Über das Buch:
1946–48: Der Krieg ist vorüber. Das Leben der Hayes-Schwestern könnte wieder in ruhigeren Bahnen verlaufen – wäre da nicht das ungeklärte Schicksal von Camerons Mann. Nachdem sich der Eiserne Vorhang gesenkt hat, kann er die Sowjetunion nicht mehr verlassen. Doch aus Liebe zu seiner Frau setzt er alles auf eine Karte: Im Dienst des amerikanischen Geheimdienstes will er die Flucht in die Freiheit erzwingen. Als sein Plan scheitert, können Cameron, Blair und Jackie nicht länger tatenlos abwarten. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg in das Reich des roten Zaren.
Über die Autorin:
Judith Pella studierte Sozialwissenschaften und gilt als Meisterin des historischen Romans. Sie liebt es, gründlich zu recherchieren und in verschiedene Zeitepochen einzutauchen. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Oregon.
7
Sich in einem öffentlichen Restaurant zu treffen, erschien Robert nicht sehr klug. Es war eine überfüllte, zweitklassige Gaststätte, die nur selten von Ausländern betreten wurde, mehr wie die Rasthäuser am Straßenrand in den USA, in denen die Lastwagenfahrer verkehrten. Der einzige Vorteil war, dass hier um diese Uhrzeit viele Arbeiter noch ein Bier tranken, bevor sie nach Hause gingen.
Als Robert 1941 nach Russland gekommen war, hatte man ihn vor staatlichen Restriktionen gewarnt. Er würde sich nicht frei bewegen können und auch nicht viele Russen kennenlernen. Es wäre unmöglich, offizielle Informationen zu bekommen oder militärische Einrichtungen zu besuchen. Das hatte sich alles als wahr erwiesen, doch im Laufe der Jahre hatte der Krieg zu einer Lockerung vieler Verbote geführt, was in den Monaten unmittelbar nach dem Krieg noch spürbar gewesen war. Doch im vergangenen Jahr hatte sich das Klima im Land wieder deutlich verschlechtert.
Nach 1941 hatte er zu den russischen Staatsbürgern immer problemloser Kontakt aufnehmen können – im Theater, beim Einkaufen oder wenn er einfach nur durch die Stadt spaziert war. Er hatte bei vielen Gelegenheiten mit ihnen gesprochen, denn sein Russisch war gut, und niemand war ihm ausgewichen. Im Gegenteil, die Menschen hatten sich gern mit ihm unterhalten. Das war jetzt nicht mehr so. Er hatte gehört, dass in letzter Zeit außergewöhnlich viele Sowjetbürger verhaftet worden waren, die irgendeinen Kontakt zu Ausländern hatten. Auch unter den Russen, die die Erlaubnis hatten, für Ausländer zu arbeiten, gab es viele Festnahmen. Selbst die Botschaften waren von dieser Verhaftungswelle betroffen.
Deshalb hatte er sich mit Sophia Gorbenko, einer Russischlehrerin an der Botschaft, immer nur sehr vorsichtig getroffen. Es überraschte ihn, dass sie angesichts der außergewöhnlichen Menge von Briefen, die sie ihm seit dem Krieg überreicht hatte, der sowjetischen Polizei noch nicht aufgefallen war. Einmal hatte er sie wegen der Risiken, die sie einging, gefragt.
„Ich glaube, dass ich das für meine Freunde tun muss“, hatte sie gesagt. „Und ich weiß, dass Gott mich beschützt, solange das in seinem Sinn ist.“
Als Mann, der Gott liebte und vertraute, verstand er ihre Beweggründe. Trotzdem machte er sich Sorgen um das Mädchen und hoffte, Gott verstünde ihn.
Angesichts dieser Gefahren war es keine leichte Aufgabe gewesen, ihr plausibel zu machen, warum er sich mit Camerons russischem Freund treffen wollte. Sie brauchte danach drei Tage, bis sie dem Mann diese Anfrage überbracht und von ihm eine positive Antwort für Robert erhalten hatte. Dann wurde das Treffen arrangiert. Als alles so weit erledigt war, wusste Robert, warum die Vereinigten Staaten so wenige Geheimdienstleute in der Sowjetunion stationiert hatten. Der Aufwand, den schon ein kurzes Treffen mit einem Russen mit sich brachte, war einfach kontraproduktiv.
Als Sophia Gorbenko ihm mitgeteilt hatte, wo das Treffen stattfinden sollte, war er skeptisch gewesen, sie aber schien zuversichtlich zu sein, dass alles klappen würde.
Statt seines üblichen dreiteiligen Anzugs trug er Freizeitkleidung, um damit von den Einheimischen nicht abzustechen, obwohl er jetzt, da er an einem Tisch mitten unter Arbeitern saß, schnell erkannte, wie vergeblich dieser Versuch gewesen war. Deutlich ragte er als Ausländer aus der Menge heraus.
Er bestellte eine Kanne Tee, auch wenn er dadurch noch mehr auffiel, doch das süße russische Bier, das die meisten anderen Gäste hier tranken, konnte er nicht ausstehen. Angespannt löffelte er Zucker in die Tasse mit dem dampfenden Gebräu, dann lehnte er sich zurück und hörte auf die vielen Gespräche, die um ihn herum liefen. Sein Russisch war ausgesprochen gut, sodass er vieles von dem, was gesagt wurde, verstand.
Nach zehn Minuten trat ein großer blonder Mann an seinen Tisch und setzte sich. Es war üblich, dass sich mehrere Personen einen Tisch teilten, besonders wenn so viele Gäste da waren. Kurz darauf brachte ihm ein Kellner eine Tasse Tee, den er anscheinend an der Theke bestellt hatte, bevor er sich zu Robert gesetzt hatte.
„Kann ich etwas von Ihrem Zucker haben?“, fragte er auf Russisch.
„Natürlich“, antwortete Robert, auch auf Russisch, während er die Schale über den kleinen Tisch schob.
„Sie sind kein Russe“, stellte der Fremde fest.
„Nein. Amerikaner“, gab Robert zurück.
„Ich dachte, ich würde den Akzent erkennen, aber Ihr Russisch ist sehr gut.“
„Danke.“ Robert war fast sicher, dass dies keine zufällige Begegnung war. Er wünschte, er hätte mit Sophia bestimmte Losungsworte vereinbart, aber er war in der Durchführung geheimer Operationen noch denkbar unerfahren. Sein einziger Versuch, die Sache mit Oleg Gorbenko, war ein kompletter Fehlschlag gewesen.
