Richard J. Evans
Für die englische Ausgabe
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Third Reich in History and Memory copyright © 2015, Richard Evans
All rights reserved
Für die deutschsprachige Ausgabe
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
Der Philipp von Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG.
© der deutschen Ausgabe 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft),
Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Übersetzung: Thomas Bertram
Lektorat: Melanie Heusel, Freiburg
Einbandabbildung: Dorling Kindersley/UIG/Bridgeman Images
Einbandgestaltung: Vogelsang Design, Aachen
Satz: Satz Weise GmbH, Trier
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8053-5035-8
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8053-5060-0
eBook (epub): 978-3-8053-5061-7
Vorwort
Teil I:
Republik und Reich
1. Entwurf für den Völkermord?
2. Imperiale Träume
3. Die Niederlage von 1918
4. Walther Rathenau
5. Berlin in den 1920ern
6. Gesellschaftliche Außenseiter
Teil II:
Das nationalsozialistische Deutschland von innen
7. Zwang und Zustimmung
8. Die „Volksgemeinschaft“
9. War Hitler krank?
10. Adolf und Eva
Teil III:
Die NS-Wirtschaft
11. Wirtschaftliche Erholung
12. Der Volkswagen
13. Die Waffen von Krupp
14. Der Mitläufer
Teil IV:
Außenpolitik
15. Hitlers Verbündeter
16. Auf Kriegskurs
17. Nationalsozialisten und Diplomaten
Teil V:
Sieg und Niederlage
18. Schicksalhafte Entscheidungen
19. Ingenieure des Sieges
20. Kampf um Nahrung
21. Ein Sieg wird zur Niederlage
22. Zerfall und Untergang
Teil VI:
Die Politik des Völkermords
23. Imperium, Rasse und Krieg
24. War die „Endlösung“ einzigartig?
25. Europas Schlachtfelder
Teil VII:
Nachspiel
26. Der andere Schrecken
27. Stadtutopien
28. Kunst in Kriegszeiten
Verzeichnis der Erstpublikationen
Anmerkungen
Register
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich unser Verständnis des nationalsozialistischen Deutschlands auf vielfache Weise gewandelt. Diese Aufsatzsammlung bietet sowohl einen Überblick über diesen Wandlungsprozess als auch einen kritischen Kommentar dazu. Es hat im Laufe der letzten 15 Jahre mehrere bedeutende Perspektivwechsel gegeben, die Forschung und Literatur angeregt haben. Den ersten Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft brachten die Globalisierungsprozesse in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert mit sich, die auch eine veränderte Wahrnehmung des Nationalstaats zur Folge hatten. So wird das „Dritte Reich“, das oftmals vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte seit Bismarck und der nationalstaatlichen Einigung im 19. Jahrhundert gesehen wird, heute zunehmend in einem weiter gefassten internationalen, ja sogar globalen Kontext als Teil des imperialistischen Zeitalters betrachtet und sein Drang nach Errichtung von Vorherrschaft in eine umfassendere Tradition des deutschen Weltmachtstrebens eingeordnet. So kann beispielsweise die vernachlässigte Rolle von Lebensmittelversorgung und Lebensmittelknappheit im Zweiten Weltkrieg nur auf globaler Ebene verstanden werden, stützte sich doch die NS-Politik in Osteuropa in hohem Maße auf Hitlers Vorstellung von der amerikanischen Besiedlung der great plains. Und Firmen wie Krupp und Volkswagen waren nie ausschließlich deutsche Unternehmen, sondern sie operierten weltweit. Auch der Nationalsozialismus insgesamt erscheint in jüngeren Forschungsarbeiten als eine Ideologie, die sich aus internationalen Quellen speiste, von russischen bis französischen, von italienischen bis zu türkischen, und nicht mehr als Kulminationspunkt ausschließlich deutscher intellektueller Traditionen.
Immer häufiger sehen Historiker sogar in der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten inzwischen kein einmaliges historisches Ereignis mehr, sondern einen Völkermord mit Parallelen und Ähnlichkeiten in anderen Ländern und zu anderen Zeiten. Auch hier hat dieser Perspektivwechsel zu Erkenntnisgewinnen geführt, aber er verursacht auch zunehmend Interpretationsprobleme, die einige der Aufsätze in diesem Buch zu identifizieren suchen. Dies gilt noch stärker für ein weiteres Feld der jüngeren Forschung, nämlich die Arbeiten, die sich mit der NS-Gesellschaft befassen. Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hat sich bei einer wachsenden Zahl von Historikern der Eindruck verfestigt, dass es sich beim nationalsozialistischen Deutschland um ein politisches System handelte, das nicht auf Polizeiterror und Zwang beruhte, sondern auf Billigung und Zustimmung in breiten Schichten der Bevölkerung. Mehrere der Aufsätze in diesem Buch ziehen ein kritisches Fazit aus diesen Arbeiten und halten dagegen, dass bei allen Erkenntnisfortschritten, die sie gebracht haben, die Zeit gekommen ist, sich daran zu erinnern, dass das nationalsozialistische Deutschland eine Diktatur war, in der Bürgerrechte und Freiheiten unterdrückt und Gegner des Regimes nicht geduldet wurden. Die Repression richtete sich nicht nur gegen gesellschaftliche Außenseiter, sondern auch gegen weite Teile der Arbeiterschaft und ihre politischen Vertreter. Auch prominente Juden in der Weimarer Republik, insbesondere Walther Rathenau, waren keine verachteten Randfiguren, sondern erfreuten sich enormer Unterstützung und Bewunderung der breiten Massen, die in der landesweiten Welle der Trauer über seinen Tod zum Ausdruck kamen. Man darf nicht vergessen, dass der Nationalsozialismus bis zum Ende der 1920er-Jahre eine Randerscheinung war. Doch sobald das Regime 1933 an die Macht gekommen war, unternahm es gewaltige Anstrengungen, um die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten zu gewinnen, und Gewalt spielte dabei eine ebenso große Rolle wie Propaganda. Auch Hitler und die Verbreitung seines Bildes beim deutschen Volk waren dabei zentral, und die neuere Forschung hat unser Wissen über den Mann hinter dem Bild und unser Verständnis vom „Dritten Reich“ erheblich vorangebracht.
