, die mich auf meinen Reisen zwischen Räumen in den Amerikas begleitet hat und hoffentlich bald wieder begleiten wird, widme ich dieses Buch.
Berlin, im Juni 2011
Stefan Rinke
1492 |
Kolumbus landet auf Guanahani |
1493 |
Päpstliches Edikt Inter Caetera |
1494 |
Vertrag von Tordesillas |
1497 |
John Cabot an der Küste Nordamerikas |
1507 |
Erfindung des Namens Amerika |
1562 |
Erste Reise von John Hawkins |
1577 – 1580 |
Weltumsegelung von Francis Drake |
1607 |
Gründung von Jamestown, Virginia |
1620 |
„Pilgerväter“ landen in Plymouth |
1655 |
Englische Eroberung Jamaikas |
1701 – 1713 |
Spanischer Erbfolgekrieg |
1703 |
Englisch-Portugiesischer Handelsvertrag (Methuen-Vertrag) |
1739 – 1748 |
Krieg von Jenkins’ Ohr |
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Nord und Süd in dem Erdteil, der seit rund 500 Jahren Amerika genannt wird, beginnt nicht erst mit der Ankunft der Europäer 1492. Der Doppelkontinent war vielmehr schon Jahrtausenden zuvor geprägt von Wanderungen. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass die ersten Menschen in die für sie neue Welt einwanderten. Zumindest ein Teil dieser frühen Migranten kam über eine eiszeitliche Landbrücke in der Beringsee aus Sibirien über Alaska nach Nordamerika und breitete sich nach Süden aus. In der Folgezeit bildete sich eine außerordentliche Vielfalt an Kulturen, die transregionale Kontakte und Beziehungen aufbauten, was insbesondere auch für den mesoamerikanischen Raum und den daran angrenzenden Südwesten der heutigen USA galt. Angepasst an die verschiedenartigen Umweltbedingungen prägten Großreiche, Stammesgesellschaften und Jäger- und Sammlergruppen unterschiedliche Räume, die Seite an Seite existierten und teils eng miteinander verflochten waren.
Vielfalt der Räume
Mit der Ankunft der Europäer änderte sich die Grundkonstellation, denn die Eroberer verdrängten, töteten oder unterdrückten viele der höchst unterschiedlichen Ethnien, denen Kolumbus (ca. 1451 – 1506) die Kollektivbezeichnung indios gegeben hatte. Die Kolonialherrschaft, die in den folgenden Jahrhunderten entstand, war jedoch keineswegs einheitlich, denn die neu entdeckten Räume wiesen enorme Unterschiede auf. So gab es, wie die Europäer schnell feststellten, nicht die eine „Neue Welt“, sondern viele Räume, in denen unterschiedliche Völker lebten und die mit unterschiedlichen Methoden besiedelt und ausgebeutet werden mussten. Dabei sahen die Spanier sich bald mächtigen Konkurrenten gegenüber, die ihnen den Rang streitig machten. So überquerten mit den Eroberern und Siedlern auch europäische Rivalitäten und Konflikte den Atlantik, die man kennen muss, um die frühe Geschichte der Verflechtungen innerhalb der Amerikas zu verstehen.
Bereits bei Kolumbus waren die Entdeckungen der neuen Länder mit der formellen Inbesitznahme einhergegangen, die notariell verbrieft wurde. Die Spanier bemühten sich sogleich erfolgreich um eine diplomatische Absicherung ihres Entdeckungsmonopols im Westen. Papst Alexander VI. (1431 – 1503) bestätigte der spanischen Krone die neuen Besitzungen mit der Bulle Inter Cetera von 1493 und rechtfertigte dies mit dem Missionsauftrag. Anderen europäischen Mächten untersagte der Papst den Zutritt zu den neuen Gebieten ausdrücklich, ja er drohte ihnen bei Zuwiderhandeln sogar mit der Exkommunikation. Diese päpstliche Legitimierung war wichtig im Konkurrenzkampf mit Portugal. Sie war außerdem eine damals durchaus übliche, den Rechtsauffassungen im Umgang mit Heiden entsprechende Maßnahme. Das Land der Heiden war demnach Missionsgebiet und konnten einem christlichen Herrscher zur – auch gewaltsamen – Mission zugewiesen werden. Eroberung und Mission gingen von nun an Hand in Hand, und Geistliche sollten die spanischen Konquistadoren auf ihren Zügen begleiten.
