Herausgegeben von
Kai Brodersen, Martin Kintzinger,
Uwe Puschner, Volker Reinhardt
Herausgeber für den Bereich Antike:
Kai Brodersen
Beratung für den Bereich Antike:
Ernst Baltrusch, Peter Funke,
Charlotte Schubert, Aloys Winterling
Martin Bommas
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in
und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
© 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch
die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23552-0
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-72843-5
eBook (epub): 978-3-534-72844-2
Geschichte kompakt
Karte Ägypten
Vorwort
I. Die Vorgeschichte Ägyptens (ca. 10.000–3300)
1. Neolithikum im Niltal
2. Die frühe Besiedelung des Niltales
3. Beginn der Industrialisierung
4. Gräberfelder des neolithischen Ägypten
5. Die Naqada-Kultur
5.1 Naqada II
5.2 Naqada III
II. Die Frühzeit (Naqada III A–D, Dynastien 0–2; ca. 3300–2740)
1. Staatsbildung
2. Mythos als Ursprung von Geschichte
3. Narmer
3.1 Narmer und der Ursprung ägyptischen Herrschaftsanspruchs
3.2 Die Dynastie 0
4. König Aha und die 1. Dynastie
4.1 Königsnekropole in Abydos – Regierungssitz bei Memphis
5. Die 2. Dynastie
III. Das Alte Reich (Dynastien 3–6, 7–8; ca. 2686–2160)
1. Der Übergang zum frühen Alten Reich
2. Die 3. Dynastie
2.1 König Djoser
2.2 Djoser und die Nachwelt
3. Die 4. Dynastie
3.1 Königtum und Jenseitsvorstellungen von Djoser bis Snofru
3.2 Die Wirtschaftsreform des Landes
3.3 Die Pyramiden und die Sphinx von Gizeh
4. Die 5. Dynastie
4.1 Religionsvorstellungen
4.2 Der König als Sohn des Re in der 5. Dynastie
4.3 Sonnentempel
4.4 Pyramidentexte
5. Das Ende des Alten Reiches
5.1 Die 6. Dynastie
5.2 Verfall der Zentralgewalt
5.3 Die zunehmende Macht der Gaufürsten
6. Ausblick
IV. Die Erste Zwischenzeit (Dynastie 7–8, 9–10, 11; ca. 2181–2055)
1. Die Dynastien 7–8
2. Verzerrtes Geschichtsbild
3. Die Erste Zwischenzeit als Epoche
4. Die 9.–10. Dynastie, Zeitalter der Herakleopoliten
5. König Intef II. und die Inbesitznahme Oberägyptens während der 11. Dynastie
6. Die kulturelle Entwicklung Ägyptens am Beispiel des Totenglaubens
7. Schenkungen an die Stadtgötter
8. Interregionalität während der Ersten Zwischenzeit
9. Der Topos von den chaotischen Zuständen in der Ersten Zwischenzeit und dessen Neubewertung
10. Ausblick
V. Das Mittlere Reich (Dynastien 11–13, ca. 2055–1773)
1. Gründung und Vision des Mittleren Reiches
2. Mentuhotep II. und das Ende der 11. Dynastie
3. Mentuhotep III.–IV.
4. Der Übergang zur 12. Dynastie
5. Amenemhet I.
6. Sesostris I. und der Beginn der Kultur des Mittleren Reiches: Literatur und Religion
7. Amenemhet II. und Sesostris II.
8. Literatur im Mittleren Reich als Kennzeichen kultureller Blüte
9. Der reife Staat unter Sesostris III.: Königtum und Götterwelt
10. Wirtschaft und Verwaltung am Ende des Mittleren Reiches: Vom Gaufürstentum zum Patrimonalismus
11. Amenemhet III. und die Zentralisierung der Staatsmacht
12. Amenemhet IV. und Königin Neferusobek am Ende der 12. Dynastie
13. Niedergang während der 13./14. Dynastie
14. Ausblick
VI. Die Zweite Zwischenzeit (Dynastien 14–17, 1773–1550)
1. Der Übergang vom Mittleren Reich zur Hyksosherrschaft
2. Die 14. Dynastie
3. Die 15. Dynastie
3.1 Fürst Salitis und die Eroberung des Ostdeltas
3.2 Avaris und die Hyksos
4. Die 15. Dynastie in Unter- und Mittelägypten, die 17. Dynastie in Oberägypten
5. Hyksospolitik in Oberägypten und Nubien
6. Die 17. Dynastie
6.1 Seqenenre lehnt sich gegen die Hyksos auf
6.2 Kamoses Kampf gegen die Hyksos in Avaris
6.3 Ahmose und die Vernichtung der Hyksos
7. Die Zweite Zwischenzeit im Rückblick
VII. Das Neue Reich I: Von der Gründung bis zum Ende der Amarnazeit (Dynastie 18; 1550–1295)
1. Ahmose und die Gründung des Neuen Reiches
2. Amenophis I. bis Thutmosis II
3. Konsolidierung Ägyptens unter Hatschepsut
4. Ägypten wird Weltmacht unter Thutmosis III
5. Amenophis II. und Thutmosis IV.
6. Amenophis III. individualisiert das ägyptische Königtum
7. Amenophis IV./Echnaton und die Amarnazeit
8. Tutanchamuns Versuch einer Rückbesinnung
9. Haremhab, Gründungsvater einer Militärdynastie
VIII. Das Neue Reich II: Die Ramessidenzeit (Dynastien 19–20, 1295–1069)
1. Die frühe Ramessidenzeit bis Ramses II.
2. Ramses II.: Regierung durch erfolgreiche Selbstdarstellung
3. Die Nachfolger Ramses’ II.
4. Die mittlere Ramessidenzeit: Ramses III. und Ramses IV.
5. Die späte Ramessidenzeit und der Niedergang des Neuen Reiches
6. Das Ende des Neuen Reiches
IX. Die Dritte Zwischenzeit (Dynastien 21–25; 1069–655)
1. Der Beginn der Dritten Zwischenzeit
2. Die 21. und 22. Dynastie
3. Die lokalen Dynastien 23 und 24
4. Die 25. Dynastie (Kuschitenzeit)
X. Die Spätzeit (Dynastien 26–30; 672–332)
1. Ägypten zu Beginn der Spätzeit
2. Die 26. Dynastie (Saitenzeit)
3. Die 27. Dynastie (Erste Perserherrschaft)
4. Die letzten einheimischen Dynastien Ägyptens
