Couchsurfen und andere Schlachten

Fußnoten

  1. Isaak Babel, ›Autobiographie‹, in: Budyonnys Reiterarmee und anderes. Das erzählende Werk. Walter-Verlag, Freiburg im Breisgau 1991, S. 224.

  2. (www.couchsurfing.com)

  3. Ian McEwan, The Comfort of Strangers (1981); dt.: Der Trost von Fremden(1983).

  4. Im Mai 2008 reiste Arnon Grünberg als embedded journalist in den Irak.

  5. Niederländischer Poète maudit, der an verschiedenen Stellen als Hausdiener arbeitete. Sein dichterisches Werk zeichnet sich durch sadomasochistische Tendenzen aus. Am 21. Januar 1974, dem Erscheinungstag seines Gedichtbands Lunchpauzegedichten (›Lunchpausengedichte‹), stürzte er sich von einem Amsterdamer Mietshaus in den Tod.

  6. Jan Arends, Vrijgezel op kamers: verzameld werk (›Junggeselle zur Untermiete: Gesammelte Werke‹), Amsterdam 2003.

  7. Walter Benjamin, ›Einbahnstraße‹ (1928), in: Gesammelte Schriften, Band IV,I: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Suhrkamp, Frankfurt 1991,S. 119.

  8. Arnon Grünberg, Grunberg rond de wereld, Amsterdam 2004.

  9. Klaus Mann, ›Vergittertes Fenster‹, in: Abenteuer des Brautpaars. Die Erzählungen. Edition Spangenberg im Eliermann Verlag, München 1976,S. 232.

  10. Nico Slothouwer (19561986), Liefdesstratenplan (›Liebesstadtplan‹), Amsterdam 1994.

  11. Niederländische Interviewerin und TV-Ikone.

  12. Von Pim Fortuyn geprägter Kampfbegriff des niederländischen Neokonservatismus.

  13. Einflussreicher Literaturkritiker der niederländischen Wochenzeitschrift Vrij Nederland.

  14. Der Müll, die Stadt und der Tod (1975).

  15. Vinex: Abkürzung für Vierde Nota Ruimtelijke Ordening Extra; landesweiter Raumordnungs- und Bebauungsplan von 1995, in dem das Ministerium für Städtebau und Umwelt Ort und Gestaltung der in der Nähe mittelgroßer Städte anzulegenden Neubauviertel festlegte. Diese Viertel gelten in den Niederlanden als Bastionen der neuen (Klein-)Bürgerlichkeit.

  16. Einer Einwohnerin des Viertels zufolge beruht diese Angabe auf einem zweifelhaften Artikel im Algemeen Dagblad.

  17. Eine Familie wollte lieber mit fiktiven Vornamen aufgeführt werden. Diesem Wunsch habe ich entsprochen.

  18. Nach Erscheinen dieses Artikels teilte Refika mir per SMS mit, dass ihre Augen grün seien.

  19. Diese Schwester sollte mich auf meiner Reise von Istanbul nach Bagdad begleiten.

  20. Am besagten Donnerstag (18. Juni 2009) teilte Refika mir per SMS mit, dass ihr Sohn leider nicht bestanden habe.

  1. Niederländischer Populist, Anführer der Partij voor de Vrijheid (›Partei für die Freiheit‹).

  2. »De Kersentuin« ist eine Bewohnergemeinschaft in Leidsche Rijn. Die Mitglieder der Gemeinschaft sind als Verein organisiert und müssen sich zur Befolgung der Gemeinschaftsziele verpflichten. Über Gestaltung und Ausstattung der Wohnanlage, insbesondere der Gemeinschaftseinrichtungen, wird gemeinsam entschieden.

  3. Große niederländische Qualitätszeitung. Ursprünglich katholisch, gilt heute als eher links.

  4. Dick Laan: Pünkelchen und Wolkewittchen. Allen kleinen und großen Kindern nacherzählt von Lisa Gast. Herold-Verlag, Stuttgart 1988.

  5. Einmal pro Monat organisiert »De Kersentuin« einen sogenannten »Abend der Leidenschaft«, an dem ein Mitglied der Bewohnergemeinschaft etwas von seiner oder ihrer Passion erzählen muss. Als momentanen Mitbewohner hatte man mich gebeten, etwas über das Werk von Isaak Babel zu erzählen.

  6. Nach ständig wachsender Popularität verlor Wilders’ Partei im September 2012 mit 15 % der Stimmen die Wahlen.

  7. Landschaft südlich und östlich von Amsterdam. In den Niederlanden meist assoziiert mit einer wohlhabenden Bevölkerung und entsprechendem Habitus.

  8. Aus Els’ Antworten auf dem abschließenden Evaluationsbogen geht hervor, dass ich Beton und Zement verwechselt habe: »Wie fanden Sie und Ihre Familienmitglieder/Freunde/Kollegen/Bekannten Herrn Grünbergs Artikel über den Besuch bei Ihnen?«: »Echt toll, schön verrückt! Vielen Dank! Obwohl Daan BETONfachmann ist und nicht ZEMENTfachmann.«

  9. Phantomschmerz. Diogenes, Zürich 2003, S. 237.

  10. Rowohlt Verlag, Hamburg 1989, S. 210.

  11. Am 8. Februar 2009 reagierte Elizabeth auf meinem Blog (www.arnon-grunberg.com) auf diesen Artikel.

  12. Andrey Smolensky/Kramar/Marcell Nimführ, Hier spricht Radio PMR. Verlag für Bildschöne Bücher, Berlin 2007.

  13. In Europa war USAID unter anderem für die Durchführung des Marshallplans verantwortlich.

  14. Einigen Quellen zufolge wurden aus Deutschland schon seit 1999 Kosovo-Flüchtlinge abgeschoben (vgl. etwa http://www.freitag.de/autoren/alem-grabovac/kosovo-fluchtlinge-in-deutschland). Seit der von 97 UNO-, darunter den meisten EU-Staaten anerkannten Unabhängigkeitserklärung des Landes vom 17. Februar 2008 hat dieser Prozess sich verstärkt.

