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Otfried Höffe

ETHIK

Eine Einführung

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Warum braucht der Mensch Moral, warum Ethik? Was unterscheidet die Moral von anderen Verbindlichkeiten menschlichen Handelns? Welche Grundmodelle der Ethik entwickelte die Philosophie im Laufe der Geschichte? Welche Fragen und Kontroversen sind in der heutigen Debatte relevant? Nicht zuletzt: Wie reagiert die Ethik auf die Herausforderungen einer globalisierten Welt in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Umwelt? Wie setzt sie sich mit den Fortschritten in der Gentechnik und Humanmedizin auseinander?

Von einer Fundamentalethik über eine Anthropologie und eine Handlungstheorie bis zur Angewandten Ethik behandelt dieses Buch kurz, prägnant und allgemeinverständlich alle relevanten Themenfelder.

Über den Autor

Otfried Höffe, Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Universität St. Gallen, war bis zu seiner Emeritierung ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Er leitet die Forschungsstelle Politische Philosophie und ist Herausgeber der Reihen «Denker» und «Klassiker auslegen».

 

 

 

 

Nach fast 45 Jahren:
immer noch für Evelyn

Inhalt

Vorwort

    I. Was heißt philosophische Ethik?

1.  Zum Begriff der Ethik

2.  Anthropologische Grundlagen

3.  Drei Stufen des Guten; das Böse

4.  Praktische Philosophie

5.  Interkulturelle Ethikdiskurse

   II. Methoden

1.  Deskriptive und präskriptive Ethik

2.  Methodenvielfalt

3.  Zwei metaethische Debatten

4.  Drei Fehlschlüsse

4.1 Der Sein-Sollensfehler

4.2 Der moralistische Fehlschluß

4.3 Der naturalistische Fehlschluß

5.  Grundriß-Wissen

  III. Handlungstheorie und Ethik

1.  Bewußt und freiwillig

2.  Praktische Vernunft: Gründe und Motive

3.  Praktischer Syllogismus

4.  Streben oder Wollen

5.  Zwei Exkurse

5.1 Anthropozentrik?

5.2 Determinismus?

  IV. Grundmodelle der Ethik

1.  Prinzip Glück: Eudaimonie

1.1 Erste Begriffe

1.2 Eudaimonismus: Aristoteles

1.3 Kritik am Eudaimonismus

2.  Kollektivwohl: Der Utilitarismus

2.1 Der Grundgedanke

2.2 Kritik am Utilitarismus

3. Prinzip Freiheit: Autonomie

3.1 Kantische Ethiken

3.2 Handlungsfreiheit

3.3 Kategorischer Imperativ

3.4 Maximenethik

4.  Moralkritik

4.1 Ethischer Relativismus

4.2 Entlarvende Moralkritik

4.3 Umwertung aller Werte: Friedrich Nietzsche

4.4 Ein verlorenes Paradigma? Niklas Luhmann

4.5 Rechtfertigende Moralkritik

4.6 Moralkritik zweiter Stufe

5.  Kontraktualismus und Diskursethik

5.1 Gesellschaftsvertrag: Kontraktualismus

5.2 Diskursethik

   V. Tugenden

1.  Zum Begriff

2.  Tugenden aus Selbstinteresse

2.1 Besonnenheit

2.2 Freigebigkeit

2.3 Gelassenheit

2.4 Heiterkeit

2.5 Aus Selbstinteresse selbstvergessen

3.  Tugend des Geschuldeten: Gerechtigkeit

3.1 Politische Gerechtigkeit

3.2 Soziale Gerechtigkeit

3.3 Personale Gerechtigkeit

4.  Verdienstliche Tugenden: Solidarität und Wohltätigkeit

5.  Urteilskraft

5.1 Klugheit

5.2 Moralische Urteilskraft in autonomer Moral

  VI. Warum moralisch sein?

1.  Eudaimonie: Lebenskunst

2.  Gerechtigkeit: Geschuldet

3.  Autonomie: Selbstachtung

 VII. Angewandte Ethik

1.  Drei Kompetenzen

2.  Angewandte Ethik als Preis der Moderne

3.  Ethikberatung

4.  Ein aktuelles Beispiel

VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral

Literatur