5. Die 31. Dynastie, die Zweite Perserherrschaft und das Ende des pharaonischen Ägypten
Auswahlbibliographie
Personen- und Ortsregister
In der Geschichte, wie auch sonst,
dürfen Ursachen nicht postuliert werden,
man muss sie suchen. (Marc Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai Brodersen
Martin Kintzinger
Uwe Puschner
Volker Reinhardt
Karte Ägyptens
Geschichtsbilder sind Resulte eingehender Selektionsprozesse von Ereignissen der Vergangenheit. Damit sind sie einem ständigen Wandel unterworfen, ganz gleich, ob sie einem Gegenwartsbewusstein entstammen oder ob es sich um Rekonstruktionen seit Jahrtausenden vergangener Geschichte handelt.
Auf die Auswahl von geschichtsträchtigen Ereignissen der Antike haben wir heute selbstverständlich keinen Einfluss mehr. Was Primärquellen angeht, sind Forscher darauf angewiesen, bewusst gemachte Zeugnisse auszuwerten und unbewusst hinterlassene Daten, wie durch Ausgrabungen gewonnene archäologische Funde, zum Sprechen zu bringen. Die Ägyptologie stellt hier keine Ausnahme dar, auch sie ist auf die Bewertung vorhandener und noch zu gewinnender Quellen angewiesen. Dabei hat die Auswertung gezielt für einen späteren Gebrauch gefertigter altägyptischer Quellen wie Monumente, die die Geschichte derer beleuchten, die sie in Auftrag gaben, den Blick auf die offene Geschichte verstellt. Diese lässt sich nicht immer mit Namen und Regierungsjahren von Pharaonen verbinden. Es liegt in der Natur der Sache, dass nichtoffizialisierte Zeugnisse einen bisweilen unverstellten Blick auf das Alte Ägypten ermöglichen, weil sie sich weniger formalen Zwängen ausgesetzt sahen. Setzt man die Literarizität im Alten Ägypten mit 5 % an – ein sehr optimistischer Wert –, so erhält man den ungefähren Bevölkerungsanteil der kulturschaffenden Elite an der ägyptischen Gesellschaft. Zu Recht wurde seit dem 20. Jahrhundert innerhalb der sich geschichtswissenschaftlich betätigenden deutschsprachigen Ägyptologie der Begriff der Hochkultur bemüht, um die herausragenden Errungenschaften des frühen Alten Ägypten zu benennen. In der Soziologie verwendet, bezeichnet dieser Begriff jedoch die von Eliten als meinungsbildend genutzten Kulturleistungen und bildet damit einen Gegenpol zur Alltagskultur. Dies hatte zur Folge, dass diejenigen Wissenschaftler, die sich um die Identifizierung des Aspektes der Hochkultur bemühen, am kulturschaffenden Prozess offenbar unbeteiligte Schichten ausblenden, obwohl gerade diese die Empfänger waren. Dies hat gerade für das Alte Ägypten seit den 1980er Jahren zu einem unbequem hohen Abstraktionsgrad geführt. Die unteren Schichten namhaft zu machen ist erst gelungen, als während der 1960er Jahre in der englischsprachigen Soziologie und parallel zur Gründung dessen, was heute als Cultural Studies bezeichnet wird, low culture als Untersuchungsgegenstand akzeptiert wurde. Die gegen Ende der 1960er Jahre vermehrt einsetzenden Siedlungsgrabungen in Ägypten sind das wohl deutlichste Kennzeichen dieser Entwicklung. Heute geht es vermehrt darum, die verschiedenen Kommunikationsebenen zwischen den sozialen Schichten Ägyptens zu identifizieren und zu dekodieren. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei für das Alte Ägypten der Akt der Aufführung, der insbesondere dann wichtig wird, wenn die unteren Schichten abgeholt werden sollen: Kulturell siginifikante Interpretationen werden plausibel, universell und sogar vernünftig, wenn sie nur häufig wiederholt werden.
Der vorliegende Band möchte hier neue Wege gehen. Er hat es sich zur Aufgabe gesetzt, neben der pharaonischen Geschichte von den Anfängen bis zur Eroberung des Landes durch Alexander den Großen 333/32 v. Chr., insbesondere kulturgeschichtliche Zusammenhänge zu beleuchten. Dabei soll der Blick auf, oder besser: für die die schweigenden Mehrheiten der Bevölkerung des Alten Ägypten geöffnet werden, wie er sich in Prozessakten, privaten Briefen, aber auch in Hausgrundrissen und pathologischen Befunden erschließt. So fragt dieser Band nicht nur nach gesicherten historischen Daten, sondern auch nach den Strategien kulturellen Erinnerns und Vergessens, nach dem Publikum von Rezitationstexten, nach Ausdrucksformen individueller Religiosität, sozialer Ausdifferenzierung usw. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie Bedeutung generiert und verbreitet wird und welche sozialen Praktiken, Glaubensvorstellungen, Institutionen und politische Strukturen den Fortbestand des pharaonischen Ägypten über 3000 Jahre hinweg garantierten oder in Zweifel zogen.
Birmingham, im Juli 2011 |
Martin Bommas |
Kulturgeschichte Ägyptens
Die Geschichte Ägyptens beginnt lange vor dem Erscheinen der ersten Schriftzeugnisse. Sie ist in erster Linie die Konsequenz aus der zunächst saisonalen, später dauerhaften Besiedelung des Niltals, die bis auf den heutigen Tag fortdauert. Mit dem Eindringen von Bevölkerungsgruppen im Niltal beginnt die Kulturgeschichte des Alten Ägypten.
