Dominic Roser/Christian Seidel

Ethik des Klimawandels

2. Auflage

Eine Einführung

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

ISBN 978-3-534-26638-8

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

  1 Der Klimawandel als ethische Herausforderung

Teil I   Müssen wir überhaupt etwas tun? Handlungsbedarf moralisch begründen

  2 Dreifache Skepsis gegenüber der Pflicht zum Klimaschutz

  3 Grundsätzliche Zweifel an unserer Zukunftsverantwortung

  4 Klimaschutz, Anpassung oder Climate Engineering – führen viele Wege ans Ziel?

Teil II  Wie viel müssen wir tun? Intergenerationelle Gerechtigkeit

  5 Gleich viel für unsere Nachfahren

  6 Mehr für unsere Nachfahren

  7 Ausreichend viel für unsere Nachfahren

  8 Unsicherheit und das Vorsorgeprinzip

  9 Ungleichheit und ein Zwischenfazit

Teil III Wie sollen wir die Pflichten verteilen? Globale Gerechtigkeit

10 Die größte Umverteilung der Menschheitsgeschichte

11 Grandfathering: wer hat, dem wird gegeben

12 Das Verursacherprinzip: für die eigenen Taten geradestehen

13 Das Nutznießerprinzip: wer profitiert, muss zahlen

14 Das Prinzip der Zahlungsfähigkeit: jeder nach seinen Möglichkeiten

15 Emissionsegalitarismus: den Kuchen gleich aufteilen

16 Ein weitreichender Vorschlag

Teil IV Von der ethischen Theorie zur politischen Praxis

17 Nicht-ideale Theorie: Was tun, wenn andere ihren Beitrag nicht leisten?

18 Bevölkerung, Technologie, Wohlstand: drei Strategien zur Emissionsreduktion

19 Der Markt für Emissionen: ein moderner Ablasshandel?

20 Faire Spielregeln: Demokratie in Zeiten des Klimawandels

Literaturverzeichnis

Register

Vorwort

Die Klimapolitik ist eine komplexe ethische Herausforderung, die die Zusammenarbeit unzähliger Akteure verlangt. In etwas geringerem Maß ist auch dieses Buch über die ethische Herausforderung des Klimawandels ein Gemeinschaftswerk. Den Argumentationsstrang haben wir als Ganzes gemeinsam erarbeitet; Christian Seidel trägt die Hauptverantwortung für die Kapitel 1–4 und 10–16, Dominic Roser für die Kapitel 5–9 und 17–20.

Das Buch ist auch deshalb ein Gemeinschaftswerk, weil wir von verschiedener Seite wertvolle Rückmeldungen erhalten haben. Besonders danken möchten wir: Andreas Allemann, Christian Baatz, Gregor Betz, Barbara Bleisch, Michael Bock, Sabine Burkhardt, Nils Carqueville, Ruth Denkhaus, Jonathan Erhardt, Alexander Hauri, Clare Heyward, Markus Huppenbauer, Ulrike Kaps, Roger Koch, Ariane Lissel, Axel Michaelowa, Benito Müller, Doreen Müller, Chukwumerije Okereke, Veronika Philipps, Eugen Pissarskoi, Dominique Reber, Matthew Rendall, Daniel Roser, Elisabeth Roser, Lienhard Roser, Miriam Roser, Ulrike Saul, Thomas Schinko, Hubert Schnüriger, Fabian Schuppert, Ivo Wallimann und Joshua Wells. Ein spezieller Dank gebührt Cana Nurtsch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und Andreas Kugler, die den Text professionell in ein Buch verwandelt haben. Das ganze Projekt kam schließlich nur dank der großzügigen Unterstützung durch die Stiftung Mercator Schweiz, den Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich sowie die Oxford Martin School der Universität Oxford zustande.

Ein Gemeinschaftswerk ist das Buch zudem, weil es auf den Ideen und Argumenten basiert, welche die wissenschaftliche Gemeinschaft in den letzten Jahren entwickelt hat. Im Text selbst geben wir nur die wichtigsten Bezüge auf die Literatur an. Wer die einzelnen Fragen und Themen weiter vertiefen möchte, findet die wichtigsten Beiträge in dem nach Buchteilen sortierten Verzeichnis weiterführender Literatur unter http://klimaethik-literatur.christianseidel.eu.

Wir wurden gebeten, ausschließlich die männliche Form zu verwenden, beziehen uns damit aber auf beide Geschlechter. Für die Unvollkommenheit dieser Lösung möchten wir uns entschuldigen.

Das Hauptziel dieses Buches ist eine faire Darstellung des Pro und Contra verschiedener Positionen. Wir versuchen darüber hinaus aber auch, die Überzeugungskraft der Argumente zusammenfassend zu evaluieren und somit selbst Stellung zu beziehen. Wir hoffen, dass hinreichend klar geworden ist, wo die Darstellung aufhört und unsere eigene Position beginnt. Natürlich freuen wir uns, wenn wir die Leserschaft damit überzeugen können. In erster Linie aber hoffen wir, dass sie auf der Basis der präsentierten Argumente die eigene Meinung hinterfragen und fundieren kann. Die größte Hoffnung ist allerdings, dass wir beide als Autoren, die Leserschaft und die Menschheit es nicht beim Argumentieren belassen, sondern den Klimaschutz aktiv und gerecht vorantreiben. In diesem Sinne widmen wir das Buch stellvertretend für alle zukünftigen Generationen zwei jungen Menschen, denen diese Bemühungen zugutekommen werden: Russell Fronda und Maximilian Saul.