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Viele erwarten von der philosophischen Ethik oder auch Moralphilosophie nur eine Lehre von Pflichten, insbesondere von Verboten, und sehen darin eine unangenehme Einengung ihrer Lebensmöglichkeiten. Tatsächlich wirft die Ethik auch die Frage nach dem guten, weil glücklich gelungenen Leben auf und beantwortet sie mit einer philosophischen Lebenskunst. Zu ihr gehört freilich die Einsicht, daß ein wahrhaftes, gutes Leben auf Pflichten nicht ganz verzichten kann. Eine umfassende Ethik enthält daher beide: eine Lebenskunst und eine Theorie moralischer Pflichten.

Das heutige Interesse an der Ethik richtet sich vor allem auf Fragen der Wirtschaft, der Umwelt und der Medizin samt Technik. Derart angewandte Ethiken erfreuen sich eines bleibenden öffentlichen und Fragen der Lebenskunst eines steten persönlichen Interesses. Deren gründliches Verständnis bedarf aber vorab einer allgemeinen philosophischen Ethik; darauf legt diese Einführung ihren Schwerpunkt. Gegen Ende wirft sie noch einen Blick auf die Angewandte Ethik.

Wie fast alle Disziplinen abendländischer Philosophie beginnt auch die Ethik bei den Griechen, und in Auseinandersetzung mit ihnen erfolgt alle Weiterentwicklung. Dabei bilden sich so grundlegende Fragen und Begriffe, Methoden und Argumentationsmuster aus, daß noch heute jede Ethik davon zu profitieren vermag. Ein Blick in frühere Debatten kann jedenfalls sowohl das Problembewußtsein als auch das Themenspektrum erweitern.

Trotzdem braucht man sich nicht gegen Neuerungen zu versperren, insbesondere dann nicht, wenn sie dem guten Leben des Menschen dienen. Innerhalb der Philosophie gelten sogar ausschließlich jene Autoren als wirklich bedeutsam, denen tatsächlich eine ethische Neuerung gelingt, also eine Innovation in der Theorie der Moral. Denn für Innovationen der Moral selbst ist die philosophische Ethik nur mitzuständig, nicht aber alleinzuständig. Nun lehrt die Erfahrung, daß moraltheoretische Innovationen nicht im Tempo wissenschaftlicher oder technischer Innovationen, also in der Geschwindigkeit weniger Jahrzehnte oder sogar einzelner Jahre, erfolgen. Wahrhafte Ethikinnovationen bedürfen, was eine hektische Zeit kaum noch kennt: eines Atems von Jahrhunderten.

Blickt man auf den Gegenstand der Ethik, beispielsweise auf moralische Grundsätze und Grundeinstellungen, so ist ein erheblicher Teil davon der Menschheit seit langem bekannt, überdies zu einem erstaunlich großen Teil interkulturell und interepochal anerkannt. Dieser Umstand erleichtert der philosophischen Ethik ihre Aufgabe; trotz Entstehung im Abendland sucht sie eine mehr als okzidentale, nämlich eine globale, sogar universelle Gültigkeit.

Diese Einführung konzentriert sich auf Wesentliches. Sie beginnt mit der Frage, was Ethik heißt und welche Methoden für sie wichtig sind. Sie erörtert sodann das Verhältnis zur Handlungstheorie, skizziert klassische, zugleich bis heute entscheidende Ethikmodelle und stellt den Begriff der Tugend mit deren wichtigsten Beispielen vor. Auf die Auseinandersetzung mit der Frage, warum man überhaupt moralisch sein soll, folgen ein Blick in die Angewandte Ethik und ein Ausblick zur Macht der Moral.

Da ich mich mit diesen Themen seit langem befasse, kann ich hier auf zahlreiche frühere Überlegungen zurückgreifen. Wieder darf ich meinen ebenso kompetenten wie engagierten Mitarbeitern danken, dieses Mal insbesondere Dr. Dirk Brantl und Moritz Hildt, M. A., und für die Kunst, selbst schwer lesbare Manuskripte lesbar zu schreiben, Heike Schulz.