  15. Ursprünglich erschien diese Reportage im ›Cultureel Supplement‹, dem Feuilleton der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad.

  16. Wegener, Hamburg 1957. Übersetzt von Α. und Ε. Sillem.

  17. David Levy.

  18. Aris Derksen; im Jahr 2011 wurde der Grünberg-Wein »Freud« der Öffentlichkeit vorgestellt.

  19. Diese Reportage erschien ursprünglich in der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad.

  20. Vollst. Titel: Kriegskultur: Warum wir kämpfen. Die tiefen Wurzeln bewaffneter Konflikte. Ares Verlag, Graz 2011.

  1. Nach dem endgültigen Wahlergebnis errang das überkonfessionelle Bündnis Al-Irakija des vormaligen Übergangs-Premierministers Iyad Allawi 91, die Rechtsstaat-Koalition von Nuri al-Maliki, 89 Sitze. Nach langen Regierungsverhandlungen einigte man sich auf eine Einheitsregierung, als deren Ministerpräsident am 21. Dezember 2010 Nuri al-Maliki vereidigt wurde.

  2. Schiitischer Geistlicher, der sich zum Zeitpunkt der Reportage wahrscheinlich im Iran aufhielt und für viel Gewalt gegen die Amerikaner und Sunniten verantwortlich gemacht wird. Am 5. Januar 2011 kehrte er in den Irak zurück.

  3. Radikaler schiitischer Geistlicher.

  4. Mittelsmann, der für Journalisten allerlei Dinge erledigt, etwa Kontakt zu diversen Personen herstellt.

  5. Isaak Babel, Die Reiterarmee. Übers. von Peter Urban, Erzählung: ›Der Kuß‹, Diogenes Verlag, Zürich 1998, S. 201.

  6. Niederländischer Dienstgrad im Rang eines Unteroffiziers.

  7. Vermutlich handelte es sich eher um eine Maschine der Indian Airlines.

  8. Am 5. April 2007 verkaufte Halliburton seine Beteiligung.

  9. Mitte März 2008 wurde GirJet die Flugbetriebslizenz entzogen.

  10. 20062007 gehörten die Niederländer hier zur der NATO-Sicherungstruppe unterstehenden Task Force Urusgan, für deren Oberbefehl sie sich im Halbjahresrhythmus mit Briten und Kanadiern abwechselten. Ein Großteil der niederländischen Truppen gehörte dabei dem Regionalen Wiederaufbauteam (PRT – Provincial Reconstruction Team) an, das den Aufbau der Provinz sowohl praktisch unterstützen als auch militärisch absichern sollte.

  11. In den Niederlanden hatte Arnon Grünberg in einem Werbespot für das Telefonbuch mitgespielt.

  12. Weder bei den Präsidentschaftswahlen im August 2009 noch bei den Parlamentswahlen im September 2010 wurde nach Parteien abgestimmt. Keiner der Einzelbewerber gab sich offen als Anhänger der Taliban zu erkennen.

  13. Die niederländische Mission in Urusgan wurde von einer Ausbildungsmission für Polizeikräfte in Kundus abgelöst.

  14. Seit 2011 befinden niederländische Militärs sich zu einer Ausbildungsmission für afghanische Polizisten in Kundus.

  15. Richtig ist immerhin, dass die größte Bevölkerungsgruppe Afghanistans, die Paschtunen, ein indogermanischer Volksstamm sind und ihre Sprache – wie das Dari, die afghanische Variante des Persischen und eigentliche Staatssprache des Landes – zur indogermanischen Sprachfamilie gehört.

  16. Colonel Tucker teilte mir per E-Mail mit: »Philippine employees work for civilian contractors and that is between them and their contractor.«

  17. Pimo Levi in: Ist das ein Mensch? Übersetzt von Heinz Riedt. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1992, S. 27.

  18. Das niederländische NRC Handelsblad.

  19. Volkert van der G. müsste für einen Besuch zunächst seine Zustimmung geben, hat dies bisher aber nicht getan.

  20. Joop Goudsblom, Reserves, Amsterdam 1976.

  1. Gerling Akademie Verlag, München 2001, S. 46.

  2. NRC Handelsblad, 4.5.2007.

  3. Hariri, zweimal Premier (von 1992 bis 1998 und 2000 bis 2004), war am 21. Oktober 2004 aus Protest gegen die Verlängerung der Amtszeit des syrienfreundlichen Staatspräsidenten Emile Lahoud und den mangelnden Erfolg seiner Forderung nach Abzug der syrischen Truppen zurückgetreten.

  4. Collins, Glasgow 1990, S. 75; dt.: Von Beirut nach Jerusalem: der Nahostkonflikt – Geschichte und Gegenwart. Heyne Taschenbuch 1991.

  5. So war die Schlacht von Kerbala im Jahr 680 gleichzeitig blutige Niederlage des letzten Prophetennachfahren Hussein (deren seither von schiitischen Gläubigen jedes Jahr am teils mit Selbstkasteiungen verbundenen Aschura-Fest gedacht wird) und Ausgangspunkt des Mythos vom verborgenen Imam, der das Schiitentum erst begründete.

