Seidenreiher (Foto: Ernst Weber)
Das Leben der Vögel
C.H.Beck
‚Ornis‘ meint die Vogelwelt, aber auch ‚die Ornis‘ selbst, die Ornithologen. Einige wenige, die als Ornis beginnen, schaffen es sogar, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Wie der Autor. Ornis vermittelt seine ungebrochene Begeisterung für die Vögel. Das Buch zeigt, was sie sind und warum sie so erfolgreich wurden. Aber auch, wo die Probleme liegen – bei uns und global.
Ornithologen dringen in die letzten unerforschten Winkel der Erde vor. Sie jagen nach Seltenheiten, üben sich in schwierigsten Ferndiagnosen und wissen oft besser Bescheid über die Vorgänge in der Natur als die dafür zuständigen Behörden.
Was macht Vögel so faszinierend? Was sie können, das schaffen oder übertreffen wir nur mit aufwändigen technischen Hilfsmitteln. Manche Vögel prunken in schönstem Gefieder, andere singen phantastisch. Viele zieht es in die Großstädte. Die Vögel begeistern uns.
Gegenwärtig gibt es rund 10.000 verschiedene Vogelarten. Einige Hundert Arten gibt es nicht mehr. Sie sind in den letzten Jahrhunderten ausgestorben. Etwa 1200 Vogelarten sind derzeit vom Aussterben bedroht. Es liegt in unserer Hand, ob sie überleben oder für immer verschwinden. Die Bemühungen, sie zu erhalten, werden am ehesten Erfolg haben, wenn die Lebensweisen der betreffenden Arten, ihre Ansprüche an die Umwelt, in der sie leben, gut genug bekannt sind. Dazu möchte dieses Buch einen Beitrag leisten.
Prof. Dr. Josef H. Reichholf ist Zoologe. Als ‚Orni‘ betätigte er sich seit seiner frühen Jugendzeit. Hauptberuflich Ornithologe wurde er 1974 mit der Übernahme der Sektion Ornithologie an der Zoologischen Staatssammlung in München. Die Vogelsammlung in diesem Forschungsmuseum, für die er bis zu seiner Pensionierung 2010 zuständig war, umfasst über 60.000 Vogelbälge von gut zwei Drittel aller existierenden Vogelarten. Die Bayerische Zoologische Staatssammlung gehört zu den zehn größten zoologischen Museen weltweit. Josef Reichholf wirkte zudem 20 Jahre lang als Generalsekretär der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern, veröffentlichte viele vogelkundliche Arbeiten und lehrte Ornithologie an der Universität München. Forschungsreisen führten ihn in alle Kontinente. Besondere Forschungsschwerpunkte bilden die Evolution der Vogelfeder, die Entstehung der Artenvielfalt der Vögel und die Auswirkungen der Landwirtschaft auf die Vogelwelt. Er gilt als einer der prominentesten deutschen Naturwissenschaftler und ist Träger zahlreicher Auszeichnungen.
Meiner Frau
Miki Sakamoto
gewidmet
Vorwort
Teil 1 Vögel beobachten
Ornis – eine faszinierende Vielfalt
Wie wird man Ornithologe?
Vögel beobachten und bestimmen, immer und überall faszinierend
Amseln und Klimaerwärmung
Wintervogelzählungen
Enten auf den Stadtteichen
Das Nisten
Flagge zeigen
Müssen Mischlinge «ausgemerzt» werden?
Prachtkleider der Enten und die Sexuelle Selektion
Die «Säger»
Wasservogelhybride
Abgrenzung von Arten
Erste Vogelgesänge
Wer singt denn da und wie lange
Vogelmonitoring
Vogelzug
Der stumme Frühling
Die ruhige Zeit der Mauser
Konsequenzen der Jagd auf Vögel
Schlafplatzflüge der Stare
Der Erfolg der Kraniche
Das Kommen der Wintervögel
Ausblick
Teil 2 Die Natur der Gefiederten
Was macht einen Vogel zum Vogel?
Der Innenbau des Vogelkörpers
Vogeleier
Vogelnester
Die Nestlinge
Brutparasitismus
Sonderfall Tauben
Schnäbel und Beine
Die Verdauung der Vögel
Die Vogelfeder und das Rätsel der Entstehung der Vögel
Der Urvogel und der Ursprung der Vögel
Prachtgefieder
Auffällige Schönheit
Signalwirkung des Prachtkleides
Größenunterschiede
Sehen, hören, riechen
Orientierung der Vögel
Teil 3 Lebensweise und Gefährdung der Vögel
Verbreitung der Vögel
Leben miteinander
Regulation von Vogelbeständen
Fischereischädliche Vögel
Vogelschutz
Nachgedanken
Literatur
Bildnachweis
Liste der genannten Vogelarten
Lösung
‹Ornis› meint die Vogelwelt. ‹Ornis› sind aber auch die Ornithologen, die Vögel beobachten, bei jedem Wetter, an allen möglichen Orten und unter zuweilen kaum zumutbaren Bedingungen. Sie sind Kenner, die wissen, wie man die Jugend- oder Ruhekleider der Vögel unterscheidet, wo man Irrgäste findet und was zu tun ist, um die Liste der Vogelarten, die man gesehen hat, anwachsen zu lassen. Ornis erkennt man daran, dass sie stets unruhig in die Ferne schauen und plötzlich sehen, was die allermeisten Menschen nicht sehen. Für die Objekte ihrer Begierde, die Vögel, haben sie immer Zeit, sonst aber nie. Sie tragen teuere Ferngläser, oft auch Fernrohre (Spektive), deren neueste Fähigkeiten darin bestehen, das Geschaute gleich digital zu fotografieren und damit zu dokumentieren, so dass ihre Beobachtungen nunmehr «Feststellung» im unmittelbaren Wortsinn sind. Sosehr die Ornis «Erste» bei der Entdeckung einer Seltenheit sein möchten, so stark drängt es sie dennoch, anderen umgehend ihre Entdeckung mitzuteilen. Und so sammeln sie sich an, wo es Besonderes zu sehen gibt – mitunter schneller, als die Polizei zu einem Unfall kommt. Sie umringen den irgendwo notgelandeten Irrgast, als ob sie ihn beschützen wollten vor der feindlichen Welt, in die dieser Vogel geraten ist. Die Zeiten, da man so einen verflogenen Vogel «als Beleg» einfach abschoss und seinen Balg ins Museum steckte, sind längst vorbei.