Doch der vielleicht bemerkenswerteste Wandel in historischen Arbeiten über das nationalsozialistische Deutschland seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist die zunehmende Verflechtung von Geschichte und Erinnerung. Es ist heute fast unmöglich, über das „Dritte Reich“ in den Jahren von 1933 bis 1945 zu schreiben, ohne zugleich darüber nachzudenken, wie die Erinnerung daran in den Nachkriegsjahren oftmals auf komplexe und erstaunliche Weise überdauert hat. Die Aufsätze in diesem Buch gehen der Frage nach, wie prominente Industrieunternehmen und einzelne Geschäftsleute, die, manchmal sehr stark, in die Verbrechen des Nationalsozialismus verwickelt waren, nach dem Krieg versuchten, jede Erinnerung an ihre Beteiligung zu unterdrücken. Die Umformung der Erinnerung nahm oft merkwürdige Formen an, wie beim Aufstieg des VW Käfers – des ursprünglichen „Kraft durch Freude“-Wagens der Nationalsozialisten – zur nationalen Ikone in Mexiko Ende des 20. Jahrhunderts. Manchmal allerdings hat das wachsende Bedürfnis, den Untaten des Nationalsozialismus ins Auge zu sehen und die Täter und Schuldigen zu enthüllen, zu plumper und pauschaler Verurteilung geführt, wo Historiker sorgfältige Unterschiede machen sollten. Die Entdeckung, dass ein wohlhabender Geschäftsmann seine Aktivitäten im „Dritten Reich“ verheimlicht hatte, führte zu massiven Übertreibungen hinsichtlich seiner angeblichen Verwicklung in die schlimmsten Verbrechen des Regimes. Nachdem etwa die Rolle, die Berufsdiplomaten bei der Ausgestaltung der NS-Außenpolitik spielten, jahrzehntelang sorgfältig verschleiert worden war, führte ihre Aufdeckung zu haltlosen Anschuldigungen, sie hätten die Vernichtung der Juden angestoßen und nicht bloß erleichtert (was an sich schon schlimm genug ist, aber nicht dasselbe, und obendrein eine Behauptung, welche die wirklichen schuldigen Gruppen aus der Verantwortung entlässt).
Das nationalsozialistische Deutschland fand seinen Höhepunkt und seine Erfüllung und erlebte letztendlich auch seinen Untergang im Zweiten Weltkrieg, und hier hat es seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ebenfalls einen Perspektivwechsel gegeben. Das globale Ausmaß und die globalen Verbindungen des Krieges sind inzwischen bekannt. So gab es keine zwei getrennten Kriege in Ost und West, sondern vielmehr einen einzigen Krieg mit mannigfachen Verbindungen zwischen den verschiedenen Schauplätzen. Militärgeschichte an sich kann, wie dieser Band zeigt, erhellend sein, muss aber auch in einem größeren ökonomischen und kulturellen Kontext gesehen werden. Worauf auch immer wir unser Augenmerk richten, ob auf die Entscheidungsprozesse an der Spitze oder auf den Einfallsreichtum und den Unternehmungsgeist zweitrangiger Figuren, stets ist ihr weiteres Umfeld zu beachten.
In den letzten Jahren hat sich die Forschung schließlich zunehmend auf Nachkriegsdeutschland konzentriert, wo die unterschwelligen Kontinuitäten der NS-Zeit immer offensichtlicher wurden. Die „ethnische Säuberung“ von Millionen unerwünschter Bürger endete nicht mit den Nationalsozialisten, sondern setzte sich bis weit in die Jahre nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ fort, wenngleich diesmal Deutsche die Opfer und nicht die Täter waren. Stadtplaner entwickelten Utopien, die bereits in der Idee der Nationalsozialisten von der enturbanisierten Stadt Ausdruck gefunden hatten, deren Grundannahmen aber auch vielfach in Stadt-Utopien aus anderen Teilen der Welt zu finden sind. Und die immer energischer betriebene Kampagne zur Rückgabe von Kunstwerken, die von den Nationalsozialisten geraubt oder ihren ursprünglichen, oftmals jüdischen Besitzern gestohlen worden waren, thematisiert eine Problematik, die nicht mit dem „Dritten Reich“ begann und nicht mit seinem Untergang endete. Einmal mehr hilft uns hier die Langzeitperspektive, das vorhandene Problem zu verstehen, das zugleich ein Problem von globalen Ausmaßen ist. Die Ausweitung der historischen Forschung auf die Nachkriegszeit hat die engen wechselseitigen Beziehungen zwischen Geschichte und Erinnerung weiter gestärkt. Die hier versammelten Aufsätze zeigen unter anderem, dass jede Erinnerung, soll sie standhalten, der genauen Prüfung durch die Historiografie unterzogen werden muss, während die Bedeutung der Geschichte für das kollektive kulturelle Gedächtnis des Nationalsozialismus in der Gegenwart ebenso präzise wie leidenschaftlich verdeutlicht werden muss.
Alle folgenden Kapitel sind in den letzten 15 Jahren geschrieben worden und spiegeln diese bedeutenden Veränderungen in der Wahrnehmung des nationalsozialistischen Deutschlands wider, weshalb ich sie in einem einzigen Buch zusammenführe, das sich hoffentlich auf mehr beläuft als auf die Summe seiner Teile. Die meisten Kapitel nehmen Rezension zu neueren Studien über den einen oder anderen Aspekt des „Dritten Reiches“ als Ausgangspunkt für weitergehende Betrachtungen, und aus diesem Grund ist ein gewisses Maß an Überschneidung und Wiederholung unvermeidlich. Ich habe versucht, beides auf ein Minimum zu reduzieren. Mit Quellenverweisen in Anmerkungen habe ich nur Stellen versehen, wo originäre Forschung ins Spiel kommt, wie in den Kapiteln 6 und 7, oder wo der Artikel ursprünglich in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen ist, wie in Kapitel 17; drei der Kapitel – 14, 17 und 24 – habe ich um ein kurzes Nachwort ergänzt, wo ich auf Argumente eingehe, die von Kritikern bei der Erstveröffentlichung vorgebracht wurden, oder den Leser auf weiterführende Literatur hinweise. Für die Erlaubnis zum Wiederabdruck danke ich den Herausgebern der Hefte und Zeitschriften, in denen diese Aufsätze zuerst erschienen sind. Besonderen Dank schulde ich Victoria Harris für ihre Zusammenstellung der Kapitel aus sehr zerstreuten Quellen.