  6. Nach den Wahlen vom 29. Mai bis 19. Juni 2005 war am 30. Juni der ehemalige Finanzminister Fuad Siniora mit der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit beauftragt worden und hatte erstmals die Hisbollah an der Regierung beteiligt (Ministerien für Energie, Arbeit und Äußeres). Diese Zusammenarbeit dauerte bis November 2006.

  7. Eine Initiative des damaligen Kronprinzen Abdullah für einen Frieden zwischen Israel und allen seinen arabischen Nachbarn.

  8. Maronitisch-christliche nationalistische Partei und Miliz, gegr. 1936 von Pierre Gemayel, dessen Sohn Bachir 1977 die Forces Libanaises unter Beibehaltung seiner Phalange-Miliz gründete.

  9. Am 13. April hatten Angehörige der Kata’ib-Miliz nach einem Anschlag auf eine Kirche die palästinensischen Insassen eines Busses umgebracht, was gemeinhin als Beginn des Bürgerkriegs gilt, der fünfzehn Jahre dauern sollte.

  10. Nach Ende der Amtszeit Emile Lahouds im November 2007 und sechsmonatigen Streitigkeiten, die sich teils zu einem Bürgerkrieg auswuchsen, wurde am 25. Mai 2008 Armeechef Michel Sulaiman zum neuen Staatspräsidenten gewählt.

  11. Im Mai 2008 wurde die Hisbollah Teil einer Regierung der nationalen Einheit. Einer nach den Wahlen im Juli 2009 gebildeten weiteren Einheitsregierung stand Rafik Hariris Sohn Saad als Ministerpräsident vor. Die Hisbollah und die Freie Patriotische Bewegung Aouns verließen die Regierung erneut am 12. Januar 2011 aus Protest gegen deren positive Haltung zum Hariri-Sondertribunal der UNO. Der am 25. Januar 2011 gebildeten Regierung unter Nadschib Miqati gehört die Hisbollah wieder an.

  12. 2007 im Wesentlichen die schiitischen Parteien Hisbollah und Amal sowie die mit ihnen verbündete Freie Patriotische Bewegung General Michel Aouns.

  13. Premierminister Siniora.

  14. Dt.: Alles Gaza – Geteilte Geschichten, München 2006. Der Titel »Gaza Blues« war auf Deutsch schon für ein früheres Buch von Keret vergeben. Originaltitel und ihre Schicksale …

  15. Karl Kraus, ›In dieser großen Zeit‹. In: Schriften, hrsg. von C. Wagenknecht, suhrkamp taschenbuch 13111322, Frankfurt a.M. 1989. Band 5 (Weltgericht I), S. 9. Vgl. Die Fackel Nr. 404, Dezember 1914, S. 1.

  16. New York Magazine, 19.2.1996.

  17. Morgenmagazin des amerikanischen Fernsehsenders NBC, gesendet von 1952 bis 2008.

  18. García blieb bis April 2011 im Amt. Nach den Wahlen vom 10. April folgte ihm der Linksnationalist Ollanta Humala.

  19. Im September 2008 wurde bekanntgegeben, dass Lori Berenson schwanger ist.

  20. 1992 war Guzmán in Lima zusammen mit seiner Lebensgefährtin Elena Iparraguirre festgenommen worden. Für die von ihm zu verantwortenden Massaker verurteilte ihn die Zivilgerichtssprechung in Lima am 14. Oktober 2006 zu lebenslanger Haft.

  1. Ende 2011 bekannte Lori Berenson, gewusst zu haben, dass ihre Freunde der Túpac Amaru angehörten, blieb jedoch dabei, nie Mitglied gewesen zu sein.

  2. 19.1.2008.

  3. Helmuth Karl Bernhard von Moltke (18001891), nicht zu verwechseln mit seinem Neffen Helmuth Johannes Ludwig (»der jüngere Moltke«, 18481916; 19061914, wie ehemals der Onkel, Chef des Großen Generalstabs).

  4. Am 8. November 2010 wurde Lori Berenson auf Bewährung freigelassen. Bis zum offiziellen Ende ihrer Strafe im Jahr 2015 muss sie in Peru bleiben.

  5. Parlamentswahlen am 6. Mai und 17. Juni 2012. (Die erste Wahl hatte keine regierungsfähige Mehrheit ergeben.)

  6. Ikologi Prasini.

  7. Nach Lektüre dieses Texts weist Litsa mich in einer E-Mail darauf hin, dass die »Soziale Krankenstation der Solidarität« prinzipiell nicht von »Illegalen« spricht, sondern von »Menschen ohne Papiere«.

  8. Viele Einwohner der Stadt sind Nachfahren von Griechen, die im Rahmen der gegenseitigen Vertreibungen nach dem Vertrag von Lausanne ab 1923 von der Türkei aus Kleinasien verdrängt wurden. Bis zum Anschluss an Griechenland 1912 war Thessaloniki umgekehrt eine stark türkisch geprägte Stadt. Nicht zuletzt Kemal Atatürk wurde hier geboren.

  9. 2010 beschloss die sozialdemokratische PASOK, Boutaris’ Kandidatur zu unterstützen.

  10. Nikos Beloyannis, ein Kommunistenführer und Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, wurde 1952 von der Regierung der Spionage für die Sowjetunion bezichtigt und zum Tode verurteilt.

  11. Sowohl Griechen als auch Türken haben sich ›ethnischer Säuberungen‹ und Pogrome schuldig gemacht.

Arnon Grünberg bei Ilija Trojanow auf der Couch

Ilija Trojanow: Was unternimmt ein Autor, um die Welt kennenzulernen? Schaut er aus seinem Fenster auf einen Baum, der sich dem Frühling zuneigt? Schließt er die Augen, um sich die Kindheit zu vergegenwärtigen? Betrachtet er von einem Hochsitz aus das Wild, das aus dem Wald der Ereignisse tritt? Zieht er eine Latzschürze an oder einen Overall oder irgendeine andere Uniform des Alltags, um zu erfahren, wie es ist, ein anderer zu sein? Wagt er ein anderes Leben für eine gewisse Auszeit? Setzt er sich wie ein Pilger dem Unbekannten aus?