Bedeutung von Klimaeinflüssen
Die früheste Besiedelung des Niltales kann dank intensiver archäologischer Forschung und einer zunehmend erfolgreichen Deutung materieller Daten als Ausdruck geistiger Entwicklung heute weitestgehend als eigenständig und ohne direkten Bezug auf spätere Phänomene verstanden werden. Wesentlich für diese Erfolge ist die Erkenntnis, dass Verhaltensmuster früher, und insbesondere schriftloser Kulturen von Umweltfaktoren bestimmt werden. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die ägyptische Vorgeschichte losgelöst von den sogenannten historischen Epochen des Alten Ägypten gesehen werden darf, da deren Ausbildung ohne das reiche prähistorische Erbe nicht vollständig gedeutet werden kann. Die Vorgeschichte Ägyptens ist keineswegs eine Besiedelungsgeschichte des Niltals, das vielbemühte Zitat Herodots, demzufolge Ägypten „das Geschenk des Nils“ sei, trifft für die hier behandelte Epoche noch nicht zu. Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass erstens das Klima während der Vorgeschichte Ägyptens nicht trocken war, sondern eine Besiedelung der Wüste noch zuließ. Zweitens ist der durchschnittliche Nilhöchststand weitaus niedriger als während späterer Epochen, in manchen Jahren besteht das Niltal sogar aus wenig dauerhaften und vereinzelten Wadis (Täler), die sich durch Schlammablagerungen voneinander abgrenzen.
Das Paläolithikum
Zu den ältesten Hinweisen auf menschliche Lebensformen am Ende des Paläolithikums ca. 11.000 (soweit nicht anders angegeben, verstehen sich alle Jahreszahlen als v. Chr.) zählen Silexfunde, zumeist Hammersteine, die auf eine industrielle Herstellung hindeuten, auch wenn in der Nähe von Qau el-Kebir unterirdische Flintminen bereits um ca. 33.000 nachweisbar sind. Im Niltal selbst sind diese Werkzeuge jedoch nur in El-Kâb bezeugt, wo um 8000 nomadisierende Jäger leben, die im Winter fischten und Wildtiere jagten und die Wüste im Spätsommer nutzten. Zwischen 11.000 und 5000 sind im Niltal kaum andere menschliche Tätigkeiten bezeugt und mangels Keramik oder Ackerbau noch als paläolithisch zu bezeichnen. In der Westwüste sind hingegen ab ca. 9300 rege Siedlungstätigkeiten feststellbar, für die das feuchte Holozän verantwortlich zu machen ist. Dem Elkâbien im Niltal entspricht hier das frühe Neolithikum (ca. 8500–6100), das in der Westwüste entsteht und durch Tierhaltung geprägt ist. Weit im Süden, in Orten wie Nabta Playa, kann eine Besiedelung durch Jäger und Sammler festgestellt werden, die saisonal den Siedlungsort wechseln, ab ca. 7500 tauchen erstmals Brunnen in Bir Kiseiba auf. Gleichzeitig und ebenfalls unter dem Einfluss des noch günstigen Klimas blüht bereits im frühen Neolithikum im Fayum der offenbar von der Levante beeinflusste Getreideanbau sowie die Zucht von Schafen, Ziegen, Rindern und Schweinen. Keines dieser Tiere ist in Ägypten endogen vorhanden. Doch zusammen mit Emmer und Gerste werden sie aus Südwestasien über die Levante und die Sinaihalbinsel eingeführt, sodass für die Zeit um ca. 5000 nicht nur von Handelskontakten außerhalb des Niltals auszugehen ist, sondern auch von einer Verbreitung der Agrarwirtschaft, die von nun an schnell Fahrt aufnimmt. Tierhaltung lässt sich gleichzeitig auch in der Urschicht von Merimde Beni-Salame an der Westgrenze des Deltas nachweisen, wo die Jagd als Folge davon eine nur untergeordnete Rolle spielt. Über ihren Nährwert hinaus lässt sich die Bedeutung von Rindern bereits ab 5400 in Bestattungen nachweisen. Zeitgleich mit der jüngsten Merimde-Beni-Salame-Schicht um ca. 4600–4350 entstehen östlich des Niltales Siedlungen mit Friedhöfen in verlassenen Siedlungsbezirken, von denen die El-Omari-Kultur (benannt nach ihrem Entdecker) eine der aufschlussreichsten ist. Hier lässt sich nun kaum mehr Wüstenjagd nachweisen, die Bewohner dieser Orte konzentrieren sich auf Viehzucht und Ackerbau. Die Besiedelung der Westwüste erreicht im Mittleren bis Späten Neolithikum ihren Höhepunkt: Häuser größerer Siedlungen weisen erstmals Lehmverputze auf und außerhalb der Siedlungsverbände gründen Hirten offenbar Außenposten, um ihr Vieh zu weiden. Auch wenn sich diese Kulturen auf den ersten Blick ähneln und die Siedler in der Westwüste erst langsam auf ihre eigenen Herden vertrauen, betreiben sie gleichzeitig, wenn auch in reduzierter Form, Wüstenjagd mit effektiven Fernwaffen, die aus steinernen Pfeilspitzen hergestellt werden.