Istanbul und Tübingen im Frühjahr und Sommer 2012

I. Was heißt philosophische Ethik?

Unter «heißen» verstehen wir zweierlei, heute vor allem «bedeuten, meinen» früher aber auch «gebieten» (z.B. «Wer heißt mich kommen?»). Bei der Frage: «Was heißt philosophische Ethik?» geht es um beides, um den Begriff der philosophischen Ethik und um die Frage, warum man sich mit ihr befaßt, warum die philosophische Ethik sogar notwendig ist. Ihrem Wesen nach nicht an die westliche Kultur gebunden, beruft sich dabei die Philosophie, was in Zeiten der Globalisierung willkommen ist, auf keine Autoritäten, sondern lediglich auf eine allgemeinmenschliche Vernunft und eine ebenso allgemeinmenschliche Erfahrung.

1. Zum Begriff der Ethik

Philosophische Grundbegriffe pflegen vieldeutig zu sein. Dafür ist aber nicht eine Unklarheit des Denkens oder eine Ungenauigkeit des Sprechens verantwortlich, sondern eine Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit der Gegenstände. Im Fall der Ethik zeigt sich die Mehrdeutigkeit schon in der Etymologie. ta êthika, wie die Disziplin der abendländischen Moralphilosophie von ihrem Urheber, Aristoteles, genannt wird, bezeichnet die das êthos betreffenden Dinge. Dabei hat êthos drei Bedeutungen, die eine philosophische Ethik allesamt zu behandeln hat:

Die erste Bedeutung, Ethos 1, der gewohnte Ort des Lebens, versetzt den Menschen ins Kontinuum der Natur. Denn auch Tiere haben ein Ethos, das für die jeweilige Art oder Gattung eigentümlich ist. Gemäß ihrer biologischen Ausstattung wohnen Fische im Wasser, das Vieh dagegen entweder auf dem eher natürlichen Weideplatz oder in dem von Menschenhand geschaffenen, künstlichen Stall. Schon bei domestizierten Tieren ist also ihr Ethos, obwohl durch die Biologie vorgeprägt, durch sie unterbestimmt.

Beim Urheber der Domestikation ist die Situation entschieden komplizierter. Der Mensch kennt nicht bloß eine Fülle «geographischer» Möglichkeiten, da er sowohl auf der Erde als auch über und unter ihr, dabei noch in unterschiedlichster Weise wohnen kann. Er relativiert das geographische Ethos auch durch zwei neue Faktoren, durch kulturelle Prägungen und durch Individualität. So überläßt die Natur der Kultur und überlassen liberale Kulturen den Individuen großzügig eine erhebliche Macht. Genau sie drängt nun die Bewertungsfrage auf, die die Ethik auf den Plan ruft: Welche der Möglichkeiten sind gut, welche schlecht?

Wegen der zwei neuen Faktoren, der kulturellen Prägungen und des individuellen Lebens, zerfällt die Human-Ethik in zwei sich ergänzende, gelegentlich aber auch widerstreitende Bereiche, in ein soziales Ethos bzw. Ethos 2, griechisch ethos (mit kurzem e; lateinisch mores), und in ein personales Ethos bzw. Ethos 3, griechisch êthos (mit breitem e). Einerseits zählen beim Ethos 3 die Art und Weise, wie man sein Leben führt, die Lebensform (griechisch: bios) und die persönliche Einstellung und Sinnesart, der Charakter. Andererseits ist das persönliche Leben in das Ethos 2 eingebunden, in den Inbegriff von Institutionen wie Familie, Recht und Staat, aber auch den Inbegriff von Üblichkeiten, den Gewohnheiten und Sitten. Obwohl die Human-Ethik daher aus zwei Bereichen besteht, einer personalen Ethik von Lebensformen und Charakter und einer Sozialethik, einschließlich der Rechts- und Staatsethik, konzentriert sich diese Einführung auf die personale Ethik.

