„Umeå i mitt hjärta, låt mig besjunga dig nu, Åldrad i ungdomlig grönska, älvarnas stad, det är du.“ „Umeå in meinem Herzen, lass' mich dich nun besingen. Gealtert im jugendlichen Grün, Stadt der Flüsse, das bist du.“ Dieses 2010 komponierte Lied bewegt die Einwohner der Kulturhauptstadt 2014.
Welche Stadt kann schon ein Lied ihr eigen nennen? Geschrieben hat es der Sänger Jan-Erik Sellgren, frei nach dem klassischen Vorbild Lasse Berghagens „Stockholm i mitt hjärta“. Mit seinem Lied erreicht er vor allem die Herzen älterer Menschen. Viele kennen ihn von Auftritten auf Volksfesten, die sich auch
jeder im Internet auf „You tube“ anschauen kann. Die Begeisterung der Menschen vermitteln auch Fotos der
dortigen Tageszeitung „Västerbottens Kuriren“. Fast alle lachen und singen mit. Sellgren singt hauptsächlich moderne eigene und übernommene Volkslieder. „Västerbottens Kuriren“ druckte „Umeå i mitt hjärta“ direkt nach Erscheinen im Jahr 2010 komplett ab. Es folgte eine Flut an
Leserbriefen, in denen sich manche voll hinter dieses Lied stellten. Andere
schlugen aber Änderungen vor, weil sie meinten, dass wichtige Besonderheiten ihrer Stadt
deutlicher zum Ausdruck kommen sollten. Einen so im Kreuzfeuer von Lob und
Tadel stehenden Mann sollte man nun wirklich selbst kennen lernen. Freudig überrascht sagt er sofort der Bitte des deutschen Journalisten zu, das innere
Leben der Stadt mit ihren Besonderheiten auch abseits von Kultur und gängigen Vorstellungen zu verlebendigen und so sein differenziertes sehr eigenes
Bild zu vermitteln. Mit gewinnendem Lächeln eilt der mit einer Schiebermütze und gelbem Polohemd gekleidete Mittsechziger zum Treffpunkt im Touristenbüro und lädt zu einer Autofahrt ein. Er sitzt selbst am Steuer und legt eine CD mit seinem
Stadtlied und weiteren eigenen Stücken ein.
Sellgren hat eine besondere Biographie: Er stammt nicht aus Umeå, sondern wuchs an der „Hohen Küste“ auf im 110 Kilometer südlich von Umeå liegenden Örnsköldsvik, wo bis heute der berühmte bottnische Hering, der sogenannte Surströmming, produziert wird.
Belebte Stadt aus Sicht des Dichters
Sellgren arbeitete dreißig Jahre in den Anzeigenabteilungen der Zeitungen „Avisa Nordland“ im norwegischen Bodø am Polarmeer und dann für den „Västerbottens-Kuriren“. In den 1970er Jahren zog er nach Umeå, wo er auch zusammen mit dem Vater des Krimiautors Stieg Larsson
zusammenarbeitete, der sein Geld in der Druckerei der Zeitung verdiente. Von
Larsson habe er lange nicht mehr gewusst, als dass er als Journalist in Stockholm tätig war, bis der erste Band seinerMillennium-Trilogie erschienen sei. Larssons
Vater und Bruder sind Erben der Rechte am literarischen Werk Stiegs. So könne die Stadt selbst nichts vom Autor vermarkten. „Hierüber ärgern sich die Bürger verständlicherweise“ erzählt Sellgren auf der Fahrt durch die Stadt. „Sie würden gerne stolz auf ihren Sohn sein, dürfen es aber nicht.“
Umeå, die moderne geplante Stadt, erscheint durch die persönliche Sicht des Dichters belebt, obwohl es letztlich als Bollwerk gegen die
seit den 1950er Jahren laufende Abwanderung der Bevölkerung in den Süden Schwedens geplant ist. Die Mittel sind reichlich geflossen: Man schuf eine
große Klinik, verbunden auch mit einer ausgebauten Universität, einem riesigen Wasserkraftwerk, schuf große Gewerbegebiete und entwickelte die damit zusammenhängenden Dienstleistungsbereiche. So sollten vor allem die jungen Menschen und
besser Qualifizierte im Norden gehalten werden. In diesem Sinne formuliert auch
die vom Provinziallandtag verantwortete Broschüre „Leben und Gesundheit in Västerbotten“ die angestrebten Ziele: sparsamer Umgang mit Ressourcen, politische und
wirtschaftliche Partizipation der Bürger, nachhaltiges Wachstum und stärkere Förderung der Region und nicht zuletzt Ausbau des Gesundheitssystems, das
jedermann frei zugänglich sein soll. Eine moderne Stadt sollte dann Kinderbetreuung, Pflege der
Alten und Kranken, Essen jeder Qualität, Wohnungspflege, Wäschereien, Unterhaltung und psychologischen Zuspruch bieten. Dies geschieht
offenbar frei nach der Formel: Universität + Universitätsklinik + Wasserkraftwerk = funktionierende Stadt im hohen Norden. Natürlich darf man dabei nicht außer Acht lassen, dass Umeå schon 1622 gegründet wurde und damals schon Hafen, Handel und Gewerbe die entscheidende Rolle
spielten. Die bis 1700 durch schwedische Könige gegründeten Städte Luleå, Piteå, Umeå, Härnosand, Sundsvall, Hudiksvall und Söderhamn dienten einer verbesserten politischen, militärischen und ökonomischen Kontrolle der nördlichen Landesteile.