Ebenso wichtig wie die religiöse war den Spaniern die machtpolitische Absicherung der Expansion. Daher kam es am 7. Juni 1494 zum Vertrag von Tordesillas, in dem sich die beiden iberischen Kronen auf den 46. Grad westlicher Länge als Trennungslinie der Expansionsgebiete einigten. Alle Gebiete westlich dieser Linie sollten Spanien gehören, die östlichen hingegen Portugal. Mit diesem Vertrag hatte man eine Raumordnung geschaffen und die neuen Länder im Westen in Interessensphären der Entdecker aufgeteilt, die exklusiv zum Herrschaftsgebiet der jeweiligen Krone als eigenständige Königreiche zählten. Ohne es zu wissen, bekam die portugiesische Krone damit Ansprüche auf Ostbrasilien zugesprochen. Die Spanier wussten zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig, dass ihnen ein riesiger Kontinent zufiel, war man doch noch davon überzeugt, den westlichen Seeweg nach Indien entdeckt zu haben.
Erfindung Amerikas
Das Wissen, dass es sich bei den Entdeckungen der iberischen Mächte um einen neuen Kontinent, eine Neue Welt, handelte, sollte sich aber zu Beginn des 16. Jahrhunderts schnell durchsetzen. 1507 bereits erfanden humanistische Gelehrte in Lothringen den Namen Amerika. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Eroberungen der Räume, in denen sich die spanische Siedlungskolonisation vollzog, im Wesentlichen abgeschlossen. Im Hinterland dagegen wie zum Beispiel in den riesigen Territorien des heutigen Südwestens der USA oder in Florida unterhielt man bestenfalls Missionen oder Militärstützpunkte, ohne jedoch eine wirksame Durchdringung zu erzielen. Die Portugiesen intensivierten zu diesem Zeitpunkt ihre Kolonisierungsbemühungen entlang der brasilianischen Küste. Sowohl für die spanische als auch für die portugiesische Krone blieben die eroberten Gebiete in erster Linie Quellen des Reichtums, vor allem von Edelmetallen, die es zu nutzen galt, um den eigenen Staatshaushalt und die Politik in Europa zu finanzieren. Insgesamt klafften die Idealvorstellungen der iberischen Mutterländer und die Realitäten in Amerika weit auseinander.
Die Monopolansprüche bestanden schon bald nach der Entdeckung nur noch theoretisch, da sich europäische Rivalen in den Amerikas breit machten. Neben den Franzosen waren es im 16. Jahrhundert vor allem die Engländer, die die Ansprüche der iberischen Mächte anfochten, indem sie auf eigene Entdeckungsfahrten gingen. Zwar bezeichnete der Begriff „America“ im englischen Sprachgebrauch noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein die iberischen Besitzungen mit ihren ungeahnten Reichtümern. Doch schon 1497 erfolgte die symbolische Inbesitznahme neu entdeckter Länder in Nordamerika durch den Genuesen in englischen Diensten, John Cabot (ca. 1450 – 1499), der ebenfalls glaubte, Asien entdeckt zu haben. Cabots Entdeckung sollte später eine Grundlage der englischen Ansprüche in den Amerikas bilden. Unter der Herrschaft Heinrichs VIII. (1509 – 1547) gab es keine weiteren Entdeckungsreisen, denn angesichts der innenpolitischen Probleme waren dem König gute Beziehungen zu Spanien wichtiger als Abenteuer in Übersee.
Diese Zurückhaltung gab seine Nachfolgerin Elisabeth I. (1558 – 1603) auf, was sich an den Kolonialprojekten von Gelehrten und Abenteurern wie Humphrey Gilbert (1537 – 1583) und Richard Hakluyt (1552 – 1616) ablesen lässt. Das bis dahin gute Verhältnis zwischen Spanien und England verschlechterte sich in kurzer Zeit. Ziel der englischen Politik war es von nun an, die Monopolstellung Spaniens in Amerika zu brechen, um am Reichtum der Neuen Welt teilzuhaben, Handelsvorteile zu erlangen und eigene Siedlungsprojekte durchzusetzen. England sollte außerdem als Schutzmacht der Protestanten dem katholischen Universalanspruch in Amerika entgegentreten und sich den Indigenen als neuer Verbündeter gegen die spanische Herrschaft anbieten.