1   Der Klimawandel als ethische Herausforderung

Es ist schwierig, dem Thema Klimawandel auszuweichen: Wenn der Sommer sehr heiß ist, Wirbelstürme Kurs auf die USA nehmen, Europas Flüsse über die Ufer treten oder das geschmolzene Eis an den Polkappen neue Schifffahrtswege freilegt, wird regelmäßig die Frage laut, ob das bereits Anzeichen des Klimawandels seien. Die Energiewende – der Umbau der Energieversorgung hin zu mehr erneuerbaren Energien, die den Klimawandel aufhalten sollen – steht permanent auf der politischen Tagesordnung, und einmal im Jahr liest man von großen internationalen Klimaverhandlungen. Im Alltag begegnet uns das Thema Klimawandel an der Tankstelle in Form von Biosprit, im Supermarkt auf den Hinweisen zur Klimaverträglichkeit mancher Produkte und bei der Buchung eines Flugtickets, wenn Sie gefragt werden, ob Sie klimaneutral fliegen möchten. Und vielleicht haben Sie sich beim Wandern in den Alpen auch schon gefragt, wo eigentlich die Gletscher geblieben sind.

Der Klimawandel stellt uns aber auch vor eine ganze Reihe offener Fragen. Viele davon sind naturwissenschaftlicher Art: Findet der Klimawandel bereits statt? Wie stark wird er ausfallen? In welchem Maße ist er vom Menschen verursacht? Das sind empirische Fragen und sie können von der Naturwissenschaft beantwortet werden. Es gibt aber noch einen anderen Bereich von Fragen, der eher mit der Politik und unseren alltäglichen Handlungen zu tun hat: Was muss die Regierung gegen den Klimawandel tun? Wie sieht ein gerechtes internationales Klimaschutzabkommen aus? Sind wir verpflichtet, unseren Wohlstand einzuschränken, um die Nachwelt vor Klimaschäden zu bewahren? Darf ich noch mit dem Auto zum Supermarkt fahren oder für den Kurzurlaub nach Spanien fliegen? Bei diesen Fragen geht es nicht darum, was tatsächlich geschieht und was die Politik und jeder Einzelne von uns in Bezug auf den Klimawandel tatsächlich tut, sondern darum, was geschehen soll und was wir angesichts des Klimawandels tun sollen. Fragen darüber, was man tun soll, sind keine empirischen, sondern normative Fragen; wenn es (wie hier) darum geht zu klären, was gerecht ist, wozu wir verpflichtet sind, was erlaubt und was verboten ist, dann handelt es sich genauer gesagt um moralische Fragen. In diesem zweiten Bereich von Fragen geht es also um die moralisch richtige Reaktion auf die Klimaproblematik – darum, wie man die politischen Institutionen und seinen individuellen Lebensstil anpassen sollte. Das ist das Thema dieses Buches.

Drei klimaethische Leitfragen

Warum stellen sich in Bezug auf den Klimawandel überhaupt moralische Fragen? Ist er nicht einfach ein natürliches Phänomen wie das Kreisen des Mondes um die Erde? In Bezug auf andere natürliche Phänomene stellen wir uns schließlich auch keine moralischen Fragen – warum also sollte man das in Bezug auf den Klimawandel tun? Es ist zwar richtig, dass sich die wenigsten Menschen jemals gefragt haben, was sie oder die Politik in Bezug auf das Kreisen des Mondes um die Erde tun sollen. Das liegt daran, dass Menschen dabei ihre Finger nicht im Spiel haben: Weder haben Menschen die Bewegung des Mondes verursacht, noch können Menschen sie beeinflussen. Darum stellen sich beim Mond auch keine moralischen Fragen.

Beim Klimawandel liegt der Fall jedoch anders: Ein „natürliches“ Phänomen ist der Klimawandel nur insofern, als er „in der Natur“ stattfindet; anders als die Mondbewegung ist der Klimawandel zu einem substanziellen Teil menschengemacht und kann dementsprechend durch menschliches Handeln gestoppt, verlangsamt oder beschleunigt werden. Wie genau nimmt der Mensch Einfluss auf das Klima? Ganz knapp kann man das so erklären (für ausführlichere Einführungen vgl. Maslin 2004; Rahmstorf und Schellnhuber 2006): Unser Planet ist von der Atmosphäre umgeben, die wie eine Isolationsschicht wirkt; sie lässt die Strahlung der Sonne hinein, aber nicht in gleicher Weise wieder hinaus. Das ist der sogenannte „Treibhauseffekt“, der in natürlichem Maß das uns bisher bekannte Klima und Temperaturniveau auf der Erde ermöglicht. Allerdings hängt der Treibhauseffekt von der Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre ab. Steigt die Konzentration wird weniger Strahlung in den Weltraum zurückgegeben und folglich wird es im Treibhaus Erde wärmer. Die wichtigsten Treibhausgase sind Wasserdampf, Kohlendioxid (CO2) und Methan (CH4). Die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre hat im Laufe der Erdgeschichte schon immer geschwankt; aber mit der Industrialisierung haben die Menschen begonnen, in enormem Ausmaß fossile Energieträger (Kohle, Erdöl und Erdgas) zu verbrennen und Wälder zum Zweck der Besiedlung oder der landwirtschaftlichen Nutzung abzuholzen. Reisanbau, Autos, Flugzeuge, mit Öl oder Gas betriebene Heizungen, Zement- und Stahlherstellung und Kohlekraftwerke für die industrielle Produktion haben zwar zu großem Wohlstand beigetragen; damit hat die Menschheit aber auch die atmosphärische Konzentration von Treibhausgasen gleich auf zwei Weisen erhöht: Zum einen werden beim Verbrennen fossiler Energieträger viele Treibhausgase frei, zum anderen dienen Wälder als natürliche CO2-Speicher – weniger Wälder bedeuten also mehr frei in der Atmosphäre verbleibendes CO2. Infolgedessen ist die Konzentration von CO2 seit Beginn der Industrialisierung von 280 ppm (parts per million) um über 35 % gestiegen. Das liegt weit außerhalb der natürlichen Bandbreite in den letzten 650.000 Jahren. Die Emissionen sind in den letzten Jahrzehnten fortwährend angestiegen, weil es immer mehr Menschen gibt, die zudem immer wohlhabender werden und somit zusammen immer mehr emittieren. Die bekannteste Folge davon ist ein Temperaturanstieg. Und der Trend geht weiter: Wenn keine zusätzlichen Anstrengungen zur Emissionsreduktion unternommen werden, dann wird für das Jahr 2100 eine Erwärmung zwischen 2,5 und 7,8 Grad gegenüber der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwartet (IPCC 2014).