Leise fügte er hinzu: „Ich arbeite an der Botschaft und habe dort eine sehr gute Lehrerin.“
Der Fremde nahm einen gehäuften Löffel Zucker aus der Schale und rührte ihn in seinen Tee. Während er das tat, schaute er sich beiläufig im Raum um. Zufrieden, dass niemand nahe genug saß, um ihnen zuzuhören, sagte er: „Darf ich Ihre Papiere sehen?“
Robert zog seine Ausweispapiere aus seiner Manteltasche und schob sie über den Tisch.
Nachdem er sie sorgfältig betrachtet hatte, sagte der Russe: „Robert Wood. Ich habe diesen Namen von einer gemeinsamen Freundin gehört. Cameron.“
Das genügte Robert als Bestätigung. „Wollen Sie mir Ihren Namen nennen?“
„Aleksei Rostowschikow, oder kurz Alex Rostow. Hat Cameron Ihnen von mir erzählt?“
„Nur ganz Allgemeines. Sie sind Arzt, nicht wahr?“
„Ja, das bin ich“, antwortete Rostow.
Während Dr. Rostow an seinem Tee nippte, betrachtete Robert ihn und meinte nachvollziehen zu können, warum Cameron sich in diesen Mann verliebt hatte. Er war einfach der Typ, den Frauen attraktiv fanden: gewellte blonde Haare und lebhafte blaue Augen. Robert fand sich selbst eher unscheinbar und von ziemlich kleiner Gestalt und fühlte sich von solchen Männern schon immer in den Schatten gestellt. Sie unterhielten sich weiter auf Russisch, denn selbst wenn es von den Leuten um sie herum leichter verstanden werden konnte, zogen sie damit doch weniger Aufmerksamkeit auf sich, als wenn sie Englisch gesprochen hätten.
„Sie wurden natürlich verfolgt“, erwiderte Rostow. „Ich bin schon seit zwanzig Minuten hier und warte. Ihr Verfolger hat mich also nicht eintreten sehen. Für jeden Beobachter muss dies eine zufällige Begegnung sein. Man wird glauben, Sie wären hierhergekommen, um Ihr Russisch zu verbessern.“
Robert nickte. „Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich die Sprache üben will, und habe es mir angewöhnt, so viele Orte wie möglich zu besuchen, an denen man mit normalen Russen zusammenkommt.“
„Ja. Das wusste Sophia. Deshalb hielten wir diesen Ort auch für geeignet.“
Der Arzt nahm ein Päckchen aus seiner Tasche und öffnete es. Ein paar Brotscheiben und eine Wurst kamen zum Vorschein. „Stört es Sie, wenn ich esse? Dies ist die einzige Gelegenheit, die ich dazu habe.“
„Natürlich nicht. Essen Sie ruhig“, antwortete Robert.
„Verraten Sie mir, warum Sie mich sprechen wollten, Mr Wood. Sophia hat mir gesagt, dass es Cameron gut geht. Um was geht es also dann?“ Er brach ein Stück Brot ab und steckte es sich in den Mund.
Robert lächelte: „Können Sie sich das nicht denken, Dr. Rostow? Es kann doch wohl kaum ein Zufall sein, dass dieses Treffen hier und heute stattfindet, kaum eine Woche, nachdem Sie versucht haben, sensibles Material aus dem Land zu schaffen.“
Rostow rutschte auf seinem Stuhl nach vorne, schwieg einen Moment und sagte dann mit absoluter Aufrichtigkeit: „Es tut mir leid, Mr Wood, und es hat mir selbst nicht gefallen, Ihre großzügige Hilfe für Cameron und mich auf diese Weise auszunutzen.“
„Das habe ich mir gedacht, aber warum haben Sie es getan? Es hätte uns allen viele Schwierigkeiten bereiten können.“
„Hätte können?“
„Vielleicht hat es das bereits, ich bin mir da noch nicht sicher.“
Rostow nahm einen Bissen von seiner Wurst, kaute und schluckte. „Ich versichere Ihnen, dass Cameron davon nichts wusste. Ich wurde von einem Freund angesprochen, den sein Gewissen drückte und der meinte, diesen Schritt gehen zu müssen. Dieser Mann hat mir in meinem Leben viel geholfen und ich konnte ihm diese Bitte nicht ausschlagen.“
„Nun, bis jetzt ist noch kein Schaden angerichtet worden.“
„Aber ...?“
Robert war beeindruckt. Diesem Mann war also klar, dass die Sache damit noch nicht ausgestanden war.
„Ihr Brief wurde von einem Geheimdienstagenten meines Landes abgefangen“, erklärte Robert. „Er ist jetzt auf die Idee gekommen, dass er Sie als eine Art Agent provocateur benutzen könnte.“
Rostows Hand erstarrte mit dem Stück Brot mitten in der Luft. Er runzelte die Stirn. „Als Spion?“, sagte er mit betont leiser Stimme. Er schaute sich wieder nach allen Seiten um, als wären schon seine geflüsterten Worte gefährlich.
„Wir können hier nicht lange sprechen. Ich werde also versuchen, mich kurz zu fassen.“ Robert machte eine Pause, um von seinem Tee zu trinken. Ihm gefiel das, was er sagen musste, überhaupt nicht. Er betrachtete dieses Spionagegeschäft als notwendiges Übel und hasste es, einfache Menschen in diese Sache hineinzuziehen. Er musste sich erst ins Gedächtnis rufen, dass Rostow selbst den ersten Schritt in diese Richtung getan hatte. Außerdem wollte er dem Mann eine Chance geben, selbst zu entscheiden, was in dieser Angelegenheit zu tun sei. Er stellte seine Tasse ab. „Unser Land braucht dringend Informationen über die Sowjetunion. Viele fürchten, in ein paar Jahren könnte es den nächsten Krieg geben, und so wie die Dinge im Moment stehen, befinden wir uns im Hintertreffen. Unsere Regierung wäre bereit, Ihnen im Austausch für Ihre Dienste die Möglichkeit zu geben, aus Russland zu fliehen, falls Sie das wünschen. Dieser Agent, den ich erwähnte, würde sich gern mit Ihnen treffen und die Details seiner Pläne mit Ihnen besprechen.“
„Sie fordern mich auf, mein Land zu verraten?“
„Nein, Dr Rostow. Ich glaube, es geht darum, ein gefährliches Regime zu schwächen. Stalin ist ein Verrückter, zweifellos genauso wahnsinnig, wie Hitler war. Aber ich will Sie nicht zu irgendetwas überreden, meine einzige Absicht ist, Ihnen dieses Angebot vorzulegen. Bevor ich unserem Agenten Ihre Identität preisgebe, will ich sichergehen, dass Sie bereit sind, sich sein Angebot anzuhören. Ich könnte Cameron wahrscheinlich nicht mehr in die Augen schauen, wenn ich diese Tür zuschlüge, ohne Ihnen vorher dieses Angebot zu unterbreiten.“ Er brach ab. Einige Augenblicke herrschte Schweigen am Tisch.
