Christian Geulen
GESCHICHTE DES RASSISMUS
C.H.Beck
Dieses Buch liefert einen Überblick zur Geschichte rassistischer Ideologien und Praktiken vom Altertum bis heute. Bereits in der Antike und im Mittelalter wurden bestimmte Gruppen aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Eine zusammenhängende Geschichte des Rassismus beginnt aber erst mit der Entstehung des Begriffs ‹Rasse› und seiner Anwendung auf menschliche Gruppen im ausgehenden 15. Jahrhundert. Von der europäischen Expansion über den Sklavenhandel bis zu den imperialen, nationalen und totalitären Kontexten des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich der Rassismus stetig weiterentwickelt. Ein Ende seiner Geschichte ist auch heute nicht absehbar.
Christian Geulen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau.
Vorwort zur 4. Auflage
I. Was ist Rassismus?
Zur Aktualität des Rassismus
Praxis oder Ideologie?
Rasse und Rassismus: Zur Begriffsgeschichte
II. Sklaven und Barbaren: Rassismus in der Antike?
Selbst- und Fremdwahrnehmung in der antiken Welt
Die Rolle der jüdischen und christlichen Religion
III. Heiden, Juden und Häretiker: Rassismus im Mittelalter?
Christlicher Universalismus und kulturelle Differenz
Individuum und Kollektiv
IV. ‹Rasse› in der Frühen Neuzeit
Expansion und Sklaverei
Wissenschaft und politisches Denken
V. Das 18. Jahrhundert und die Aufklärung
‹Menschheit› zwischen Natur und Politik
‹Rasse› zwischen Geschichte und Biologie
VI. Das 19. Jahrhundert und der Evolutionismus
Von der Naturgeschichte zur Entwicklungstheorie
Rassenkampf, Rassenmischung, Rassenerzeugung
VII. Formen rassistischer Praxis im 19. Jahrhundert
Nationalismus und Kolonialismus
Rassistischer Antisemitismus
VIII. Das 20. Jahrhundert und die Entfesselung der Biopolitik
Eugenik, Rassenkampf und die Eskalation der Gewalt
Scheinbarer Ausklang und Fortleben des Rassismus nach 1945
IX. Gegenwart und Zukunft des Rassismus
Genetik und Antirassismus
Globalisierung und Kulturkonflikt
Literaturverzeichnis
I. Was ist Rassismus?
II. Sklaven und Barbaren: Rassismus in der Antike?
III. Heiden, Juden und Häretiker: Rassismus im Mittelalter?
IV. ‹Rasse› in der Frühen Neuzeit
V. Das 18. Jahrhundert und die Aufklärung
VI. Das 19. Jahrhundert und der Evolutionismus
VII. Formen rassistischer Praxis im 19. Jahrhundert
VIII. Das 20. Jahrhundert und die Entfesselung der Biopolitik
IX. Gegenwart und Zukunft des Rassismus
Personenregister
Das vorliegende Buch erschien zum ersten Mal 2007. Sein Anliegen bestand darin, zu zeigen, dass der Rassismus kein universales Übel ist, sondern eine sehr spezifische Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte hat; dass er wandelbar ist und sich als Ideologie verschiedenen Zeiten und Kontexten anpasst. Diese Verwandlungsgeschichte hat sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten weiter fortgesetzt. Deshalb wurde vor allem die Einleitung dieses Buches um einige Überlegungen zur Aktualität des Rassismus ergänzt. Wie diese sich in die lange Geschichte des Phänomens einfügen, wird dort und in der Gesamtdarstellung deutlich.