Besiedelung des Niltals
Bedingt durch einen Klimawandel zwischen ca. 4900 und 4400 wird menschliches Leben in der Wüste nun jedoch und bis in heutige Zeit erschwert und in der Folge davon das Niltal vermehrt zum bevorzugten Siedlungsgebiet von Menschen, die zuvor nomadisierend saisonale Siedlungen in den Wadimündungen unterhielten. Hervorgerufen durch die Veränderung des Klimas und das Aufkommen von Sahel-Bedingungen trocknen fortan die regenlosen Wadilandschaften aus, beziehungsweise ergießen sich Sandlawinen in das Niltal. Dadurch versanden nicht nur die Wadis, sondern wird auch eine dauerhafte Besiedelung unmöglich. Die ehemaligen Wadibewohner siedeln nun dauerhaft in den nilnahen Bereichen der Wadimündungen und leiten damit einen Besiedelungsprozess ein, der erst während des Alten Reiches zum Abschluss kommt. Die Anfänge dieser Entwicklung lassen sich jedoch bereits für frühere Epochen fassen, auch wenn diese nur sporadisch sind. Bereits um ca. 7000 ist, wie dies der Ort El-Kâb zeigt, das Niltal Ziel zeitweiser Besiedelung. Außerhalb El-Kâbs, dessen Kenntnis wir glücklichen Fundumständen verdanken, ist eine menschliche Besiedelung zwischen 7000 und 5400 im unmittelbaren Bereich des Niltals nicht nachweisbar. Erst ab ca. 5400 kann eine Besiedelung des Niltals mit der Fayum-A-Kultur festgestellt werden, die sich jedoch bereits 100 Jahre später wieder auflöst. Wesentlich ist, dass die lithische Produktion dieser Gegend mit der der Westwüste in weiten Teilen Übereinstimmung zeigt.
Subsistenzwirtschaft
Bestimmend für die Einschätzung der Umweltfaktoren ist deren Einwirken auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Niltales, die im Wesentlichen von der jährlichen Nilüberschwemmung sowie von der dadurch hervorgerufenen Ablagerung mineralreicher Nilsedimente günstig beeinflusst werden. Dieses Zusammenwirken sichert bereits im frühen Neolithikum eine auf Ackerbau und Viehzucht beruhende Subsistenzwirtschaft, die mit Fischfang und der Jagd von Wüstentieren einhergeht. Diese Lebensweise, die hauptsächlich während des Nilhochstandes und der damit verbundenen Notwendigkeit, Wasser effektiv ab- beziehungsweise umzuleiten erhebliches organisatorisches Talent erfordert, genügt offenbar, um einer rasch wachsenden Bevölkerung nachhaltig einen ausreichenden Wohlstand zu sichern. Mit zunehmendem Bevölkerungswachstum bildet sich spätestens im Chalkolithikum eine Wohlstandsgesellschaft heraus, die zum einen die Ausbildung von Handwerkern erkennen lässt, zum anderen erwirtschaftete Überschüsse an die sich langsam ausbildenden Eliten abführen kann.
Rohstoffgewinnung und Export
Das wohl sichtbarste Zeichen der Entwicklung eines spezialisierten Handwerks ist die Herstellung von Keramik. Ab dem frühen Chalkolithikum lässt sich eine zunehmende Standardisierung der Lebensgewohnheiten beobachten. Insbesondere in Oberägypten waren Töpfer in der Lage, in bevölkerungsstarken Regionen diesem Bedarf mit der Schaffung einer hoch spezialisierten Keramikindustrie zu begegnen, die nicht nur lokal, sondern auch regional verbreitet wurde. Diese Entwicklung lässt jedoch auch wichtige Rückschlüsse auf den für die Produktion notwendigen Rohstoffnachschub zu, der als Teil der frühesten Industrialisierung anzusehen ist. In der Westwüste ist Keramik das einzige sicher nachweisbare neolithische Element während des früheren und mittleren Neolithikums. Die Gefäße sind allesamt dekorierte Schalen, die keinerlei Brandspuren aufwiesen. Sie sind mit Punkten und Schnurbändern verziert, was möglicherweise auf eine Verwendung als dauerhafte Aufbewahrungsgegenstände anstelle von Korbwaren hindeutet. Etwa gleichzeitig mit der Dürre – aber davon offenbar unabhängig – kommt in Orten wie Bir-Kiseiba in Unternubien eine neue Form der Keramik auf, die sich insbesondere durch geglättete und polierte Oberflächen kennzeichnet, sowie durch reduzierten Brand geschwärzte Gefäßränder ab dem späten Neolithikum. Hierbei handelt es sich jedoch möglicherweise um eine vom Niltal unabhängige technologische Entwicklung, wo etwa gleichzeitig in Badari bei Assiut ebenfalls black-topped-ware auftaucht. Im späten Neolithikum werden diese Gefäße nun auch zum Kochen verwendet wie dies Brandspuren zeigen.
Frühe Massenindustrie
Ein weiteres wichtiges Beispiel für die frühe Industrialisierung ist die Silexindustrie, die sich zwar regional entwickelt, aber im Hinblick auf Materialbeschaffung und Warenabsatz zunehmend auf gut entwickelte Netzwerke und Handelswege angewiesen ist. Obwohl ihrem Kern nach eine Massenindustrie, gelang es den Handwerkern mit der Herstellung von Luxusgütern wie Fischschwanzmessern und rhomboiden Flintmessern äußerst hohe Qualitätsstandards zu erzielen und damit die an ausgefallenen Gütern interessierte Elite zu erreichen. Möglicherweise ist zu diesem frühen Zeitpunkt auch die Metallurgie als ein Gewerbe mit ganzjährig angestellten Spezialisten anzusprechen, die ihr Wissen über komplizierte Arbeitsvorgänge gezielt an nachfolgende Generationen weitergaben, wie dies beispielsweise im chalkolithischen Maadi zu beobachten ist.
Erste groß angelegte Friedhöfe
Der Nachweis einer zunehmenden Elitebildung lässt sich jedoch insbesondere an den ab dem späten Neolithikum ausgreifenden Friedhöfen ablesen. Aufgrund des in dieser Zeit hohen Nilstandes sind zwischen ca. 11.000 und 8000 im Niltal keine Bestattungen nachzuweisen. Ein Glücksfall ist in diesem Zusammenhang der Friedhof von Gebel Ramlah in der Südwestwüste zu werten, der um ca. 4500–4000 datiert und in Verbindung mit einer zugehörigen Siedlung betrachtet werden kann. Das Vorkommen von tulpenförmigen Bechern, ansonsten Kennzeichen des mittelägyptischen Ortes Deir Tasa, der über weitreichende Verbindungen mit Siedlungen in der Ost- und Westwüste verfügt, erlaubt eine gesicherte chronologische Einordnung dieser neolithischen Bestattungen und eine Einbindung in die Badari-Kultur. Bei Gebel Ramlah handelt es sich um einen über einen langen Zeitraum hinweg genutzten Friedhof mit Familien- und Einzelgräbern, in denen die Toten in angewinkelter Lage auf der rechten Seite und mit Blick nach Süden bestattet wurden. Die Tatsache jedoch, dass die tulpenförmigen Becher auch in Wadi Atulla in der Ostwüste gefunden wurden, sind bei aller Vorsicht als frühe Hinweise auf eine sich langsam formierende, einheitliche Bestattungskultur zu werten.