Schließlich flüsterte Dr. Rostow. „Russland stirbt. Sein Herz und seine Seele sterben. Sie kennen nur einen Teil des Terrors, der dieses Volk in die Knie zwingt.“
„Was werden Sie also tun?“, fragte Robert vorsichtig.
„Ich werde mein Handeln nicht als uneigennützig darstellen“, erwiderte Rostow. „Ich bin bereit, fast alles zu tun, um zu fliehen, um bei meiner ... bei Cameron zu sein. Aber ich betrachte Russland als mein Vaterland, das mich aufgenommen und mir ein Zuhause gegeben hat, als ich keine andere Heimat hatte. Ich liebe Russland, aber ich hasse Stalins Regime und ich habe keine Skrupel, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um es zu stürzen.“
„Das ist mit großen Risiken verbunden.“
„Ich weiß.“
Robert hörte aus Rostows Stimme Resignation heraus, aber auch einen leichten Unterton von – war es Hoffnung? In seinem Handeln musste eine gewisse Verzweiflung liegen, aber das war noch nicht alles, was ihn antrieb.
Jetzt erinnerte sich Robert an ein kurzes Gespräch mit Cameron, kurz bevor sie Russland verlassen hatte. Sie hatten über die Sache mit Oleg Gorbenko gesprochen.
„Ich glaube, wenn wir es jetzt machen, könnten wir es schaffen“, hatte sie laut nachgedacht. „Ich habe mittlerweile Erfahrung darin, das NKWD auszutricksen.“
„Wie denn das?“, hatte Robert interessiert gefragt.
„Ich gehe häufiger zur Kirche.“
„Und dort hast du gelernt, andere aufs Kreuz zu legen?“
Sie lächelte trocken. „Es geht nicht darum, dass ich zur Kirche gehe, sondern vielmehr um die Art der Kirche, in die ich gehe.“
„Ist das ein Rätsel, Cameron?“
„Tut mir leid, Robert.“ Sie schwieg kurz, als überlege sie, ob sie ihm ein großes Geheimnis verraten solle. „Okay, ich weiß, dass man dir vertrauen kann. Ich gehe in eine Untergrundkirche.“
„Ach was, ich hätte nicht gedacht, dass du so religiös bist. Geht es dir um Recherchen?“
„Es geht mir um mich persönlich.“ Eine leichte Röte zog über ihre Wangen, offenbar war sie es noch nicht gewohnt, über ihren Glauben zu sprechen. „Ich hatte das, was man eine Wiedergeburt nennen kann. Und das mitten in der finstersten Sowjetunion. Ein Arzt, den ich kenne, hat mir geholfen, den Weg zum Glauben zu finden.“
„Wer hätte das gedacht!“, flüsterte er. Das überraschte ihn wirklich. „Ich bewundere dich, Cameron, dass du ein solches Risiko eingehst, um deinem neuen Glauben zu folgen. Das kann uns alle nur ermutigen!“
„Mein Güte! Jetzt übertreibst du aber!“, lachte Cameron verlegen.
„Du weißt, dass meine Familie ihr Judentum aufgegeben hat und dass sie jetzt Presbyterianer sind“, hatte er etwas scheu gesagt. Es fiel ihm schwer, über diese Dinge zu sprechen, aber er wusste instinktiv, dass Cameron die richtige Person war, der er sich öffnen wollte. „Aber für mich ist es immer mehr gewesen. Ich habe Jesus Christus mein Herz übergeben, als ich dreizehn war, und versuche seitdem, mit ihm zu leben. Ich habe meine Gottesdienstbesuche aufgegeben, seit ich in der Sowjetunion lebe, weil ich nichts finden konnte, was mich angesprochen hat. Ich frage mich jetzt, ob ich nicht intensiv genug gesucht habe.“
„Möchtest du mitkommen?“, fragte Cameron.
„Als Botschaftsbeamter würde ich es damit wahrscheinlich zu weit treiben. Aber ...“ Er rieb sich das Kinn. „Es muss noch einen anderen Weg geben. Ich brauche etwas. Und dann sind da ja auch noch meine jüdischen Wurzeln. Es ist für mich nicht leicht, meine eigene Linie zu finden, und ich suche eigentlich immer noch nach meiner Identität.“
„Warum beginnst du nicht mit Gottesdiensten in der Botschaft?“, schlug Cameron vor. „Das muss keine Konkurrenz sein zu dem, was es schon gibt, sondern etwas Zusätzliches, etwas Persönlicheres.“
„Ja, wie die Mittwochsgebetsstunde, die es in meiner Kirche zu Hause gab.“ Bei dieser Idee hatte ihn eine gewisse Aufregung gepackt.
„Ich würde hingehen“, bestätigte Cameron seine Gedanken.
Zwei Tage nach diesem Gespräch war Cameron zu einer Fahrt an die Front nach Stalingrad aufgebrochen und kurz nach ihrer Rückkehr nach Moskau wurde sie gezwungen, das Land zu verlassen. Robert hatte unterdessen tatsächlich einen Gebetsabend für Botschaftsangehörige organisiert. Die Teilnehmerzahlen blieben jedoch von Anfang an eher niedrig und bald kamen nur noch zwei Leute. Robert hatte nicht die Gabe, so etwas zu leiten, und die ungelösten Fragen seines Lebens beschäftigten ihn noch zu sehr, als dass er andere Menschen in ihrem Glauben hätte bestärken können. Die Treffen wurden schließlich wieder eingestellt.
Jedenfalls wurde ihm jetzt bewusst, dass Camerons Arzt auch ein gläubiger Mann sein musste. Er hatte der jungen Amerikanerin geholfen, ihr Herz für Gott zu öffnen. Das musste die Kraft sein, die Robert jetzt bei ihm spürte. Nur der Glaube an Gott konnte einem Mann helfen, inmitten bedrückender Umstände Hoffnung zu finden.
Robert spielte kurz mit dem Gedanken, Rostow zu bitten, dass er ihn zu der Untergrundkirche mitnehmen solle. Aber die Gefahr, die damit verbunden war, einen solchen Ort aufzusuchen, war jetzt um ein Vielfaches größer als noch vor ein paar Jahren, als Cameron das gewagt hatte. Robert verstand, dass die Risiken, die Cameron damals eingegangen war, ihrem Glauben eher bestärkt haben müssten, während die Risiken, die er jetzt auf sich zu nehmen hatte, einfach unnötig wären. Aber er spürte einen starken Drang, mit diesem Mann zu sprechen, ihm die Verwirrung zu schildern, in die ihn der Konflikt stürzte, zweierlei Glauben und zweierlei Erbe zu haben. Er wusste instinktiv, dass Dr. Rostow ihm genauso den richtigen Weg zeigen könnte, wie er Cameron auf den richtigen Weg geführt hatte.