Richard J. Evans, Cambridge im März 2014
Auf der ganzen Welt verstreute Dinge gemahnen noch heute an die Tatsache, dass auch Deutschland neben anderen europäischen Mächten zwischen den 1880er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg ein überseeisches Kolonialreich besaß. Wer nach Windhoek in Namibia reist, kann noch immer eine Ausgabe der dortigen Allgemeinen Zeitung erstehen, einer Tageszeitung, die sich an die verbliebenen deutschsprachigen Bewohner der Stadt richtet. Wer Lust auf einen Abstecher an die namibische Küste hat, der kann in die Hafenstadt Lüderitz reisen, vorbei an zerstörten Bahnhöfen, deren Namen noch in Fraktur geschrieben sind, und Zeit am Agate Beach verbringen, die Brandung genießen und nach Pinguinen Ausschau halten. In Tansania liegt am Ostufer des Malawisees eine Stadt namens Wiedhafen, und wer Geschäftsmann ist und Palmöl en gros in Kamerun kaufen möchte, für den sind die Woermann-Plantagen nach wie vor die erste Adresse. In Ost-Ghana werden wiederum Häuser in deutschem Stil, die früher zur Kolonie Togo gehörten, als Touristenattraktion angepriesen.
Ebenso ist es möglich, im Pazifik durch den Bismarck-Archipel zu kreuzen und die Ritter-Insel zu besuchen (von der allerdings nicht mehr viel übrig ist, seit sie ein Vulkanausbruch im Jahr 1888 größtenteils in Schutt und Asche legte). Weiter östlich sind in Samoa beim Besuch einer Buchhandlung die Werke des führenden lokalen Dichters namens Momoe von Reiche zu erwerben. Und fast überall auf der Welt servieren Chinarestaurants ein nach deutscher Art gebrautes Bier, Tsingtao, das erstmals 1903 von der Germania-Brauerei in Tsingtau (heute als Qingdao transkribiert), der Hauptstadt des deutschen Pachtgebiets Kiautschau, hergestellt wurde. In der chinesischen Stadt selbst ist die imposante Kathedrale St. Michael im Stil der rheinischen Romanik zu bewundern, die aussieht, als sei sie an einem Ort irgendwo in Norddeutschland vor etwa einem Jahrhundert erbaut worden. Und in gewissem Sinne wurde sie das ja auch.
Alles in allem ist das nicht viel, verglichen mit den umfangreichen materiellen, kulturellen und politischen Hinterlassenschaften der größeren und langlebigeren europäischen Übersee-Imperien, die zusammen zeitweise den größten Teil der Landfläche unseres Planeten bedeckten. Das deutsche Imperium hatte bloß drei Jahrzehnte Bestand; nach seiner Auflösung am Ende des Ersten Weltkriegs wurden seine Bestandteile unter Großbritannien, Frankreich, Belgien, Australien und Südafrika neu verteilt. Obwohl nur von kurzer Lebensdauer und von kleiner Fläche, verglichen mit dem britischen Empire, erregten die ehemaligen überseeischen Herrschaftsgebiete dennoch in den Zwischenkriegsjahren erneut Aufmerksamkeit, als Kolonialpropagandisten für ihre Rückgewinnung warben. Doch nicht einmal die Nationalsozialisten interessierten sich ernsthaft dafür und bevorzugten es stattdessen, vorerst in Europa zu expandieren.
Über viele Jahre konzentrierte sich die einschlägige historische Literatur zum Thema – das Werk des anglodeutschen Wirtschaftshistorikers William Otto Henderson war ein herausragendes Beispiel – meist darauf, die Behauptungen über Gewalttätigkeit und Brutalität zu widerlegen, die zur Zerschlagung und Neuverteilung des deutschen Kolonialbesitzes auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 geführt hatten. Doch die Situation änderte sich durch das Werk von Helmut Bley, der in Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894–1914 (Hamburg 1968) die entsetzliche Geschichte des deutschen Krieges gegen die Stämme der Herero und Nama in den Jahren von 1904 bis 1907 rekonstruierte.
Die von Bley erzählte Geschichte ist nicht kompliziert: Das wachsende Tempo der Landnahme durch die Kolonialregierung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts führte zu Angriffen auf deutsche Bauern, die den Tod von etwa 150 Siedlern und die Entsendung von 14.000 Soldaten aus Berlin unter Befehl von General Lothar von Trotha, einem kompromisslosen preußischen Armeeoffizier mit Kolonialerfahrung, zur Folge hatten. Er wisse, so Trotha in einem Schreiben an den Generalstab vom 4. Oktober 1904, „dass sich der Neger keinem Vertrag, sondern nur der rohen Gewalt“ beuge. In einem Brief schrieb er: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik.“ Nachdem er eine Herero-Streitmacht am Waterberg besiegt hatte, verkündete er in einem „Aufruf an das Volk der Herero“: „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen.“ Während des Feldzugs gefangene Viehhirten der Herero wurden auf der Stelle getötet. Frauen und Kinder wurden in die Wüste getrieben und dem Hungertod preisgegeben. Der Chef des Generalstabs in Berlin, Alfred von Schlieffen, wie alle preußischen Offiziere ganz im Banne der Clausewitz zugeschriebenen Doktrin, dass das Ziel eines jeden Krieges die vollständige Vernichtung der feindlichen Kräfte sein müsse, lobte Trothas Feldzug als „brillant“, vor allem seinen Einsatz der Wüste, um zu erreichen, was der Generalstab in einer offiziellen Publikation mit dem Titel Der Kampf als die „Vernichtung der Herero-Nation“ billigte.
Aber es wurden auch kritische Stimmen laut; Reichskanzler Bernhard von Bülow bezeichnete das Vorgehen missbilligend als unchristlich und warnte, es schädige den Ruf Deutschlands im Ausland. Politiker der Sozialdemokratischen Partei und der katholischen Zentrumspartei fanden deutlich verurteilende Worte. Der zivile Gouverneur Theodor Leutwein, vom Militär aufgrund seiner kompromissbereiten Politik gegenüber den Herero an den Rand gedrängt, protestierte bei Bülow und erklärte die Vernichtung zu einem „schweren Fehler“. Zum Dank wurde er zwar abgesetzt, aber seine Ansicht, es sei besser, die Herero als Arbeiter zu verpflichten, fand genügend Anhänger, um die Überlebenden des Stammes, größtenteils Frauen und Kinder, zusammen mit Angehörigen der Nama festzunehmen und in „Konzentrationslagern“ – der Begriff wurde hier zum ersten Mal offiziell verwendet – zu internieren.
Dort allerdings erwartete sie kein besseres Los. Im schlimmsten der Lager, auf dem felsigen Gelände von Shark Island vor der namibischen Küste, wurden die Gefangenen als Zwangsarbeiter eingesetzt, mit kleinsten Rationen abgespeist, ohne entsprechende Kleidung schneidenden Winden ausgesetzt und mit Lederpeitschen geschlagen, wenn sie nicht hart genug zu arbeiten vermochten. Jeden Tag wurden Leichen an den Strand gebracht, wo es den Gezeiten überlassen blieb, sie hinaus in die haiverseuchten Gewässer zu befördern. Selbst die südafrikanische Presse beanstandete die vorherrschende „schreckliche Grausamkeit“.