Es gibt subtilere Methoden als die geschilderte, das Wohl und Wehe der Vögel mitzuverfolgen. Noch handelt es sich um spektakuläre Ausnahmen, wenn dies via Satellit geschieht, aber die Fälle häufen sich. Die Ornis verbringen immer mehr Zeit am Computer, um das Beobachtete ins Netz zu stellen und um selbst möglichst in Echtzeit mitzubekommen, was sich draußen in der Vogelwelt tut. Was sie am Bildschirm erfahren, hätte noch vor wenigen Jahrzehnten die Vorstellungskraft von Ornithologen überfordert, die in der Forschung tätig waren. Gab es (wieder einmal) eine Invasion einer Vogelart, die normalerweise nicht oder nur in sehr geringen Anzahlen zu den Zugzeiten oder zur Überwinterung ins Land kommt, dauerte die Auswertung der «Daten» nicht nur Monate, sondern gar Jahre. Längst war das Geschehen vorüber, über das berichtet wurde. Was sich in der Zwischenzeit ereignete, überholte die Veröffentlichung und hätte sie korrigiert oder erweitert. Aber dazu kam es nicht, weil die Vorlaufzeiten zu lang und Druckraum zu teuer waren. Jetzt ist der Orni ‹live› im Geschehen dank der Daten, die von den vielen Ornis unserer Zeit eingegeben werden und über das Internet verfügbar sind. Schneller, als die Vögel fliegen können, verbreitet sich, wo sie unterwegs sind und in welchen Mengen. Die Ornis von heute folgen den Vögeln auch mit ihren Computern. Was die alte Frage aufwirft, was sie antreibt, das zu tun.
Der Grund ist zwar bekannt, gleichwohl aber nicht wirklich verstanden: Passion, Leidenschaft, ist die Triebkraft. Genährt wird sie von nicht nachlassender Begeisterung für das Geschaute und noch zu Schauende, das Erwartete. Es ist eine Leidenschaft, die nicht tötet oder Schaden verursacht, wie so manch andere «Naturleidenschaft». Vielmehr hat sie dazu geführt, dass wir über die Vogelwelt und ihre Veränderungen mehr wissen als über alles andere in der lebendigen Natur. Kenner behaupten, dass in Großbritannien, wo es besonders viele Ornis gibt, die Vögel besser bekannt sind als die Menschen. Was die Genauigkeit der Erfassung von Veränderungen in den Beständen oder das Auftreten von «Irrgästen» betrifft, haben sie gewiss recht. Manches von Ornis nachgewiesene Vogelvorkommen trug Natur- und Umweltschützern den Sieg im Kampf gegen Naturvernichtung und Umweltverschmutzung ein. Denn die Vögel, viele Vogelarten zumindest, erfreuen sich in der Bevölkerung großer Wertschätzung. Man möchte die Vögel nicht verlieren. Die Ausgaben für die winterliche Vogelfütterung, die Mitgliederzahlen der Vogelschutzverbände und die finanziellen Zuwendungen für den Vogelschutz bestätigen diese Wertschätzung – Hitchcocks ‹Vögel› zum Trotz! Vogelschutz ist längst ein Milliardengeschäft, mit steigenden Umsätzen, wie auch die Zahl der Ornis zunimmt. Und das ist gut so – in unser aller Interesse. Um das Beobachten der Vögel, um ihr Leben und ihren Schutz geht es in diesem Buch.
Es gibt gegenwärtig rund 10.000 verschiedene Vogelarten. Einige Hundert Arten gibt es nicht mehr. Sie sind in den letzten Jahrhunderten ausgestorben, weil sie von Menschen ausgerottet wurden, wie der Dodo* von Mauritius, der Riesenalk* des Nordatlantiks, die Wandertaube* der Vereinigten Staaten und, und, und … Etwa 1200 Vogelarten sind derzeit vom Aussterben bedroht. Es liegt in unserer Hand, ob sie überleben oder für immer verschwinden. Die Bemühungen, sie zu erhalten, werden am ehesten Erfolg haben, wenn die Lebensweisen der betreffenden Arten, ihre Ansprüche an die Umwelt, in der sie leben, gut genug bekannt sind. Viele Ornis tragen dazu bei und wollen das Aussterben verhindern.
Wie viele Ornis es derzeit gibt, lässt sich kaum abschätzen. Mehrere Millionen dürften es sein; Hunderttausende wirklich qualifizierter Vogelbeobachter sind es auf jeden Fall. Ein ganz guter Index für das Interesse an der Vogelwelt sind die Auflagenhöhen und Verkaufszahlen der Vogelbestimmungsbücher, der sogenannten Feldführer (nach dem angloamerikanischen Ausdruck ‹field guide›, mit dem diese Bestimmungsbücher bezeichnet werden). Dass Feldführer zur heimischen Vogelwelt – das Wort ‹Feld› wörtlich genommen – nahezu überflüssig sind, weil es auf den mitteleuropäischen Feldern kaum noch Vögel gibt, ist eine Gegebenheit, um die es im 3. Teil gehen wird. Zunächst der allgemeine Befund: Für praktisch jede Region der Erde, nicht nur auf den Kontinenten und Inseln, sondern auch für die Meere, gibt es «Feldführer» zu den dort vorkommenden Vogelarten. Und dementsprechend auch Ornis, die sich mit der Vogelwelt des Kongo, von Nordostasien, Neuguinea, den Inseln im Indischen Ozean oder eben auch von Europa, Nordamerika, dem Vorderen Orient und so weiter intensiv befassen. Sie sollten im Volltext Ornithologen genannt werden; sehr gute Vogelkenner sind sie zumeist und keineswegs nur «Artenjäger», als die manche von ihnen spöttisch bezeichnet werden, weil sie allzu offensichtlich nur danach trachten, ihre ‹life list›, also die Liste der von ihnen selbst beobachteten Vögel, zu vergrößern. Eine Art, die sie schon einmal sahen, interessiert sie dann nicht weiter, es sei denn, sie lässt sich für ein Geschäft auf Gegenseitigkeit mit einem anderen Artenjäger verwenden, der Zugang zu einer Art besitzt, die man selbst noch nicht gesehen hat. Es gibt viele dieser Artenjäger, aber verglichen mit der Gesamtmenge der Ornis nicht allzu viele. Artensammler haben aber durchaus auch ihre Stärken. Sie forschen nach den mitunter sehr subtilen Merkmalen, mit denen man Seltenheiten erkennen und bestimmen kann. Sie entwickeln ein Gefühl dafür, wie die verschiedenen Vogelarten so sind, welchen «jizz» sie haben. Eine Feinheit verrät ihnen als Kennern auf den ersten Blick, um welche Vogelart es sich handelt.
Das andere Extrem bilden jene Ornithologen, die sich so richtig nur mit einer einzigen Vogelart befassen. Sie studieren diese höchst intensiv und in allen Einzelheiten. «Mein Vogel» betitelte der Schweizer Emil Weitnauer sein Büchlein über den Mauersegler, dessen Lebensweise er genauestens beobachtet hatte. «Ihren Vogel» haben zahlreiche Ornithologen. Aus irgendwelchen, meist sehr persönlichen Gründen fasziniert eine bestimmte Vogelart sie so sehr, dass sie alles über sie Bekannte zusammentragen und durch eigene, noch genauere Beobachtungen zu ergänzen versuchen. Auf diese Weise kommen Studien zustande, die den Eindruck erwecken, die betreffende Person habe in ihrem Leben überhaupt nichts anderes gemacht, als sich mit dieser und nur dieser Vogelart zu befassen. Erstaunlich viele solcher Spezialisten gibt es unter den Ornithologen. Die in die Hunderte gehenden Bände der «Neuen Brehm-Bücherei» bieten beste Beispiele für umfassende Behandlungen einzelner Arten, sogenannte Art-Monographien. Für den ernsthaften Ornithologen, der seine Befunde verstehen und einordnen möchte, sind sie ein unentbehrlicher Fundus. Manche enthalten mehr Details (und sind viel preiswerter) als die großen Handbücher über die Vögel. Deren bestes ist das «Handbuch der Vögel Mitteleuropas», herausgegeben von Urs Glutz von Blotzheim (siehe Literatur). Es misst, alle Teilbände aneinandergereiht, ziemlich genau einen Meter. Sicherlich ließe sich aufgrund der seit Erscheinen der Bände gewonnenen Kenntnisse über die Vögel Mitteleuropas ein weiterer Meter hinzufügen.