Doch dieser Arzt war ein völlig Fremder, der genug eigene Probleme hatte, und Roberts zurückhaltende Art veranlasste ihn zu schweigen. Außerdem war es gefährlich, dieses Treffen noch weiter in die Länge zu ziehen.
Rostow empfand anscheinend das Gleiche, denn er sagte in einem abschließenden Tonfall: „Sagen Sie Ihrem Kollegen, dass ich mich mit ihm treffen werde.“
Sie sprachen über einen Plan für das Treffen mit Marquet, dann verschwand Rostow. Robert wartete noch eine Viertelstunde, bevor er ebenfalls das Restaurant verließ.
* * *
Eine Woche später traf Alex Larry Marquet im Hinterzimmer der Bäckerei eines Freundes. Sie konnten sich an keinem öffentlichen Ort treffen, da sie miteinander Englisch sprechen mussten, was in der Öffentlichkeit viel zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte. Alex’ Englisch war im Laufe der Jahre, in denen er es nicht mehr gesprochen hatte, eingerostet, aber Marquet sprach überhaupt kein Russisch.
Nachdem sie die vorher vereinbarten Kennworte ausgetauscht hatten, erklärte Alex: „Der Besitzer dieser Bäckerei ist sehr nervös, wir können also nicht lange sprechen. Sie sind sicher, dass man Ihnen nicht gefolgt ist?“
„Ich weiß, was ich tue“, erwiderte Marquet knapp.
Eine solche Arroganz machte Alex mehr Sorgen als ausgesprochene Dummheit. „Was wollen Sie von mir?“, fragte er.
„Wir möchten, dass Sie für uns als Agent arbeiten“, sagte Marquet in aller Ruhe.
Er forderte Alex genauso nebenbei auf, als Spion tätig zu werden, wie er eine Tasse Tee bestellen würde!
„Mr Wood erwähnte eine Belohnung für meine Dienste“, erwiderte Alex.
„Ja, natürlich. Die Möglichkeit, aus Russland zu fliehen. Wir können das arrangieren.“ Wieder war sein Tonfall ganz gelassen. Marquet bot Alex sein Leben an und es schien für ihn ein alltägliches Geschäft zu sein.
„Was muss ich tun?“
„Für den Anfang möchte ich mehr Informationen von Ihrem Physikerfreund.“
„Dass er Ihnen die Dossiers über die Bombe geliefert hat, war eine einmalige Sache. Es wäre für ihn sehr gefährlich, noch mehr Informationen preiszugeben. Man hat seinen Sohn verhaftet, um ihn gefügig zu machen.“
„Wir hätten gern Details darüber, welche deutschen Techniker und Geräte nach dem Krieg hierher gebracht wurden“, erklärte Marquet, als habe er Alex’ Antwort nicht gehört oder als wolle er sie ignorieren. „Wir brauchen Einzelheiten darüber, wie es um die Einsatzbereitschaft der Roten Armee steht.“
„Vielleicht habe ich bei Ihnen einen falschen Eindruck erweckt.“ Alex hatte Mühe, zu Wort zu kommen, da Marquet so auf seine eigenen Pläne fixiert war. „Ich habe keine Möglichkeit, an solche Informationen heranzukommen. Ich bin nur Arzt. Ich habe keine Beziehungen zu Regierungskreisen.“
„Ich bin sicher, dass Sie einen Weg finden.“
„Ich glaube allmählich, dieses Treffen ist ein Irrtum.“ Alex hatte sich von Anfang an unwohl bei dem Gedanken gefühlt, diesen Mann zu treffen, doch er wollte nicht länger tatenlos zusehen müssen, wie wertvolle Zeit verstrich. Zeit, die er getrennt war von der Frau, die er liebte.
„Okay, okay, beruhigen Sie sich wieder.“ Marquet sprach, als wolle er ein Kind beruhigen. „Mein Eifer ging einfach mit mir durch. Sie haben ja keine Ahnung, wie schwer es für uns ist, in dieses Land zu kommen. Habe ich erwähnt, dass wir in der Lage sind, dafür zu sorgen, dass Sie Ihre Arztzulassung wiederbekommen, wenn Sie in Amerika sind?“
Alex’ Herz tat einen Sprung. Sie hatten wirklich sein Leben in der Hand! Es würde ihm schwerfallen, nicht zu vergessen, dass sein Leben nur in Gottes Händen lag.
„Ich weiß nicht, ob es in meiner Macht liegt, Ihnen das zu geben, was Sie wollen“, erwiderte Alex.
„Sie sind russischer Staatsbürger. Allein dieser Umstand gibt Ihnen mehr Möglichkeiten als uns. Ich bin sicher, dass wir in dieser Sache zusammenarbeiten werden. Was könnten Sie ohne große Probleme für uns tun?“
Alex wollte schon sagen: „Nichts.“ Denn so leidenschaftlich er gegen das stalinistische Regime war, so unsicher war er, was er von diesem Vertreter der Gegenseite halten sollte, ob er diesen Vertreter von der anderen Seite mochte.
Doch da er wusste, dass da eine Chance war, die sich ihm vielleicht nie wieder böte, sagte er: „Ich bin Arzt. Ich kenne nur durch Zufall einen Physiker. Ich kann nicht viel tun.“
„Sicher ... natürlich.“ Marquet schien darüber nachzudenken. „Sie bearbeiten den Physiker einfach so gut Sie im Moment können und halten Augen und Ohren offen. Ich denke, so viel kann ich verlangen. Aber da ist noch etwas: Wir brauchen russische Ausweispapiere – Sie wissen schon, Originale, die wir kopieren können. Ohne solche Papiere ist es uns unmöglich, Agenten ins Land zu bekommen. Das könnte in Zukunft auch für Sie von Nutzen sein.“
„Wie soll ich denn an Ausweispapiere herankommen?“
„Sie sind Arzt, nicht wahr? So gut Sie auch sein mögen, möchte ich wetten, dass Ihnen hin und wieder ein Patient stirbt. Es sollte ein Leichtes sein, dem Mann in die Tasche zu greifen, wenn er tot ist. Es schadet ihm nicht mehr, wenn man später herausfindet, dass er keine richtigen Papiere bei sich hatte.“
Alex starrte den Mann mit offenem Mund an. Einen solchen Gedanken fand er abstoßend, aber was ihn fast genauso sehr störte, war der Umstand, wie ungeeignet er selbst für das Unterfangen war, dem er sich jetzt verpflichtete: seine Freunde ausfragen, stehlen, herumschnüffeln ...