Die Lager wurden auch zu Stätten „wissenschaftlicher“ Forschung, als der Anthropologe Eugen Fischer, später im „Dritten Reich“ ein führender „Rassehygieniker“, in der Stadt Rehoboth einfiel, um deren „gemischtrassige“ Einwohner zu studieren, die sich selbst als „Baster“ (Afrikaans für Bastard) bezeichneten (Fischer nannte sie die „Rehobother Bastards“). Er und seine Kollegen verschafften sich Schädel für kraniometrische Untersuchungen verschiedener „Rassen“; bis zu 300 dieser Schädel fanden letztendlich ihren Weg nach Deutschland.
Fischer kam zu dem Schluss, dass gemischtrassige Nachkommen von Buren oder Deutschen und Schwarzafrikanern Ersteren unterlegen, aber Letzteren überlegen seien, und bestimmte, sie seien als Hilfskräfte zum Einsatz bei der Polizei, im Postwesen und in anderen Bereichen des Staatswesens geeignet. Als nützliche, wenngleich minderwertige Rasse sollten sie im Gegensatz zu den Herero und den Nama einen gewissen Schutz genießen. Die Gesetzgebung entsprach jedoch eher Trothas Auffassung, dass alle Afrikaner Untermenschen seien, und spiegelte dieselbe beinahe pathologische Furcht, durch Rassenmischung könnten sich Krankheiten verbreiten. Im Jahr 1905 wurde die Mischehe gesetzlich verboten, und zwei Jahre später wurden alle bestehenden Ehen zwischen Deutschen und Afrikanern annulliert. Mit diesen Maßnahmen wurde der Begriff der „Rassenschande“ in die deutsche juristische Terminologie eingeführt, der dreißig Jahre später in den Nürnberger Gesetzen wieder auftauchen sollte. Der offizielle Status der deutschen Siedler war dem der übrigen Bevölkerung derart überlegen, dass es legitim erschien, Herero-Männer zur Zwangsarbeit heranzuziehen und sie zu nötigen, Erkennungsmarken zu tragen – eine weitere später von den Nationalsozialisten angewandte Maßnahme.
Die Herero-Bevölkerung, die vor dem Krieg schätzungsweise 80.000 Menschen umfasste, wurde bis zum Ende auf 15.000 dezimiert, während von den Nama bis zu 10.000 von insgesamt 20.000 vernichtet wurden. Von etwa 17.000 in den Konzentrationslagern inhaftierten Afrikanern überlebte nur die Hälfte. Angesichts der rassischen Überzeugungen Trothas kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich hier um das handelte, was später als Völkermord bezeichnet werden würde. Bley warf mit der Offenlegung des Völkermords die drängende Frage nach einer Kontinuität zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Nationalsozialismus auf. Andere Kolonialregimes waren zwar auch brutal, vor allem die belgische Herrschaft im Kongo, und zögerten nicht, sich des Massenmords zu bedienen, um Aufstände zu unterdrücken oder ihre Herrschaft zu errichten, von den Franzosen in Algerien in den 1870er-Jahren bis zu den Italienern in Äthiopien in den 1930er-Jahren. Rassendiskriminierung, Enteignung und Zwangsarbeit waren alles andere als ausschließlich deutsche Phänomene.
Aber nur die Deutschen führten die bereits so bezeichneten Konzentrationslager ein, in denen alles eindeutig und brutal auf Zwangsarbeit und Vernichtung ausgerichtet war. Es sollte zwar den Nationalsozialisten überlassen bleiben, den schrecklichen Ausdruck „Vernichtung durch Arbeit“ zu prägen, aber der Effekt war schon damals derselbe.
Und nur die Deutschen unternahmen ausdrücklich den Versuch, ein ganzes kolonisiertes Volk aus rassischen Gründen zu vernichten. Nur die Deutschen erließen ein gesetzliches Verbot der rassischen Mischehe in ihren Kolonien, und zwar nicht nur in Deutsch-Südwestafrika, sondern auch in Deutsch-Ostafrika (1906) und Samoa (1912). Nur die Deutschen starteten später einen rassischen Vernichtungsfeldzug, der nicht nur die Juden Europas, sondern potenziell die jüdische Weltbevölkerung umfasste. Besteht also ein Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen?
Diese Frage wurde, vielleicht überraschend, nach dem Erscheinen von Bleys Buch über Jahrzehnte nicht thematisiert. Kritische Historiker der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich den Kontinuitäten zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem „Dritten Reich“ zuwandten, konzentrierten sich auf die innerdeutschen Wurzeln des Nationalsozialismus, auf Hitlers Herrschaft in Deutschland und auf den Holocaust. Der Antiimperialismus der Linken, der vielleicht auch Bley zu seinem Werk motiviert hatte, war durch den Vietnamkrieg befeuert worden und flaute ab, als die amerikanischen Truppen von dort abzogen und auch Europas verbliebene Kolonien ihre Unabhängigkeit erhielten. In Westdeutschland begann das Erbe des Kolonialismus im Alltagsleben mit der zunehmenden wirtschaftlichen Moderne zu verschwinden. Auch die „Kolonialwaren-Geschäfte“, die Kaffee, Tee, Gewürze, Reis und ähnliche Kurzwaren aus Übersee verkauften und die in deutschen Städten noch in den 1970er-Jahren zu sehen waren, wurden jetzt größtenteils umbenannt. Nur wenige, die heute ihren Kaffee beispielsweise in einem Edeka-Laden kaufen, wissen, dass der Name für „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“ (ursprünglich E.d.K.) steht. Nach den 1970er-Jahren schienen Deutschlands ehemalige Kolonien bedeutungslos geworden zu sein und gerieten größtenteils in Vergessenheit.
Erst mit dem Aufkommen postkolonialer Studien in den 1990er- Jahren erwachte das Interesse allmählich wieder. Da Historiker nun vor allem Rassismus und Rassenideologie statt Totalitarismus und Klassenausbeutung als Erklärungen für den Nationalsozialismus heranzogen, gewann die Geschichte der deutschen Kolonisierungserfahrung erneut an Bedeutung. Ein Zeichen für das neuerliche Interesse war die Veröffentlichung einer überarbeiteten englischsprachigen Ausgabe von Bleys inzwischen klassischem Werk unter dem Titel Namibia under German Rule im Jahr 1996. Nach und nach erschienen Monografien und Aufsätze zum kolonialistischen Diskurs in Deutschland, zu den kolonialen Ursprüngen der Rassenkunde und zur Darstellung kolonialer Themen in der Literatur. Das wachsende Interesse an kultureller Erinnerung führte zu Studien über postkoloniale Erinnerungen und Gedenken in Deutschland. Sebastian Conrads Deutsche Kolonialgeschichte (2011) fasst diese neue Literatur zusammen und ordnet sie in den Kontext der Globalisierung ein, die zu einer Wiederbelebung des Interesses am deutschen Kolonialreich geführt habe. Mit ihren vielen ausgezeichneten Abbildungen und Karten, ihrer kommentierten kritischen Bibliografie und ihrem ausgeprägten Bewusstsein für historiografische Trends bietet sie eine einzigartige und unerlässliche Einführung in das Thema und kluge Hinweise für die weitere Forschungsarbeit.