Skatepark für Jugendliche
Dass Sellgren sich vollauf mit seiner Region und sogar seinem ehemaligen
Arbeitgeber „Västerbottens-Kuriren“ identifiziert, ist an seiner Mütze mit dem Logo seines ehemaligen Arbeitgebers zu sehen, obwohl er sich schon
seit Jahren im Ruhestand befindet. Ohnehin aber tragen viele Skandinavier in
ihrer Freizeit Jacken und Mützen mit Logos ihrer Arbeitgeber.
Sellgren will aber auch nicht nur Einkaufsmöglichkeiten und Lokale zeigen, sondern eine nach einem Programm entwickelte
Stadt in dieser geographischen Lage – 500 Kilometer nördlicher als Anchorage in Alaska – funktioniert. Eigentlich hat Sellgren als Rentner mit manchen der nun
anstehenden neuen Errungenschaften zu tun, die Umeå zu einem der Motoren der schwedischen Wissensgesellschaft machen sollen und zu
einem der Gewinner im Wettbewerb um kaufkräftige Konsumenten, Investoren, Besucher, Touristen, Junge, Mobile,
Hochqualifizierte und Innovative.
Sellgrens Weg führt zuerst zum Ume älv, der mitten durch die Stadt fließt. „Dort wird etwas für Jugendliche getan“, sagt er geheimnisvoll. „Das finde ich wichtig.“ Nur einen Steinwurf vom Flussufer entfernt liegt zwischen der Brücke Kyrkbron und dem Park Bropark der im Jahr 2010 geschaffene Skatepark
Sparken. Er ist für BMX- und Skateboardfahrer errichtet worden, umfasst etwa 2.000 Quadratmeter.
Er besteht aus einer großen Betonfläche mit einer Halbkugel, Quadern, Schrägen, kleinen Plattformen zum Springen und für kurze Abfahrten. Jugendliche führen auf Mountainbikes vor, wie sie die Fliehkräfte ausnutzen, wenn sie vom oberen Rand in eine ausgehöhlte Halbkugel herunterfahren. Während der Fahrt legen sie sich in den Kurven in die Seite, steigen an der
Innenseite der Halbkugel hoch, springen in die Höhe, drehen sich um die eigene Achse in der Luft und fahren wieder zurück. So sind sie ständig in Bewegung, ohne Kraft investieren zu müssen. „Zu jeder Zeit außerhalb der schneefreien Zeit finden sich hier Kinder und Ältere ein“, erzählt Jonas Gustafsson vom hiesigen Skaterverein. „Skateboarding nimmt einen bedeutenden Anteil im Leben der Kinder ein. Sie können so zugleich aktiv sein und neue Freunde kennen lernen. Heutzutage wollen
Kinder nicht mehr jeden Mittwoch um sechs Uhr zum Fußballtraining gehen. Sie wollen am Computer spielen oder Skateboard fahren, eben
das tun, worauf sie gerade Lust haben.“
Ein Mann in Studentenalter in stylisher Sportkleidung fährt mit seinem Board auf eine Rampe, saust von ihr hinunter, sich so
beschleunigend, dass er das hohe Tempo auf der perfekt geglätteten Rennbahn voll genießen kann. An deren Ende kurvt er auf einen Quader zu, springt von ihm herunter
und steuert auf eine Halbkugel zu, die seinen Balancierkünsten einiges abfordert. Alles konzentriert, wie aus einem Guss.