Der Klimawandel und das Kreisen des Mondes um die Erde unterscheiden sich jedoch nicht nur in der Rolle des Menschen auf der Ursachenseite, sondern auch in ihren Wirkungen auf den Menschen. Der Mond beeinflusst vielleicht Schlafwandler und – über die Gezeiten – auch Fischer. Der Klimawandel hingegen hat viel weiter reichende Auswirkungen auf unser Leben. Wenn es wärmer wird, schmelzen die Gletscher, die wie Wasserspeicher für den Sommer funktionieren; ihr Schmelzwasser landet in Flüssen, die die Menschen mit Wasser versorgen. Ohne Gletscher gibt es im Sommer weniger Wasser für die Landwirtschaft, die Energieproduktion und den täglichen Gebrauch. Bei höheren Temperaturen schmilzt das Eis an den Polkappen und das Wasser in den Weltmeeren dehnt sich aus; aufgrund des folgenden Meeresspiegelanstiegs schwinden die Landmassen und versalzt das Grundwasser in Küstennähe, wo ein beträchtlicher Teil der Menschheit lebt. Meeresströmungen und Niederschlagsmuster verändern sich; die in der Folge verstärkt auftretenden Extremwetterereignisse wie Wirbelstürme, Überschwemmungen und Dürren werden Menschen obdach- und besitzlos machen und Hungersnöte vergrößern, weil die Ernteerträge sinken. Geringere Ernteerträge sind gleichbedeutend mit Migration, weniger (und weniger gutes) Wasser ist gleichbedeutend mit mehr Konflikten. Alte und schwache Menschen werden unter häufigeren Hitzewellen leiden und daran sterben. Mehr Menschen werden von tropischen Krankheiten betroffen sein, weil die übertragenden Insekten bei einem wärmeren Klima in neuen Regionen ansässig werden können.

Wenn man die Lage so betrachtet, ist es eigentlich offenkundig, dass der Klimawandel moralische Fragen aufwirft. Denn einige der zu erwartenden Auswirkungen wie Not, Hunger, Tod und Leid erzeugen offensichtlich einen Handlungsbedarf, und der scheint darin zu bestehen, sein Möglichstes zu tun, um den Klimawandel zu vermeiden: Wir sollten, so scheint es, die Treibhausgasemissionen reduzieren und die natürlichen Senken für Treibhausgase (wie Wälder) erhalten und ausbauen. Anders gesagt: Wir haben eine moralische Pflicht zum Klimaschutz.

Manchen geht diese Schlussfolgerung allerdings zu schnell. Man könnte zu bedenken geben, dass die Wissenschaft vielleicht falsch liegt und es gar keinen Klimawandel geben wird oder dass er auch positive Seiten haben wird, die die negativen überwiegen. Man könnte auch der Auffassung sein, dass der Klimawandel ferne Zukunftsmusik ist und keinen gegenwärtig lebenden Menschen betrifft und dass man gegenüber Menschen, die nicht existieren, auch zu nichts verpflichtet sein kann. Es ist also genauer zu prüfen, ob wir angesichts des Klimawandels überhaupt zu etwas verpflichtet sind. Das ist die erste grundlegende moralische Frage zum Klimawandel. Wir werden sie in Teil I diskutieren.

Einmal angenommen, die Antwort auf diese erste Frage fiele positiv aus: Wir müssen Klimaschutz leisten. Nun ist Klimaschutz nicht ein Entweder-Oder, sondern eine graduelle Angelegenheit: Man kann das Klima mehr oder weniger schützen. Selbst wenn also feststeht, dass man angesichts des Klimawandels etwas tun muss, so wäre es immer noch eine offene Frage, wie viel man tun muss: In welchem Ausmaß müssen wir das Klima schützen? Wie umfangreich müssen unsere Bemühungen sein? Diese zweite grundlegende moralische Frage zum Klimawandel diskutieren wir in Teil II. Sie führt zu einer weiteren Frage: Denn selbst wenn wir wissen, wie viel Klimaschutz wir leisten müssen, so ist noch nichts darüber gesagt, wie man das zu erbringende Maß an Klimaschutz auf verschiedene Schultern verteilen muss. Wer muss im Einzelnen genau was tun? Welches Land muss welchen Beitrag leisten und welche Lasten tragen? Das ist die dritte grundlegende moralische Frage zum Klimawandel und sie ist Gegenstand von Teil III.

Die Rolle der Ethik zwischen Naturwissenschaft und Politik

Im Zentrum der ethischen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel – und im Zentrum dieses Buches – stehen also drei grundlegende Fragen:

Die drei klimaethischen Leitfragen

1. Sind wir aufgrund des Klimawandels überhaupt zu etwas verpflichtet?

2. Falls wir zu etwas verpflichtet sind: Zu wie viel sind wir verpflichtet?

3. Wie sind diese Pflichten zu verteilen?

Bei diesen Fragen handelt es sich, wie bereits gesagt, um moralische Fragen. Für ihre Beantwortung ist nicht die Naturwissenschaft zuständig. Denn die Naturwissenschaft kann uns nur darüber Auskunft geben, wie die Welt ist. Doch aus Aussagen darüber, wie die Welt ist, folgt niemals etwas darüber, wie die Welt sein soll. Die Naturwissenschaft kann folglich nur Aussagen wie beispielsweise die folgende treffen (vgl. IPCC 2014): „Wenn wir die atmosphärische Treibhausgaskonzentration bis 2100 unter 450 ppm CO2e halten, dann vermeiden wir wahrscheinlich im 21. Jahrhundert eine Erwärmung von mehr als 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter.“ (Dabei steht „CO2e“ für „CO2 equivalent“; das ist eine Einheit, mit der die unterschiedlichen Klimawirkungen verschiedener Treibhausgase verglichen werden können). Aber die Frage, ob wir eine Erwärmung um mehr als 2 Grad vermeiden sollen, kann uns die Naturwissenschaft nicht beantworten. Solche Fragen – moralische Fragen – sind stattdessen Gegenstand der Ethik. Darum kann man die drei oben genannten grundsätzlichen moralischen Fragen zum Klimawandel auch als die drei klimaethischen Leitfragen bezeichnen.