 

Viele Autoren sind scheu, introvertiert, gedankenverloren, selbstzentriert. Gelegentlich gelingen ihnen Gedichte, die Schüler späterer Generationen auswendig lernen und interpretieren müssen. Als Dexter Gordon von einem jungen, technisch brillanten Saxophonisten nach dem Geheimnis seines Spielens gefragt wurde, antwortete er: »Leben.« Womit er die vielen Höhen und Tiefen seiner Leidenschaft und Sucht meinte. Jahrzehnte früher hat ein junger jüdisch-russischer Autor namens Isaak Babel den damals weltberühmten Maxim Gorki um Rat gebeten, wie er ein besserer Schriftsteller werden könne. »Gehe unter die Menschen!«, soll der ältere Autor ausgerufen haben. Babel befolgte diesen Rat gewissenhaft: »Als sich herausstellte, dass zwei oder drei meiner leidlich geratenen jünglingshaften Versuche nur zufällig geglückt waren, dass ich in der Literatur gar nichts würde ausrichten können, dass ich erstaunlich schlecht schrieb – da schickte Alexej Maximowitsch [Gorki]

2006 beschloss Arnon Grünberg, damals alles andere als ein Jüngling oder ein Anfänger, sich diesen Rat zur Maxime zu nehmen und gleichfalls unter die Menschen zu gehen, »nicht als Spion, sondern als Beobachter«. Ein ungewöhnlicher, ein mutiger Schritt. Könnte ich ihn fragen, würde mich vor allem interessieren, was der Antrieb für diese Entscheidung war. Unzufriedenheit mit seinem Schreiben? Fernweh im übertragenen Sinne, ein gebrochenes Herz oder Entdeckerlust?

 

Arnon Grünberg: 1994 erschien in den Niederlanden mein Debütroman Blauer Montag. Fast unmittelbar danach begann ich, für eine Zeitschrift Kolumnen zu schreiben und kurz darauf auch längere Beiträge für eine Zeitung. Beides tue ich noch immer, doch nach ungefähr zehn Jahren mit diversen Romanen und anderen Büchern erschien meine Welt mir mehr und mehr steril und nur noch von der Beschäftigung mit bloßen Derivaten des Literarischen geprägt, das heißt in meinem Fall vor allem: sehr klein, von Lesungen in Buchhandlungen zu literarischen Festivals zu wieder einer anderen Lesung. Gut, zwischendurch schrieb ich auch noch und lebte, doch so vieles blieb unentdeckt: Welten, von denen ich nichts wusste oder nur das, was mir die Zeitungen präsentierten. Und das genügte mir nicht. Daneben begann meine Berührungsangst vor dem, was ich hier einfachheitshalber »die Wirklichkeit« nennen möchte, mir zunehmend auf die Nerven zu gehen. Die Furcht des Romanautors, sich auf das »Niveau des Journalismus herabzubegeben« oder durch zu ausgiebige Recherche literarisch verbrämte Soziologie zu betreiben – das alles erschien mir immer weniger als Versuch, die wahre Literatur gegen Instrumentalisierung

Zudem war ich moralisch, auch wenn sich das vielleicht etwas pathetisch anhört, davon überzeugt, dass der Romancier die gesellschaftliche Wirklichkeit keinesfalls ignorieren darf, und diese Pose wollte ich auch nicht mehr vortäuschen. Ich wollte keinen harmlosen Zeitvertreib liefern, ich wollte meine eigene Rolle – die des Autors in einer Gesellschaft – besser begreifen. Im Februar 2006 hatte das niederländische Parlament für eine neue, vieldiskutierte Mission unserer Truppen in Afghanistans Süden gestimmt, und so erschien es mir logisch, dass meine erste Reise mich dorthin führen müsste. Ich hatte nie Militärdienst geleistet, die Armee kannte ich nur aus den Nachrichten und aufgrund von dem, was ich mir selber zusammenreimte, sagen wir ruhig: meinen Vorurteilen. Außerdem wollte ich wissen, was erklärter Pazifismus in einer Demokratie bedeutet, wenn diese Demokratie beschließt, auf den Kriegspfad zu gehen. Kurzum: Alles sprach für Afghanistan als Ziel meiner ersten journalistischen Reise.

Die Chefredaktion der genannten Zeitung sträubte sich zunächst gegen mein Vorhaben: War das nicht zu gefährlich, womöglich würde es Leser befremden – bei einer Lesung in Deutschland fiel während einer Fragerunde später einmal das Wort »Kriegstourismus« –, und ich glaube, dass das Projekt auch die niederländische Armee nicht unmittelbar begeisterte. Im Juli 2006 jedoch machte ich mich mit einer Einheit der niederländischen Truppen

Schließlich gibt es kein größeres Glück als das Befriedigen der eigenen Neugier. Die Rolle des Schriftstellers als reiner Ästhet – soweit es diese Spezies überhaupt noch gibt – war jedenfalls keine, die ich je für mich angestrebt hatte. In einer schmutzigen Welt kann auch der Schriftsteller nicht mit sauberen Händen herumlaufen.