Badari-Kultur
Die Badari-Kultur (ca. 4500–4000), so benannt nach der gleichnamigen Region in der Nähe des heutigen Sohag und älteste prädynastische Kultur Oberägyptens, folgt der Merimde-Beni-Salame-Kultur. Sie ist nicht nur verbunden mit dem frühesten Nachweis von Ackerbau in Oberägypten, sondern auch gekennzeichnet durch eine ausreichende Anzahl kleinerer Friedhöfe in den Orten Matmar, Mostagedda, Qau el-Kebir und Hammamiya, die zusammengenommen ca. 600 Gräber umfassen. Während man früher annahm, die möglicherweise um ca. 4500 entstandene Badari-Kultur sei auf die genannten Orte beschränkt, sind in den vergangenen Jahren der Badari-Kultur zuzurechnende Funde auch weiter im Süden nachgewiesen worden, so in Mahgar Dendera, Armant, El-Kâb und Hierakonpolis. Hierzu gehören auch Tierbestattungen, wie die eines in Textilien eingewickelten Elefanten in Hierakonpolis, die jedoch mit den Bestattungen von Menschen in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen scheinen, sich aber bis in die Naqada-Zeit hinein fortsetzen. Einige wenige Funde lassen Kontakte der Badari-Kultur mit dem Ausland vermuten, so etwa durch das Vorkommen von Muscheln des Roten Meeres und Kupfer. Dabei wird angenommen, dass diese Verbindungen zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht über das nördliche Niltal verliefen, sondern über Handelswege in der Ostwüste. Die Badari-Kultur lässt sich in Gräberfeldern, Siedlungen, aber auch in der Bildenden Kunst nachweisen. Dabei fällt auf, dass die Siedlungsmuster noch flexibel sind, wohl weil dem Faktor des (saisonalen) Wohnens weniger Interesse entgegengebracht wird, als überlebensnotwendigen Aktivitäten wie der Pflege und Aufzucht von Viehherden. Während bereits in der Merimde-Beni-Salame-Kultur in Gräbern tönerne Tierfiguren auftauchen, sind aus der Badari-Kultur erstmals menschliche Figuren bezeugt. Dazu kommt eine Vielfalt an Schmuck sowie Tierfiguren, die ausgehöhlt als Behälter dienen können.
Entstehung von Stadtkulturen
Der Wechsel von der Badari- zur Naqada-Kultur um ca. 4000–3900 ist durch keinen erkennbaren Bruch gekennzeichnet, sondern von einem fließenden Übergang, schon allein wegen der geografischen Trennung der beiden Kulturen. Die Naqada-Kultur besteht aus drei Phasen (Naqada I–III, die durch eine Feineinteilung noch weiter differenziert werden), die ebenfalls durch ihre funeräre Kultur zu fassen ist. In ihrer dritten Phase ist die Naqada-Kultur bereits landesweit sowie in Nubien verbreitet und reicht bis in das Alte Reich hinein. Die erste Phase – Naqada I oder Amratien (benannt nach den Orten Naqada und El-Amra, ca. 4000–3600) setzt die expansive Wirkung der Badari-Kultur fort (oder war gar ein Teil von ihr) und ist über weite Teile Oberägyptens nachweisbar. Das Fehlen zeitgleicher permanenter Siedlungen in Mittel- und Unterägypten ist wie in Hierakonpolis möglicherweise auf schlechte Erhaltungsbedingungen zurückzuführen. Erkennungsmerkmal der frühen Naqada-Kultur ist die Entwicklung einer Steingefäßindustrie sowie die umfangreiche, erst jetzt aufkommende Dekoration mit weißen Linien auf keramischen Gefäßen. Häufige Motive sind geometrische Muster, später aber auch Flora und Fauna, mit denen möglicherweise der Grundstein gelegt wird für die dekorative Kunst nachfolgender, auch pharaonischer Epochen: Neben Wasserbewohnern wie Fischen und Nilpferden werden auch Rinder und Flamingos etc. abgebildet, vereinzelt auch schematisiert dargestellte Menschen als Jäger oder Krieger. In dieser Zeit werden nicht nur Esel domestiziert, die als Packtiere Dienste auf interregionalen Handelswegen leisten. Auch sonnengetrocknete Lehmziegel finden erstmals als Baumaterial Verwendung und zeugen von einer beginnenden, aber auf Dauer angelegten Stadtkultur.
Hierarchie der Gesellschaft
Als Folge hieraus lässt sich an den Grabbeigaben der Naqada-I-Zeit eine zunehmende Industrialisierung und Wohlstand ablesen, auch wenn von ausgegrabenen 15.000 Gräbern, die sich über einen Zeitraum von ca. 800 Jahren erstrecken, nur ein Fünftel publiziert ist. Gleichermaßen tritt aber auch ein deutlich stratifiziertes soziales System in den Vordergrund, das auf Herrschaftsansprüche einzelner Familien hindeutet und zunehmend außergewöhnlich reiche Gräber erkennen lässt, in denen vermehrt auch menschliche Figuren eine Rolle spielen. Die Beigabe von Keulen, von denen sich insbesondere die steinernen, kunstvoll gearbeiteten Keulenköpfe erhalten haben, unterstreichen wiederum das Selbstverständnis waffenführender Schichten; eine unmittelbar auf die Bewältigung des Jenseits abzielende Dekoration von Gefäßen oder Grabbeigaben lässt sich hingegen nur schwer belegen. Grabbeigaben, abgesehen von Lebensmittelbehältnissen, die eigens für ihre Benutzung im Jenseits hergestellt wurden, sind sehr vom Alltagsleben bestimmt und noch weitgehend frei von einer um Absatz bemühten, unabhängig operierenden funerären Industrie.