Zuvor eine Randbemerkung: Eine so kreative und zugleich anpassungsbereite Sprache wie das Deutsche bewahrt neben der eigenen Übersetzung von êthê: «Sitten», in Fremdwörtern sowohl den griechischen Ausdruck, Ethik, als auch dessen lateinische Übersetzung, Moral, auf. Das Ergebnis besteht in der verwirrenden Situation, daß drei Ausdrücke in etwa dasselbe bedeuten und daß von den verschiedenen Abgrenzungsversuchen keiner absolut zwingend ist. Im Anschluß an gewisse Sprachgewohnheiten empfiehlt sich aber, unter «Ethik» die wissenschaftliche Disziplin, die vor allem philosophische Theorie von Moral und Sitten, zu verstehen, unter «Moral und Sitten» dagegen den Gegenstand dieser Disziplin. Dabei bezeichnet die positive Moral, der Inbegriff von Gewohnheiten und Sitten, den Gegenstand einer deskriptiven, die Wirklichkeit beschreibenden Ethik, die kritische Moral oder schlicht: Moral dagegen den Gegenstand einer vorschreibenden, präskriptiven und einer Verbindlichkeiten begründenden, normativen Ethik.

2. Anthropologische Grundlagen

Offensichtlich ist innerhalb der Natur nur der Mensch zur Ethik fähig. Die Antwort auf die zweite Bedeutung von «heißen», nämlich auf die Frage, was gebietet, sich mit Ethik zu befassen, hängt daher mit den Eigentümlichkeiten des Menschen, der Conditio humana, zusammen. Die zuständige Disziplin, die philosophische Anthropologie, wird zwar bald nach ihrem Höhepunkt in den 1920er bis 1940er Jahren (Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen) vernachlässigt. Der dafür mitverantwortlichen Befürchtung, man lasse «den Menschen zu fixer Gegenständlichkeit erstarren» und schiebe damit «die Dialektik und die Geschichte beiseite» (Lukács 1922, 204) läßt sich aber entkräften.

Eine auf die Moral konzentrierte Anthropologie, eine Moralanthropologie, läßt sich von der Frage leiten, welche biologischen, einschließlich neurobiologischen Eigentümlichkeiten dafür verantwortlich sind, daß der Mensch ein Moralwesen wird. Damit verbindet sie die zweite Frage, warum die Moral eine allgemeine Grundlage in der (biologischen) Natur hat und doch kulturell bestimmt ist. Und die dritte Frage lautet: Warum hat die Moral den Charakter eines begründeten Sollens, eines Imperativs, ohne, wie Hegelianer befürchten, zum ohnmächtigen Sollen zu degenerieren?

Gegen die von Kritikern geäußerte Befürchtung, der Mensch werde auf ein ungeschichtliches Wesen festgelegt, zeigt die neuere Anthropologie, daß dem Menschen seiner biologischen Natur nach eine Dynamik innewohnt, die sowohl die Kultur im Singular, das nicht bloß organisch-natürliche Menschsein, als auch die Kultur im Plural, die geschichtlich unterschiedlichen Gestalten, schafft. Infolgedessen ist das weit verbreitete dualistische Denken – hier Natur, dort Kultur – aufzugeben: Während die natürliche Existenz des Menschen durch und durch kulturell geprägt ist, machen sich die kulturellen Prägungen von den organisch-natürlichen Anlagen nie ganz frei. Eine selbstkritische Anthropologie gesteht daher zu, daß sie lediglich ein Skelett von Menschsein erkennt. Erst durch kulturelle, darüber hinaus individuelle Faktoren entsteht ein konkretes Wesen aus «Fleisch und Blut».

Obwohl der Anthropologie heute weit mehr Erfahrung zur Verfügung steht, sind die zwei entscheidenden Einsichten seit der Antike bekannt: daß der Mensch ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen und ein Sozial-, näherhin Rechts- und Politikwesen ist (vgl. Aristoteles, Politik I 2). Dabei schließt die Vernunft- und Sprachbegabung des Menschen die Begabung zur moralisch-praktischen Vernunft ein, und wegen der Sozial- und Politiknatur bildet der Mensch die Moral im Zusammenleben mit seinesgleichen aus. Die Vernunft und die Sozialnatur sind freilich sowohl bei der Gattung als auch beim Individuum zunächst nur in Form einer Anlage gegeben, die es zu entwickeln und zur schließlichen Blüte zu führen gilt.