Dass die drei klimaethischen Leitfragen nicht von der Naturwissenschaft beantwortet werden, heißt natürlich nicht, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse für ihre Beantwortung irrelevant sind – im Gegenteil: In der Ethik geht es darum, individuelles Handeln und klimapolitische Maßnahmen unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten. Dazu muss man wissen, welche Eigenschaften und Folgen diese Handlungen und Maßnahmen eigentlich haben, denn davon hängt die moralische Bewertung ab. Und genau diese Eigenschaften und Folgen beschreiben uns die Naturwissenschaften. Ethische Bewertung setzt also naturwissenschaftliche Beschreibung voraus.

Es gibt aber nicht nur eine enge Verbindung zwischen Naturwissenschaft und Ethik, sondern auch zwischen Ethik und Politik. Denn letztlich sollte das, was aus ethischer Sicht angesichts des Klimawandels richtig ist, ja auch in die Tat umgesetzt werden. Das geschieht einerseits durch individuelles Handeln, andererseits aber auch durch die politische Gestaltung von gesellschaftlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für dieses individuelle Handeln – mit anderen Worten: durch Klimapolitik. Staaten richten beispielsweise ihre Energiepolitik im Hinblick auf den Klimawandel neu aus und schließen internationale Abkommen zum Klimaschutz wie die 1992 verabschiedete Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) oder das 1997 verabschiedete Kyoto-Protokoll. Politiker und Wähler fragen sich dabei, welche Klimapolitik alles in allem betrachtet richtig ist, welche Maßnahmen man angesichts des Klimawandels also ergreifen sollte. Neben ökonomischen Aspekten sind dabei klarerweise auch ethische Gesichtspunkte relevant, insbesondere der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit. Vermutlich entscheiden sich Politiker und Wähler nicht ausschließlich aufgrund von Gerechtigkeitserwägungen für eine bestimme Klimapolitik, aber die wenigsten würden eine Klimapolitik befürworten, die sie für äußerst ungerecht halten. Die Ethik hilft also bei den Überlegungen von Politikern und Wählern, und insofern spielt sie durchaus eine praxisrelevante Rolle. Hinzu kommt, dass ein als ungerecht empfundener internationaler Klimavertragsentwurf (der z.B. den armen und kaum für den Klimawandel verantwortlichen Entwicklungsländern die Hauptlasten aufbürdet) gerade darum nicht akzeptiert und damit auch nicht umgesetzt würde. Die ethische Kategorie der Gerechtigkeit ist somit auch ein – wenngleich keineswegs das einzige – Kriterium für eine erfolgreiche Klimapolitik, und auch das macht die Ethik für die Politik relevant. Ethisches Nachdenken ist damit in gewisser Hinsicht die Brücke zwischen Naturwissenschaft und Politik: Aufbauend auf der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Tatsachen bewertet die Ethik verschiedene Optionen aus moralischer Sicht und gibt damit Empfehlungen für die moralisch richtige Klimapolitik ab.

Man sollte von der Ethik aber auch nicht zu viel erwarten: Ethisches Nachdenken allein verändert die Welt natürlich nicht. Die Welt wird nur besser, wenn das Richtige auch getan wird. Aber sorgfältiges ethisches Nachdenken ist der erste Schritt dahin. Denn um das Richtige zu tun, muss man zunächst wissen, was das Richtige überhaupt ist. Und genau darauf zielt das ethische Nachdenken ab. Es unterscheidet mit Hilfe von begrifflichen Klärungen und der kritischen Prüfung von Argumenten gute von schlechten Antworten auf die klimaethischen Leitfragen. Auf diese Weise liefert es jedem Einzelnen und insbesondere politischen Entscheidungsträgern einen moralischen Kompass, an dem sich die Klimapolitik (aber natürlich auch jeder einzelne in seinem individuellen Handeln) orientieren kann.

Es ist allerdings alles andere als einfach, diesem Kompass in der politischen Praxis auch zu folgen; bei der konkreten Umsetzung der moralisch idealen Klimapolitik ergeben sich nämlich Komplikationen, die eine Reihe weiterer ethischer Fragen aufwerfen. Es ziehen z.B. nicht immer alle Länder an einem Strang; manche kommen ihren Klimaschutzpflichten überhaupt nicht nach. Was bedeutet es nun für ein „pflichtbewusstes“ Land, wenn andere beim Klimaschutz nicht mitmachen? Muss es seine eigenen Anstrengungen erhöhen oder darf es sie ebenfalls vermindern? Auf welche Strategie sollte man denn nun beim Klimaschutz setzen: weniger Emissionen durch weniger Bevölkerung, durch weniger Wirtschaftswachstum oder durch sauberere Technologien? Und wie stellt sich das viel gepriesene Politikinstrument des Emissionshandels aus ethischer Sicht dar: Kann es legitim sein, dass reiche Menschen getrost weiter emittieren, solange sie nur einen „Ablass“ bezahlen, oder sollte nicht jeder zuerst vor der eigenen Haustür kehren? Diese ethischen Komplikationen der politischen Praxis diskutieren wird in Teil IV, nachdem wir durch die Beantwortung der drei klimaethischen Leitfragen in den Teilen I bis III sozusagen einen „moralischen Kompass“ für die ideale Klimapolitik erstellt haben.

Die ethischen Besonderheiten der Klimaproblematik

Den moralischen Kompass zu erstellen, ist allerdings ebenfalls alles andere als einfach. Denn der Klimawandel weist einige Eigenheiten auf, die die Beantwortung der klimaethischen Leitfragen erschweren. Das sieht man an folgendem Beispiel:

Es ist Nacht. Sie sitzen auf Ihrem Fahrrad und um schneller nach Hause zu kommen, nehmen Sie eine Abkürzung, fahren querfeldein über den Acker eines benachbarten Bauern und schaden so seiner Ernte. War es falsch, die Abkürzung zu nehmen?