Er sah nur zwei Möglichkeiten: Entweder er könnte aus Russland fliehen oder man würde ihn in einem Gulag an den Daumen aufhängen. Das Mindeste, was er tun konnte, war zu versuchen, seine Chancen auf die erste Lösung zu erhöhen. Die Zeit war gekommen, dass er Pläne in Taten umsetzte, wie er es Cameron versprochen hatte. Seine jüngsten Erfahrungen hatten Alex bewiesen, dass es für Russen genauso schwer war, aus dem Land zu kommen, wie es für ausländische Agenten schwer war hineinzukommen. Wenn dieser Amerikaner die Mittel hatte, ihm zu helfen, konnte er sich ihm nicht verweigern.
„Ich arbeite ein halbes Jahr für Sie“, sagte er bestimmt. „Dann, und nicht später, werden Sie meine Flucht bewerkstelligen.“ Er widerstand der Versuchung, diesen Satz als Frage zu formulieren.
Marquet aber fasste ihn entsprechend seiner Wesensart trotzdem als Frage auf. „Wir entscheiden das einfach nach der Qualität Ihrer Arbeit.“
Alex erinnerte sich an den ersten Hochzeitstag vor vier Monaten und die Aussicht auf ein weiteres einsames Festessen erschien ihm unerträglich. Er hatte die Hoffnung nicht verloren. Im Gegenteil, das, was er tat, zeigte, dass er an seine Zukunft glaubte. Der Termin in sechs Monaten war kurz vor dem zweiten Hochzeitstag. Er war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie dieses Fest miteinander verbringen würden.
Oh, Gott, bitte lass meine Entscheidung richtig sein! Hilf mir und halte deine Hände über mich.
Teil 2
„Ich glaube, wir müssen freien Völkern helfen,
ihr Schicksal selbst zu bestimmen.“
Harry S. Truman
März 1947
8
Westberlin
April 1947
Eigentlich waren für Cameron die unvorhergesehenen Schicksalswendungen in ihrem Leben nicht unbedingt zu ihrem Nachteil verlaufen. Oft hatten sie sogar zu ihrem Vorteil gedient. Viele Male in den vergangenen Jahren war sie „zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ gewesen, und laut Johnny Shanahan machte genau das eine gute Journalistin aus, mehr sogar als ein exzellenter Schreibstil.
Das war jetzt nicht der Fall.
Sie saß im Westsektor Berlins fest, mitten in der von den Sowjets besetzten Zone Deutschlands, so nahe an Russland, wie man in diesen Tagen sein konnte, und ganz gewiss an einem der politisch brenzligsten Orten der Welt. Trotzdem wäre sie lieber woanders gewesen.
In Russland.
Aber das war nichts Neues. Seit zwei Jahren versuchte sie, nach Russland hineinzukommen. Und jetzt, da es bis zu ihrem zweiten Hochzeitstag nur noch drei Wochen waren, machte sich schiere Verzweiflung in ihr breit. Was ihre Situation absurd machte, war die Tatsache, dass an diesem Morgen eine Außenministerkonferenz in Moskau zu Ende gegangen war. Allein schon wegen dieses Ereignisses hätte sie in Russland sein müssen, denn mit ihrer Erfahrung galt sie als qualifizierte Beobachterin. Sie hatte gehofft, dass man in der Sowjetunion ihre Probleme mit den Behörden inzwischen vergessen hatte, dabei aber nicht daran gedacht, wie gut das russische Gedächtnis war.
Sie schnappte sich ihren Mantel und ihre Handtasche und beschloss, irgendetwas zu unternehmen, um nicht ständig an ihre verfahrene Situation denken zu müssen, und ging in die Hotellobby hinab. Als sie über den abgetretenen Teppich in der Empfangshalle schritt, rief plötzlich jemand ihren Namen. Sie drehte sich um und erblickte einen alten Freund.
„Was? Lev, bist du es wirklich?“ Sie lachte und war überrascht, ihren alten Kollegen, Carl Levinson, zu sehen. Er erinnerte sie an glücklichere Zeiten, auch wenn diese von Krieg und Gefahren geprägt gewesen waren.
Sie erinnerte sich daran, wie sie und Carl und Johnny am Anfang des Krieges durch Jugoslawien und Griechenland gefahren waren, immer knapp einen Schritt vor den einmarschierenden Deutschen. Mit noch mehr Dankbarkeit erinnerte sie sich daran, wie Levinson ihr nach Johnnys Tod seine Freundschaft als eine Art Ersatz angeboten hatte.
„Wie geht es dir, Cameron?“ Er ließ seine Augen mit einem anerkennenden Lächeln über sie wandern. Zwischen ihnen hatte es nie romantische Gefühle gegeben, und sie wusste, dass er nur versuchte, lustig zu sein, als er ein leises Pfeifen ausstieß. „Immer noch die Schönste weit und breit, Kleine.“
„Kommst du gerade aus Moskau zurück?“
„Von diesem Eisberg? Bestimmt nicht. Ich bin schon vor drei Monaten dort abgehauen und bedauere es nicht im Geringsten, dass ich die Konferenz verpasst habe. Soweit ich gehört habe, war die Sache sowieso nur ein großer Witz.“
Sie hatte das starke Bedürfnis, ihn zu berühren, weil er erst vor Kurzem an dem Ort gewesen war, nach dem sie sich so sehr sehnte.
„Es überrascht mich jedoch, dass du nicht dort warst“, sagte er.
„Ich bezahle immer noch für diesen Kuss im Krankenhaus in Leninsk“, antwortete sie missmutig.
„Diese Russen“, seufzte er. „Hey, wohin wolltest du gerade gehen? Hast du Lust, etwas zu essen und über alte Zeiten zu plaudern?“
„Sicher, sehr gern.“
Es gab ein kleines Café um die Ecke, in dem sich die ausländischen Journalisten oft trafen. Es war eine der wenigen Gaststätten in der ausgebombten Stadt, in denen man sicher sein konnte, ein anständiges Essen zu bekommen, aber der Hauptgrund, der die Journalisten dorthin lockte, war, dass sie dort unter ihresgleichen waren und sich deshalb einfach sehr wohlfühlten. Als sie eintraten, wurden sie von mehreren Seiten begrüßt und eingeladen, sich zu den anderen an den Tisch zu setzen, aber Cameron freute sich, als Carl einen kleinen Tisch nur für sie beide aussuchte. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie vor vier Jahren gezwungen worden war, die Sowjetunion zu verlassen. Sie hatten einiges nachzuholen, und sie hatte viele Fragen an ihn und wollte unbedingt wissen, wie die Dinge im Osten standen.