Eine andere, recht große Gruppe von Ornis erliegt dem Reiz der Vogelwelt eines bestimmten Gebietes. Sie wetteifern darum, in «ihrem Gebiet» möglichst mehr Vogelarten festzustellen, als in einem anderen, «konkurrierenden» schon ermittelt worden sind. Das sind dann die «guten Gebiete», die ornithologisch ergiebigen, die immer wieder Überraschungen bringen. Man lernt die Örtlichkeiten kennen, schätzen und wird das Gebiet schützen wollen, weil es in den meisten «Vogelparadiesen» gar nicht so paradiesisch zugeht für die Vögel. Sie werden bejagt, gestört, Giften ausgesetzt, die in der Landwirtschaft verwendet werden. Und wo sich viele Vögel einfinden, werden alsbald die Vogelfeinde klagen, die es in großer Zahl gibt, und Bestandsregulierungen fordern – was nichts anderes meint als Abschüsse. Die öffentlich beschwichtigende Ausdrucksweise lautet «letale Vergrämung» und gilt bei uns als «politisch korrekt». Die Vogelfeinde dürfen natürlich auch nicht so heißen, denn sie selbst halten sich für Naturfreunde, und sie wollen ja nichts weiter als «ausgewogene Verhältnisse in der Natur».
Sie treten also in den unterschiedlichsten Versionen auf, die Ornis. Ihr Spektrum reicht von Eigenbrötlern, die nichts weiter wollen als Vögel anschauen, über die engagierten Ornis, die ihre Beobachtungen sammeln, weitergeben und für Auswertungen zur Verfügung stellen, bis zu Wissenschaftlern, die mit der Forschung an der Vogelwelt ihren Lebensunterhalt verdienen.
«Kann man davon leben?» Diese Frage bewegte mich nie. Sie wurde mir aber vor vielen Jahren gestellt, und zwar von einer Dame, die mir eine Weile zusah, während ich vom Damm aus mit dem Fernrohr Wasservögel zählte, die draußen auf dem Stausee zu Tausenden schwammen. Dass mein Tun mehr war als die bloße Suche nach Seltenheiten, muss ihr wohl klar geworden sein, weil ich zwischendurch die Zahlen auf dem Schreibtablett neben mir notierte. Schließlich fragte sie, ob ich Ornithologe sei. Was ich bejahte, und zwar völlig zu Recht. Denn ich war gerade Berufsornithologe geworden; ganz offiziell. Nämlich Leiter der Sektion Ornithologie an der Zoologischen Staatssammlung in München. Dies ist ein Forschungsmuseum, wie es nur etwa eine Handvoll vergleichbarer Museen im deutschsprachigen Raum gibt, und eines der fünf größten dazu. Auf meine Antwort, ja, ich bin Ornithologe, Berufsornithologe, hatte sie die Frage gestellt, ob man davon leben könne. Und wie man das kann!, meinte ich. Großartig sogar! Gehörte doch nun die Vogelwelt zu meinen Berufsaufgaben. Sich mit ihr zu befassen stellte für mich keine Freizeitbeschäftigung mehr dar. Was könnte ich mir mehr gewünscht haben? Wer das Glück hat, eine der höchst raren Museumsstellen für Ornithologie zu bekommen oder an einer Forschungseinrichtung wie dem Max-Planck-Institut für Ornithologie arbeiten zu können, weiß das gewiss zu schätzen.
Doch darum geht es hier eigentlich nicht. Ornithologe kann man werden, ohne das beruflich sein zu müssen. Ich war längst Ornithologe, als ich Berufsornithologe wurde. Ein gutes Jahrzehnt lang schon oder ein paar Jahre mehr, je nachdem, wo man die fiktive Grenze ziehen will zwischen bloßer Begeisterung für die Vögel, die vorangetrieben wird vom Dazulernen Tag für Tag, und einem Kenntnisstand, der es erlaubt zu sagen, das ist ein Kampfläufer, ein Fitislaubsänger, ein Rotfußfalke oder was auch immer für eine (heimische) Vogelart. Und dass man weiß, was diese Bestimmung bedeutet. Denn mit dem richtigen Namen wissen die Ornithologen sehr viel zu verbinden zu Herkunft, Lebensweise und Häufigkeit oder Seltenheit der betreffenden Vogelart. Ornithologe kann man in jeder Altersstufe werden, von der späten Kindheit angefangen bis ins nachberufliche oder schon recht fortgeschrittene Alter. Hat die Begeisterung erst einmal gezündet, kann sie schnell zu einer Leidenschaft werden, der die ganze Freizeit geopfert wird. Was aber kein Opfer ist, sondern ein Vergnügen. Ein ganz großes Vergnügen sogar. Eines, das süchtig macht!
Bei mir fing die Sucht, jedem Vogel nachschauen zu müssen, in früher Jugend an. Im Alter von 13 Jahren versuchte ich anhand von «Was fliegt denn da?», einem Vogelbestimmungsbuch, über das die heutigen Ornis nur mitleidig lächeln, die Namen der Vögel zu erfahren, die ich sah. Bei den meisten Arten klappte das, aber nicht bei allen. Die Abbildungen waren sehr schwach und unzureichend, insbesondere bei den sogenannten Limikolen, Watvögeln, die das mitteleuropäische Binnenland auf dem Durchzug besuchen und für deren genaue Artbestimmung man ein gutes Bestimmungsbuch und ein leistungsfähiges Fernglas braucht. Beides hatte ich nicht, aber gute Augen und große Begeisterung. Ein Fernglas erhielt ich schließlich. Es förderte die Begeisterung so sehr, dass ich in jeder freien Minute damit draußen war, um Vögel zu beobachten. Vom damals einzigen guten Bestimmungsbuch, das es auf Deutsch für die Vögel Europas gab, dem «Peterson», erfuhr ich erst, nachdem ich die meisten Vogelarten bereits kannte, die in meinem Beobachtungsgebiet im niederbayerischen Inntal vorkamen. Es waren so viele und solche Seltenheiten, dass die ersten Meldungen, die ich nach München an die Ornithologische Gesellschaft schrieb, offenbar großes, aber mit Zweifeln gemischtes Staunen hervorriefen. Denn alsbald kamen «richtige Ornithologen» aus der Landeshauptstadt, um sich von mir zeigen zu lassen, was ich gesehen hatte. Sie sahen noch viel mehr, dank ihrer Kenntnisse und dank der Fernrohre, die sie mitbrachten, und auch dank des «Peterson», ohne den man kein Ornithologe sein konnte, wie man mir erklärte. Und sie korrigierten auch einige Fehler, die mir unterlaufen waren.