Q
Richard Hakluyt fordert eine englische Kolonisation in Nordamerika (1582)
Aus: Eberhard Schmitt et al., Bd. 3, S. 81.
Wenn ich … bedenke, dass für jeden seine Zeit kommt, und sehe, dass die Zeit der Portugiesen vorbei ist und dass die Nacktheit der Spanier und ihre langgehüteten Geheimnisse, mit denen sie sich daran machten, die Welt zu täuschen, nun endlich offengelegt werden, so fasse ich große Hoffnung, dass die Zeit sich nähert und bereits da ist, in der wir Engländer – so wir nur den Willen aufbringen – mit dem Spanier und dem Portugiesen den Gewinn in den Gebieten Amerikas und in anderen Gegenden, die bis jetzt unentdeckt sind, teilen.
Und wenn wir in uns den Wunsch verspüren, die Ehre unseres Landes zu befördern, ein Wunsch, der in jedem aufrechten Mann sein sollte, so hätten wir sicherlich nicht die ganze Zeit über die Inbesitznahme der Länder verzögert, die nach Recht und Billigkeit uns gehören …
Neben dem Norden Amerikas, wo man nach der Nordwestpassage suchte, rückte in den 1560er-Jahren der karibische Raum in den Mittelpunkt des englischen Interesses. Dort betrieb John Hawkins (1543 – 1595), finanziell unterstützt von Kaufleuten und später auch von der Krone, ab 1562 illegalen Handel mit Sklaven. Aufgrund des Erfolgs kam man in England zu der Auffassung, dass sich weitere Unternehmungen lohnen müssten. Hawkins’ dritte Reise zeigte jedoch, dass diese Annahme unberechtigt war. Nach Raubzügen entlang der Küste musste er sich im September 1568 den Spaniern geschlagen geben. Allerdings konnten Hawkins und sein Vetter Francis Drake (ca. 1540 – 1596) entkommen. In der Folgezeit sollte Drake mit seinen Husarenstücken wie u.a. der Einnahme der Städte Nombre de Dios auf der Landenge von Panama 1572 oder der Plünderung Valparaísos auf seiner Weltfahrt 1578 zum bekanntesten Freibeuter seiner Zeit werden. Ab 1584 befand sich Spanien auch offiziell im Krieg gegen England, das die Bestrafung Drakes abgelehnt hatte. In diesem Krieg plünderten und brandschatzten die Engländer selbst das stark befestigte Cartagena de Indias, den Stolz der Spanier. Der spanische Gegenschlag, die Invasion Englands mit der Armada, scheiterte 1588. Doch auch die größte und vorerst letzte Operation der Engländer, die 1595 mit einer Flotte unter Hawkins und Drake das spanische Imperium angriffen, wurde zu einem Fehlschlag, da die Spanier ihr Verteidigungssystem verstärkt hatten.
Ungefähr zur selben Zeit bereitete man in England eine Siedlungskolonisation in Amerika vor. Der wichtigste Akteur war Walter Raleigh (ca. 1552 – 1618), der auf Gewinne mit tropischen Erzeugnissen spekulierte. Raleighs erste Versuche im heutigen Virginia und North Carolina scheiterten schon nach wenigen Jahren. Später suchte er in der Karibik und im nördlichen Südamerika nach dem sagenhaften Goldland. Als sich nach dem Tod von Königin Elisabeth die englische Spanienpolitik wandelte, wurde Raleigh des Hochverrats angeklagt und nach einer erneuten Raubfahrt 1618 hingerichtet. Zuvor war es jedoch im abgelegenen Norden Amerikas ab 1607 in Jamestown, Virginia, zu einer ersten erfolgreichen englischen Ansiedlung gekommen. Dort folgten die Engländer lange dem spanischen Vorbild und versuchten die Region zu einem protestantischen Mexiko zu machen. 1620 landeten die „Pilgerväter“ in Neu England.