„Okay“, sagte er, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. „Ich möchte wetten, dass du wissen willst, was seit dem Krieg drüben los ist. Aber zuerst musst du mir verraten, was du zurzeit machst.“
„Nichts Aufregendes ...“
„Friedenszeiten sind ein langweiliges Geschäft“, stimmte er ihr zu.
„So möchte ich nicht denken, denn sonst wären wir in großen Schwierigkeiten – als Journalisten und als Welt.“ Sie brach ab, als ihr Kaffee kam, und nahm einen Schluck von dem dampfenden Gebräu. Sie freute sich, als sie schmeckte, dass es echter Bohnenkaffee war. Der war einer der Gründe, warum die ausländischen Reporter dieses spezielle Café so zahlreich frequentierten. „Ich will im Moment erst mal nur weg aus Berlin. Ich schätze, ich bin es einfach leid, überall nur Schutt und Zerstörung zu sehen. Und auf wie viele Arten kann man über Flüchtlinge und trostlose, hoffnungslose Gesichter schreiben?“
„In Russland würdest du auch nichts anderes vorfinden, glaube mir“, bemerkte er, während er sich eine Zigarette anzündete und an seine Lippen führte.
„Das mag sein, aber wenigstens wäre dort ...“ Sie sprach ihren Satz nicht zu Ende. Sie schämte sich, als dummes, verliebtes Ding dazustehen.
„Du kannst doch nicht immer noch in diesen Doktor verliebt sein?“
Ihr war nie aufgefallen, dass Lev genauso zynisch sein konnte wie Shanahan. „Wir haben geheiratet, Lev.“
„Was?“ Vor Schreck verschluckte er sich am Rauch und begann zu husten.
Während er nach Luft schnappte, erzählte sie ihm schnell, wie sie Alex in Torgau gefunden hatte, wo sich die amerikanischen Truppen und die Rote Armee in Deutschland getroffen hatten.
„Und er ist danach nach Russland zurückgegangen?“, fragte Levinson, der sich immer noch nicht ganz von seinem Schreck erholt hatte.
„Ehre, weißt du.“
„Er hätte davonlaufen sollen, solange er eine Gelegenheit dazu hatte.“
„Die Amerikaner hatten mit den Sowjets vereinbart, alle Deserteure, Kriegsgefangenen, Dissidenten und andere, die versuchen würden, bei ihnen Asyl zu suchen, zu repatriieren. Es war zu riskant. Außerdem glaubten wir beide, der Krieg würde in Russland etwas verändern, und Stalin würde seinem Volk mehr Freiheit geben.“
„Und du bezeichnest dich als Russlandexpertin?“
„Vielleicht war es einfach Wunschdenken auf unserer Seite.“ Sie zuckte die Achseln. „Aber wir haben die Gelegenheit verstreichen lassen und jetzt kann er nicht rauskommen und ich kann nicht rein. Sag mir, Lev, ist es dort so schlimm, wie wir hören?“
„Stalins Paranoia ist noch schlimmer geworden als früher.“ Er sog nachdenklich an seiner Zigarette. „Doch ich darf deine Fehleinschätzung, wie es nach dem Krieg weitergehen würde, nicht zu hart kritisieren. Jeder dachte, Stalin würde sich mäßigen und die Beziehungen zu den Alliierten pflegen. Die Bombe ist schuld daran, dass sich die Beziehungen der Sowjets zu den demokratischen Ländern so verschlechtert haben, besonders zu den Amerikanern. Du müsstest die giftigen Angriffe auf die USA in der Prawda lesen. Man könnte meinen, in Amerika würden täglich Schwarze gelyncht und Truman wäre der nächste Hitler. Wenn Roosevelt nicht gestorben wäre, wäre es vielleicht anders gekommen. Ich hatte immer schon den Eindruck, dass er nicht weit davon entfernt war, selbst ein Roter zu sein.“
„Lev, du hast auch deine Großmutter beschuldigt, eine Kommunistin zu sein, nur weil du sie Früchte des Zorns lesen sahst.“
Levinson grinste spitzbübisch. „Sie hat es gelesen und genossen, möchte ich hinzufügen!“ Er schmunzelte, dachte aber nicht daran, sich für seine antikommunistischen Ansichten zu rechtfertigen. Cameron war auch nicht gerade eine Befürworterin des Kommunismus, hatte aber den Verdacht, dass Lev sie schon immer für ein wenig zu rot eingeschätzt hatte. „Trumans größter Fehler ist es, dass er Stalins Macht überschätzt. Die UdSSR ist jetzt einfach zu schwach, um eine große Bedrohung darzustellen. Der Lebensstandard dort ist jetzt schlechter als zum Kriegsende. ’46 war die Ernte sehr schlecht. Neben der Bekämpfung der Dürre und des Hungers muss die Regierung etwas unternehmen, um die Infrastruktur im Land wiederaufzubauen. Stalin wird Jahre brauchen, bis er die Mittel hat, einen neuen Krieg anzufangen.“
„Ich habe einen amerikanischen Diplomaten gehört, der für 1949 einen Krieg voraussagt“, bemerkte Cameron.
„Andererseits sollten wir sie auch nicht unterschätzen, wie es Hitler getan hat“, sagte Levinson trocken. Er sprach weiter: „So wie die Dinge im Moment stehen, habe ich die Sowjetunion in dem Wissen verlassen, dass meine Chancen, wieder ins Land zu kommen, gering sind. Die sowjetischen Grenzen sind abgeschottet wie noch nie, besonders für Journalisten. Ich weiß, dass du das nicht hören willst.“
„Ich will die Wahrheit hören.“
„Das ist die Wahrheit. Wenigstens so, wie ich sie sehe. Du brauchst ein Wunder, um in dieses Land zu kommen.“
„Lev, habe ich dir erzählt, dass ich mehr Achtung vor Wundern habe als früher?“ Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Es war nie leicht, ihren Freunden von ihren geistlichen Überzeugungen zu erzählen, besonders eingefleischten Zynikern wie Lev. „Ich werde mein Vertrauen auf Gott setzen und nicht auf Stalin. Irgendwie, wie auch immer, wird er Alex und mich wieder zusammenbringen.“
„Ich wünsche dir dafür alles Gute, Cameron. Ehrlich. Und falls du Erfolg hast, lass es mich wissen. Ich habe ein paar Adressen in Moskau, die dir nützlich sein könnten.“
„Danke, Lev, vielleicht komme ich auf dein Angebot zurück.“
Nach dem Essen kehrte Cameron in ihr Hotel zurück. In ihrem Kopf drehte sich alles um das, was Levinson verraten hatte. Einiges davon wusste sie bereits und den Rest hatte sie sich anhand der spärlichen Informationen, die seit dem Krieg aus Russland durchgesickert waren, wenigstens zusammengereimt. Alles zusammen trug nicht gerade dazu bei, ihre Hoffnungen zu nähren, aber sie rief sich immer wieder ins Gedächtnis, was sie ihrem Freund gesagt hatte: Irgendwie würde Gott sie und Alex wieder zusammenbringen. Sie beide waren sich dessen von Anfang an sicher gewesen. Gott war stärker als Stalin!