Wer sich ausruhen möchte, kann auf stählernen Sesseln Platz nehmen, sogar an Armlehnen wurde gedacht. Sicher ein
Blickfang, aber bequem sehen sie nicht aus. „Der Park ist durch harte Arbeit einiger Skater in Umeå entstanden“, erzählt Jonas Gustafsson weiter. „Solche Parks gehören mittlerweile zu Schweden, aber Umeå gehörte zu den ersten Städten, die damit anfingen.“ Nachdem schon einige Jahre Kontakte mit der Stadtverwaltung bestanden, hätten sich Skater und Offizielle endlich an einen Tisch gesetzt, um Ort und
Design des Platzes zu planen. Ein kanadisches Unternehmen übernahm die Arbeiten. All dies ließ man sich immerhin eine Million Euro kosten. Letztlich ist die Umsetzung aber
auch auf das Gesamtkonzept der Stadt zurückzuführen, die Flussgegend zwischen Kyrkbron und Bropark attraktiv auch für Kinder und Jugendliche zu gestalten. Reichlich trostlos wirken die skatenden
Jungen und Mädchen abends auf dem Rathausplatz.
Unschön ist der Abstellplatz für Container und Paletten hinter dem Skatepark, was so wirkt, als hätte man die Jugendlichen genau dorthin abgeschoben. Vielleicht sind deshalb auch
nur sieben junge Leute dort zu sehen! Was machen eigentlich die übrigen an einem so schönen Sommertag? Eigentlich möchten sie doch gerne miteinander Sport treiben, sich besser fühlen, andere kennen lernen, gesund und schlank bleiben. Gelingt es Umeå wirklich, so jung, sportlich und dynamisch zu sein, wie es erscheinen möchte? Oder sind viele auf andere Weise aktiv mit Joggen, Skifahren, Wandern,
Segeln, Fischen und Kajakfahren in einer herrlichen weiten Natur?
Neuer Glitzer-Bahnhof
Der Bahnhof Umeå Ost (Umeå Östra), ein modernes Gebäude aus entspiegeltem Glas mit Stahlelementen, ist Sellgrens nächstes Ziel. Durch das größere angelegte Reise- und Umsteigezentrum erhält die Stadt einen direkten Anschluss an Universität, Forschungseinrichtungen und Uni-Klinik. Ebenso wurde erst 2010 eine
Hochgeschwindigkeitsstrecke errichtet, die sogenannte Botniabahn. Einst musste
der Reisende einen Riesenumweg fahren und einen Nachtzug nach Umeå nehmen, wollte er von Stockholm in die Kulturhauptstadt reisen. Die Fahrzeit verkürzt sich erheblich von zwölf auf gut sieben Stunden. 170 Millionen Euro und zwei Jahre Bauzeit wurden in
die vom König persönlich eingeweihte Station und in die an der Küste bis nach Sundsvall führende Bahnstrecke investiert. Allerdings wird die Bahnverbindung eher für den regionalen Verkehr wichtig sein. Mit dem gut einstündigen und preiswerten Flug vom Flughafen Arlanda aus kann diese Strecke kaum
konkurrieren. Ebenso baut man stets den Hafen aus, über den der Warentransport zwischen Finnland und Schweden verbessert werden
soll. Interessant ist die Verbindung zwischen Einkaufszentrum und Kunstpräsentation. Man will die Künstler nicht in Museen präsentieren, sondern in die normale Arbeitswelt integrieren. So erscheinen die
Werke der Künstlerin Astrid Sylwan in einem Fußgängertunnel. Ein Glasbild dort ist der Schriftstellerin Sara Lidman gewidmet, die
aus dem nahen Skellefteå stammt. Sie hat sich intensiv mit Västerbotten befasst, die Menschen des 19. Jahrhunderts in ihrer Landschaft
gezeigt, die von Armut und besonderen Formen der Religiosität geprägt ist und ihnen so ein literarisches Denkmal gesetzt.
Gesundeste Bevölkerung der Welt bis zum Jahr 2020?