Das Sich-Entwickeln-Müssen schlägt auf die Moral durch. Der Mensch ist nicht sogleich das Animal morale, das Moralwesen, wohl aber in dreierlei Hinsicht ein Animal morabile: (1) Er ist zur Moral fähig; (2) er ist zu ihr auch berufen, muß sich aber (3) dazu auch entwickeln. Damit findet die dritte Frage der Moralanthropologie eine erste Antwort: Wegen der nötigen Anstrengungen hat die Moral einen Sollenscharakter, und sie hat ihn in einem noch grundlegenderen als dem vertrauten Sinn. Die Moral tritt nicht nur in Gestalt von vernunftbegründetem Sollen, einem Imperativ, auf. Vielmehr liegt schon ihrer Entfaltung ein deshalb noch basalerer Imperativ zugrunde. Das zur Moral fähige Wesen Mensch ist sowohl als Gattung als auch als Gruppe und als Individuum aufgefordert, sich von einem nur potentiellen zu einem aktualen Moralwesen zu entwickeln.

Schon in der Vorform des rationalen Denkens, im Mythos (vgl. Platon, Protagoras, 321f.), fallen Menschen im Vergleich zum Tier durch zwei Eigentümlichkeiten auf, einerseits durch bestimmte Schwächen in der Organ- und Instinktausstattung, andererseits durch eine Stärke, namentlich die Intelligenz, die über die Ansätze, die sich bei Tieren finden, weit hinausreicht. Wegen dieser beiden nahtlos ineinandergreifenden Seiten ist der Mensch im Unterschied zum Tier auf kein Ethos 1, auf keinen wohlbestimmten Ort des Lebens, festgelegt. Genetisch nicht dem Zwang innerer Mechanismen oder äußerer Umwelteinflüsse ausgeliefert, stehen dem Menschen zunächst als Gruppe, später auch als Individuum eine fast unbegrenzte Fülle von Handlungs- und Lebensmöglichkeiten offen. Als ein Generalist, der fast unbegrenzt Vieles vermag, genießt er schon in organischer Hinsicht das Glück einer Weltoffenheit, die nicht einmal auf die beiden «natürlichen» Generalziele, das individuelle und das kollektive Überleben, festgelegt ist.

Zum Menschen als biologischem Multitalent gehört als psychologische Eigenart ein unspezialisierter Energieüberschuß, der sich einem Hormon, dem leistungssteigernden Noradrenalin, verdankt. Zusammen mit Intelligenz und Sprache ermöglicht es humane Glanzlichter wie Technik und Medizin, wie Musik, Kunst und Architektur, wie Literatur, Wissenschaft und Philosophie, nicht zuletzt heroische Verzichte. Der Antriebsüberschuß erlaubt aber auch ein so gut wie grenzenloses Immermehr: Völlerei und sexuelle Maßlosigkeit, Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Nicht zuletzt kann der Mensch Allmachtsphantasien erliegen, so daß man ihn ironisch als einen Affen definieren kann, der gelegentlich wie Gott sein will.

Die sachgerechte Diagnose lautet deshalb seit Platons Protagoras und in der Neuzeit seit Herder nicht auf Organschwäche und Instinktmängel, sondern auf Weltoffenheit statt Umweltgebundenheit und auf reflexiven Welt- und Selbstbezug statt unmittelbarem Lebensvollzug.

Eine erfahrungsoffene Moralanthropologie betont weitere moralerhebliche Gesichtspunkte, etwa daß der Mensch um Anerkennung sich sorgt, sogar um sie kämpft. Dazu gehören Folgephänomene wie Neid, Eifersucht und Mißgunst, wie Rache, aber auch Verzeihen, Sympathie und Empathie, Barmherzigkeit, Reue und Scham.

Man kann die Weltoffenheit verharmlosen und sie nur auf die Mittel («technische Rationalität») und das Wohlergehen («pragmatische Rationalität») beschränken. In Wahrheit gibt es aber jene größere Offenheit von Recht und Unrecht, auch Gut und Böse, die der Moral entspricht und um die nicht erst das jüdisch-christliche Denken weiß: Während die technisch-wissenschaftliche Rationalität in Platons Protagoras-Mythos als von den Göttern gestohlen, mithin als nicht rundum legitim gilt, geht deren für das menschliche Zusammenleben notwendige Ergänzung, gehen Recht und Scham auf Zeus selbst zurück (Protagoras, 322 c–d); sie haben einen göttlichen, insofern legitimen Ursprung.