 

Ilija Trojanow: Über die Jahre hinweg hat Arnon Grünberg fremde Identitäten angenommen, Erniedrigungen ertragen, Rollen gespielt, Missverständnisse ausgehalten und dabei stets seinen aufmerksamen Blick auf das Unvermutete gerichtet, sein geneigtes Ohr jenen geliehen, die einen Alltag bewohnen, der ihm zunächst befremdlich, exotisch oder grotesk erschien. Er war unter anderem Couchsurfer, Zimmerjunge, Brautshopper, Kellner, Masseur, Investor, er hat sich die Hände schmutzig gemacht und manches Mal in Situationen begeben, die ihn gewiss beschämt haben, ohne dass er seine Verlegenheit zeigen durfte. Doch allmählich, und das macht den besonderen Reiz dieser Reportagen aus, vertraut sich Arnon Grünberg dem Unbekannten an, so wie er es sich auf einem Sofa in der fremden Wohnung bequem macht. Nicht dass es dort heimelig wäre, aber die scharfen Kanten der Fremde, das Verstörende am Unverständlichen schleifen sich ab, und er beginnt hinter die Fassade des Offensichtlichen zu blicken.

 

Wie wählt er die unbekannten Berufe und Lebensentwürfe aus? Nähert er sich ihnen mit der Naivität des Unbedarften? Oder bereitet er sich darauf vor wie ein Schauspieler des method acting auf seine nächste Rolle? Führt er Notizbuch von Tag eins an, oder lässt er sich zunächst treiben beziehungsweise antreiben, bis er eine kritische Dichte der Erfahrung gesammelt hat, die ihn zum Stift greifen lässt? All das würde ich ihn gerne fragen.

Außerdem: Warum mich auf Soldaten beschränken? Es gibt andere Berufe und andere Welten, die ich erkunden könnte. Ich las über Reisen für amerikanische Männer, die im Ausland eine Braut suchen, zum Beispiel in der Ukraine, und ich dachte: Da muss ich hin! Und so kam ich auf das Thema Menschenhandel. So führt ein Thema immer wieder zum nächsten.

Nach einer gewissen Zeit gab es allerdings auch Themenvorschläge und Anregungen von außen. So ging die Reportage über das Neubauviertel bei Utrecht auf eine Anfrage zurück, ob ich nicht etwas über die Kunstprojekte in jenem Viertel schreiben wolle. Ich antwortete, dass die Kunstprojekte mich weniger interessierten, aber dass ich gern etwas über das Viertel und seine Bewohner schreiben wollte, was dann in die genannte Reportage mündete.

Ich gehe vorbereitet, aber mit offenen Sinnen auf Reisen. Eine gewisse Naivität ist unerlässlich, wenn man wirklich beobachten will. Dabei benutze ich ein Notizbuch, denn alles muss stimmen – die Reportagen sind keine »Literatur«. Ich darf mir nichts ausdenken, alles muss dem Faktencheck standhalten.

Und ich passe mich an, lebe mich ein. Nach ein paar Tagen ist man auf dem Stützpunkt im Irak genauso zu Hause wie in einem Hotel in Bayern. Uniformen können helfen, in eine andere Rolle zu schlüpfen.

Ich bin Spion oder Amateuranthropologe, aber auch ein Performancekünstler und letztlich doch immer wieder der Autor – mit großem Respekt vor den Menschen, über die ich schreibe. Dabei bin ich mir des Machtgefälles zwischen Autor und Beschriebenen durchaus bewusst: Wer andere beschreibt, übt Macht über sie aus. Dies ist fast immer der Fall, vor allem, wenn das Geschriebene von vielen gelesen wird.

Vom Naturell her bin ich eher Melancholiker als Aktivist, Melancholie scheint mir für einen journalistischen Schriftsteller die intelligentere Form des Aktivismus. Meine Absichten gehen eher dahin, zu analysieren, als zu verändern.

In einer idealen Welt wäre ich länger am jeweiligen Ort des Geschehens geblieben, aber ich bin kein Soldat, kein Zimmerjunge, meine Anwesenheit ist per definitionem vorübergehend. Hätte ich mehr erfahren, wenn ich länger geblieben wäre, nicht einen Monat, sondern ein Jahr? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.

Alles ist ein Kompromiss, auch die Menge der Zeit, die ich an einem bestimmten Ort verbringen kann.

Rückblickend betrachtet, sind diese Reisen Erkundungen des Tragischen. Letzteres liegt in der Konfrontation mit der Faktizität und im Akzeptieren des Schicksals. Die Komik ist dabei nie weit entfernt. Wie sonst könnte man dem Tragischen begegnen, ohne in Zynismus zu verfallen?

Es gibt kaum etwas Schöneres, als sich selbst zu vergessen. Letztendlich sind diese Reisen auch Versuche, den anderen kennenzulernen, doch nicht als den Fremden, sondern als jemanden, der man selbst hätte sein können.

Couchsurfen in Mittel- und Osteuropa

(April 2008)

Im Winter 2007 hörte ich zum ersten Mal etwas von Couchsurfen2. Es bedeutet, kurz gefasst, dass man umsonst bei Fremden übernachtet. Die Website bringt Leute, die ein Bett suchen, mit solchen zusammen, die ein Bett anzubieten haben.

Ich komme gern in die Wohnungen anderer Leute, es macht mir Spaß, unter fremden Duschen zu stehen. Doch achtundvierzig Stunden später möchte ich am liebsten wieder weg sein. Ein Bett mit Zukunft gleicht einem Sarg.

Darum habe ich mich bei couchsurfing.com angemeldet.

Was ich tue, dient meinem Zweck, leben zu lernen. Lernen, das heißt: sehen, wie andere es machen. Und auch: in den Sachen anderer Leute herumschnüffeln.

Sicherheitshalber unternehme ich diese Reise mit meinem Freund Sander. Für den Fall, dass Gastgeber oder andere Couchsurfer aggressiv werden.