Der deutsche Kolonialismus sei, wie Conrad feststellt, teils in der deutschen Kleinstaaterei begründet, da Kolonien schon zu einer Zeit als Projektionsfläche für den Traum von einem deutschen Nationalstaat dienten, da dieser noch lange nicht erreicht war. Wie der Komponist Richard Wagner 1848 erklärte: „Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren, da und dort ein junges Deutschland gründen. Wir wollen es besser machen als die Spanier, denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus, anders als die Engländer, denen sie ein Krämerkasten wurde. Wir wollen es deutsch und herrlich machen.“
Weit wichtiger jedoch war die globale Ausrichtung des deutschen Kapitalismus, der sich auf autonome Stadtstaaten wie Hamburg konzentrierte. Von führenden Hamburger Kaufleuten hieß es in den 1870er- Jahren, dass sie zwar „jede Stadt am Mississippi aus direkter Anschauung kannten, zwanzig Male in London, aber niemals in Berlin gewesen waren“. Auf das schnelle Wachstum der deutschen Industrie und Wirtschaftsmacht setzend, trieben Hamburgs Kaufleute in vielen Küstengebieten Afrikas und in anderen nicht kolonisierten Teilen der Erde Handel und unterhielten 279 Konsulate in Städten überall auf der Welt.
Deutsche Wissenschaftler, Forschungsreisende und Missionare, wie etwa Gerhard Rohlfs, der Afrika als erster Europäer von Nord nach Süd durchquerte, gewannen in der fernen Heimat eine breite Anhängerschaft für ihre Heldentaten. Bismarck hingegen war wenig begeistert („Solange ich Reichskanzler bin“, sagte er 1881, „treiben wir keine Kolonialpolitik“), löste aber 1884 trotzdem den „Wettlauf um Afrika“ aus, indem er eine Reihe von Gebieten, in denen deutsche Wirtschaftsinteressen betroffen waren, „unter deutschen Schutz“ stellte. Sein Ziel war es dabei, die Franzosen zu ähnlichen Schritten zu provozieren, damit sie von einer Revanche für den Verlust Elsass-Lothringens im Deutsch-Französischen Krieg abließen. Vielleicht wollte er auch einflussreichen Nationalliberalen und deren Handelsinteressen entgegenkommen, weil er ihre Unterstützung bei den bevorstehenden Reichstagswahlen brauchte. Der Wettlauf um Territorium war in jedem Fall unvermeidlich geworden, nachdem die anglo-französische Rivalität in Nordafrika in den Jahren 1881/82 einen kritischen Punkt erreicht hatte. Und als dieser Wettlauf sich von Afrika über die ganze Erde ausdehnte, raffte Deutschland schließlich hinter Großbritannien, Frankreich und Holland das viertgrößte Imperium zusammen.
Zu den verstreuten Territorien, die von den Deutschen beansprucht wurden, gehörten zum einen das dünn besiedelte Trockengebiet des heutigen Namibia, wo sich schnell deutsche Viehzüchter niederließen und wo der Abbau von Kupfer und Diamanten Privatunternehmen von 1907 an einigen Profit bescherte; zum anderen die malariaverseuchten Küstenregionen Kameruns, wo die Handelsinteressen der Familie Woermann aus Hamburg vorherrschten (von Deutschen geführte Plantagen im Landesinnern produzierten Kautschuk und Palmöl); des weiteren Togo, wo der Handel, wiederum mit Palmöl, größtenteils von ortsansässigen afro-brasilianischen Eliten an der Küste kontrolliert wurde; darüber hinaus die bevölkerungsreiche Kolonie Deutsch-Ostafrika (das heutige Tansania minus Sansibar, aber einschließlich Ruanda und Burundi), wo deutsche Siedler Baumwoll- und Sisal-Plantagen errichteten; und schließlich Neuguinea und Samoa samt dazugehöriger Pazifikinseln, wo nur wenige deutsche Siedler lebten und Handelsinteressen vorherrschten, sowie der chinesische Vertragshafen Jiaozhou. Dieser war 1897 für 99 Jahre gepachtet und vom Reichsmarineamt geleitet worden, das eine energische Modernisierungs- und Verbesserungspolitik betrieb, welche die Stadt Qingdao mit elektrischer Straßenbeleuchtung und einer Universität ausstattete, an der chinesischen Studenten deutsche Wissenschaft und Gelehrsamkeit geboten wurden.
Bismarcks Vision von Schutzgebieten, die privatwirtschaftlich, ohne staatliche Unterstützung verwaltet wurden und sich in Grundzügen an der Britischen Ostindien-Kompanie auf dem Subkontinent orientierten, währte nicht lange. Gewaltsame Konflikte mit afrikanischen Gesellschaften, die sich der zunehmenden Ausbeutung durch deutsche Kaufleute und Siedler widersetzen, führten bald zur Errichtung einer formalen Herrschaft durch deutsche Bürokraten mit militärischer Rückendeckung. Dass der Staat anfing, zum Schutz von Plantagenbesitzern und Siedlern, die mit einheimischen Bauern und Händlern aneinandergeraten waren, Gewalt einzusetzen, rief nur breiteren Widerstand hervor und machte alles nur noch schlimmer.
Der daraus folgende Krieg und der Völkermord in Südwestafrika mögen Exzesse gewesen sein, aber die Gewalt war auch darüber hinaus eine Konstante der deutschen Kolonialherrschaft. In Ostafrika beispielsweise veranlassten andauernde militärische Zusammenstöße, vielfach ausgelöst durch den skrupellosen kolonialen Abenteurer Carl Peters, die kaiserliche Regierung in Berlin 1891 dazu, die Verwaltung der Kolonie zu übernehmen. Aber der bewaffnete Konflikt ging weiter, und in den folgenden sechs Jahren fanden 61 große „Strafexpeditionen“ in Ostafrika statt. 1905 eskalierte der Konflikt wegen Landnahmen, Steuererhöhungen und Zwangsarbeit im Maji-Maji-Aufstand, bei dem etwa 80.000 Afrikaner durch die Hand des Militärs starben. Im Gegensatz zur Situation in Südwestafrika sahen die Deutschen darin keinen Rassenkrieg, und in der Tat gingen viele der Opfer auf das Konto afrikanischer Soldaten in deutschen Uniformen, aber die Zahl der Toten war gewaltig: Mehr als 200.000 Afrikaner gingen allein an der Hungersnot zugrunde, welche die systematische Zerstörung der Felder und Dörfer von Aufständischen zur Folge hatte.