Weil die dem Recht und der Scham verpflichteten Handlungsmuster überlebenswichtig sind, empfiehlt es sich, sie den zufälligen Strebungen der Individuen zu entheben und auf Dauer zu stellen. Eine derartige Stabilisierung geschieht in dem für die Menschen charakteristischen Ethos 2, den Institutionen und verbindlichen Sitten, die zusammen die soziale Sittlichkeit oder soziale Moral im positiven, noch nicht kritischen Verständnis von Moral bilden.

Zu Anfang der Menschheitsgeschichte bildet also die soziale Moral, die den Anforderungen von Recht und Scham und zugleich der Gut-Schlecht bzw. Gut-Böse Bewertung ausgesetzte Welt, eine ungeschiedene Einheit vom Geziemenden und Guten, von Brauch, Sitte und Recht. Friedrich Nietzsche drückt es in seinen «Gedanken über die moralischen Vorurteile», in der Morgenröte, treffend aus: «Ursprünglich gehörte die ganze Erziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst, der Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr untereinander und mit den Göttern in den Bereich der Sittlichkeit» (1. Buch, Abschnitt 9).

Bei dieser positiven Moral handelt es sich um einen für die Daseinsweise der Menschen konstitutiven normativen Grundrahmen. Er bestimmt das Verhalten vor allem zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst und besteht in einem der Willkür der einzelnen weithin entzogenen Komplex von Handlungsregeln, Wertmaßstäben, auch Sinnvorstellungen. Ohne von inneren Spannungen ganz frei zu sein, ist er für Klein- oder Großgruppen, auch für ganze Kulturkreise charakteristisch. In seiner jeweiligen Gestalt mitbegründet er die Unterscheidung von «fremd» und «dazugehörig». Durch Aufwachsen in der entsprechenden Gruppe, durch Vor- und Nachmachen, durch Leitbilder, verbale oder nichtverbale Billigung und Mißbilligung angeeignet und zur persönlichen Haltung, Sinnesart befestigt, ist er der Gefahr ausgesetzt, die eigene Moral zu verabsolutieren und Fremde mit anderer Moral und anderen Sitten zu diskriminieren. Aufgrund eines längeren kulturgeschichtlichen Prozesses betrifft freilich die positive Moral heute nur noch einen Teil des von Nietzsche benannten größeren Zusammenhangs.

Einiges ist nämlich aus der überpersönlichen Lebenswelt in den Raum persönlicher Verfügung ausgewandert, anderes hat sich in Etikette und Konventionen, in Brauch und Sitte sowie in das Recht ausdifferenziert. Kulturanthropologisch betrachtet besteht die positive Moral in Direktiven und Stabilisationskernen. Mit ihrer Hilfe wird das durch seine Organe und Instinkte kaum geschützte Leben des Menschen auf der Basis gegenseitigen Vertrauens gesichert und der einzelne durch vorgefundene Lebensmuster vom steten Zwang zur Formschöpfung und Entscheidung entlastet (Gehlen). In einer zur Soziologie erweiterten Perspektive dient diese Moral der Integration und Stabilität sozialer Systeme (Talcott Parsons), das wiederum ein (in Grenzen) vorhersagbares Zusammenleben mit Verläßlichkeit und Verstehen ermöglicht. Die positive Moral reicht allerdings über diese genealogisch gesehen frühen Aufgaben im Rahmen der kollektiven Selbsterhaltung hinaus. Denn sie stellt auch jenes gruppen-und kulturspezifische Richtmaß eines sinnvollen Lebens dar, das sich aus kollektiven Erfahrungen und schöpferischen Sinnentwürfen herausbildet und der humanen Selbstdarstellung und -verwirklichung dient.