Elitenbildung
Dennoch lassen sich ab Naqada II (ca. 3600–3200, auch Gerzean genannt nach dem Fundort Gerza), der letzten Phase der oberägyptischen prädynastischen Periode, anhand der Grabbeigaben lokale und regionale Eliten identifizieren. Als Folge des ausgeprägten ariden Klimas finden Besiedelungen in der Wüste kaum mehr statt und die Orte im Niltal erweisen sich als kompakte Siedlungen, in denen die Eliten ortsnah interagieren können. Die nördliche Ausdehnung der Naqada-II-Kultur reichte bis zum Fayum und Nordostdelta (Minshat Abu Omar), was darauf hindeutet, dass die vormals von Badari und der Naqada-I-Kultur ausgehende Expansion nun weite Teile des Nordens beinhaltet und nicht mehr nur auf Oberägypten beschränkt ist. Die Entwicklung der Keramik ist das entscheidende Kriterium für diese Epoche: Erstmals tauchen konsequent dekorierte Gefäße aus Mergelton auf, die mit Deckeln und mit Hilfe von Stricken zu verschließen waren. Auf den hellen Oberflächen werden in dunkelroter Farbe Bilder angebracht, die häufig riesige Schiffe zeigen, aber auch die Flora und Fauna Ägyptens abbilden sowie sich im Uhrzeigersinn drehende Spiralen. Es ist dies die Bilderwelt einer Gesellschaft, deren Bewegungsradius sich erhöht, die die Natur beobachtet und rituelle Landschaften abbildet, ohne sie sich untertan zu machen. Diese Prestigekeramik wird nicht nur für den funerären Gebrauch hergestellt, sondern trägt Gebrauchsspuren, die auf eine Verwendung zu Lebzeiten des Verstorbenen hindeuten.
Ritualisierter Umgang mit den Toten
Die wichtigsten Hinweise auf Religion und funeräre Kultur dieser Zeit lassen sich den Gräbern des Friedhofes von Hierakonpolis abgewinnen. Im Friedhof HK 43 ließen sich anhand von Untersuchungen der Skelette erstaunliche Erkenntnisse gewinnen, beispielsweise die Feststellung, dass 21 von 470 Bestatteten der Hals durchgeschnitten wurde, in anderen Fällen, dass sie geköpft wurden. Da diese Verletzungen jedoch standardisiert auftreten, lässt dieser Befund weder auf übliche Gewalt oder gar kriegerische Auseinandersetzungen schließen, noch lässt sich sicher feststellen, ob es sich bei den Verletzungen um Bestrafungen handelte oder vielleicht eher um rituelle Eingriffe nach dem Tod. Gleichzeitig konnten in HK 43 erstmals künstliche (Teil-)Mumifizierungen nachgewiesen werden. In beiden Fällen ist zu vermuten, dass sich hier eine Erinnerungskultur abzeichnet, die sich mit rituellen Handlungen an der Existenz der Bestatteten nach dem Tode verknüpft. Im weiteren Verlauf der ägyptischen Geschichte hat sich jedoch die Bewahrung des menschlichen Körpers durchgesetzt und bis an das Ende der griechisch-römischen Zeit als Ideal der rituellen Behandlung von Toten erhalten. Dass das früheste dekorierte Grab, das sogenannte Grab 100 von Hierakonpolis, ebenfalls aus dieser Zeit stammt, kann kein Zufall sein, fügt es dem Totenkult doch gewissermaßen eine dritte Dimension mit umfassender Wanddekoration hinzu.
Entstehung von Herrschaft
Während der Naqada-III-Zeit (ca. 3200–3000) lassen sich ausgedehnte Friedhöfe beobachten, doch in Naqada selbst fehlen offenbar echte Elitebestattungen. Vielleicht hat dies mit der Tatsache zu tun, dass sich gleichzeitig in Hierakonpolis ein Machtzentrum herauskristallisiert, das sich mit dem „Horusgefolge“ verbinden lässt. Eine gleichzeitige Allianz mit Abydos skizziert bereits in dieser frühen Zeit eine mit dem Mythos begründete Verbindung zwischen den Städten der Götter Horus und des Chentimentiu, des „Ersten der Westlichen“, oder in anderen Worten: des lebendigen und des toten Königs. In Abydos befindet sich das Grab U-j aus dieser Zeit, das für die Rekonstruktion der Entstehung der ägyptischen Schrift eine Schlüsselstellung einnimmt.
Die Schriftfunde von Grab U-j
Im Grab U-j in Abydos wurden neben zahlreichen Gegenständen der magischen Ausstattung des Toten aus der Naqada-III A1-Zeit die ältesten Schriftzeugnisse Ägyptens gefunden: Ca. 150 kleine Elfenbeintäfelchen, die ursprünglich als Gefäßetiketten dienten und frühe hieroglyphische Schriftzeichen aufweisen, bezeichnen ersten Untersuchungen zufolge königliche Domänen und Verwaltungsdistrikte wie Abydos und das entfernte Buto. Viele Zeichen, darunter Ideogramme wie die Palastfassade, aber auch lauttragende (phonetische) Zeichen lassen sich in dynastischer Zeit identifizieren und bezeugen somit eine frühe Kontinuität. Ob diese Hieroglyphen jedoch dazu gedacht waren, ausgesprochen zu werden oder eher einem administrativen Bedürfnis nach bildlicher Identifikation entsprachen, lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen. Dass jedoch ein Täfelchen, das einen Elefanten auf einer Hügelkette darstellt, gemäß dynastischer Lesung als ab-dju (= Abydos) Sinn macht, drängt sich geradezu auf.