Zur heutigen kritischen Diskussion des Rassismus gehört eine neue Sensibilität gegenüber unserer Sprache, in der sich Ausgrenzungsstrukturen manifestieren. Diese Kritik richtet sich derzeit auch gegen die Verwendung des Rassenbegriffs selbst. Nun lässt sich aber über eine Ideologie, die zumindest bis vor kurzem um diesen Begriff kreiste, schlecht unter Verzicht auf ihn schreiben. Und auch seine Markierung als ‹uneigentliche› Rede erscheint dem Thema dieses Buches unangemessen. Denn wenn im Folgenden von ‹Rassen› gesprochen wird, ist grundsätzlich der Quellenbegriff gemeint, also jenes Gedankenkonstrukt, um das die Ideologie kreist, deren Geschichte hier skizziert wird.
Köln, September 2020 |
Der Rassismus ist eine Übertreibung. Wo immer wir ihm begegnen, haben wir es mit einseitigen und extremen Entstellungen der Wirklichkeit zu tun: mit überzogenen Selbst- und herabsetzenden Fremdbildern, gewalttätiger Ausgrenzung bis hin zum Vernichtungswahn, radikaler Unterdrückung, maßlosem Hass oder übersteigerter Diffamierung. Unabhängig davon, was wir im Einzelnen als Rassismus bezeichnen, es beinhaltet regelmäßig einen Extremismus, der sich dem unmittelbaren Verständnis zunächst entzieht. Stattdessen spiegelt ihn die öffentliche Wahrnehmung häufig nur wider, indem sie den Rassismus als ‹Grundübel› und ‹Geißel› der Menschheit beschreibt, als ‹Krankheit› und ‹Wahn›, als ‹Perversion› der Moderne, als ‹Virus› oder ‹auszurottende Plage› der Gesellschaft.
Hier wird eine Unsicherheit in unserer Wahrnehmung des Phänomens Rassismus deutlich, und das, obwohl wir sicher zu wissen meinen, was Rassismus ist und woran man ihn erkennen kann. Wir betrachten ihn als eine Festschreibung menschlicher Ungleichheit und übersehen, dass wir damit weniger seine Funktionsweise beschreiben als die Weltsicht beim Wort nehmen, die er selber propagiert. Auch schreiben wir dem Rassismus häufig eine fast unendliche Langlebigkeit zu und gehen davon aus, dass er Geschichte und Zivilisation seit ihren frühesten Anfängen begleitet habe, ohne dies aber genauer zu prüfen. Schließlich nehmen wir an, dass er allein auf Lügen beruhe, die sich durch wissenschaftliche Aufklärung widerlegen ließen – und vergessen, wie häufig sich gerade der Rassismus auf wissenschaftliche Erkenntnis beruft.
Von solchen Vorannahmen will sich die vorliegende Darstellung weitgehend absetzen. Der Rassismus ist weder natürlich noch universal oder in anderer Weise metahistorisch, sondern ein Produkt menschlicher Kultur, eine Hervorbringung menschlichen Denkens, eine Form menschlichen Handelns und somit ein durch und durch historisches Phänomen. Das bedeutet vor allem: Der Rassismus ist wandelbar, und er hat sich im Laufe der Geschichte in der Tat immer wieder verändert. Gemeinsamkeiten, die uns dennoch erlauben, seine historisch verschiedenen Formen miteinander zu verknüpfen, stehen nicht vorab fest, sondern stellen sich erst bei ihrer genaueren Betrachtung heraus: als wiederkehrende Strukturmerkmale und realhistorische Zusammenhänge. Diese Geschichte des Rassismus in ihren wesentlichen Phasen und Wendepunkten darzustellen ist die Absicht des vorliegenden Buches.
Es ist von dem Interesse bestimmt, den Rassismus nicht länger als das fundamental Andere unserer politischen Vernunft hinzustellen, sondern ihn historisch als das zu erkennen, was er ist: ein Erbe der geschichtlichen Entwicklung unseres modernen Denkens und damit ein Teil unserer modernen Rationalität. Das meint keine Aufwertung des Phänomens. Im Gegenteil: Nur wenn wir erkennen, auf welche Weise der Rassismus an die Grundmaximen unseres Denkens anschließt, sich ihnen anverwandelt oder sie instrumentalisiert, sind wir in der Lage, seine Wirkungsmacht zu begreifen und seine Überzeugungskraft zu mindern.