Andere Situation: Es ist Nacht und um schneller nach Hause zu kommen, nehmen Sie anstelle des Fahrrads das Auto. Dabei stoßen Sie CO2 aus; zusammen mit den Emissionen vieler anderer Menschen verändert dies langsam das Klima. Diese Veränderung führt nach Jahrzehnten zu Ernteeinbußen bei Bauern in fernen Entwicklungsländern. War es falsch, das Auto zu nehmen?

Auf die erste Frage antworten viele spontan mit „Ja“, auf die zweite Frage hingegen auch nach längerem Nachdenken mit einem „Tja“. Obwohl sich die beiden Situationen auf den ersten Blick sehr ähneln, sind wir uns unserer moralischen Urteile beim Klimawandel weniger sicher als in alltäglichen Situationen. Der Klimawandel scheint unser Gespür für richtig und falsch auf den Kopf zu stellen. Was aber ist in moralischer Hinsicht so besonders und verwirrend am Klimawandel?

Wenn man die beiden Situationen genauer vergleicht, kann man mehrere Unterschiede ausmachen. Der erste besteht darin, dass die Wirkung Ihrer Handlung beim Klimawandel sehr viel später eintritt als bei Ihrer Querfeldeinfahrt – möglicherweise leben Sie gar nicht mehr, wenn es zu den Ernteeinbußen für die Bauern in den Entwicklungsländern kommt. Das liegt daran, dass viele Treibhausgasemissionen zeitverzögert wirken: Der heute feststellbare Klimawandel geht zum großen Teil auf vergangene Emissionen zurück und die gegenwärtigen Emissionen entfalten ihre volle Wirkung erst in Jahrzehnten. Unsere heutigen Handlungen betreffen also nicht heute lebende, sondern vor allem zukünftige Menschen – unsere Kinder und Kindeskinder. Das macht den Klimawandel zu einem intergenerationellen Problem zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. Abb. 1). Das bedeutet insbesondere, dass die Vor- und Nachteile von klimaschädlichen Handlungen nicht von derselben Person getragen werden: Heute in die Ferien zu fliegen nützt uns, schadet aber unseren Nachkommen. Umgekehrt bedeutet Klimaschutz (in Form eines Flugverzichts) ein Opfer für uns, während er unseren Nachkommen (in Form ausbleibender Klimaschäden) nützt. Diese zeitliche Kluft zwischen Ursache und Wirkung macht den Klimawandel moralisch kompliziert, denn unsere Alltagsethik ist auf den zeitlichen Nahbereich ausgerichtet: Wenn wir Mord, Diebstahl oder eine Lüge moralisch bewerten, dann handelt es sich stets um Handlungen, bei denen die Wirkungen (eine Leiche, ein leeres Tresorfach, eine herbe Enttäuschung) mehr oder weniger direkt auf die Ursache folgen. Beim Klimawandel hingegen liegen Jahrzehnte und Jahrhunderte dazwischen.

Abbildung 1: Klimawandel als intergenerationelles Problem

Zweitens klaffen Ursache und Wirkung des Klimawandels nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich auseinander. Der Bauer im ersten Fall ist Ihr Nachbar. Die betroffenen Bauern im zweiten Fall hingegen sind Ihnen unbekannt und über den ganzen Globus verteilt. Der Klimawandel ist dabei in zwei Hinsichten ein globales Phänomen. Da sich Treibhausgase in der Atmosphäre verteilen, spielt es zum einen auf der Ursachenseite keine Rolle, wo auf der Welt die Emissionen anfallen. Ein Flug in Europa trägt genauso zum weltweiten Klimawandel bei wie der Fleischkonsum in Australien oder der Reisanbau in Indien. Zum anderen fallen auch die Wirkungen auf der ganzen Welt an, denn fast jede Region der Welt ist auf die eine oder andere Weise davon betroffen. Wie schon bei der zeitlichen Kluft, so bedeutet auch die räumliche Kluft zwischen Ursachen und Wirkungen, dass die Vor- und Nachteile klimaschädlicher Handlungen nicht denselben Personen zufallen: Wenn Sie ein Flugzeug nehmen, dann fallen Ihnen die Vorteile zu, während die damit verbundenen Nachteile von anderen getragen werden. Und wenn Sie umgekehrt auf die Flugreise verzichten, haben Sie einen Nachteil, während die Vorteile eines geschützten Klimas anderen zugutekommen. Diese räumliche Kluft macht den Klimawandel ebenfalls moralisch kompliziert, denn unsere Alltagsethik ist auf den räumlichen Nahbereich ausgerichtet. Das Wohlergehen von Menschen, die wir von Angesicht zu Angesicht kennen, berührt uns viel mehr als das Wohlergehen von Fremden, die in anderen Regionen der Welt leben; wir sprechen von „Nächstenliebe“, aber nicht von „Fernstenliebe“; sozialen Ausgleich gibt es vor allem innerhalb von Gemeinschaften statt zwischen Gemeinschaften.