Ausdehnung nach Norden
Die Fülle an richtungsweisenden materiellen Daten macht deutlich, dass sich bereits in der Naqada-III-Zeit ein Prozess abzeichnet, der nur wenig später in ein erstes ägyptisches Staatsgebilde mündet, das eine stark hierarchische Struktur aufweist. Zu dieser Zeit findet die erste Ausdehnung der ursprünglich aus Oberägypten stammenden Naqada-Kultur bis in den Norden Ägyptens statt. Diese Ausdehnung lässt sich umfänglich an der Verbreitung der zeitgenössischen Keramik ablesen, die sich hauptsächlich in den zahlreichen Nekropolen wiederfindet.
Institutionalisierung von Handel
Die ägyptische Frühzeit ist identisch mit Naqada III A–D, deren letzte Ausläufer sogar bis in das Alte Reich hineinreichen (bis ca. 2550). Damit steht außer Frage, dass die letzte Phase der vordynastischen Zeit, aber auch die ersten drei Dynastien der ägyptischen Geschichte, maßgeblich von der einst aus Oberägypten stammenden Naqada-Kultur beinflusst waren. Diese war in ihren beiden ersten Phasen vom Süden aus nach Norden vorgedrungen und hatte am Ende von Naqada II zu vielfach gleichen Lebensformen in Ober- und Unterägypten geführt. Es ist dies die Zeit der ägyptischen Staatsbildung. Diese Entwicklung ist jedoch mit modernen Staatsgebilden nicht vergleichbar, die auf der Idee eines Nationalstaates gründen, der aufgrund von Beschlüssen generiert werden kann. In Ägypten, das um ca. 3300 keine Vorbilder kennt, ist weder ein isoliertes Einzelergebnis für die Entstehung des Staates verantwortlich zu machen noch das Vorhandensein einer Identität, die sich gegen Außen abzugrenzen sucht. Die Staatswerdung ist in Ägypten ein schleichender Prozess, der von Handelsbeziehungen und Warenaustausch getragen wird und in dem Moment nach Außen tritt, in dem eine Überschusswirtschaft greift und Absatzmärkte erschlossen werden. Neue Untersuchungen zeigen, dass die Nutzung der zur Rohstoffbeschaffung und zum Warenabsatz geschaffenen Handelswege eine wesentliche Rolle bei der politischen Vernetzung der Regionen spielte.
Dynastien
Die Einteilung ägyptischer Herrscher in Dynastien stammt von den Ägyptern selbst. Sie orientiert sich an Königshäusern beziehungsweise an Regionen. Abschnitte werden um ca. 1250 bereits im Turiner Königspapyrus, auch Kanon genannt, skizziert. Die heutige Einteilung geht im Wesentlichen auf den griechischen Historiker Manetho (3. Jh. v. Chr.) zurück, der die Könige von Menes bis Nektanebos II. in 30 Dynastien unterteilte.
Außenhandel und Staatsmythos
Eine zunehmende Bevölkerungsdichte und das damit verbundene Interesse der Elite an wirtschaftlicher Stabilität dürfte auch bei der Präsentation wirtschaftlichen Erfolges einen wichtigen Faktor darstellen: Die Spezialisierung der Keramikproduktion und die Nutzung von in der Wüste anstehendem Mergelton sowie der Export fertiger Gefäße bis in die Levante sind nur einige wenige Ausdrucksformen dieses frühen interregionalen Denkens. Möglicherweise deuten fremdartige unterirdische Bauten in Maadi im Delta, die als Magazine genutzt werden, darauf hin, dass auch levantinische Händler zu diesem Zeitpunkt in Ägypten tätig waren. Vorgänge dieser Art sind undenkbar, ohne dass sie das Interesse der Eliten geweckt hätten, die in der Tat zunehmend den interregionalen Handel zu organisieren und kontrollieren in der Lage waren: So ist aus der 1. Dynastie eine Inschrift bekannt, die darüber Auskunft gibt, dass Schiffe ausgesandt werden, um im Mittelmeerraum und der südlichen Levante Zedernholz zu sichern. Zu Beginn der historischen Zeit steht ein voll ausgebildetes Handelsnetz zur Verfügung, mit dessen Hilfe es den Eliten gelingt, Kontrolle auszuüben und wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern. So ist es das Ringen um materiellen Wohlstand, das schließlich zu einem Gebilde führt, das mit dem modernen Begriff des „ägyptischen Staates“ annähernd umschrieben werden kann. Altägyptischer Ideologie zufolge ist dieser Staat die Konsequenz aus der „Vereinigung der Beiden Länder“. Dieser Staatsmythos kann als Befriedung zuvor sich feindlich gegenüberstehender Landesteile verstanden werden. Tatsächlich jedoch kann mithilfe archäologischer Methoden gezeigt werden, dass es sich hierbei nicht um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat, das in historischer Zeit mit jedem Regierungsantritt neu inszeniert wird, sondern um den langwierigen Prozess einer pluralistischen Gesellschaft, die die verschiedensten Regionen Ägyptens mit einbezieht, über einen längeren Zeitraum hinweg stattfindet und zahlreiche Auslöser und Protagonisten hatte.
Der Beginn ritualisierter Geschichte
Schriftliche Quellen, die detailliert Auskunft geben könnten über die vielschichtigen Prozesse, die zum ägyptischen Staat geführt haben, gibt es nicht, obwohl die Hieroglyphenschrift zu diesem Zeitpunkt, also kurz nach der Erfindung der Schrift in Mesopotamien, ausgebildet vorlag. Möglicherweise verlaufen diese Prozesse vor der Gründung einer autorisierten Staatsgewalt auch mehr intuitiv als von langer Hand geplant, weshalb sich eine allgemeingültige, zeitgenössische Beurteilung nicht aufdrängte. So treten anstelle historischer Inschriften mythisch überhöhte „historisierende“ Bilder, deren Entschlüsselung nach wie vor die mit der ägyptischen Geschichtsforschung befassten Ägyptologen beschäftigt. Eine allgemeingültige Lehrmeinung zu formulieren, darf aufgrund der verschiedenen Forschungsansätze derzeit nicht erwartet werden. Neben der teilweise bildlich dekorierten Naqada-Keramik sind es insbesondere Prunkpaletten und Ritualmesser der ausgehenden Naqada-II- und der beginnenden Naqada-III-Zeit, die das reichste verwertbare Bildmaterial liefern. Zwar erschließen diese Funde einerseits die Entwicklung religiöser Konzepte ebenso wie politische Strukturen und die Repräsentation von Herrschern, andererseits sind gesicherte Interpretationen über die Uniformität des Staatsgebildes dieser Zeit nicht möglich.