Wie keine andere Ideologie erklärt der Rassismus das Verhältnis von Teil und Ganzem, von Gattung und Art, von Universalität und Partikularität zu seinem bevorzugten Problem und verspricht endgültige Lösungen. Der Rassismus kommt zunächst als eine ‹Lehre› von den Menschenrassen daher, von ihrem Verhältnis zueinander und zur Menschheit als Ganzes, von ihrem jeweiligen Charakter und ihrem verschiedenen Wert. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert aber erzählt diese Lehre auch und bevorzugt vom ewigen Kampf der Rassen mit- und gegeneinander. Unabhängig davon, auf welche wahren oder falschen, biologischen oder sozialen, kulturellen oder ad hoc erfundenen Wissensbestände der Rassismus auch Bezug nimmt – sein Hauptthema ist der Kampf als ‹Rassen› imaginierter Gemeinschaften um Selbstbehauptung, Geltung, Überleben und Überlegenheit. Und die Lösung, die er der jeweils bevorzugten Gemeinschaft anbietet, das Rezept gleichsam, mit dem diese den Kampf für sich entscheiden kann, ist – die Übertreibung.
Die Hypostasierung des Eigenen durch Diffamierung und Ausgrenzung des Anderen, Fremden; die übertreibende Umwandlung kollektiver Differenz in Hierarchien des ‹Überlegenen› und ‹Minderwertigen›; kollektive Anfeindung bis zum Vertreibungs- oder gar Vernichtungswillen – das sind die wesentlichen Strategien, die der Rassismus Gemeinschaften in Krisenzeiten gefährdeter Selbstbehauptung anbietet, wenn die hergebrachten Regeln von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit real oder scheinbar delegitimiert sind. Bevorzugt in Reaktion auf solche Verunsicherungen verspricht der Rassismus Ordnung durch Übertreibung. Er verspricht, Zugehörigkeit durch die praktische Verwirklichung und Wiederherstellung ‹natürlicher› Verhältnisse zu stabilisieren.
Die wohl gängigste Charakterisierung des Rassismus lautet, er postuliere und rechtfertige Ungleichheit. Darin aber erschöpft sich der moderne und zumal der heutige Rassismus keineswegs. Ihn darauf zu reduzieren bedeutet, die Tatsache zu übersehen, dass er schon längst einen Schritt weiter ist, indem er vor allem den ewigen Kampf zwischen den Rassen und Kulturen betont und dazu aufruft, das Ungleiche praktisch aus der Welt zu schaffen.
Jener alte Rassismus, wie er in der Frühen Neuzeit entstand und noch heute lexikalisch beschrieben wird: nämlich als eine Aufteilung der Menschheit in höher- und minderwertige Rassen, lässt sich in seinen heutigen Erscheinungsformen nur noch schwer ausmachen: In den Selbstrechtfertigungen rassistischen Terrors (UtØya, Christchurch, El Paso, Pittsburgh, Las Vegas, Baton Rouge, Hanau, Halle, München oder die Mordserie des NSU); in den heutigen rechtsextremen und xenophoben Weltbildern, die sich gedruckt oder online nachlesen lassen: von Thilo Sarrazins «Deutschland schafft sich ab» bis zu Bewegungen wie Quer-Denken oder QAnon; in den Programmen der neueren rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen: von der AfD über PEGIDA bis zur Alt-Right und Donald Trump – in keinem dieser Kontexte begegnet uns heute eine ‹Rassenlehre› wie sie vor 150 oder 200 Jahren populär war. In den meisten Fällen spielt heute nicht mal der Begriff ‹Rasse› eine Rolle. Statt von der Sicherheit stiftenden Annahme natürlich gegebener Ungleichheitsstrukturen ist der heutige Rassismus von einer ganz anderen Dynamik geprägt: von Angst, Paranoia, Ressentiment und von der Erwartung des Untergangs der eigenen Kultur – wenn nicht sofort konkret und praktisch gegen die Fremden vorgegangen wird.