Kampfläufer, Männchen mit beginnender Ausbildung des Balzgefieders, und (rechts) Rotschenkel. Beim Kampfläufer können die Beine im Frühjahr noch röter werden.
(Fotos: Ernst Weber)
So hatte ich von Hunderten Rotschenkeln berichtet, die ich an den Stauseen am unteren Inn gesehen und gezählt hatte; Mengen, die alles weit übertroffen hätten, was in Bayern jemals an Rotschenkeln festgestellt worden war. Das unzureichende Vogelbestimmungsbuch hatte mich in die Irre geführt. Die schuppig graubraunen, gut drosselgroßen Watvögel, die ich wegen ihrer roten Beine für Rotschenkel gehalten hatte, waren tatsächlich Kampfläufer (was mich noch mehr freute). Im Frühjahr, mit Beginn der Fortpflanzungszeit, färben sich ihre Beine rot. Den Vogelbälgen aus den wissenschaftlichen Sammlungen ist das nicht zu entnehmen, denn die Farbe verblasst alsbald, wie auch die der Schnäbel und sonstiger Hautteile am Vogelkörper. Was ich bei der Bestimmung hätte berücksichtigen sollen, das waren der beim Rotschenkel breite weiße Streifen im Flügel, der längere Schnabel und der oberseits weiß gefiederte Ansatz des Schwanzes. Beim Kampfläufer ist die Flügelbinde schmal, der Schnabel zur Spitze hin leicht gekrümmt, dunkel grünlich gelb und ohne die rötlich braune Basis, die wiederum den Rotschenkel auszeichnet. Ein schwarzer Mittelstreif, der sich vom Rücken ins Schwanzgefieder hinaus erstreckt, grenzt beim Kampfläufer die weißen Außenseiten voneinander ab, so dass sie «eiförmig» wirken. Rotschenkel gehen bei der Nahrungssuche anders vor als Kampfläufer und sie fliegen auch anders. Solche Feinheiten zu lernen war die Herausforderung, um es so weit zu bringen, dass ein Blick durchs Fernglas genügte, um sicher sagen zu können: «Kampfläufer» oder «Rotschenkel» oder um was für eine Limikole es sich sonst handeln mochte. Das Spektrum der im mitteleuropäischen Binnenland an den Gewässerufern, mitunter auch auf offenen Feldfluren zur Zwischenrast auftretenden Watvögel enthält eine ganze Reihe «harter Nüsse», die zu knacken gleichsam eine Ehrensache wurde (siehe Abbildungen auf Seite 15).
Von den Münchner Ornithologen lernte ich, wie wichtig es ist, von Erfahrenen in die Geheimnisse der Vogelbeobachtung eingeführt zu werden. Bücher, auch die besten Bestimmungsbücher, tun es allein nicht. Die subtilen Eigenheiten der verschiedenen Vogelarten kann nur die Beobachtung selbst vermitteln. Diese gewinnt an Sicherheit, wenn die Diagnose von Kenntnisreicheren bestätigt wird. In besonderem Maße trifft das für die Rufe und Gesänge der Vögel zu. Beschreiben lassen sie sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht wirklich, außer man kennt bereits den Grundstock der Lautäußerungen häufiger Arten. Tonaufnahmen helfen zwar weiter, aber sie bieten weder die Breite der Variationen, die manche Gesänge auszeichnet, noch den akustischen Rahmen, in dem sie in der freien Natur zu hören sind. Wir Menschen tun uns meist schwerer, Gehörtes zu abstrahieren als Gesehenes. Mitunter genügt ein Blick, und die Besonderheit des noch unbekannten Vogels ist so erfasst, dass eine sichere Bestimmung gelingt. Das Ohr hält einen solchen diagnostischen Eindruck nicht oder zumindest nicht so leicht fest wie das Auge. Anscheinend spielt dabei kaum eine Rolle, ob man «musikalisch» ist und den Tönen Noten zuordnen kann. Ich kann es nicht und weiß, dass viele Ornithologen ebenfalls nicht dazu in der Lage sind. Die Bestimmung der Vogelrufe und -gesänge fällt auch ohne musikalische Kenntnisse treffsicher aus. Vielleicht sollte einmal der Versuch gemacht werden, musikalisch Geschulte gegen Ornithologen ohne Notenkenntnis antreten zu lassen. Ich wage zu behaupten, dass sich die Gewinner einfach durch mehr Erfahrung auszeichnen. Bekannt ist auch, dass wir mit zunehmendem Alter hohe Töne weniger gut und schließlich gar nicht mehr hören können. Das hohe «ziiieh» der Beutelmeise und das Wispern der Goldhähnchen gehören zu den Herausforderungen, die jugendliches Gehör problemlos meistert, an denen ein gealtertes aber scheitert. Der größte Lehrmeister ist und bleibt die Erfahrung. Der nur einmal gehörte Gesang entschwindet über kurz oder lang, wenn der diagnostische Eindruck, den er hinterlassen hat, nicht mehrfach aufgefrischt wird. Das gilt grundsätzlich auch für das Geschaute. Ein einmaliger visueller Eindruck hält aber länger; wir sind für unsere Orientierung in der Welt einfach mehr auf das Schauen und Erkennen ausgerichtet als auf das Hören. Die Bezeichnung «Vögel beobachten» nimmt im Deutschen darauf genauso direkt Bezug wie in anderen Sprachen. Mit dem Englischen «bird watching» wurde das Vogelbeobachten internationalisiert und die Vogelbeobachter personifiziert als «bird watchers». In ihrer verkürzten Form heißen sie «birder» und «birding». Sie sind die ‹Ornis›.
Wann hat man aber nun den Zustand erreicht, der es rechtfertigt, sich Ornithologe nennen zu dürfen? Ein Zertifikat dazu gibt es nicht. Der Übergang vom bloßen Anschauen der Vögel, etwa der Besucher am Futterhaus oder der Wasservögel auf dem Stadtteich, zur genauen Artbestimmung und näheren Beschäftigung mit ihrer Lebensweise vollzieht sich zwar allmählich, bei entsprechender Begeisterung aber ziemlich rasch. Wer einmal angefangen hat, die gesehenen Vögel zu bestimmen, gibt sich nicht mehr zufrieden mit: «Ist der aber schön!» oder: «So einen Vogel habe ich noch nie gesehen!» Der Name des Vogels wird alsbald zum Schlüssel. Er öffnet den Zugang zu den gar nicht mehr so geheimen Geheimnissen der Vogelwelt.