Amerika als res nullius
Um die Wende vom 16. und 17. Jahrhundert hatte sich damit ein Gegensatz zwischen Spanien und England verfestigt, der in der Folgezeit prägend bleiben sollte. Dieser Gegensatz basierte letztlich auf der Nichtanerkennung des iberischen Alleinherrschaftsanspruchs durch die englische Krone. Auch in diesem Zusammenhang blieb die Verflechtung mit dem spanischen Vorbild, wenn auch als Antithese, offensichtlich, denn britische und kreolische Autoren betonten, dass es sich in Amerika um eine res nullius handelte, die im Besitz der gesamten Menschheit gewesen sei. Die Legitimität von Herrschaft basierte demnach auf der effektiven Inbesitznahme und Inwertsetzung durch Siedler. Natürlich wollte man damit den spanischen, vom Papst bestätigten Anspruch unterlaufen. Das gelang jedoch bis ins 18. Jahrhundert hinein nur ansatzweise, wie etwa die Auseinandersetzungen in umstrittenen Grenzgebieten wie etwa Britisch-Honduras oder Carolina zeigen sollten. Die Einwohner dieser Gebiete waren eben nicht eindeutig der einen oder dem andern Herrschaft zuzurechnen. Sie blieben in einem Zwischenraum der Staatenlosigkeit. Letztlich blieb die englische Rechtsposition umstritten und musste sich in diskursiver Auseinandersetzung mit den Spaniern immer wieder neu beweisen.
Die Engländer folgten mit ihrem Vorgehen dem Beispiel der Franzosen, deren Aktivitäten schon früh zu heftigen Auseinandersetzungen mit Portugal und Spanien geführt hatten. Im spanisch-französischen Friedensschluss von Cateau-Cambrésis (1559) soll daher in einer mündlichen Übereinkunft festgelegt worden sein, dass der Friede jenseits des ersten Meridians im Westen keine Gültigkeit habe. Die Engländer folgten diesem Prinzip, das angeblich Francis Drake auf die griffige Formel „no peace beyond the line“, „kein Frieden jenseits der Linie“, brachte, einer Linie, die später als Freundschaftslinie bekannt werden sollte. Wenn auch nicht de iure, so stellte die Neue Welt damit doch de facto einen eigenen rechtlosen Raum dar, in dem weitergekämpft, geplündert und gekapert wurde, auch wenn in Europa noch oder längst wieder Frieden herrschte.
E
Freundschaftslinie
Den euphemistischen Begriff „Freundschaftslinie“ verwendete Kardinal Richelieu 1634. Der Begriff bezeichnete gedachte Linien auf den Weltmeeren, jenseits derer die zwischen den europäischen Mächten geschlossenen Friedensverträge außer Kraft waren. Dort verübte kriegerische Handlungen wie Raub oder Freibeuterei sollten keine Rückwirkung auf den Frieden in Europa haben. Seit der ersten Erwähnung einer solchen Demarkationslinie in einer mündlichen Absprache zwischen Frankreich und Spanien zum Frieden von Cateau-Cambrésis (1559) wurden die Freundschaftslinien immer wieder verschoben.
Unter Rechsthistorikern wurde lange darüber debattiert, ob es sich nach dem damals geltenden Völkerrecht bei Amerika um einen rechtlosen Raum gehandelt habe oder ob der Begriff „kein Frieden jenseits der Linie“ nicht vielmehr nur auf die tatsächliche Friedlosigkeit in der Region hinwies.
Karibik
In den Kerngebieten der iberischen Herrschaft hatten sich die Engländer im 16. Jahrhundert noch nicht festsetzen können. Die Spanier, die die englische Expansion im Norden als Bedrohung erkannten, waren bemüht, diesen Zustand zu wahren. Schon 1565 gründeten sie mit dem Fort San Agustín in Florida ein Bollwerk und bauten ihre Positionen im heutigen Südwesten der USA schrittweise aus. Die besonders schwierige Verteidigungssituation in der Karibik stellte sie jedoch vor kaum lösbare Probleme. Die Inseln der Großen Antillen, Kuba, Hispaniola, Jamaika und Puerto Rico, erlebten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen relativen Abstieg, da das Festland viele Siedler lockte. Allerdings blieben diese Inseln noch unumstritten im spanischen Besitz und Häfen wie San Juan und Havanna erfüllten wichtige Verteidigungsfunktionen. Die Inseln der Kleinen Antillen waren dagegen von den Spaniern gar nicht erst besetzt worden, weil dazu die militärischen Mittel fehlten. Hier setzten sich die europäischen Rivalen relativ problemlos fest.