Querfeldeinfahrt und Klimawandel unterscheiden sich aber nicht nur darin, dass die Ursachen und Wirkungen einmal nah beieinander liegen und einmal global verteilt sind; der wichtigste Aspekt dabei ist, dass Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels global ungleich verteilt sind. Wenn Sie mit dem Fahrrad über das Feld fahren, schadet die Handlung eines wohlhabenden Menschen einem anderen recht wohlhabenden Menschen. Die Bauern, deren Ernte durch die Emissionen Ihres Autos verringert wird, leben hingegen in den Entwicklungsländern und sind vergleichsweise arm. Von den Emissionen eines Bürgers aus einem reichen Industrieland sind also arme Bauern in den Entwicklungsländern betroffen. Das macht den Klimawandel zu einem Problem globaler Ungleichheiten. Zum einen haben die Menschen in den Industrieländern in der Vergangenheit pro Kopf mehr zum Klimawandel beigetragen als die Menschen in den Entwicklungsländern und sie tun dies auch heute noch. Im Jahr 2008 waren die Treibhausgasemissionen pro Kopf in reichen Länder rund viermal höher als im Rest der Welt (World Bank 2012b: 172). Zwar kann man nicht pauschal sagen, dass im Einzelfall jedes reiche Land höhere Pro-Kopf-Emissionen aufweist als jedes arme Land, weil einige Entwicklungs- und Schwellenländer (wie Malaysia, Indonesien oder Brasilien) durch Waldrodung auch stark zum Klimawandel beigetragen haben. Aber insgesamt liegen die Ursachen für den Klimawandel überproportional stark bei den Industrieländern mit ihren hohen Pro-Kopf-Emissionen. Zum anderen aber sind die Entwicklungsländer viel stärker von den gegenwärtigen und zukünftigen Klimaschäden betroffen: Sie sind stärker auf die Landwirtschaft angewiesen, die durch den Klimawandel empfindlich beeinträchtigt wird; viele Entwicklungsländer liegen zudem in klimatisch sensiblen Regionen wie dürre- oder überschwemmungsgefährdeten Gebieten, in denen der Klimawandel zusätzliche Probleme schafft; und schließlich sind die Entwicklungsländer ärmer und haben darum weniger Ressourcen, um sich erfolgreich an den Klimawandel anzupassen. Insgesamt entfallen die Klimaschäden also überproportional stark auf die Entwicklungsländer, während die verursachenden Emissionen überproportional stark bei den Industrieländern liegen. Es herrscht, mit anderen Worten, gleich eine doppelte globale Ungleichheit (vgl. Abb. 2).

Ein dritter Unterschied zwischen der Fahrt über den Acker und dem Klimawandel hat mit der Fragmentierung der Ursachen zu tun. Der Klimawandel wird durch viele kleine Alltagshandlungen hervorgerufen: Wir duschen heiß, fahren mit dem Auto, fliegen, essen ein Steak oder lassen das Licht brennen. Für sich genommen erscheinen diese Handlungen harmlos, denn wir können den Schaden, den z.B. eine heiße Morgendusche anrichtet, nicht unmittelbar sehen. Erst in der Summe führen viele Handlungen zu wahrnehmbaren Klimaschäden, aber einen direkten, unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer einzelnen Handlung und einem konkreten Schaden gibt es beim Klimawandel nicht. Unser moralisches Gespür ist aber für Fälle gemacht, in denen der Schaden klar wahrnehmbar ist, eine dafür verantwortliche Person leicht identifiziert und die verursachende Handlung eindeutig benannt werden kann: Wenn Sie – noch dazu mit Absicht – über den Acker des Bauern fahren, dann ist der Schaden klar wahrnehmbar, die dafür verantwortliche Person leicht identifiziert und die verursachende Handlung ohne Problem zu nennen. Doch wie wäre es, wenn gleichzeitig mit Ihnen hunderttausend weitere Menschen über das Feld fahren? Soll man dann sagen, dass Sie nicht verantwortlich sind, weil Sie keinen Schaden anrichten, der nicht ohnehin entstanden wäre? Aber das könnte man ja von jedem sagen und so würde am Ende niemand als verantwortlich gelten. Soll man stattdessen besser sagen, dass Sie für ein Hunderttausendstel des Schadens verantwortlich sind? Fragen dieser Art bringen uns ins Grübeln, weil unsere Alltagsethik nicht für Probleme mit fragmentierten Ursachen wie den Klimawandel gemacht ist.

Abbildung 2: Klimawandel als Problem doppelter globaler Ungleichheit

Eine vierte Komplikation ergibt sich aus der Tatsache, dass unser Wissen über die Auswirkungen unserer Handlungen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Um es ganz klar zu sagen: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es heute keine Unsicherheit mehr darüber, dass der Klimawandel stattfindet und dass der Mensch hauptsächlich durch Treibhausgasemissionen dazu beigetragen hat. Auch wenn aus populären Darstellungen in den Medien leicht der Eindruck erwachsen kann, die Klimawissenschaft sei sich diesbezüglich gar nicht sicher oder in zwei gleich große Lager gespalten: Es gibt Studien, die die Frage des Konsenses in der Klimawissenschaft selbst wissenschaftlich untersucht haben und zum Ergebnis kommen, dass (a) 97 bis 98 Prozent der weltweit aktivsten publizierenden Klimawissenschaftler der Auffassung vom menschengemachten Klimawandel explizit zustimmen und dass (b) die klimawissenschaftliche Reputation derjenigen, die dieser Auffassung nicht zustimmen, signifikant schlechter ist (Anderegg u.a. 2010). So gesehen ist es ein Mythos, dass es hinsichtlich dieser klimawissenschaftlichen Resultate Uneinigkeit und Unsicherheit gebe. Die meisten Überlegungen, die einige Menschen zum Leugnen des Klimawandels verleitet haben, lassen sich relativ einfach ausräumen; ausgewogene und verständliche Widerlegungen finden sich in den Merkblättern des deutschen Umweltbundesamts und des ProClim-Forums der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (ProClim 2010; Umweltbundesamt 2004).