Dennoch gibt es einen entscheidenden Schritt von der bloßen Freude des Anschauens der Vögel zum richtiggehenden ornithologischen Beobachten. Ornithologen notieren/registrieren, was sie gesehen haben. Sie führen Tagebücher oder Listen (oder sogar beides). Die ornithologischen Tagebücher nennen sie Exkursionsprotokolle, da ihr Vogelbeobachten nicht länger ein simples Spazierengehen mit einem Schauen dahin und dorthin ist, sondern «Exkursion» genannt wird. Eine Exkursion ist etwas höchst Ernsthaftes bei aller Freude, die sich mit dem Geschauten verbindet. Exkursionen sind die Gänge zum Beobachten aber nur, wenn ihre Ergebnisse dokumentiert werden; am besten mit allen Vogelarten, die man gesehen hat, und mit den Mengen dazu, soweit sich die Vögel hatten zählen lassen. Ornithologen zählen! Das kennzeichnet sie. Ornithologen sind mit Ernst bei ihrer Sache. Fehlbestimmungen sind kein Scherz, sondern eine Blamage. Erstbeobachtungen werden angestrebt und «Entdeckung» genannt. Sogar die benutzte Sprache bekräftigt die Ernsthaftigkeit mit Ausdrücken, dass diese oder jene (seltene/besondere) Vogelart «festgestellt» worden sei. «Fest» und «stellen» mögen für ein so flüchtig beschwingtes Wesen, wie es ein Vogel ist, reichlich unpassend gewählte Ausdrucksformen sein. Doch die Wortwahl drückt die feste Absicht der Ornithologen aus, die hinter ihren Beobachtungen steht. Ornithologe ist also geworden, wer die Freude am Beobachten der Vögel ernst nimmt. Und wer Ergebnisse damit erzielen möchte, die anderen Gleichgesinnten mitgeteilt werden können und möglichst auch den Vögeln selbst zugutekommen, weil sie Grundlagen für den Vogelschutz liefern.
Deshalb gibt es spätestens nach Erreichen der frühen Jugendzeit keine Altersbegrenzung mehr für ornithologische Betätigung. Sobald sich der Mensch ernsthaft mit etwas beschäftigen kann, ist die Fähigkeit vorhanden, Ornithologe zu werden. «Ornithomanie» muss ja nicht daraus entstehen. Ist sie also «nur» ein Hobby, die Ornithologie? Oft ja, noch öfter aber nicht! Zweifellos gibt es Überschneidungsbereiche zwischen selbstbezogenem Hobby und ernsthafter Arbeit. Natürlich ist die Vogelbeobachtung wie jedes Hobby von Begeisterung getrieben. Wenn sie keinen Spaß mehr macht, wird sie aufgegeben. Es ist ganz in Ordnung, dass viele, wenn nicht die meisten Ornithologen jene Vollständigkeit anstreben, die das (hobbymäßige) Sammeln auszeichnet. Sie wollen alle Vogelarten eines Gebietes, eines Landes oder gar eines Kontinents wenigstens einmal gesehen haben, um sie, Art für Art, in einer Liste als «bekannt» abhaken zu können. Die ganz extremen ‹Birder› arbeiten an ihrer ‹life list›. Sie enthält alle jemals im Freien gesehenen Vogelarten.
Soweit bekannt, ist es bisher noch niemandem gelungen, sämtliche rund 10.000 Vogelarten wenigstens einmal gesehen zu haben. Es gibt auch kein Museum, das alle Vogelarten in seinen Sammlungen enthält. «Alle Arten Deutschlands» ist hingegen eine Herausforderung, die in wenigen Jahren gemeistert werden kann. Allerdings nur, wenn all jene Vogelarten gemeint sind, die innerhalb der Staatsgrenzen Deutschlands als Brutvögel vorkommen. Das sind rund 220 Arten. Durchzügler, Winter- und Sommergäste kommen hinzu, wie auch Irrgäste. Eine Liste von etwa 300 Vogelarten, die «abzuarbeiten» wäre, wollte man «die Vögel Deutschlands» kennen bzw. einmal gesehen haben, bildet daher eine gute Zielvorgabe. Wer sie erfüllt, darf sich mit Fug und Recht (richtige Bestimmungen vorausgesetzt) als Ornithologe fühlen. Auf dieser Basis lässt sich weiterarbeiten. Nächstes Ziel sind die Vögel Europas und Einblicke in die Artenfülle der Tropen in Afrika, Südasien und Südamerika; aber auch die teilweise so merkwürdig ähnliche, andererseits ganz verschiedenartige Vogelwelt Nordamerikas. Ornithologen, die das Fieber der Jagd nach «neuen Arten» erfasst hat, sind unersättlich. Sie eilen von Irrgast zu Irrgast, suchen die entlegensten und am schwersten zugänglichen Winkel der Erde auf, zu Land und zu Wasser.
Denn Vögel gibt es überall. Lange vor uns Menschen haben die Vögel den Globus für sich erobert. Sie sind die wahren Spitzenprodukte der Evolution, deren Fähigkeiten wir Menschen mit viel Geist und noch mehr Energieaufwand nacheifern, ohne sie wirklich erreichen zu können. Denn was mag der Extrembergsteiger von seiner Leistung halten, wenn er einen Achttausender des Himalajas erfolgreich erstiegen hat und in dieser Höhe Geier kreisen oder Gänse fliegen sieht? Er kämpft mit der Atmung und die Gänse «unterhalten sich» schnatternd noch im Flug in dieser Höhe. Oder Polarforscher, die sich mit letzter Kraft über das antarktische Eis schleppen, um den Beweis zu liefern, dass Menschen den Südpol erreichen können. Doch Kaiserpinguine waren vor ihnen da und bebrüten ihr Ei sogar auf den eigenen Füßen in der extremen Kälte der antarktischen Polarnacht. Vögel tauchen in Meerestiefen, die erst vor kurzem und immer noch von sehr wenigen Menschen mit speziellen Tauchbooten erreicht worden sind. Vögel atmen noch leicht, wo uns die Luft knapp wird. Vögel, winzig wie ein Wattebällchen, durchschlafen ohne besonderen Schutz die langen Winternächte mit Frösten um minus 20 Grad Celsius. Vögel leben in den heißesten Wüsten, in tropischen Dschungeln, auf einsamsten Meeresklippen und mitten in Großstädten. Wie schaffen sie das?
Davon handelt der 2. Teil. Zunächst aber möchte ich Sie mitnehmen auf einen Gang durchs Jahr und was es dabei zu beobachten gibt in unserer Vogelwelt.