Die Engländer errichteten schon in den 1620er-Jahren auf Barbados und Barbuda sowie wenig später auf Antigua und Montserrat Stützpunkte. Der Besitz dieser kleinen Inseln blieb heftig umstritten und oft wechselten sie die Besitzer. Lukrativ waren die Aktivitäten dennoch, denn vor allem der Schmuggelhandel blühte. Die Siedler, die unter dem spanischen Handelsmonopol Mangel litten, trieben gerne Geschäfte mit den Schmugglern. Häufig duldeten die Kolonialbeamten diese Machenschaften. Hinzu kam, dass die englischen Interessen in das lukrative Geschäft mit dem Zucker einstiegen und von afrikanischen Sklaven bearbeitete Plantagen auf ihren Karibikinseln aufbauten. Aus spanischer Sicht noch bedrohlicher waren die Vorstöße der Engländer auf dem mittelamerikanischen Festland, unter anderem im holzreichen Britisch Honduras, dem heutigen Belize, sowie an der Moskitoküste des heutigen Nicaragua.
Lordprotektor Oliver Cromwell (1599 – 1658) forderte Spanien dann erneut offiziell heraus. Angespornt von dem abtrünnigen Dominikaner Thomas Gage (ca. 1590 – 1656), der als einer der ganz wenigen Ausländer die Kolonien aus eigener Anschauung kannte, ließ Cromwell 1654 die spanischen Besitzungen mit einer großen Flotte angreifen. Der groß angelegte Eroberungsplan mit dem Namen „Western Design“ scheiterte fast auf ganzer Linie. Immerhin gelang mit der Eroberung Jamaikas (1655), das zum Zentrum der englischen Aktivitäten in der Karibik werden sollte, ein verglichen mit den ursprünglichen Zielen sehr bescheidener Erfolg. In der Folgezeit kooperierten die Engländer mit Piraten aller Herren Länder, die 1660 Port Royal auf Jamaika als Hauptstadt für ihre Raubzüge gegen die spanischen Küstenstädte wählten. Besonders spektakulär war der Überfall auf Panama 1671 durch eine Flotte unter Henry Morgan (ca. 1635 – 1688), der sogar offiziell zum Gouverneur von Jamaika (1674 – 82) aufstieg. Die Seeräuber genossen dort praktisch den Schutz der Engländer, bis 1692 ein Seebeben Port Royal zerstörte.
Methuen-Vertrag
Mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701 – 1713) wendete sich das Blatt. Nicht mehr der englisch-spanische Gegensatz, sondern der zwischen England und Frankreich bestimmte fortan das Geschehen. England schloss sich 1701 der großen Haager Allianz an, um die Thronfolge eines französischen Bourbonen in Spanien zu verhindern. Auch Portugal gehörte ab 1703 zur Allianz und stellte sich damit offen an die Seite Englands, was durch einen Handelsvertrag, den so genannten Methuen-Vertrag (1703) noch unterstrichen wurde. Durch das Abkommen erhielten portugiesische Weine in England eine zollmäßige Vorzugsbehandlung, während Portugal umgekehrt den englischen Stoffen Präferenzen im eigenen Land und in Brasilien einräumte. Dieser Vertrag richtete Portugal einseitig auf die englische Wirtschaft aus und sollte auf lange Zeit die enge Beziehung, ja die Unterordnung der portugiesischen Außenpolitik gegenüber England begründen. Der Vertrag öffnete auch den brasilianischen Markt für die Engländer, die ihn schnell mit ihren Waren überschwemmten. Eine eigenständige Textilindustrie konnte sich vor diesem Hintergrund weder in Portugal noch in Brasilien entwickeln. Stattdessen floss das gerade entdeckte brasilianische Gold nun in großen Strömen nach England.