Zweidimensionale Kunst als Kulturgenerator
Der Messergriff aus Abu Zeidan (heute im Brooklyn Museum) zeigt zahlreiche vorüberziehende Tierarten und damit eine sich in Bewegung befindliche Landschaft, die rituell kontrolliert werden kann. Während die offenbar älteste Palette, die sogenannte Jagdpalette, von Tieren übernommene Jagdtechniken darstellt, sind kriegerische Themen auf einer Reihe von Medien überliefert: Das früh zu einem Topos stilisierte Thema des „Erschlagens der Feinde“ findet auf den Köpfen von Schlagkeulen, aber auch im bemalten Grab von Hierakonpolis (Grab 100) und in der wohl berühmtesten Palette, der des Königs Narmer, lebendigen Ausdruck. Entscheidend ist aber vielmehr, dass diese Objekte aus der Dreidimensionalität heraustreten und mit der Bevorzugung der zweidimensionalen Kunst in Malerei und Relief den Weg bereiten für eine Darstellungsform, die nur wenig später in der Hieroglyphenschrift ihren wohl überzeugendsten Ausdruck findet.
Die „Vereinigung der Beiden Länder“
Der früheste Protagonist eines an der Formierung der Staatsidee interessierten Herrschers ist unter dem Namen Narmer bekannt: In Hieroglyphen geschrieben und eingerahmt von der Abbildung einer Palastfassade, die von einem Horusfalken bekrönt wird, besteht der Name dieses Königs aus der Darstellung eines Welses mit dem phonetischen Lautwert nar und dem Stößel mit dem Lautwert mr. Auf der beidseitig dekorierten Narmer-Palette ist der König auf einer Seite mit der Weißen (oberägyptischen) Krone dargestellt, auf der anderen mit der Roten (unterägyptischen) Krone, so als solle hiermit ein gleichzeitiger Anspruch auf beide Landesteile zur Geltung gebracht werden.
Symbol und Mythos der Herrschaft
Stets ist es der König, der die Feinde niederschlägt, wobei sich die Künstler einer standardisierten Formsprache bedienen, die ikonhaft wirkt. Sie lässt den Einfluss einer übergeordneten, an formaler Ikonographie interessierten Oberschicht erkennen, der es gelingt, einige der bis zum Ende des Pharaonenreiches gültige Prinzipien der bildenden Kunst zu entwickeln und zu etablieren. Es darf als unwahrscheinlich gelten, dass diese formalisierte Bildsprache dazu vorgesehen ist, konkrete historische Ereignisse, wenn auch schemenhaft, darzustellen. Das Erschlagen der Feinde auf der Narmer-Palette, das in der Ägyptologie als Ausdruck der kriegerisch erwirkten Vereinigung der Beiden Länder verstanden wurde, stellt sehr wahrscheinlich symbolhaft einen Staatsmythos dar. Dies heißt jedoch nicht, dass der Mythos vom Vereinigen der Beiden Länder gegenstandslos wäre: Ganz im Gegenteil ist die Geschichte des Alten Ägypten ein Wechselspiel von politischer Einheit und deren zeitweisem Verfall. Die Ägyptologie hat diese politischen Zustände mit den Begriffen der Reiche beziehungsweise der Zwischenzeiten kenntlich gemacht und systematisiert.
Geschichte als offener Prozess
Ereignisse werden immer dann zu historischen Fakten, wenn es dem Historiker gelingt, sie als Argument zu interpretieren. Damit unterscheidet sich Geschichte etwa von der Chronik, der es nur darauf ankommt, Ereignisse zu katalogisieren. Wenn also Geschichte insbesondere Argument ist, so muss der Beginn der Geschichte mit einer speziellen Aussage zu verbinden sein, wie beispielsweise das Zeitalter des Hellenismus mit der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen beginnt und mit dem Sieg Oktavians bei Actium endet. Eine solche Aussage über den Beginn der ägyptischen Geschichte zu treffen, fällt jedoch nicht ganz leicht angesichts des schleichenden und vornehmlich von Wirtschaftsfaktoren generierten Entwicklungsprozesses der Naqada-Zeit.
Die Narmer-Palette
Die vom Ende der Dynastie 0 stammende Narmer-Palette (s. Abb. S. 1
Herrschaft und Kultur
Den Beginn der Geschichte des Alten Ägypten lassen Ägyptologen mit Narmer beginnen, da das wohl wichtigste Zeugnis der früheren ägyptischen Geschichte, die sogenannte Narmer-Palette, den Protagonisten eines politischen Ereignisses zeigt, der aus späterer Zeit belegte Insignien des Königtums zur Schau stellt. Was diese Lesung der Narmer-Palette so überzeugend macht, ist die Vermittlung eines differenzierten Bildes von Politik und Herrschaft, Kunst und Kultur dieser frühen Epoche. Die Perioden, die diesen Einschnitt vorbereitet haben, die Badari-Kultur in Mittelägypten (ca. 4500–4000 v. Chr.) und insbesondere die frühen Naqada-Perioden (ca. 4000–3300 v. Chr.) sind ihrem Ursprung nach bereits ägyptisch, denn sie umfassen bereits weite Teile des Niltals von Unterägypten (Maadi-Kultur) bis Oberägypten und sogar Nubien über das heutige Abu Simbel hinaus. Narmer ist möglicherweise jedoch nur einer von mehreren Königen der sogenannten Dynastie 0; ihm könnten der Besitzer des bereits erwähnten Grabes U-j in Abydos sowie Skorpionkönig(e?) vorausgegangen sein, weshalb man Narmer heute als letzten König der Dynastie 0 ansetzt.
Die Narmer-Palette
Wille zur politischen Einheit