Auch wenn es keine Unsicherheit darüber gibt, dass der Klimawandel menschengemacht ist, gibt es doch erhebliche Unsicherheit darüber, wie viel Klimawandel wir genau verursachen werden. Die Spannbreite der geschätzten Temperaturerhöhung ohne zusätzliche Klimaschutzbemühungen beträgt bis zum Ende des 21. Jahrhunderts 2,5 bis 7,8 Grad (IPCC 2014). Und auch in diese Schätzungen fließen kontroverse Annahmen ein – es könnte auch mehr oder weniger werden. Das Klimasystem ist einfach sehr komplex und daher sind Aussagen über seine Entwicklung immer mit Unsicherheiten behaftet. Niemand ist sich dessen deutlicher bewusst als die Wissenschaftler selbst. Um sich größere Klarheit über den Stand der Klimawissenschaft zu verschaffen, wurde 1988 von UNO-Institutionen der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) gegründet. Der IPCC betreibt weder Politik noch eigene Forschung; seine Aufgabe ist vielmehr, alle fünf bis sieben Jahre den Stand der Wissenschaft zu sichten, zusammenzufassen und einzuschätzen. In diesem Zusammenhang verwendet der IPCC auch große Mühe darauf, nicht bloß Schätzungen über klimawissenschaftliche Zusammenhänge abzugeben, sondern insbesondere in jüngerer Zeit an viele dieser Schätzungen ein „Etikett“ zu heften, das Aufschluss über das Ausmaß an Unsicherheit, die Einigkeit der Experten und die Qualität der Evidenzen bei den einzelnen Detailinformationen gibt.

Diese Art der Unsicherheit darüber, wie viel Klimawandel wir mit unseren Emissionen genau verursachen, ist für die Ethik sehr relevant. Denn wenn wir annehmen, dass wir angesichts des Klimawandels tatsächlich moralisch verpflichtet, bestimmte Auswirkungen – etwa einen Temperaturanstieg von mehr als zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter – zu verhindern, dann müssen wir unsere Emissionen senken. Doch wenn nun Unsicherheit darüber herrscht, welche Menge an Emissionen im Einzelnen welche Auswirkungen haben wird, dann gehen wir mit jeder Klimapolitik unvermeidlich auch ein gewisses Risiko ein: Denn dass Unsicherheit herrscht, heißt ja nichts anderes, als dass jede Emissionsmenge mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch zu mehr als zwei Grad Erwärmung führen kann. Und das wirft die – ethische – Frage auf, wie hoch diese Wahrscheinlichkeit eigentlich aus moralischer Sicht noch sein darf, welches Risiko wir in Kauf nehmen dürfen. Die Klimawissenschaft kann in diesem Zusammenhang beispielsweise Aussagen der folgenden Art anstreben: „Wenn man die zwischen 2000 und 2050 global ausgestoßene Menge CO2 auf eine Billion Tonnen begrenzt, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit für eine Erwärmung von mehr als zwei Grad 25 Prozent“ (vgl. Meinshausen u.a. 2009). Aus ethischer Sicht fragen wir uns dann: Ist dieses Risiko von 25 Prozent moralisch vertretbar? Die Frage, wozu wir angesichts des Klimawandels verpflichtet sind, wird damit gleich komplizierter, denn nun müssen wir nicht nur die erwarteten Folgen ethisch bewerten, sondern auch noch darüber nachdenken, wie man mit Risiken bezüglich dieser Folgen umgehen sollte und welche Risiken moralisch akzeptabel sind. Der Klimawandel ist darum auch ein Problem des Umgangs mit Unsicherheit. Und wiederum ist unsere vertraute Alltagsethik dafür nicht gemacht. Während es einigermaßen unstrittig ist, dass man nichts tun darf, was Unschuldige mit Sicherheit töten wird, ist es schon wesentlich schwieriger zu entscheiden, wie die Grenze zwischen erlaubten und verbotenen Handlungen zu ziehen ist, wenn die Handlung Unschuldige nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit töten wird. Wenn wir mit dem Auto zum Supermarkt fahren, dann besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wir andere Menschen in einem Verkehrsunfall töten; im Normalfall ist das ein akzeptables Risiko und es ist erlaubt, zum Supermarkt zu fahren. Wenn wir aber nachts übermüdet mit 120 km/h über eine unübersichtliche Landstraße fahren, dann ist das Risiko für einen Unfall, bei dem andere getötet werden, wesentlich erhöht. Ist das moralisch noch akzeptabel? Und wie wäre es, wenn man nicht nur übermüdet, sondern auch angetrunken ist und mit 180 km/h fährt? Wenn wir wissen wollen, welche Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Schaden – welches Risiko – gerade noch akzeptabel ist, dann helfen uns Regeln, die für den Fall gemacht sind, in dem wir so gut wie sicher wissen, was passiert, einfach nicht weiter. Doch der Klimawandel ist gerade solch ein Fall, in dem es auch um die Grenzen für akzeptable Risiken geht.

Es gibt also insgesamt vier Besonderheiten, die die ethische Auseinandersetzung mit dem Klimawandel verkomplizieren: Der Klimawandel ist ein Problem des Umgangs mit globalen Ungleichheiten und großen Unsicherheiten, dessen Ursachen fragmentiert sind und dessen Auswirkungen nachfolgende Generationen betreffen. Das ist alles andere als ein „normales“, uns aus dem Alltag vertrautes ethisches Problem. Und darum ist es nur zu verständlich, dass wir ins Grübeln kommen, wenn wir versuchen, uns auf den Klimawandel einen ethischen Reim zu machen. Eigentlich, so scheint es, bräuchten wir dafür nämlich eine Art „Ethik 2.0“. Doch wo soll dieses „neuartige“ ethische Nachdenken über den Klimawandel seinen Anfang nehmen, wie soll man vorgehen?

Wie beginnen?

Manchmal hört das ethische Nachdenken schon auf, bevor es so richtig begonnen hat. Bisweilen werden moralische Fragen nämlich mit dem Hinweis beiseitegeschoben, dass es keine objektiven Antworten auf solche Fragen gebe: Letztlich sei das eine subjektive Angelegenheit, jeder habe seine eigene Meinung dazu und damit sei es gut. Lohnt es sich also überhaupt, über Antworten auf die klimaethischen Leitfragen nachzudenken?