Der Gratisaspekt erweist sich dabei als ein eher untergeordnetes Detail. Der eigentliche Reiz des Couchsurfens liegt im Kontakt. Wobei ich hinzufügen muss, dass ›Kontakt‹ für die meisten Beteiligten nicht unbedingt erotisch besetzt ist.

 

Das erste Bett steht in Berlin, in der Wohnung von Guy und Marianne in der Manfred-von-Richthofen-Straße. Guy ist Francokanadier und laut Couchsurfing-Profil Liebhaber von dunklem Bier. Wer Marianne ist, muss sich noch herausstellen.

Weit und breit allerdings leider kein Guy. Dafür fünfzig leere Bierflaschen in der Küche.

Auf die Frage, wann Guy nach Hause kommt, antwortet Marianne: »Das kann spät werden.« Wie sie mir sagt, logiert in der Wohnung vorübergehend auch noch eine zweite Marianne, die Marianne deux genannt wird.

Ich sage: »Ich muss noch mal los, bin gleich zurück, ich kauf schnell noch ein Handtuch.«

Mehr als ein Bett darf man nicht erwarten.

Um sieben Uhr erscheint Marianne deux. Ebenfalls Francokanadierin. Marianne deux sagt, sie sei glücklich.

Von Guy nach wie vor keine Spur.

Gegen Mitternacht bieten Sander und ich an, im Wohnzimmer auf einer Matte zu schlafen, damit Marianne deux das Bett haben kann.

An der Wand hängen Fotos der blonden Krankenschwester, der eigentlich diese Wohnung gehört. Erst war sie in Indien, jetzt arbeitet sie in der Schweiz.

Brüderlich liegen wir schließlich zu dritt nebeneinander. Wir sprechen noch etwas Französisch, aber ich kann mich nicht mehr auf den richtigen Zeitengebrauch konzentrieren.

Lektion eins des Couchsurfens: Mach das Beste aus allem, was dir begegnet. Stell keine Fragen. Fragen sind kein Beitrag zum Glück.

 

Das zweite Bett steht in der Wohnung von Martina in Prag 7. Sie wohnt im dritten Stock. Ab acht Uhr abends sind wir willkommen.

Sander und ich wuchten meinen Schrankkoffer die Treppe hinauf. Innerlich bin ich von Kopf bis Fuß auf die zu erwartende Hippiekolonie

Im Wohnzimmer liegen zwei Matratzen mit drei Couchsurfern. Es riecht nach Aschenbecher, Schweißfuß und Bananen.

Martina hat rotes Haar und ist ziemlich dick. Sie ist fünfundzwanzig, sieht aber älter aus. In ihrem Couchsurfing-Profil steht, dass sie raucht wie ein Schlot. Was sie verschwiegen hat, ist, dass sie von Bananensaft-Cocktails mit Rum lebt.

Ich komme mit einem jungen Australier ins Gespräch, der fünf Tage auf dem Flughafen von Prag übernachtet hat, bevor er Unterschlupf bei Martina fand. Mitten auf seiner Weltreise ging ihm das Geld aus. Der moderne Obdachlose ist eine dekadente Spezies.

Neben dem Australier liegt ein Pärchen. Er aus Frankreich, sie aus Spanien. Der Unterschied zwischen Liegen und Sitzen ist fließend. So wie auch unklar ist, wo der Pyjama beginnt und die Jeanshose endet. Ich würde sagen: Die Jeanshose ist der Pyjama.

»Warum hast du dich zum Couchsurfen angemeldet?«, frage ich Martina.

»Früher musste ich in eine Bar, um Leute zu treffen«, sagt sie. »Jetzt kommen sie zu mir. Ich kam zu Verabredungen auch immer zu spät. Jetzt komme ich nie mehr zu spät.«

»Habt ihr Hunger?«, frage ich. »Kann ich euch zu einem Essen in einem guten Restaurant einladen?«

Diese Matratzengruft ist ja schön und gut, aber bevor ich mich dazulege, möchte ich doch noch was Leckeres essen.

»Ich geh nicht mehr aus dem Haus«, sagt Martina. »Ich will mich betrinken und high werden, außerdem habe ich schon gegessen.«

Obwohl man es nach dieser Äußerung nicht vermuten sollte, hat Martina eine feste Stelle in einer Werbeagentur. Sie selbst nennt sich ›Sklavin des Kapitalismus‹. Ihr wäre es lieber gewesen, fährt sie fort, die Revolution von 1989 hätte erst 1990 stattgefunden, dann hätte sie wenigstens noch eine Auszeichnung der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation bekommen.

Ich nicke.

»Und wenn du mir verrätst, was du genau machst, musst du mich ermorden, was?«

»Welches Datum wäre genehm?«, frage ich. »Lass es mich wissen, wann es dir passt.«

Die Kombination von Bananensaft und Rum macht auch mir langsam zu schaffen.

Martina lacht kurz und leicht gruselig auf. »Überrasch mich«, sagt sie.

Mich beschleicht das ungemütliche Gefühl, dass sie es ernst meint.

 

Der Unterschied zwischen Vertrauen in die Menschheit und Nihilismus ist oft minimal. Martina hat uns ihre Hausschlüssel gegeben. Wir müssen in ein anderes Zimmer umziehen, dürfen aber noch eine Nacht bleiben. Heute Morgen hat sich herausgestellt, dass wir im Bett von Martinas Mitbewohner geschlafen haben. Beim Aufwachen entdeckte ich einen Pyjama, auf dem ich gelegen hatte. Ich roch alten Schweiß.

Schmutzphobie ist der kleine Bruder des Todes. Vergiss jede Schmutzphobie. Das Leben ist schmutzig.