Gewalt, wie die öffentliche körperliche Züchtigungen von Afrikanern, war in den deutschen Kolonien an der Tagesordnung: Die offiziell dokumentierte – und gewiss zu niedrig geschätzte – Zahl der Züchtigungen in Kamerun stieg von 1900 bis 1913 von 315 auf 8400 jährlich. Afrikanische Stammesführer brachten ihren Fall vor den Reichstag, aber die anschließende Abberufung des Gouverneurs hatte mehr mit den Einwänden von Händlern und Missionaren gegen seine Politik der großzügigen Vergabe von Landkonzessionen an Plantagenbesitzer zu tun als mit seiner unzweifelhaften Brutalität. Die Situation spitzte sich gegen Ende der deutschen Herrschaft zu, als ein ehemaliger oberster Stammesführer öffentlich hingerichtet wurde, weil er Maßnahmen zur Rassentrennung in der Hauptstadt Douala missbilligt hatte. Wie labil die deutsche Herrschaft stets gewesen war, wurde dabei offenkundig. Angesichts ihrer geringen Zahl – weniger als 2000 Siedler und Amtsträger in Kamerun – konnten die Deutschen lediglich hoffen, in ihren Kolonien „Inseln der Herrschaft“ zu errichten. Denn nirgendwo akzeptierten Afrikaner die deutsche Souveränität je ganz und gar. Mit deren Ausschluss aus den politischen und öffentlichen Lebensbereichen der Kolonien verurteilte sich die deutsche Herrschaft selbst dazu, immer ein Fremdkörper zu bleiben.
Häufig veranlasste sie sogar selbst die Afrikaner dazu, sich im Widerstand zusammenzutun; nach dem Maji-Maji-Aufstand räumte der Gouverneur von Ostafrika ein, dass sich, was als lokal begrenzter Aufruhr einiger weniger „halbwilder Stämme“ begonnen habe, schließlich in eine Art „nationalen Kampf“ gegen „Fremdherrschaft“ verwandelt habe. Manchmal schuf die deutsche Politik neue Identitäten wie in Ruanda, wo mit ethnografischen Handbüchern ausgestattete Kolonialbeamte die lockeren sozialen Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi zu klar abgegrenzten rassischen Identitäten stilisierten, mit denen sie eine unterschiedliche rechtliche Behandlung rechtfertigten. Diese Ethnogenese, wie sie einige Historiker bezeichnet haben, war das Fundament für die völkermörderischen Massaker im Jahr 1994.
Auch war es möglich, in den Kolonien wissenschaftliche Experimente durchzuführen, die sich in Deutschland verboten hätten. Der Bakteriologe und Nobelpreisträger Robert Koch hatte keine Skrupel, 1000 Afrikanern, die an der Schlafkrankheit litten, auf der Suche nach einem Heilmittel jeden Tag gefährlich hohe Dosen Arsen zu injizieren und dabei hohe Sterblichkeitsziffern unter den Versuchspersonen einzukalkulieren. Vorstellungen von Rassenunterschieden und erblicher „Minderwertigkeit“ erhielten durch eugenische Untersuchungen, die von Wissenschaftlern wie Eugen Fischer durchgeführt wurden, sogar gewaltigen Auftrieb und halfen, jene rassischen Vorstellungen zu erzeugen und populär zu machen, die später von den Nationalsozialisten in die Tat umgesetzt wurden. Darbietungen wie die Berliner Kolonialausstellung von 1896 oder die Präsentation eines afrikanischen Dorfes im Hamburger Tierpark Hagenbeck trugen ihren Teil zum Aufbau eines weitverbreiteten Gefühls rassischer Überlegenheit unter den Deutschen bei.
Manche sahen in den Kolonien Versuchslabore der Moderne, wo ohne Rücksicht auf die Rechte indigener Landbesitzer neue Städte und Großstädte erbaut werden konnten, wo eine Rassenkunde angewendet werden konnte, um eine neue soziale Ordnung anstelle überholter europäischer Standeshierarchien zu schaffen, und wo neue Mustergemeinschaften gegründet werden konnten, die auf den traditionellen patriarchalen Prinzipien fußten, die damals durch eine zunehmend lautstarke feministische Bewegung in der Heimat untergraben wurden. Das Vokabular und die Ziele kolonialer Missionstätigkeit wurden nach Deutschland zurückimportiert. So beabsichtigte etwa eine protestantische „Innere Mission“, die Mittellosen und „Arbeitsscheuen“ in den Slums der großen deutschen Städte aus einem „dunklen Kontinent“ der Armut und Unwissenheit zu erretten. Im Jahr 1913 griff ein neues Gesetz, das die deutsche Staatsangehörigkeit auf der Grundlage ethnischer Abstammung und nicht des Geburtsortes verlieh (wie im übrigen Europa üblich) und das direkt auf Rassenlehren zurückging, die in den Kolonien ausgearbeitet worden waren. Nationalgesinnte Deutsche fingen an, sich Polen und „Slawen“ als rassisch minderwertig vorzustellen, und gaben es auf, von Deutschlands „zivilisierender Mission“ in Osteuropa zu reden. Die Auffassung, dass Polen in nützliche Deutsche verwandelt werden könnten, wich allmählich der Überzeugung, sie wären, wie die Afrikaner, aufgrund ihrer rassischen Beschaffenheit nicht mehr zu retten.
Bedeutet all dies, dass ein direkter Weg vom deutschen Kolonialreich zum Holocaust führte? Bei allen offenkundigen Ähnlichkeiten zwischen dem Völkermord an Herero und Nama und der Vernichtung der Juden Europas weniger als 40 Jahre später gab es doch bedeutsame Unterschiede. Obwohl es in Südwestafrika zweifellos Konzentrationslager gab, waren sie nicht wie Treblinka einzig dafür bestimmt, Angehörige ethnischer, religiöser oder devianter Minderheiten zu töten. Juden erschienen den Nationalsozialisten als globale Bedrohung; Afrikaner waren, wie Slawen, ein lokales Hindernis, das es zu unterwerfen oder zu beseitigen galt, um Platz zu machen für deutsche Siedler. Die koloniale Erfahrung, vor allem auf dem Gebiet der Rasse, durchtränkte die Ideologie des Nationalsozialismus, aber es gab nur wenige personelle Kontinuitäten, trotz der Beispiele von Hermann Görings Vater, dem ersten Gouverneur von Südwestafrika, oder Franz Ritter von Epp, der mit Trotha im Herero-Krieg diente und später, im April 1933, nationalsozialistischer Reichsstatthalter in Bayern wurde, oder Viktor Böttcher, stellvertretender Gouverneur von Kamerun und später, von 1940 bis 1945, Regierungspräsident des Regierungsbezirks Posen im Reichsgau Wartheland.