Anthropologisch betrachtet ist die Moral also eine merkwürdige Mischung aus den drei Modalitäten Sollen, Bedürfnis und Sein: Der seiner Biologie nach weltoffene, aber auch gefährdete Mensch («Bedürfnis») braucht wirksame Verbindlichkeiten (positive Moral: «Sein»), die die Intelligenz auf ihr Gutsein, letztlich auf ein uneingeschränktes Gutsein («Sollen») zu befragen erlaubt.

Diese Erlaubnis wird zwar nicht notwendig realisiert, läßt sich aber schwerlich auf Dauer unterdrücken. Folglich erweist sich die Moral erstens als von der Biologie vorbereitet. Zweitens nimmt sie nur in einer Kultur die konkrete Gestalt einer positiven Moral an, die drittens mittels einer allgemeinmenschlichen Vernunft einer kritischen Moral ausgesetzt, nicht selten durch sie auch umgestaltet wird. Die biologische, einschließlich neurobiologische Natur des Menschen bietet also Rahmenbedingungen, die der Entwicklung von Moral entgegenkommen, die sie sogar um des bloßen Lebens willen herausfordern. Die Moral selbst muß der Mensch aber aus eigener Kraft und nach eigenen Kriterien entwickeln.

3. Drei Stufen des Guten; das Böse

Die anthropologisch begonnene Begründung der Ethik setzt sich in einer neuartigen, konstruktiven Semantik fort (vgl. Höffe 2007, Teil I). Diese stellt beim normativen Grundbegriff der Ethik «gut» drei Bedeutungen fest, sieht, daß sie rangmäßig aufeinander aufbauen und daß man die dritte Stufe sinnvollerweise mit «moralisch gut» und den Gegensatz mit «böse» gleichsetzt:

Auf der ersten und untersten Stufe bewertet man Mittel und Wege auf ihre Tauglichkeit für beliebige Absichten oder Ziele. Wer beispielsweise zu Wohlstand kommen will, braucht weit mehr Einnahmen als Ausgaben. Dagegen bleibt hier die Frage offen, ob es gut ist, wohlhabend zu werden. Dieses «gut für (irgend-) etwas» schließt alles technische, taktische oder strategische, alles instrumentelle, auch funktionale Gutsein ein. Es kann im weiteren Sinn des Wortes «technisch gut», auch «fachlich gut» heißen. Trägt man die Bewertung als begründete Forderung vor, so nimmt sie die Gestalt eines technischen Imperativs, eines aus technischen Gründen folgenden Sollens, an.

Nach dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einflußreichen Emotivismus (z.B. Stevenson 1944) bezeichne «gut» weder natürliche noch nichtnatürliche Eigenschaften, vielmehr habe der Ausdruck nur eine Gefühls- (Emotions-) Bedeutung. Sage jemand «a ist gut», so bringe er bloß seine persönliche Einstellung, gewissermaßen seinen emotionalen Geschmack zum Ausdruck. Allerdings verbinde man damit den Versuch, den anderen zum Übernehmen der persönlichen Einstellung bzw. des eigenen Geschmacks zu bewegen.

Wäre diese Ansicht richtig, so fielen alle Bewertungen, auch die moralischen Urteile, aus dem Bereich des Erkennbaren (Kognitiven), zugleich auch aus dem Bereich der argumentativen Diskussion heraus. Die Ethik wäre bloß nichtkognitivistisch und nichtargumentativ möglich, folglich allein als Theorie von unterschiedlichem Gefühl und Geschmack, mithin lediglich als Konsens über den Dissens. Schon für die erste Bewertungsstufe, das technisch Gute, überzeugt aber die Ansicht nicht. Denn bei ihren Aussagen gibt ein vorgegebenes Ziel (Z) den Maßstab ab, an dem die Richtigkeit der Aussage «a ist gut für Z» objektiv gemessen wird. Infolgedessen erhebt die Aussage einen objektiven, jedenfalls argumentativen Anspruch.

Weil der Emotivismus von einem unreflektierten und phänomenfremden Begriff des Guten ausgeht, wird er auch dem moralisch Guten, auf das es ihm letztlich ankommt, nicht gerecht. Er verfehlt nämlich, wird sich zeigen, den zumindest stillschweigend argumentativen, darüber hinaus sogar universalistischen Anspruch.