In Amerika fand der Krieg als Seekrieg statt, bei dem die Engländer bei weitem überlegen waren. 1703 griffen sie Kuba und die Inseln der Kleinen Antillen erfolgreich an, 1707 suchten sie die Städte der südamerikanischen Nordküste und erneut Kuba heim. Die Folge war die weitgehende Vernichtung der Überseeflotte Frankreichs und die Schwächung der Verteidigungsfähigkeit der Spanier in den Kolonien. Im Frieden von Utrecht (1713) ging das Monopol des Sklavenhandels für 30 Jahre an England. Gleichzeitig erhielt es das Sonderrecht des direkten Handels mit Amerika. Wenn dies auch formell auf nur ein Schiff pro Jahr beschränkt war, öffnete die Regelung dem Schmuggel noch weiter Tür und Tor. Vom Stapelplatz Jamaika aus fuhren die englischen Handelsschiffe nun mehr oder weniger regelmäßig die hispanoamerikanischen Häfen an, wo ihre Waren dankbar angenommen wurden. Spanien fehlten nun schlicht die Machtmittel, um daran etwas zu ändern. Schrittweise gab man die Universalansprüche auf und duldete die Existenz der englischen Besitzungen in Amerika. Gemeinsam einigten sich die europäischen Rivalen auf die Einstellung der Freibeuterei und begannen, die Seeräuber massiv zu verfolgen.
Dauerhaften Frieden brachte das 18. Jahrhundert jedoch nicht. Im Gegenteil, die Zusammenstöße zwischen englischen Schmugglern und spanischen Küstenwachen nahmen mit der Zeit zu. Durch die harte Haltung Spaniens, das die fremden Seefahrer in amerikanischen Gewässern als Piraten behandelte, gewannen die Kämpfe oft eine zusätzliche Schärfe. Gleichzeitig drängten die Koloniallobby in England und die Handelsinteressen in den nordamerikanischen Kolonien auf ein aggressiveres Vorgehen in der Karibik. Im so genannten Krieg von Jenkins’ Ohr (1739 – 1748), der als österreichischer Erbfolgekrieg in Europa ausgetragen wurde, zeigte sich erneut, dass Spanien über eine Statistenrolle in der internationalen Politik kaum mehr hinauskam.
Die Entwicklungen auf der internationalen Ebene erschienen deshalb so bedrohlich, weil sie die Schwäche der iberischen Mutterländer und damit auch die Fragilität der Herrschaft in den amerikanischen Kolonien deutlich werden ließ. Denn einerseits gewannen die Kolonisten in den spanischen und portugiesischen Besitzungen im Verlauf des 17. Jahrhunderts stetig an faktischer Autonomie, andererseits konnte man die Wachstumsdynamik der englischen Kolonien im Norden im 18. Jahrhundert nicht mehr übersehen. Mit dem Aufstieg der englischen Kolonien stieg auch das interamerikanische Interesse langsam an.
religiöser Antagonismus
Dabei standen religiöse Motive im Mittelpunkt, die sich aus dem konfessionellen Gegensatz herleiteten, der ja von Beginn an eine wichtige Rolle bei der Legitimation des englischen Ausgreifens nach Amerika spielte. So entwickelten führende neuenglische Puritaner wie etwa Cotton Mather (1663 – 1728) in Gedankenexperimenten die Idee eines theokratischen „Neuen Jerusalems“ im Land der Azteken. Das belegt vor allem Mathers programmatische, ursprünglich auf Spanisch verfasste Schrift La fe del Christiano en veyntequatro articulos de la institucion de Christo embiada a los españoles, paraque abran sus ojos, y paraque se conviertan de las Tinieblas a la luz, y de la potestad de Satanas a Dios von 1699, deren englische Übersetzung 1704 erschien. Mit missionarischem Eifer wollte Mather das Seelenheil der katholischen Spanier retten. Die protestantische Mission sollte darüber hinaus die im Süden lebenden Indigenen vom Katholizismus befreien. Der Missionsanspruch des Nordens war also schon früh angelegt und sollte eine Konstante der Verflechtungen zwischen den Amerikas bleiben.
Konfessionelle Vorurteile entwickelten sich in diesem Zusammenhang zur Grundlage negativer Stereotypen zwischen Nord und Süd. Besonders nützlich für die lebhafte antispanische Propaganda der Engländer waren die Schriften von Bartolomé de las Casas (1484 – 1566). Las Casas’ Anklage gegen die Missstände der Kolonialherrschaft und die Exzesse gegen die indigene Bevölkerung, mit der er die spanische Krone zu einem Umdenken in der Indianerpolitik bewegen wollte, griffen Autoren wie etwa Thomas Gage in viel gelesenen Polemiken dankbar auf, um die englische Expansion in Amerika zu rechtfertigen.