Doch auch das ist keineswegs völlig neu. Vielmehr hat sich diese Dynamik als neues Kernelement des Rassismus herausgebildet, seitdem die ‹Rassen› im 19. Jahrhundert ihren Status als ewige Natureinheiten verloren und evolutionstheoretisch als veränderbar erschienen. Damit wurden ‹Aufstieg und Untergang der Rassen› abhängig vom Ausgang des Kampfes zwischen ihnen; und nicht mehr die Rassenunterschiede, sondern rassistisches Verhalten wurde zum natürlichen Faktor. Dieser Strukturwandel und die mit ihm entstandene Logik, nach der die Bekämpfung des Fremden die eigene Selbststärkung bedeutet, war mitverantwortlich für die Gewaltexzesse, die der moderne Rassismus zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts (und teils darüber hinaus) hervorbrachte. Und auch die heutigen Erscheinungsformen des Rassismus sind noch von dieser Logik bestimmt – allerdings mit dem Unterschied, dass sie sich inzwischen, seit der weitgehenden Ächtung des Rassenkonzepts nach 1945, von diesem größtenteils emanzipiert hat. Der heutige Rassismus spricht nicht mehr von Rassen, Rassenunterschieden oder Rassenhierarchien – aber er spricht weiterhin von der unbedingten Naturnotwendigkeit, die eigene Gesellschaft oder Kultur gegen das Fremde zu schützen und zu verteidigen.
Das bedeutet keineswegs, dass es nicht auch heute noch klassische Rassenvorurteile gibt, die dringend kritisiert und hinterfragt gehören. Doch wenn etwa Behörden und Sicherheitskräfte ‹racial profiling› betreiben, was faktisch heißt, dass ‹fremdländisch› aussehende Menschen öfter als andere sozialer Kontrolle und staatlicher Gewalt ausgesetzt sind, oder wenn der Rechtspopulismus das ‹wahre Volk› zur neuen Primärnorm erklärt, dann zeugt das weniger von ‹rassischen Vorurteilsstrukturen› als von dem viel generelleren Wunsch, die eigene Gesellschaft zu homogenisieren. Dieser Selbstbezug des rassistischen Denkens ist auch heute vorherrschend: Ihm geht es weniger um die Diffamierung bestimmter Gruppen, sondern vor allem um den Schutz und die Stärkung des Eigenen durch die Bekämpfung des Fremden.
Auch wenn es gerade deshalb umso wichtiger ist, dass die von Rassismus Betroffenen ihre je besonderen, partikularen Stimmen erheben, wie es etwa die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA vorgemacht hat, muss beim Blick auf das Phänomen Rassismus mitbedacht werden, dass es sich nur zur einen Hälfte gegen bestimmte Andere richtet. Zur anderen Hälfte lebt es von der so alten wie radikalen Annahme, das Eigene nur in der Bekämpfung des Fremden erfahren und stärken zu können. Für diese Annahme bedarf es nicht notwendig des Rassenbegriffs. Sie erscheint genauso plausibel, wenn man stattdessen von Kultur, Gesellschaft, Nation, Vaterland oder Abendland spricht. Denn in der Logik dieser Annahme werden diese eigentlich sehr verschiedenen sozialen, politischen und kulturellen Kategorien zu gleichartigen biopolitischen Einheiten erklärt; sie werden hineingesogen in die Bedeutungsstrukturen und Denkmuster des evolutionstheoretischen, biopolitischen Rassismus, wie ihn das 19. Jahrhundert erfunden hat.