Auf ihrem Weg zum Aufzug rief der Portier, der an der Hotelrezeption stand, ihren Namen.
„Fräulein Hayes! Eine Nachricht für Sie.“
Sie kehrte zur Rezeption zurück und nahm das Telegramm aus der Hand des Portiers entgegen. Normalerweise nahm sie Telegramme nur mit einem Zittern entgegen, in der irrationalen Angst, Telegramme würden immer nur schlechte Nachrichten enthalten. Aber dieses Mal dachte sie etwas anderes. Wäre es nicht typisch für Gott, wenn er ihr nach Levs düsterem Bericht das lang ersehnte Visum nach Russland schicken würde?
Auf dem Weg zum Aufzug riss sie den Umschlag auf. Ihre Gefühle purzelten wild durcheinander, als sie sah, dass das Telegramm von ihrem Vater stammte.
CAMERON STOP DEINE MUTTER KRANK STOP NÄCHSTE WOCHE OPERATION STOP WÄRE GUT WENN DU KOMMST STOP HABE REISEGELD AN UNSERE BANK IN BERLIN ÜBERWEISEN LASSEN STOP VATER ENDE
Die Ankunft des Aufzugs drang kaum zu ihren betäubten Sinnen durch.
Sie hörte es wie aus weiter Ferne, als der Liftjunge fragte: „Fräulein, wünschen Sie den Lift?“
Sie blickte auf, nickte benommen, trat ein und murmelte die Nummer ihres Stockwerks. Als sich der Aufzug ruckend in Bewegung setzte, versuchte sie, sich zusammenzureißen. Alle Schrecken des Krieges und die Trennung von dem Mann, den sie liebte, verblassten angesichts der Worte, die sie soeben gelesen hatte. Ihr Vater musste nicht sagen, dass es ernst war. Der Umstand, dass er sie überhaupt informierte und auf seine indirekte Art bat, nach Hause zu kommen, genügte.
Als sie ihre Zimmertür erreichte, eilte sie zum Telefon, rief die Fluglinie an, mit der sie normalerweise flog, zog ihren Koffer hervor und begann zu packen. Sie hatte für den nächsten Tag einen Flug gebucht.
9
Los Angeles, Kalifornien
Er war ein gut aussehender, junger Mann. Fast dreißig Jahre lang hatte sich Cecilia ihren Sohn als Kleinkind mit Engelsgesicht, karamellblonden Locken und großen, dunklen Augen vorgestellt. Aber dieses Foto, das Cameron vor zwei Jahren zugeschickt bekommen hatte, nahm jetzt den Platz dieses früheren Bildes ein. Manchmal fragte sich Cecilia, ob es nicht besser gewesen wäre, das Bild des alterslosen Kindes im Gedächtnis zu behalten. Damals war er nicht so real gewesen, eher wie ein Fantasieprodukt, das sie aus einem fernen Traum kannte.
Cecilia fuhr mit einem Finger über das starke Kinn, das Entschlossenheit verriet, aber doch noch so rund war, dass man das Kind von früher noch erahnen konnte. Er hatte immer noch eine auffallende Ähnlichkeit mit seinem Vater. Man konnte das gewellte Haar erkennen, das unter der Mütze der Roten Armee hervorlugte und vorschriftsmäßig kurz geschnitten war. Die Uniform erinnerte sie daran, dass er einen Krieg erlebt hatte. Cecilia hatte alle Artikel gelesen, die Cameron über die Kämpfe in Russland geschrieben hatte, und die Geschichten aus dem Mund ihrer Tochter gehört. Sie wusste, dass es ein furchtbares Gemetzel gewesen war. Wenn Semjon in der Armee gewesen war, dann hatte er bestimmt viel gelitten, und es war ein Wunder, dass er überlebt hatte.
Selbst wenn ihm sein Alter nicht anzusehen war, hatten die Kriegserfahrungen zweifelsohne einen Mann aus dem Knaben gemacht.
„Guter Gott, ich bitte dich, dass er nicht zu viele Narben davongetragen hat. Er hat durch die Tragödien in seiner Kindheit schon genug gelitten.“
Unweigerlich musste sie wieder an das Kind denken, das kurz nach seiner Geburt von seiner Mutter verlassen worden war, um dann, im zarten Alter von fünf Jahren, aus den Armen seines Vaters gerissen zu werden. Tiefe Reue und unendliches Mitleid schnürten Cecilie die Kehle zu. Dreißig Jahre lang war sie nie sicher gewesen, ob sie das Richtige getan hatte. Sie wusste, dass Gott ihr ihre Fehler vergeben hatte: die Affäre mit Jakow Luban und auch die Tatsache, dass sie ihren Sohn weggegeben hatte. Aber wie konnte Gott darüber hinwegsehen, dass sie in Bezug auf diese Dinge gelogen hatte und immer noch log?
Sie redete sich immer wieder ein, dass die Lügen allen Betroffenen zum Besten dienten. Die Wahrheit würde Semjon nicht helfen, dafür aber ihre Ehe zerstören. Wie oft hatte sie schon versucht abzuschätzen, wie teuer sie die Wahrheit zu stehen käme? Jedes Mal war ihr der Preis am Ende zu hoch erschienen.
Und nun? Gerade in letzter Zeit hatte es Augenblicke gegeben, in denen sie und Keagan so gut miteinander auskamen, dass sie glaubte, es wäre ein günstiger Zeitpunkt gekommen, die Wahrheit offenzulegen. Ihr Mann war sensibler geworden und hatte gelernt, seine eigene Verwundbarkeit zu akzeptieren. Dadurch ging er auch großzügiger mit den Schwächen anderer um.
„Cecilia, wo bist du?“
Cecilias Herz schlug schneller. Hektisch sammelte sie Fotos und Briefe, die sie auf ihrem Sekretär ausgebreitet hatte, zusammen und schob Briefpapier über die Sachen. Da das aber nicht alles bedeckte, riss sie schnell eine Schublade auf und begann, die Sachen hineinzustopfen.