Bevor Martina von der Arbeit zurückkommt, machen wir uns an den Abwasch. Es sind vor allem Aschenbecher und Gläser.

Die anderen Couchsurfer sind am Morgen gegangen.

Um acht Uhr betritt Martina die Wohnung. Sie wirft ihre Tasche in die Ecke, reißt den Kühlschrank auf und beginnt leise zu weinen.

Da steht man dann da mit seinem Geschirrtuch über der Schulter.

»Was du brauchst, ist ein richtiges Steak«, sage ich.

»Ich will nach China«, sagt Martina schluchzend. »Ich bin in meiner asiatischen Phase.«

Das bleibt von Solidarität übrig. Besser als nichts.

Nach neun Rum geht Martina zu Piña Colada über. Ich ertappe mich bei Erstaunen und sogar einer gewissen Ehrfurcht. Ein moralisches Dilemma tut sich auf: Martina gewährt uns ein Bett für die Nacht, müssten wir sie nicht vor dem Absturz bewahren? Allein schon aus Eigeninteresse. Wer trägt sie nach Hause?

Im Restaurant Chez Marcel stößt eine Bekannte zu uns. Sie hat ein Kind aus einer früheren Beziehung und ist jetzt verheiratet mit einem schnauzbärtigen Mann, der zwanzig Jahre älter ist als sie. Sie sagt: »Ich bin in keiner asiatischen Phase, ich bin in meiner konservativen Phase. Mein Mann ist mein Held.«

Sie zeigt uns die Hochzeitsfotos.

Mit jedem Glas Wein nimmt ihr Konservatismus andere, überraschende Formen an. Sie murmelt: »Ich liebe euch, bedingungslos.«

Wie viele Menschen kann man bedingungslos lieben? Dutzende. Mindestens.

Martina selbst scheint die Prinzipien des Couchsurfens überall zu verwirklichen. In ihrer Wohnung. In ihrem ganzen Leben. Couchsurfen bis zum bitteren Schluss. Nenne es praktischen Idealismus.

Die Bekannte begleitet uns zu Martinas Wohnung. Ihr Kind und ihr schnauzbärtiger Mann sind verreist. Heute Abend ist sie die vierte Couchsurferin.

 

M. ist Logopädin, und W., eigentlich Wilhelm, ist Arzt. Sie haben angeboten, uns vom Bahnhof im österreichischen Stainach-Irdning in der Steiermark abzuholen.

W. hat etwas von einem ergrauten Skilehrer.

»Sie machen selbst Johannisbeerlikör?«, frage ich. Nicht umsonst habe ich mich folgendermaßen beschrieben: »Reinlich, harmlos und höflich.«

»Nein, er ist von der Nachbarin«, sagt M. »Außerdem sagen wir unter Couchsurfern ›Du‹.«

Ich nehme einen Schluck Kir Royal. »Und warum empfangt ihr wildfremde Leute zu Hause?«

M. lacht allerliebst. »Unser Sohn war couchsurfen in Mexiko«, sagt sie. »Und ich bin eine besorgte Mutter. Da hab ich mir ein Profil auf couchsurfing.com zugelegt. So konnte ich sehen, wo er war, denn er hat überall Bemerkungen hinterlassen. Nach einiger Zeit dachte ich: Warum empfangen wir selbst eigentlich niemanden? Unser Sohn findet das komisch, aber natürlich verbietet er es uns nicht. Und wir haben so nette Couchsurfer kennengelernt. Ein Amerikaner auf Weltreise, zwei Ungarn mit einem Cello. Nur Raucher mag ich nicht.«

Ich erzähle, dass wir gerade von einer Kettenraucherin kommen.

»Ja«, sagt M., »was mir an deinem Profil gefallen hat, war, dass du dich als reinlich beschrieben hast. Ich mag keine Dreckspatzen.«

Nach meinem Tod keine Ansprachen. Nur sechs Worte: Der Mann, der kein Dreckspatz war.

»Esst ihr Rindfleisch?«

»Ja, gern«, sage ich.

Wir setzen uns zu Tisch. »Das Gericht hier heißt Tafelspitz«, erklärt W. »Dazu trinke ich gern ein Glas Bier.«

Sander, mein Reisebegleiter, greift tüchtig zu. Was unseren Gastgebern sichtlich gefällt.

»Unser Simon studiert in Graz«, sagt M. »Er will Arzt werden.

Ich merke es: eine Familie von Couchsurfern.

Auch eine Schokoladentorte haben M. und W. gebacken. Alles gleich appetitlich und lecker.

Zu guter Letzt bekomme ich das Kinderzimmer, Sander das Gästezimmer. Das Bett sieht herrlich aus. Die Kissen sind dick aufgeschüttelt wie im besten Hotel. Ich ziehe die Pantoffeln aus.

»Brauchst du noch irgendetwas?«, ruft M.

»Nein, danke«, rufe ich zurück.

Ich bin das reisende Kind für Eltern im Herbst ihres Lebens, die sich ohne größere Umstände noch einmal um jemanden kümmern möchten.

 

Für Strobl am Wolfgangsee zeigt die Couchsurfing-Website keine Einträge. Bis in diesen Winkel Österreichs ist das Phänomen noch nicht vorgedrungen.

So hoffe ich, nach meiner Gratislesung vor jungen Buchhändlern, bei einem von ihnen unterschlüpfen zu können. Die jungen Buchhändler haben sich zu einer Tagung nach Strobl zurückgezogen, um über ihren Berufsstand zu diskutieren.