Darin liegt gegenwärtig vielleicht die entscheidende Herausforderung: Der Rassismus ist heute nicht mehr derselbe wie vor 50, 100 oder 150 Jahren. Denn er schert sich immer weniger um Rassen und Rassenunterschiede. Aber er reaktiviert die gleiche Handlungslogik und zeitigt die gleichen gewalttätigen Folgen. Dem muss, neben vielem anderen, die Einsicht entgegengesetzt werden, dass das Eigene und das Fremde Partikularitäten sind, deren Anerkennung und Verschränkung die Welt um ein Vielfaches mehr bereichern als jeder illusionäre Versuch, sie im Namen irgendeiner Homogenität zum Verschwinden zu bringen.
Rassismus wird heute zum einen als ein Weltbild angesehen, als eine Einstellung, die bestimmten Trägergruppen als mentale Disposition zugeschrieben und häufig als Folge von Unwissenheit und sozialen Statusängsten erklärt wird. Zum anderen wird der Rassismus als eine Art Erklärungsformel immer dort herangezogen, wo Praktiken der Ausgrenzung eine besonders radikale und gewalttätige Form annehmen. In beiden Fällen ist der Rassismusbegriff eine Leerformel, die etwas bezeichnet, das entweder bloße Funktion externer Verhältnisse ist oder aber als eine scheinevidente ‹Erklärung› auftritt. Dieser Sprachgebrauch hat dem Rassismus den Anschein einer Selbstverständlichkeit und den Charakter einer im Grunde simplen, wenn nicht gar ‹primitiven› Ideologie und ‹barbarischen› Praxis verliehen, der die tatsächliche Komplexität des Phänomens in gefährlicher Weise verschleiert.
Demgegenüber erscheint es sinnvoller, den Rassismus nüchtern und zugleich genauer als einen Versuch zu verstehen, in Zeiten verunsicherter Zugehörigkeit entweder hergebrachte oder aber neue Grenzen von Zugehörigkeit theoretisch zu begründen und praktisch herzustellen. Die theoretische Begründung erfolgt auf dem Wege der Produktion eines bestimmten Wissens, erstens über die angeblich wahre Natur derjenigen, die in die eigene Gemeinschaft einzuschließen bzw. aus ihr auszuschließen sind, und zweitens über die generelle und naturgewollte Lebensnotwendigkeit solcher Unterscheidungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Ihre praktische Herstellung manifestiert sich dann in vielfältigen und oftmals gewaltsamen Bemühungen, die erfahrbare Wirklichkeit dem theoretischen Wissen anzupassen, die Welt also nach Maßgabe der Theorie zu gestalten und der angeblichen Natur ihr Recht zu verschaffen.
Darin liegt die besondere und unauflösliche Beziehung zwischen rassistischer Ideologie und rassistischer Praxis: Sie plausibilisieren sich gegenseitig. Der Ruf ‹Ausländer raus› etwa ist sowohl die Formel eines angenommenen Naturgesetzes als auch direkte Handlungsaufforderung. Damit ist der Rassismus eine sehr besondere Ideologie. In der Regel haben Ideologien die Funktion, bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und zu festigen. Sie haben also einen affirmativen Bezug zur Wirklichkeit und erzeugen ein ‹falsches› Bewusstsein von der Natürlichkeit der bestehenden Verhältnisse. Auf diese stabilisierende Funktion beschränkt sich der Rassismus nicht. Im Gegenteil, er ist weder an die gegebene Wirklichkeit noch an Erfahrung gebunden. Der Rassismus kreiert weniger ein Bild der Welt, wie sie von Natur aus ist, sondern vor allem, wie sie von Natur aus sein sollte.
Der Rassismus lebt von der Annahme, ein angenommener Naturzustand ließe sich mithilfe und unter Anwendung des Wissens über ihn auch praktisch herstellen und realisieren. Mehr noch: Das Wissen, das der Rassismus produziert, ist von vornherein auf seine praktische Anwendung und Umsetzung angelegt; ebenso wie umgekehrt die rassistische Praxis – so irrational sie auch erscheinen mag – sich immer schon im Horizont eines sicheren Wissens über die ‹wahre› Natur der Welt aufgehoben und gerechtfertigt fühlen kann.