Wo und wie beginnt man mit dem Beobachten der Vögel? «Überall» eigentlich. Bereits der Blick durchs Fenster hinaus auf das Futterhaus im Garten oder ein Gang zu Gewässern im Stadtpark bieten sehr viel Interessantes, auch wenn es sich an solchen Orten nur um «gewöhnliche Vögel» handelt. Das Wichtigste für den Anfang ist, dass man an die Vögel nahe genug herankommt, sie also nicht scheu sind. Sind verschiedene Arten vorhanden, wird das Beobachten gleich reizvoller. Wer sieht nicht gern dem munteren Treiben von Meisen, Grünfinken und, wo es sie noch gibt, von Spatzen am Futterhaus zu, insbesondere wenn das Zuschauen bequem aus der Wärme des Zimmers möglich ist. Plötzlich kommt ein markant schwarz-weiß gemusterter Specht mit rotem Käppchen auf der Stirn an. Kraft seiner Körpergröße verdrängt er die anderen Vögel vom Futter. Meisen, vor allem die kleinen Blaumeisen, lassen sich jedoch von ihm nicht lange abhalten. Flink fliegen sie an ihm vorbei, picken einen Sonnenblumenkern auf und verschwinden damit im Gezweig des nahen Buschwerks, wo sie die Schalen abspalten und den eigentlichen Kern verzehren. Oder es macht sich ein dicker, rotbrüstiger Gimpel mit schwarzer Gesichtsmaske auf der Futterstelle breit. Mitunter kommt sogar der noch größere Kernbeißer, dessen mächtiger, bläulich silberner Schnabel den übrigen Kleinvögeln Respekt einflößt. Nach ein paar Minuten des Zusehens wissen wir schon Bescheid über die Rangfolge der verschiedenen Arten. Wir haben die Technik der verschiedenen Vogelarten bei der Behandlung des ausgelegten Futters gesehen und vielleicht auch schon das erste Bestimmungsproblem bekommen. Weil da am Boden unter dem Futterhaus ein ‹ganz merkwürdiger Vogel› herumsucht. Er hat eine gelbbraune Brust, ebenso getöntes Gefieder an den Schultern, einen schuppig wirkenden Kopf und Nacken sowie einen ovalen weißen Fleck oberseits am Ansatz des Schwanzes, der beim Wegfliegen auffällt. Seiner Körperform nach ähnelt er ein wenig den zwar ganz anders, nämlich graugrün und gelb gefiederten, dicklicheren Grünfinken. Besser passt er zu den altrosabrüstigen, weißschultrigen Buchfinken, gewiss aber nicht zu den Meisen. Ein Finkenvogel ist er also, aber was für einer? (Siehe Abbildung auf Seite 22.)
Jetzt wird ein Bestimmungsbuch benötigt. Davon gibt es eine ganze Anzahl sehr guter (verschiedene Bücher anzuschaffen lohnt, weil die Bilder einander ergänzen und die Bestimmung abzusichern helfen!). Hat man ein solches zur Hand, wird der Vogel nach kurzer Suche als Bergfink erkannt werden. Aber er hat, falls es ein Männchen ist, keine schwarze, weit in den Nacken und zwischen die Schultern reichende Kappe, denn jetzt, im Winter, trägt er noch das sogenannte Winterkleid. Es ähnelt in Färbung und Musterung dem des Weibchens, ist aber beträchtlich intensiver als das Weibchengefieder. Wir müssen also genauer hinsehen und vergleichen, bis die Bestimmung sicher gelungen ist. Männchen und Weibchen sind bei vielen Vogelarten verschieden gefiedert. Aber es gibt auch solche, bei denen wir keinen äußerlichen Unterschied bemerken. Bei manchen Arten erkennen wir die Geschlechter nur, wenn wir sehr genau hinsehen. Bei den am Futterhaus fast immer vorhandenen Kohlmeisen verhält es sich so. Die Männchen tragen einen deutlich breiteren schwarzen Streifen entlang der Brustmitte als die Weibchen. Und je breiter der Streifen, desto attraktiver ist das Kohlmeisenmännchen in der Paarungszeit. Meistens gewinnt es beim Streit mit anderen Männchen.
Recht verschieden sind Männchen, Weibchen und Jungvögel bei den Amseln. Die erwachsenen Männchen sind schwarz, die Weibchen dunkelbraun mit streifiger Fleckung auf der etwas heller braunen Bauchseite. Ihr Schnabel ist dunkel bräunlich, bei den Amselmännchen aber leuchtend gelb. Er kann eine rötliche Spitzentönung im Frühjahr bekommen. Die Intensität von Gelb und Rot des Schnabels drückt wie die Streifenbreite auf der Brust des Kohlmeisenmännchens die Dominanz des Amselhahns aus. Bei jungen Männchen ist der Schnabel noch blassbraun, das Gefieder dunkel- bis schokoladenbraun, aber noch nicht schwarz. In ihrem ersten Winter kann man junge Amselmännchen noch mit Weibchen verwechseln, aber diese sind an der Brust und am oberen Teil des Bauches stets heller als auf der Rückenseite. Bei den gerade erst ausgeflogenen Jungamseln, die wir im Sommer im Garten auf dem Rasen sehen, ist die Schuppung von Brust- und Bauchgefieder noch ausgeprägter (zudem keilförmig) als bei erwachsenen Weibchen. Ihr «kindisches» Verhalten verstärkt den Eindruck, den das Jugendgefieder ohnehin macht. Alte Männchen und Weibchen kennen sich aus und geben sich souverän.
Bergfink: Männchen beim Umfärben vom Winterzum Brutkleid.
(Foto: Alfred Limbrunner)
Im Winter werden solche äußerlichen Unterschiede lebenswichtig. Alte Männchen mit gelbem Schnabel halten alte Weibchen und junge Männchen auf Distanz. Sie sind die Stärkeren. Nichts geben sie ab von dem Apfel, den sie auspicken, oder von den Rosinen, die ihnen an der Futterstelle geboten werden. In Gebieten, in denen die Winter regelmäßig Schnee und Frost bringen, überwintern fast nur alte Amselmännchen. Weibchen und junge Männchen sind, wenn sie nicht ganz fehlen, nur in geringen Anteilen am «Winterbestand» vertreten. An den Futterstellen lassen sie sich mit Hilfe eines Fernglases gut erkennen und leicht zählen. Dank der Möglichkeit, sie an Gefiedermerkmalen zu unterscheiden, können wir feststellen, ob in milden Wintern bei den Amseln mehr Weibchen und junge Männchen bei uns überwintern als in kalten. Im Hinblick auf die prognostizierte Klimaerwärmung, die Mitteleuropa wärmere Winter bringen soll, sind genaue Beobachtungen an Futterstellen durchaus von allgemeinem Interesse. Denn die Amseln müssen mit der Witterung zurechtkommen, nicht mit der Temperatur allein. Verlässliche Schlüsse ziehen können wir jedoch erst, wenn vom Beginn bis zum Ende des Winters wiederholt das Häufigkeitsverhältnis alter Amselmännchen zu -weibchen und Jungvögeln im Vergleich mit dem vorausgegangenen Sommer festgestellt wird. Dann lässt sich davon ableiten, wie streng der Winter für diese Vögel wirklich war. Nicht die meteorologischen Messwerte besagen dies, die aus praktischen Gründen standardisiert worden sind, sondern die Überlebensraten der Vögel. Werden diese an genügend vielen unterschiedlichen Stellen in Stadt und Dorf ermittelt, sagen sie mehr aus über die Härte oder Milde des Winters als unsere (ohnehin immer steigenden) Heizkostenrechnungen.
Amselmännchen mit weißen Federn im Gefieder; dieser teilweise Albinismus kommt in unterschiedlichen Variationen bei Amseln relativ häufig vor.