Trothas völkermörderischer Krieg war eine Ausnahme in der deutschen Kolonialgeschichte, und er verdankte sich mehr den Militär- und Rassedoktrinen seines Urhebers als dem deutschen Kolonialismus allgemein. Die selbst ernannte Mission der Modernisierung und Zivilisierung, wie sie in der Bildungs-, Wirtschafts- und Religionspolitik verankert war, die in der Endphase der deutschen Kolonialherrschaft verfolgt wurde, hatte in Osteuropa zwischen 1939 und 1945 keine Entsprechung. Es brauchte den verrohenden Einfluss des Ersten Weltkriegs – der selbst zu den Auswirkungen des Kolonialismus auf Europa gehörte –, um politische Gewalt zu einem Grundzug des Lebens in Deutschland in den 1920er- und 1930er-Jahren zu machen und Männer wie Böttcher in Nationalsozialisten zu verwandeln. Der deutsche Kolonialismus scheint systematischer einen rassistischen Ansatz verfolgt zu haben und in der Durchführung von schonungsloserer Brutalität gewesen zu sein als der Kolonialismus anderer europäischer Nationen, aber das heißt nicht, dass er zwangsläufig zum Holocaust führte.
Nichtsdestotrotz ist der Herero-Krieg weit stärker als jeder andere Aspekt des Kolonialismus als bedeutsame Parallele und als Vorläufer des Holocaust in die öffentliche Erinnerung des heutigen Deutschlands eingegangen. Er hat zu leidenschaftlichen Debatten darüber geführt, wie seiner am besten zu gedenken sei. Nirgendwo wurden solche Diskussionen engagierter geführt als in der Hansestadt Bremen, wo im kleinen Deetjen-Park hinter dem Hauptbahnhof ein zehn Meter hoher Elefant aus Backstein steht; Pendler und Touristen gehen jeden Tag daran vorbei. Aufgestellt gegen Ende der Weimarer Republik, war das stilisierte Denkmal konzipiert als Mahnmal für und Erinnerung an die Geschichte des deutschen Kolonialismus. In den Sockel wurden Terrakottatafeln eingelassen, jede mit dem Namen einer ehemaligen Kolonie versehen. Bei der Einweihung des Denkmals am 6. Juli 1932 feierten Redner vor gewaltigen Menschenmassen die Errungenschaften des Kolonialismus und forderten die Wiederherstellung der verlorenen Kolonien.
Kaum zu glauben, dass der Elefant den Zweiten Weltkrieg unversehrt überstand, obwohl die verschiedenen Inschriften rings um den Sockel nach 1945 rasch entfernt wurden. Bis zum 50. Jahrestag seiner Errichtung im Jahr 1982 war er zu einer Peinlichkeit geworden, vor allem in Anbetracht der andauernden Herrschaft des südafrikanischen Apartheidsregimes über Namibia. Im Jahr 1988 stellte die örtliche IG-Metall-Jugend neben dem Sockel eine Gedenktafel auf: „Für Menschenrechte gegen Apartheid“. Zwei Jahre später wurde der Elefant offiziell zum „Antikolonialdenkmal“ erklärt, seinem ursprünglichen Zweck zum Trotz, so offensichtlich der auch war. Als Namibia 1990 seine Unabhängigkeit erlangte, veranstaltete die bremische Bürgerschaft eine offizielle Feier rings um den Elefanten, und im Jahr 1996 enthüllte Sam Nujoma, der namibische Staatspräsident, während eines Staatsbesuchs in Deutschland eine neue Tafel mit der Inschrift: „Zum Gedenken an die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia, 1884–1914“. Heute kümmert sich ein gemeinnütziger Verein „für Vielfalt, Toleranz und Kreativität, Der Elefant!“ um das Denkmal. Eine Bronzetafel erinnert Besucher an die Vergangenheit des Monuments, und als eine Art „Anti-Denkmal“ wurde in der Nähe ein kleines Mahnmal für die Herero und Nama errichtet.
Noch vor einigen Jahrzehnten befassten sich Historiker, die nach den tieferen Wurzeln von Theorie und Praxis des Nationalsozialismus suchten, mit den Brüchen und Diskontinuitäten in der deutschen Geschichte: der gescheiterten Revolution von 1848; der Blockierung demokratischer Politik nach der Einigung 1871; der fortgesetzten Dominanz aristokratischer Eliten über einen gesellschaftlich und politisch trägen Mittelstand; der etablierten Macht des traditionell autoritären und kriegerischen preußischen Soldatentums – kurz, mit allem, was, wie sie behaupteten, Deutschland schließlich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs von anderen europäischen Großmächten unterschied und es auf einen „Sonderweg“ in die Moderne führte, der nicht in der Schaffung eines demokratischen politischen Systems und einer offenen Gesellschaft endete, wie sie zu einer industriellen Wirtschaft gehören, sondern im Aufstieg und Triumph des „Dritten Reiches“.
Solche Behauptungen waren spätestens in den 1990er-Jahren diskreditiert, als klar wurde, dass das Bürgertum des kaiserlichen Deutschland alles andere als träge gewesen war, seine politische Kultur lebhaft und engagiert, und die aristokratischen Eliten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihre Macht größtenteils bereits verloren hatten. Es zeigte sich, dass die Revolution von 1848 die deutsche politische Kultur durchaus von Grund auf verändert und nicht bloß die alte Ordnung wiederhergestellt hatte. Vergleiche mit anderen Ländern offenbarten beispielsweise in Großbritannien ähnliche Defizite bei der sozialen Mobilität und Offenheit, in Frankreich Tendenzen zum Autoritarismus und in Österreich einen dominanten Militarismus. Wenn es aber keinen deutschen „Sonderweg“ von der Entstehung des Nationalstaats zum Aufstieg des „Dritten Reiches“ gegeben hat, worauf sollten Historiker stattdessen ihr Augenmerk richten?