Das Verhältnis von Ideologie und Praxis ist damit ein wichtiger Indikator für die schwierige Frage, wann und wie Vorurteilsstrukturen, Animositäten und Feindbilder, die an sich kaum als hinreichende Wegbereiter oder gar Vorstufen des Rassismus anzusehen sind, sich in rassistische Ausgrenzung, Diffamierung und Anfeindung verwandeln. Denn mit einer engeren Verschränkung von Ideologie und Praxis geht meist auch eine engere Verknüpfung der vom Rassismus imaginierten Schicksale des Eigenen und Fremden einher. Wenn diese Verknüpfung so weit reicht, dass Rettung oder Regeneration des Eigenen nur mehr durch Verschluss oder Verschwinden des Fremden möglich scheint, dann liegt eine ausgeprägte rassistische Logik vor.
Ob es so etwas wie Rassen im biologischen Sinne überhaupt gibt oder nicht, ist eine Sache der wissenschaftlichen Nomenklatur. Seit den grundlegenden Arbeiten zur Systematisierung der Natur im 18. Jahrhundert hat sich ein international anerkanntes, doch auch immer wieder reformiertes System der Einteilung von Lebewesen in Arten, Gattungen, Rassen und Familien entwickelt. Noch durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch haben sich Naturwissenschaftler um sehr grundlegende Fragen dieser Einteilung gestritten. Inzwischen hat sich eine allgemeingültige Nomenklatur etabliert, deren Logik sich aber dem Geist der Wissenschaft und nicht etwa einer Ordnung in der Natur verdankt.
In diesem Ordnungssystem spielt der Rassenbegriff allerdings dort, wo es um die Beschreibung der natürlichen Welt geht, kaum eine Rolle, sondern er bezieht sich vor allem auf Tierarten, die durch Domestikation und Zucht vom Menschen neu erschaffen wurden. Das wiederum hat seinen Grund darin, dass der Rassenbegriff keineswegs ein ursprünglich zoologischer Begriff ist, der dann auch auf den Menschen übertragen wurde. Vielmehr verhält es sich eher umgekehrt. Der Begriff der Rasse, etymologisch aus dem arabischen ‹raz› (Kopf, Anführer, auch Ursprung) und dem lateinischen ‹radix› (Wurzel) abgeleitet, fand zur Zeit seines ersten vermehrten Auftretens im 15. Jahrhundert vor allem in zwei Kontexten Anwendung: in der Beschreibung machtvoller Adelsfamilien oder herrschaftlicher Dynastien und in der Pferdezucht. In beiden Fällen war ‹Rasse› Sammelbegriff für jene Eigenschaften, welche die Nobilität, Größe und edle Abkunft des jeweiligen Hauses oder aber des jeweiligen Gestüts ausmachten.
Im Spanien der Reconquista wurde der Rassenbegriff dann zum ersten Mal vor allem mit Bezug auf die Juden zur Unterscheidung von Menschengruppen gebraucht, die sich nicht mehr durch einen noblen Stammbaum vom niederen Volk abheben, sondern sich horizontal und durch die weiter gefassten Momente der Religion, Kultur und Herkunft voneinander unterscheiden. Eine naturwissenschaftliche Kategorie im engeren Sinne aber wurde der Rassenbegriff erst im späten 18. Jahrhundert und verband sich seitdem vor allem mit dem Versuch, eine physiologische Dimension in den Ungleichheiten der Menschen herauszustellen. In dieser Funktion war der Rassenbegriff eine der erfolgreichsten Ideen der Moderne. Vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in der Tat kaum jemanden, der an der Existenz verschiedener Menschenrassen gezweifelt hätte.