(Foto: Alfred Limbrunner)
Halten winterliche Wetterverhältnisse bis in den März hinein an, bekommt man an den Futterstellen und in den Gärten auch die Rückkehr der Amselweibchen mit. Weit mehr als die Männchen überwintern sie rund ums Mittelmeer und im wintermilden Südwesteuropa. Ihre Ankunft führt sogleich zu weiteren Fragen: Wann beginnen die Amseln frühmorgens und wieder in der Abenddämmerung zu singen? Reagieren sie mehr auf die Helligkeit oder auf die Temperaturen? Singen sie vor der Rückkehr der Weibchen oder erst, wenn diese eingetroffen sind?
Aus genauen Forschungen wissen wir, dass Vögel (und andere Lebewesen) auf die Helligkeit und ihre Veränderung reagieren. Licht ist der Zeitgeber für ihren Tages- und Jahresrhythmus. Die Tageslänge sagt ihnen viel zuverlässiger als die stark schwankende Witterung, «wie spät es ist», auch wie «spät im Jahr». Ihre «innere Uhr» wird vom äußeren Zeitgeber Licht immer wieder eingestellt. Wird es dämmrig, ist es an der Zeit, den Schlafplatz aufzusuchen, nicht aber, wenn früh am Nachmittag nur eine dicke Wolke kommt und Schneeschauer niedergehen. Von so einer Verdüsterung am Tag lässt sich ihr innerer Tagesrhythmus nicht täuschen. Der davon verursachte Rückgang der Helligkeit passt nicht zum Tagesrhythmus. Wird es hingegen Abend, fliegen die Amseln zu geschützten Stellen, meist sind das dichte Gebüsche, wo sie in lockerer Gemeinschaft zusammen nächtigen. Sie künden diesen Schlafplatzflug sehr lautstark «tixend» an.
Da die Städte aufgrund der Abwärme aus den Heizungen im Winter beträchtlich wärmer sind als das Umland, bieten sie gute Vergleichsmöglichkeiten. In einer Großstadt kann die winterliche Aufwärmung drei bis fünf Grad Celsius gegenüber dem freien Umland betragen. Und es gibt viel Licht in den Städten. Inzwischen sind aber auch die meisten größeren Dörfer durch das Kunstlicht im Winter viel heller als die freie Natur. Die Straßen- und Gebäudebeleuchtung verlängert die Helligkeit am Abend im Winter gleich um mehrere Stunden in die Nacht hinein. Wir Menschen schaffen dadurch für uns passend lange Tage in einer Jahreszeit, in der sie eigentlich kurz wären. Licht machen wir nicht nur in den Räumen, in denen wir aus mehr oder weniger vernünftigen Gründen möglichst lange tätig sein wollen, sondern auch draußen entlang von Straßen und auf Plätzen. Dass diese zusätzliche, unnatürliche Helligkeit stärker als die winterliche Aufwärmung der Städte auf die Amseln wirkt, drücken sie mit ihrem Gesang aus. Sie beginnen viel früher damit in der Stadt, in Großstädten oft schon im Januar, während die draußen in den Wäldern lebenden Amseln erst Ende Februar/Anfang März zu singen anfangen. Genaue Aufzeichnungen könnten nicht nur für Amseln, sondern auch für andere in der Stadt überwinternde Vögel Interessantes zur Wirkung des zusätzlichen Lichtes und der Erhöhung der Wintertemperaturen aufdecken. Noch wissen wir zu wenig über die Folgen, die Licht und Wärme für die frei lebenden Tiere und Pflanzen haben. Und vielleicht auch für uns Menschen selbst.
Die Amselweibchen, die irgendwo im Süden überwintern, bekommen ja nicht mit, dass Helligkeit und Temperaturen in den Städten, in denen sie im Frühjahr und Sommer brüten werden, der Jahreszeit kräftig voraus sind. Kehren die Amselweibchen früher zurück, weil es für sie günstiger sein könnte, eher mit dem Nisten zu beginnen? Die natürliche Auslese könnte solch frühe Rückkehrer begünstigen. Oder bleiben zunehmend mehr einfach gleich den Winter über an Ort und Stelle, weil sie im milderen Stadtklima die Überwinterung schaffen und sie sich die Anstrengungen des Fluges in ein wintermildes Winterquartier damit sparen können? Oder singen nur die Männchen früher und länger, während die Weibchen unverändert zur üblichen Zeit am Ende des Winters zurückkehren? Solche Fragen sind keineswegs nur für die Amseln von Bedeutung. Wir sollten mehr darüber erfahren, welche Auswirkungen die Aufwärmung der Städte und ihre Flutung mit Licht auf andere Lebewesen haben und was wir bei einer allgemeinen Klimaerwärmung erwarten müssen. Richtig betrachtet, laufen in den Städten längst umfassende Großexperimente zu den Folgen von Erwärmung. Denn sie sind bereits um jene zwei bis drei Grad im Durchschnitt wärmer, auf die wir die globale Erwärmung des Klimas zu begrenzen hoffen. Die Amsel eignet sich als Vogelart besonders gut, solchen Fragen nachzugehen, denn sie hat sich als sehr flexibel erwiesen. Sie lebt erst seit etwa zwei Jahrhunderten in der Siedlungswelt der Menschen. Vorher galt sie als scheuer Waldvogel. Ein Teil der Amseln ist das geblieben. Aber viel mehr sind «verstädtert». Im Frühjahr werden wir es hören, wenn wir darauf achten: In den Städten und größeren Ortschaften singen rund zehnmal mehr Amseln als auf gleich großen Flächen draußen in den Wäldern. Wie man solche Vergleichswerte schnell und einfach ermittelt, davon später mehr. Denn die Vorgehensweise trifft auch für viele andere Vogelarten zu.
Was die Amseln in der Stadt betrifft, so stellen sie uns noch einige weitere Fragen: Schaffen sie mehr Bruten im Jahreslauf als auf dem Land? Wie kommen sie zurecht mit den vielen Gefährdungen ihres Lebens in der Stadt? Autos überfahren die Futter tragenden Altvögel. Katzen stellen den Amseln nach, ebenso Krähen, Elstern und Eichelhäher sowie nachts Marder. Die Stadt sollte doch voller Gefahren für die Vögel, insbesondere für die Kleinvögel, sein! Wie konnte da die Amsel überhaupt verstädtern? Wie häufig treffen wir sie im Winter bei Gängen in Flussauen, wo Beeren tragende Sträucher wachsen, und in Wäldern, aus denen sie stammt? Wie häufig kommen Amseln in den drei Grundtypen von Wäldern vor, die es bei uns gibt, den Nadel-, den Laub- und den Mischwäldern? Bevorzugen sie Baumbestände in Flussauen? Lockt sie vielleicht das bessere Nahrungsangebot in die Städte, die ihnen, wenn sie brüten und die Jungen ausfliegen, dennoch zur Todesfalle werden? Leiden sie unter der schlechten Luft? Unter dem Lärm? Neue Untersuchungen zeigen, dass manche Vögel in der Stadt lauter singen (müssen) als in ihren natürlichen Lebensräumen. Verkraften sie diesen zusätzlichen Aufwand, weil sie schneller gute Nahrung finden? Bereiten wir ihnen diese nicht nur im Winter, wenn die Vögel gefüttert werden, sondern auch im Sommer, wenn die Rasenflächen amselgerecht kurz geschoren gehalten werden, so dass sie leicht Regenwürmer finden?