Sellgrens Weg führt zum „Norrlands Universitetssjukhus“ im Osten der Stadt. In der Uni-Klinik wurde ihm ein Hüftgelenk eingesetzt. Am Morgen ließ er sich hier untersuchen. Er ist zufrieden mit der Behandlung. Von der
Operation ist ihm nichts anzumerken; so viel Energie strahlt er aus. Mit dem in
den vergangenen Jahren immer stärker ausgebauten Krankenhaus reagiert man auf Phänomene wie Überalterung und die in Umeå trotz eines hohen Anteils junger Menschen niedrige Geburtenrate, indem man
medizinische Forschung fördert, sich um die Lösung von Fragen der Gesundheit, der Ernährung und des Wohlbefindens kümmert. Selbstbewusst nehmen sich politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger vor, dass Västerbotten 2020 das beste Gesundheitssystem und die gesundeste Bevölkerung der Welt aufweisen soll. Gut 258.000 Menschen leben in Västerbotten.
Manche Patienten kommen von weit her. Denn die Klinik ist mit 660 Betten das
bedeutendste Regionalkrankenhaus nicht nur für Västerbotten, sondern auch für Jämtland, Västernorrland und Norrbotten, also das gesamte schwedische Nordland. Das
Krankenhaus von Skellefteå im 200 Kilometer nördlicher liegenden Skellefteå hat nur 195 Betten und ein entsprechendes gleichen Formats findet sich erst in Uppsala. Zwar gibt es in Schweden überall auf dem Land Ärzte, wenn man aber ein gutes Krankenhaus benötigt mit den entsprechenden Spezialabteilungen, fährt mancher 500 bis 1.000 Kilometer zu den größeren Häusern. Das Gelände der 1965 gegründeten Volluniversität von Umeå mit heute 36.700 Studierenden ist für schwedische Verhältnisse riesig: Darauf liegen das Klinikgebäude mit einem Hotel und der Campus für naturwissenschaftliche Studiengänge, durchsetzt von großen Garten- und Rasenflächen. Viele Kunstwerke verschaffen dem Grün eine kreative Atmosphäre. An einem Teich mit Brücken in der Mitte des Campus genießen Studierende wie Angestellte im Sommer die Sonne. „Vieles davon ist erst in den vergangenen 15 Jahren entstanden“, erklärt Sellgren. Daher sieht es entsprechend neu aus. Das Krankenhaus bietet 600 Ärzten und 2.000 Krankenschwestern Arbeitsplätze, sowie 3.000 weitere.
Viele BioTech-Unternehmen
Enormer Energiehunger
Nun braucht der Sänger Erholung. Ihm steht der Sinn nach Kaffee und Kuchen an einem schönen Aussichtspunkt über den Ume älv, der über den Radwanderweg vom Stadtzentrum aus leicht nach einigen Kilometern zu
erreichen ist. Das Naturschauspiel mit einem in Stromschnellen stehenden Angler
lässt sich gut von der Terrasse des Cafés Herrgård Baggböle beobachten, das 1846 als Verwalterhaus für ein Sägewerk errichtet wurde. Baggböle ist wohl der bedeutendste Ort der västerbottnischen Industriegeschichte. Äußerlich hat der Fluss trotz der Regulierung durch das Wasserkraftwerk wieder eine
natürliche Form angenommen, wenn man sich das wilde Gewässer anschaut mit den Stromschnellen und dem Flussbett. Womit man wieder bei der
ersten Strophe des Sellgren-Lieds ist: „Umeå i mitt hjärta, låt mig besjunga dig nu, Åldrad i ungdomlig grönska, älvarnas stad, det är du. Av städer jag känner i världen är du den stad som fått allt. Båd skogan och ängar och vatten vi umebor gläds, tusenfalt. Det porlar i fiskrika älven det strömmar in Baggböles famn skymmer o skänker oss drömmar vår hemstad som har, detta namn. Kultur-huvudstaden vid vatten med livskraft, med
tro och hopp.“ Vom ewigen, fischreichen, Lebenskraft, Träume, Glauben und Hoffnung schenkenden Fluss erhält die Stadt besonderen Reiz. „Umeå in meinem Herzen, lass' mich dich nun besingen. Gealtert im jugendlichen Grün, Stadt der Flüsse, das bist du.“