Mein Reisebegleiter ist optimistisch. »Sie werden sich um dich schlagen«, sagt er. Ich bin eher skeptisch. Seit 1998 hat sich niemand mehr um mich geschlagen, und ich sehe nicht ein, warum das in Strobl auf einmal anders sein sollte.

Mein Vorschlag am Ende der Lesung sorgt unter den Buchhändlern für Verwirrung, eine Verwirrung, die sich von Argwohn kaum unterscheiden lässt. »Haben Sie kein Geld fürs Hotel?«, fragt ein junger Mann.

»Das ist es nicht«, sage ich. »Aber ich muss nun mal eine Woche bei Fremden übernachten.«

Ich habe für mein Leben Spielregeln aufgestellt, die ich nicht übertreten möchte.

Wir setzen uns zu Buchhändlern an den Tisch und lassen Schnaps auffahren. Zwei Buchhändler verabschieden sich schnell, doch beim Rest siegt die Neugier über den Argwohn.

»Wenn ihr einen Autor persönlich kennt, könnt ihr seine Bücher dann besser verkaufen?«, frage ich.

»Ja, klar«, sagen die Buchhändler.

»Und wenn der Autor neben euch im Bett gelegen hat?«

Der Verkauf erweist sich auch hier, wie so oft, als entscheidendes Argument.

»Du kannst zu mir aufs Zimmer«, sagt J. »Ich hab fünf Brüder, ich bin das gewöhnt.«

J. verkauft nicht nur Bücher, sie ist auch fanatische Turnerin.

Als ich mir die Zähne putze, schlüpft sie schnell in ihre Nachtwäsche: ein schwarzes T-Shirt und eine Radlerhose.

Dann fängt sie an zu erzählen. Auch ihre Mutter ist begeisterte Turnerin. Bei der Fußball-EM 2008 in Wien wird J. im Stadion vor jedem Spiel gymnastische Darbietungen bringen, die leider nicht im Fernsehen übertragen werden. Ihr Freund und sie wollen nächstes Jahr heiraten, aber ihre Eltern sind nicht glücklich darüber, weil er nichts mit Turnen am Hut hat.

»Warum machst du das hier eigentlich?«, fragt sie plötzlich.

»Um einen Titel von Ian McEwan zu paraphrasieren«, antworte ich, »Der Trost von Fremden ist besserer Trost.«3 Und füge hastig hinzu: »Jetzt müssen wir aber schlafen.«

Über Turnen darf man nicht bis zum frühen Morgen reden.

 

»Bahnhof Keleti, stehe unter der großen Uhr«, teilt Violka uns per SMS mit. »Trage Sonnenbrille, roten Mantel und bin groß.«

Der Mantel ist nicht rot, doch der Rest stimmt.

Violka hat zwei Mitbewohnerinnen, und aus unerfindlichen Gründen können wir noch nicht in die Wohnung. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren wir in ein Café gegenüber der größten

Sie hat Deutsch auf Lehramt studiert, doch der Beruf war die Hölle. Jetzt arbeitet sie in einem Reisebüro.

Wir warten auf Orsolya. Von ihr stammt die Idee, Fremde zu beherbergen: das Leben ein nicht enden wollender Logierbesuch. Die Euphorie von 1989 ist verflogen und hat der großen Flucht aus der Realität Platz gemacht. »Ich lese nie Zeitungen«, hat J. in Strobl gesagt. »Nur Bücher. Ich will in meiner eigenen, heilen Welt bleiben.« Was viel über Bücher sagt. Und über die Art, wie sie gelesen werden. Wer sich enttäuscht von der Welt abwendet, macht irgendwann nur noch für Pyjamapartys die Tür auf.

Orsolya lässt auf sich warten, und inzwischen reißen Sander und ich Witze, die wir schon die ganze Woche über erzählen. Für Violka jedoch sind sie neu. Sie lacht herzlich.

Orsolya, die schließlich doch noch dazukommt, nennt sich Orsy. Sie arbeitet für eine japanische Firma der Autozulieferindustrie.

Die Wohnung in einem Außenbezirk von Buda strahlt eine freundliche, osteuropäische Melancholie aus. Auf der Toilette prangt eine Liste mit fünfzig Gründen, das Leben zu lieben. Orsy sagt: »Wenn euch noch einer einfällt, schreibt ihn unbedingt dazu.« Die dritte Mitbewohnerin heißt Marta. Marta hat Zahnschmerzen.

Mit Violka und Orsy gehen wir in ein traditionelles ungarisches Restaurant, wo natürlich die örtliche Schnapsspezialität probiert werden muss. Im Grunde ist Couchsurfen Alkoholismus mit Rollkoffer.

Beim Hauptgang wird Orsy auf einmal ernst. »Was ist euer süßester Traum?«, will sie wissen.

Was könnte sie meinen?

In einem Versuch, freundlich und zugleich witzig zu sein, antworte ich: »In sieben Städten mit sieben Frauen sieben verschiedene Kinder zu zeugen.«

Neben der Zeit als Zimmerjunge in Bayern und meinen Reisen nach Afghanistan waren dies hier die glücklichsten Tage meines Lebens.

Vielleicht ist das mein süßester Traum: Couchsurfen bis an mein seliges Ende.

Auch in Bagdad scheint es Couchsurfer zu geben. Adnan Salih zum Beispiel, der sich auf der Website folgendermaßen vorstellt: »I wish to explore the western world I love to meet the good and funny people and I wish to make a real friendship with the people that I enjoy.«

Orsy schläft in Violkas Zimmer, so dass mein Reisebegleiter und ich in ihr Bett kriechen können.

»Komm lebend aus dem Irak zurück«, sagt Orsy.4

Auf der Toilette trage ich Grund Nummer 51 ein: »Der Geruch der Schweißfüße von Fremden.«