Als die Tür zu ihrem Wohnzimmer aufging, war das letzte Foto verstaut. Ihr Herz pochte laut in ihren Ohren, als Keagans breite Schultern und sein schütterer grauroter Kopf ins Zimmer schauten.
„Ich schwöre dir, Frau, dass ich dir noch eine Glocke um den Hals binde, damit ich dich leichter finden kann.“
„Ja, in diesem großen, leeren Haus kann man sich wirklich leicht verlieren.“ Ihre Stimme war ein wenig zu hoch und zu nervös.
„Du bist blass. Geht es dir gut?“
„Ja, mir geht es gut. Du hast mich nur erschreckt. Das war alles.“
Sie sah seinen Blick zur Schublade wandern und stellte sich auf seine Fragen ein und als nichts kam, fühlte sie sich seltsamerweise nicht erleichtert. Vielleicht ging es ihr wie einem Verbrecher, der entdeckt werden wollte.
„Na, bald wird uns dieses Haus nicht mehr so groß und leer vorkommen“, brummte er. „Jackie wird bald mit Cameron vom Flughafen zurück sein und Blair kommt morgen.“
„Ich wünschte mir immer noch, du hättest sie nicht angerufen, solange wir nicht mehr wissen.“
„Du wirst in ein paar Tagen operiert und denkst, sie sollten das lieber nicht wissen? Wenn ich es ihnen nicht gesagt hätte, würden sie nie wieder mit mir sprechen. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich zu allen meinen Kindern ein gleichermaßen gutes Verhältnis habe.“
Cecilia lächelte. „Ja, das ist wirklich ein angenehmes Gefühl, nicht wahr?“
„Abgesehen davon, dass ich ständig darauf warte, dass doch noch irgendwo eine Bombe explodiert.“
Cecilia dachte an die Fotos in ihrer Schublade. Darin lag Zündstoff, der für Keagan schlimmer sein könnte als eine Atombombe.
Ja, zwischen ihnen lief es gut, doch das war nur ein weiterer Grund, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Die letzten paar Jahre waren die besten in ihrer ganzen Ehe gewesen, nicht nur wegen der guten Beziehungen zu ihren Töchtern, sondern auch da sie sich als Ehepaar nähergekommen waren. Das lag zum Teil mit daran, wie Cecilia sehr wohl wusste, dass sie in dem kostbaren Geschenk, das ihre Enkeltochter für sie beide bedeutete, endlich etwas Gemeinsames hatten. Emi Colleen oder einfach Colleen, wie Keagan sie hartnäckig nannte, war die Sonne in ihrer beider Leben. Seit sie laufen und sprechen konnte und mehr ein kleines Mädchen als ein Baby war, unternahm Keagan voller Begeisterung regelmäßig Ausflüge mit ihr. Er blieb oft von der Arbeit zu Hause, damit er und Cecilia mit Emi in den Zoo oder in den Park oder zum Einkaufen gehen konnten. Er hatte darauf bestanden, ihren vierten Geburtstag selbst zu planen. Ein Freund von ihm besaß eine Ranch in den San Gabriel Mountains und hatte sie für Colleen und ihre kleinen Freunde geöffnet. Sie durften einen ganzen Tag lang Pony reiten, picknicken und sogar ein kleines Rodeo mit echten Cowboys sehen. Cecilia hatte gemeint, das Kind sei für so etwas zu jung, aber Keagan war von seiner Idee nicht abzubringen gewesen. Cecilia war sich nicht sicher gewesen, ob sie und Keagan nicht zu alt dafür wären, auf eine Schar Vier- und Fünfjähriger aufzupassen, aber mehrere Eltern hatten sich bereit erklärt zu helfen, und Keagan hatte sich, im krassen Gegensatz zu seinem bisherigen Verhalten, voll und ganz in die Feier eingebracht. Hätten die überwiegend weißen Familien irgendwelche Vorbehalte dagegen gehabt, dass sich ihr Kind mit einem halb japanischen Mädchen anfreundete, wurden diese durch den Erfolg der Geburtstagsfeier voll und ganz ausgeräumt. Dank Keagan fehlte es Emi nicht an kleinen Freunden.
Cecilia fand es einfach nicht richtig, dieses friedliche Leben mit der Wahrheit zu zerstören. Sollte man manche Dinge nicht am besten auf sich beruhen lassen?
„Es werden keine Bomben fallen, Keagan“, sagte sie schließlich, aber ihrem Tonfall fehlte die letzte Entschlossenheit. „Warum hast du denn das Haus nach mir abgesucht?“
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich kurz ins Büro fahren muss. Es gibt ein Problem mit einem Artikel, den wir in der morgigen Ausgabe bringen wollten, und ich muss mit unseren Anwälten sprechen.“
„Ich habe das Telefon gar nicht klingeln gehört.“
„Ich habe im Büro angerufen, um zu fragen, wie alles läuft“, antwortete er wie zu seiner Verteidigung. Er hatte versprochen, zu Hause zu sein, um Cameron zu begrüßen und den Tag mit der Familie zu verbringen.
„Du wirst doch hoffentlich nicht angezeigt, oder?“, fragte sie leicht beunruhigt. Es hatte keinen Sinn, ihn an sein Versprechen zu erinnern, zu viel konnte sie von ihm auch nicht verlangen.
„Genau das muss ich in dem Gespräch mit den Anwälten herausfinden. Cameron wird es verstehen, dass ich unter diesen Umständen nicht hier sein kann, wenn sie kommt. Ich bin nur eine Stunde weg.“
„Wir kommen auch ohne dich klar, Schatz, aber Josey hat ein besonderes Abendessen für vier geplant. Du weißt, wie schwer es ist, eine gute Köchin zu bekommen, und sie ist noch neu. Wir wollen sie nicht gleich am Anfang verstimmen.“
„Man könnte meinen, diese Frau sei ein Hirnchirurg oder so etwas“, schnaubte Keagan. Aber er war derjenige gewesen, der darauf bestanden hatte, zusätzliche Haushaltshilfen einzustellen, seit Cecilia krank geworden war, und er hatte selbst erlebt, wie mühselig es war, Personal für den Haushalt zu finden und zu behalten. „Ich bin früh genug vor dem Abendessen zurück.“
Er gab Cecilia einen schnellen Kuss auf die Stirn, dann drehte er sich um und ging.
Cecilia lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Wieder war sie wegen der Geheimnisse, die ihr keine Ruhe ließen, hin- und hergerissen. Bisher hatte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf verdrängen können, doch der Krieg und ihre Gespräche mit Cameron hatten die Angelegenheit an die Oberfläche geholt, besonders da sie sich um die Sicherheit ihres Sohnes Sorgen machte.