Heute dagegen streiten sich Naturwissenschaftler kaum noch darüber, ob die Unterscheidung zwischen Rassen beim Menschen sinnvoll ist. Die allermeisten vermeiden diesen Begriff und genetisch haben sich Menschenrassen auch nicht nachweisen lassen. Doch ist die Forschung zu körperlichen und geistigen Unterschieden zwischen Menschengruppen weiterhin ein etabliertes Wissenschaftsfeld und die semantische Unterscheidung zwischen ‹Populationen› und ‹Rassen› fließend. Im Kern ist und bleibt die Unterscheidung von Menschenrassen eine Sache der Nomenklatur und damit der menschlichen Setzung.
Das trifft noch viel mehr auf den nicht streng wissenschaftlichen, alltäglichen und politischen Sprachgebrauch zu. Hier haben die vielen verschiedenen Systematiken, die im Laufe der Geschichte von Rassentheoretikern entworfen wurden, ihre Spuren hinterlassen. Manche stammen von Biologen, Ärzten und Anthropologen, andere von Soziologen und Ethnologen, wieder andere von Philologen und Historikern. Selbst ernannte Rassenkundler aus allen Ländern und Berufsschichten haben seit dem 18. Jahrhundert eine inzwischen fast unüberschaubare Vielzahl rassentheoretischer Texte produziert. Von diesen verschwanden viele kaum gelesen in der Versenkung, manche aber erreichten zumindest zeitweise ein Millionenpublikum. Insgesamt betrachtet, erweisen sich diese massenhaften Definitionen als so willkürlich wie heterogen. So gut wie jede denkbare Gemeinschaft ist bereits als Rasse beschrieben worden: Familien, lokale, regionale und kontinentale Bevölkerungen, die Menschheit als Ganzes, Nationen, Völker und Staaten, Kulturen, Religionsgemeinschaften und ethnische Gruppen, aber auch Klassen, Schichten und Eliten sowie Männer, Frauen oder Homosexuelle – die Liste ließe sich verlängern. Es sind nicht zuletzt diese Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Rassenbegriffs, die dem Rassismus seine hohe Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit garantiert haben.
Hinzu kommt, dass der Rassenbegriff nie nur diffamierende Fremdbezeichnung, sondern immer auch ein Begriff der Selbstbeschreibung war. Darin spiegelt sich die Tatsache, dass er trotz aller Ungleichheitsdogmatik ein Stück Universalismus transportiert. Denn gerade seine biologische Semantik leistet eine vorgängige und in der Tat globale Integration: Jeder Mensch, ohne Ausnahme, gehört irgendeiner Rasse an. Aus dem Rassenuniversum, das die vielen Theorien und Systematiken entwerfen, wird prinzipiell niemand ausgeschlossen – kann aber auch niemand entkommen. Gerade durch diese universale Dimension des Rassenbegriffs öffnet sich jener breite Spielraum der konkret möglichen Rassenunterscheidungen nach prinzipiell beliebigen Kriterien, wie er von den verschiedenen Formen des Rassismus im Laufe der Geschichte auch in voller Breite genutzt wurde. Diese Aspekte sind erst von einer jüngeren interdisziplinären Rassismusforschung betont worden. Dabei wurde auch jene eingangs erläuterte Tatsache deutlich, dass sich der Rassismus gerade heute nicht so sehr auf die gegebenen Unterschiede zwischen Menschen beruft, sondern mehr auf die praktische Notwendigkeit, diese herauszustellen, zu verstärken und zu verteidigen.
Die Ausführungen der folgenden Kapitel knüpfen an diese und weitere Befunde der jüngeren Forschung an und versuchen, eine übergreifende, gemeinverständliche Synthese zu formulieren. Der individuelle Schwerpunkt, der hier dennoch gesetzt wird, liegt in dem Bemühen, den Rassismus so weit wie möglich zu historisieren. Denn nur ein historischer Blick kann den Rassismus an die kontextuellen Horizonte zurückbinden, die ihn in den verschiedenen Zeiten und Räumen ermöglichten. Eine entsprechend wichtige Rolle spielen diese Möglichkeitsbedingungen in der nachstehenden Darstellung seiner Geschichte. Sie setzt ein mit der Frage nach seinem historischen Beginn.