Einmal angefangen, führt uns die Beobachtung so eines gewöhnlichen Vogels, wie es die Amsel ist, sogleich hinein in eine ganze Abfolge von Fragen, die auch uns Menschen betreffen: wärmere Winter, Ausdehnung der Lichtzeit des Tages in die Nacht hinein, wodurch möglicherweise unser eigenes inneres Zeitempfinden beeinflusst wird, und die Erzeugung zunehmend unterschiedlicher Lebensbedingungen in Stadt und Land, ohne dass wir die Folgen für die Natur bedenken. Die Amseln können uns sogar über die Federn, die sie beim Wechsel ihres Gefieders, der Mauser, verlieren, das Ausmaß der Belastung unserer Umwelt mit bestimmten Schad- und Giftstoffen, wie Schwermetallen oder in der Landwirtschaft eingesetzten Chemikalien, vermitteln. Denn die Federn sind gleichsam ein Endlager für solche Schadstoffe und sie lassen sich mit den heutigen Möglichkeiten der chemisch-physikalischen Analytik genauestens untersuchen. Damit haben sogar die Mauserfedern der Amseln, die wir finden und leicht als solche erkennen können, Erkenntniswert.
Bei der einfachen, aber ernsthaften Beobachtung der Vögel am Futterhaus fing diese Betrachtung an. Viele weitere interessante Aspekte ließen sich hinzufügen. Man stößt auf sie, sobald man genauer hinsieht. Hier zwei weitere Beispiele. Beide sind wichtig, und zwar an jedem Ort, an dem beobachtet wird. Das erste Beispiel betrifft die Zusammensetzung des Artenspektrums, das zweite die Häufigkeit einiger leicht und sicher erkennbarer Arten.
Die Ermittlung der Häufigkeit setzt zweierlei voraus. Erstens muss man sich vertraut damit machen, wann bei welcher Witterung die Vögel die Futterstelle aufsuchen. Das geschieht den Tag über nicht gleichmäßig. Am Vormittag, um die Mittagszeit und vor Beginn der Abenddämmerung wird am meisten Betrieb herrschen. Finkenvögel, wie die Grünfinken (Grünlinge), die Männchen der Buchfinken (die Weibchen überwintern ähnlich wie bei der Amsel nur in geringen Mengen bei uns) oder die Zeisige und auch die Sperlinge ziehen es vor, sich möglichst als lockerer Schwarm an den Futterstellen einzufinden. Der Grund dafür ist, dass sie sich vor Angriffen des Sperbers in Acht nehmen müssen. Das gelingt im Schwarm leichter, als wenn sie einzeln wie die Meisen zum Futter fliegen. Diese sind viel wendiger als die eher schwerfälligen und ziemlich geradlinig fliegenden Finkenvögel. Einem Überraschungsangriff des Sperbers weichen sie leichter aus. Dieser hat aber Mühe, sich auf einen bestimmten Vogel zu konzentrieren, wenn ein Schwarm von ein oder zwei Dutzend auseinanderstiebt. Berücksichtigen wir dies, lassen sich die Mengen der Finkenvögel und Sperlinge ganz gut ermitteln und den Winter über, vielleicht von Woche zu Woche, mitverfolgen.
Den Veränderungen der Mengen können wir entnehmen, wie hoch die Winterverluste ungefähr ausfallen. Eine solche Erfassung gelingt besonders gut, wenn in der näheren Umgebung ähnlich kontinuierlich gefüttert wird. Dann bleiben auch die Vogelmengen einigermaßen gleich verteilt und sammeln sich nicht plötzlich an einer Stelle, während sie an einer anderen fehlen. Eine Abstimmung mit der Nachbarschaft, auch um die Wintervögel an mehreren Stellen möglichst gleichzeitig zählen zu können, ist daher sehr hilfreich. Weit schwieriger ist es, die Häufigkeit der Meisen und anderer stets oder überwiegend einzeln zur Futterstelle anfliegender Vögel festzustellen. Wer das möchte, muss herausbekommen, wie lang eine einzelne Meise braucht, um den mitgenommenen Sonnenblumenkern zu bearbeiten, bis sie wiederkommt. Oder eben sich abstimmen mit der Nachbarschaft. Dann kommt man auch den richtigen Meisenzahlen näher. Auch bei ihnen gilt es, die Winterverluste zu ermitteln und die Änderung der Häufigkeiten von Winter zu Winter zu verfolgen.
Der Naturschutzbund Deutschland e.V. (der NABU) und der Landesbund für Vogelschutz in Bayern e.V. (LBV) organisieren für jeden Winter eine Wintervogelzählung – mit sehr aufschlussreichen Befunden! Diese haben zum Beispiel ergeben, dass in der Regel die Amsel bei uns die häufigste Vogelart im Winter ist und nicht mehr der Haussperling, der «Spatz», der bis ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts unangefochten die Rangliste angeführt hat. Aber eine einzige Zählung im Winter sagt nichts aus über die Winterverluste und zu wenig über die tatsächlichen Häufigkeiten; denn diese können an dem dafür festgelegten Zähltag allzu sehr von der Witterung beeinflusst sein. Zwei Zählungen sind auch noch zu wenig, weil sich im Winter, bedingt durch großräumige Änderungen der Witterung, beträchtliche Verschiebungen ergeben können. Ein Vorstoß sibirischer Kälte wird Zuzug von Vögeln aus dem Nordosten auslösen. Bei sehr milder Winterwitterung kommen weniger Vögel an die Futterstellen als bei Schnee und Frost. Deshalb ist es besser – und für den Ort, an dem die Vogelwelt beobachtet wird, auch viel aufschlussreicher –, wiederholt zu zählen, am besten wöchentlich. Dann wird schon ein einziger Winter überraschende Befunde ergeben, die viele weiterführende Fragen aufwerfen. So können starke Rückgänge der üblicherweise häufigen Amseln und Grünlinge bedeuten, dass eine Seuche unter ihnen ausgebrochen ist. Die Amseln traf eine um 1995 aus Südafrika eingeschleppte Viruserkrankung, deren Verursacher das Usutu-Virus ist. In manchen Städten überlebten kaum noch Amseln die Seuche. In den vergangenen Jahren wurden die Grünlinge insbesondere von Trichomonaden dezimiert. Der Erreger, ein mikroskopisch kleines Geißeltierchen namens Trichomonas gallinae, verursacht schwere Halsentzündungen und führt bei den kleinen Vögeln zum Tode. Nicht selten geschieht dies, wenn die Futterstellen nicht sauber gehalten werden. Dann kommt es immer wieder auch zu Ausbrüchen von Vogel-Salmonellose. Die gut gemeinte Fütterung wird so zur Todesfalle für die Vögel.