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Thomas Gage attackiert die „barbarische Grausamkeit“ der Spanier
Außer der Gewalt kenne ich keinen Rechtsanspruch den er [der Spanier] hat, der nicht durch denselben Anspruch und stärkere Gewalt verdrängt werden könnte. … Unzweifelhaft liegt der rechtmäßige Anspruch auf diese [amerikanischen] Länder nur bei den Eingeborenen selbst, die diesen legal auf Andere übertragen können, etwa wenn sie die Engländer aus freien Stücken um Schutz bitten. Und wenn man anführt, dass die unmenschliche Schlachterei, die die Indianer früher begangen hätten, als sie so viele Menschen ihren Götzen opferten, den Spaniern ein ausreichendes Argument an die Hand gegeben habe, um die Indianer von ihrem Land zu vertreiben, so kann dasselbe Argument mit viel besserer Grundlage gegen die Spanier selbst gewendet werden. Sie haben so viele Millionen Indianer dem Götzen ihrer barbarischen Grausamkeit geopfert, dass heute viele einst bevölkerungsreiche Inseln und große Territorien auf dem Festland fast unbewohnt sind, wie Bartolomé de las Casas, der spanische Bischof von Guaxaca in Neu-Spanien, mit seinen gedruckten Werken ausreichend belegt hat.
schwarzen Legende
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Schwarze Legende
Wahrscheinlich war es der spanische Historiker Julián Juderías, der den Begriff „schwarze Legende“ in seinem Werk La leyenda negray la verdad histórica (1914) erstmals benutzte. Seither meint man damit die negativen Stereotype über Spanien und die Spanier, die sich u.a. auf die Inquisition und den fanatischen Katholizismus, die Eroberung Amerikas und die spanische Kolonialherrschaft als solche, den Kampf gegen die Niederlande und die Rolle im Dreißigjährigen Krieg sowie auf Spaniens Rückständigkeit im Vergleich zum restlichen Westeuropa bezogen. Laut Juderías wurden die Vorurteile in einschlägigen Werken seit der Frühen Neuzeit immer weiter tradiert und waren vom Protestantismus und von der Aufklärung inspiriert. Juderías und nach ihm eine Vielzahl von Historikern waren darum bemüht, die negative Interpretation der spanischen Geschichte zu entkräften, wobei sie allerdings oft ins Gegenteil verfielen und eine apologetische „weiße Legende“ (leyenda rosa) fabrizierten.
Für die Geschichte der interamerikanischen Beziehungen waren die antispanischen Ressentiments deshalb so wichtig, weil sie später von manchen US-Amerikanern auf ihre lateinamerikanischen Nachbarn übertragen wurden und dort ähnliche Abwehrreflexe auslösten.
Kontakten zwischen den Kolonisten, die sich vor allem in den Expansionszonen des nördlichen Neuspaniens sowie in der Karibik ergaben. Dabei standen ökonomische Motive im Mittelpunkt. Koloniale Eliten in den Handelsstädten Neu-Englands sowie in Philadelphia und New York zeigten großes Interesse an den wirtschaftlichen Potenzialen des spanischen und portugiesischen Amerikas. So gab es in New York seit 1735 ein Angebot an Spanischkursen und 1751 veröffentlichte Ebenezer Hazard ein Spanischlehrwerk. Die Presse brachte Nachrichten über wirtschaftliche Entwicklungen in den spanischen Kolonien, die für die eigene Region wichtig sein konnten. Die Grundlage des Interesses war der stetig wachsende Handel der Kolonisten mit ihren Nachbarn im Süden, wobei es sich zumeist um Schmuggel handelte. Frühzeitig beteiligten sich Nordamerikaner am Sklavenhandel zwischen Afrika, Hispanoamerika und den Karibikinseln.
Unsicherheit
Vida de Santa Rosa de Santa María
Zwischenräume
auf die spanische Politik der Einbeziehung der Schwarzen in den Milizdienst. Die spanischen Würdenträger wiederum ahmten die Diplomatie der Briten und Franzosen im Umgang mit den Indigenen nach und gingen im Grenzland im Lauf der Zeit selbst zum Abschluss geschriebener Verträge über.
viele neue Welten