Im Laufe der letzten Jahre ist zunehmend klar geworden, dass eine Antwort nur finden kann, wer den Blick ausweitet und die deutsche Geschichte nicht in einem innerdeutschen oder auch europäischen Kontext betrachtet, sondern im Kontext globaler und vor allem kolonialer Entwicklungen im Viktorianischen Zeitalter und danach. Diese Sicht auf die deutsche Geschichte ist vielleicht erst heute möglich, da wir uns der Globalisierung als eines zeitgenössischen Phänomens sehr bewusst geworden sind, und sie hat viele wichtige neue Deutungen und eine wachsende Anzahl bedeutender Forschungsarbeiten hervorgebracht, die Deutschlands Verhältnis zur Welt im 19. Jahrhundert mit dem nationalsozialistischen Versuch, sie zu beherrschen, in Verbindung bringen. Die Ergebnisse dieser Forschungen hat nun Shelley Baranowski in einer beeindruckenden und überzeugenden neuen Synthese mit dem Titel Nazi Empire (2011) zusammengeführt. Die Autorin war zuvor für stärker spezialisierte Studien bekannt, insbesondere für ein ausgezeichnetes Buch über die NS-Organisation „Kraft durch Freude“.
Baranowskis Erzählung setzt Mitte der 1880er-Jahre ein, als Bismarck widerstrebend der Errichtung kolonialer Schutzgebiete zustimmte, um die Unterstützung der Nationalliberalen und Freikonservativen im Reichstag zu gewinnen. Bismarck hatte Bedenken ob der finanziellen und politischen Verpflichtung, die eine wirkliche Kolonisierung bedeutete, aber er wurde bald von imperialistischen Enthusiasten, Kaufleuten und Abenteurern überflügelt, und als er 1890 aus dem Amt gedrängt wurde, besaß Deutschland ein ausgewachsenes Überseereich. Bei Lichte besehen hatte sich das Deutsche Kaiserreich allerdings mit dem zu begnügen, was ihm Briten und Franzosen nach dem „Wettlauf um Afrika“ übrig gelassen hatten: Namibia, Kamerun, Tanganjika, Togo; anderswo auf der Welt Neuguinea und verschiedene Pazifikinseln, wie Nauru und der Bismarck-Archipel. Eine jüngere Generation von Nationalisten, die Bismarcks Gespür für die Unsicherheit des neu geschaffenen Reiches nicht teilten, klagten, das Imperium könne allenfalls mit dem derzeitigen spanischen oder dem portugiesischen mithalten und sei damit einer europäischen Großmacht kaum würdig.
Überdies erwiesen sich jene Kolonien, die Deutschland letztlich besaß, in mehr als einem Fall als besonders schwer zu führen. Das Kolonialregime reagierte mit einer Politik extremer Härte. Gemäß der preußischen Militärdoktrin war die vollständige Vernichtung der feindlichen Streitkräfte das Hauptziel eines Krieges, aber in den Kolonien vermengte sich diese Ansicht mit Rassismus und einer Furcht vor Guerilla-Angriffen zu einer völkermörderischen Mentalität, die auf Unruhen und Aufstände mit einer Politik der totalen Auslöschung reagierte. Zu den dabei angewendeten Methoden gehörte das bewusste Aushungern durch die Zerstörung von Ernten und Dörfern, was in der deutschen Kolonie Tanganjika während des Maji-Maji-Aufstands zu mehr als 200.000 Todesfällen führte. Noch berüchtigter war, was in Namibia geschah, wo Herero und Nama ohne Vorräte in die Wüste getrieben wurden, man ihre Wasserlöcher vergiftete und ihr Vieh beschlagnahmte; sie starben an Krankheiten und Unterernährung. Auf die Unterwerfung folgte ein Apartheidsregime mit Gesetzen und Verordnungen, welche die Vermischung der Ethnien untersagten und Afrikaner zu schlecht bezahlten Tagelöhnern degradierten.
Darüber hinaus hatte die deutsche Politik bereits angefangen, sich nach neuen Kolonien umzusehen. Doch wo sollten diese zu finden sein? Unter dem „persönlichen Regiment“ Kaiser Wilhelms II. begann Deutschland im Jahr 1898 mit dem Bau einer großen Kriegsflotte. Das Hauptaugenmerk lag auf schweren Schlachtschiffen und nicht auf leichten, beweglichen Kreuzern, und Großadmiral Alfred von Tirpitz, der Schöpfer der Flotte, verfolgte dabei die hochriskante Strategie, auf eine Konfrontation à la Trafalgar in der Nordsee hinzuarbeiten oder zumindest mit einem solchen Szenario zu drohen. Ziel war es, den Briten eine Niederlage beizubringen oder sie handlungsunfähig zu machen, weil ihre Seeherrschaft als Haupthindernis für den deutschen imperialen Ruhm galt. Dadurch sollten sie bewogen werden, einer Expansion des deutschen Übersee-Imperiums zuzustimmen. Deutschland verfolgte nun insgesamt eine aggressive „Weltpolitik“, die darauf abzielte, seine Stellung zu verbessern und einen „Platz an der Sonne“ zu erlangen, der mit dem anderer europäischer Mächte vergleichbar war. Bald schon kochten im Gemisch der verschiedenen politischen Interessen unkontrollierbare imperialistische Leidenschaften hoch, die sich auf Gebiete in Übersee ebenso richteten wie auf Europa.
Ein großes Stück von Polen war bereits im 18. Jahrhundert annektiert worden und gehörte seither zu Deutschland, doch nun ermunterte die Regierung sogenannte „Volksdeutsche“, sich in Gebieten mit überwiegend polnischsprachiger Bevölkerung niederzulassen. Aber obwohl während des Kaiserreichs 130.000 dorthin zogen, waren das längst nicht genug, um die 940.000 „Volksdeutschen“ zu ersetzen, die zwischen 1886 und 1905 auf der Suche nach einem besseren Leben in den Westen des Reiches abwanderten. Unzufrieden mit dieser Situation, fingen radikale Nationalisten an, einen Krieg im Osten zu fordern, der die Slawen unterwerfen und Millionen dort lebende und „gefährdete“ Deutschsprachige vor der „Russifizierung“ oder „Magyarisierung“ retten würde, indem er sie in einem stark erweiterten Reich zusammenschlösse. Der mächtige Alldeutsche Verband ging noch weiter und drängte die Regierung, die Annexion Hollands, Flanderns, der Schweiz, Luxemburgs, Rumäniens und des Habsburgerreiches in Erwägung zu ziehen, die man allesamt für „deutsche“ Länder hielt, und im selben Zuge Deutschlands jüdischer Minderheit die Bürgerrechte zu entziehen. Sobald die deutsche Vorherrschaft über Europa verwirklicht wäre, würde die Expansion des Übersee-Imperiums zwangsläufig folgen.