Ja. Denn oft gehen wir mit moralischen Fragen so um, als könne jemand recht und der andere unrecht haben. Wenn Ihr Nachbar beim Abendessen verkündet, es sei aus moralischer Perspektive ganz in Ordnung gewesen, die Kolonien auszubeuten, dann würden Sie wohl kaum sagen „Gut, das ist deine Meinung, ich sehe das zwar anders, aber was soll’s. Lass uns nicht streiten.“ Im Gegenteil: Sie würden eher sagen, Ihr Nachbar habe Unrecht, liege falsch oder sei im Irrtum. Sie werden mit Ihrem Nachbarn diskutieren und versuchen, ihn mit Argumenten vom Gegenteil zu überzeugen. Darin unterscheiden sich Antworten auf moralische Fragen von Geschmacksurteilen wie „Mir gefällt das blaue Hemd“ – hier widerspricht man nicht, fängt keinen Streit an, versucht nicht zu überzeugen und spricht nicht von Unrecht oder Irrtum.

Der Verweis auf den vermeintlich subjektiven Charakter ethischen Nachdenkens ist manchmal eher eine Ausrede, wenn es schwierig wird. Und zugegeben: Schwierig sind ethische Fragen nur zu oft. Aber das gilt auch für andere Fragen. Es ist z.B. auch schwierig zu beantworten, ob 131.071 eine Primzahl ist. Dennoch käme niemand auf die Idee, daraus zu schließen, dass es keine objektive Antwort auf diese Frage gebe. Entscheidend ist, dass ethische Fragen oft eine klare Antwort haben: Darf man jemanden kaltblütig ermorden? Ist es falsch, eine Katze anzuzünden? Oder eben: Ist es falsch, mit dem Fahrrad über den Acker des Bauern zu fahren? Auch das sind moralische Fragen, doch ihre Beantwortung fällt uns nicht schwer.

Aber werden moralische Fragen – man denke nur an kontroverse Themen wie Sterbehilfe – nicht oft auf verschiedene Weise und noch dazu mit verschiedenen Begründungen beantwortet? Wie soll inmitten großer Uneinigkeit und widerstreitender Meinungen eine objektive Antwort möglich sein? Richtig ist, dass in vielen moralischen Fragen mehrere Antworten vertreten und begründet werden. Aber das heißt nicht, dass alle vorgebrachten Antworten und Begründungen gleich gut sind. Ebenso wie in anderen Bereichen gibt es auch in der Ethik gute und weniger gute Argumente, überzeugende und weniger überzeugende Begründungen. Und genau darum geht es in der Ethik: Mittels begrifflicher Unterscheidungen und vor allem mit Argumenten werden gut begründete von schlecht begründeten Antworten auf moralische Fragen unterschieden. Ethik zu betreiben heißt sich zu fragen, was für und gegen einzelne Antworten auf moralische Fragen spricht und aufzudecken, wo eine Position schlecht gestützt ist oder wo sich aus ihr Folgerungen ergeben, die anderen zentralen moralischen Überzeugungen widersprechen. Beim ethischen Nachdenken über den Klimawandel geht es also darum, mit Argumenten bestimmte Antworten auf die klimaethischen Leitfragen zu begründen und zu prüfen. Und das klingt doch nach einer recht „objektiven“ Angelegenheit.

Doch von welchen Argumenten und Begründungen ist hier die Rede? Worauf berufen wir uns in moralischen Diskussionen, von welcher Basis gehen wir aus? Eine argumentative Ressource, auf die sich viele Menschen berufen, ist der Verweis auf das Eigeninteresse. Tatsächlich wird das Eigeninteresse beim Aufruf zum Klimaschutz nicht selten bemüht: Die Schäden des Klimawandels seien sehr hoch, die Kosten zu ihrer Vermeidung verhältnismäßig gering; wer rechne, der reduziere die Emissionen, denn das liege im eigenen Interesse. Doch dieser Bezug auf das Eigeninteresse hat einen Haken: Er verkennt den intergenerationellen und globalen Charakter des Klimawandels. Wenn wir heute Emissionen reduzieren, dann profitieren nicht wir, sondern vor allem zukünftige Menschen rund um den Globus davon. Der Verweis auf das Eigeninteresse ist also insofern irreführend, als es gar nicht um eine Aufrechnung von Aufwand und Ertrag im eigenen Interesse geht, sondern viel eher um einen Ausgleich zwischen den Interessen aller heute und künftig lebenden Menschen. Nicht unser eigenes Wohl, unsere eigenen Interessen und Belange, sondern das Wohl, die Interessen und Belange aller Menschen bilden also die argumentative Ressource für die Beantwortung der klimaethischen Leitfragen.

Es gäbe noch eine weitere argumentative Ressource. Statt das Wohl der Menschen zum alleinigen argumentativen Bezugspunkt zu machen, könnten wir auch das Wohl der Tiere einschließen. Denn auch die Tierwelt wird vom Klimawandel stark betroffen sein: Als empfindungsfähige Wesen leiden Tiere natürlich auch unter klimatischen Stressfaktoren wie Extremwetterereignissen. Da sich die Lebensräume und Rückzugsgebiete durch den Klimawandel schneller verändern werden als sich die meisten Tierarten anpassen können, ist zudem mit einem massiven Artensterben zu rechnen: Von Eisbären, die bei schwindendem Packeis am Nordpol ertrinken, hat man vielleicht bereits gehört; viele Meerestiere werden aber aufgrund der Veränderungen in den Ozeanen (etwa Versauerung) ebenfalls aussterben; und wenn Eidechsen sich bei höheren Temperaturen länger am Tag aus der Sonne zurückziehen müssen, können sie nicht nach Futter suchen und sterben schneller – was über die Nahrungskette wiederum Auswirkungen auf Vogelarten hat. All dies gibt uns eigentlich zusätzliche Gründe, etwas gegen den Klimawandel zu tun.

Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und auch Pflanzen, die unbelebte Natur oder ganze Ökosysteme einschließen. Eine solche sogenannte „ökozentrische“ Auffassung werden wir weitestgehend ausklammern. Das hat zwei Gründe. Zum einen ist sie begründungslastiger als eine „anthropozentrische“, auf Wohl und Belange des Menschen ausgerichtete Argumentation oder auch der Einbezug der Tiere. Dass das Wohl von Menschen und Tieren zählt, ist kaum zu bestreiten; aber zählt der Verlust von Pflanzenvielfalt oder das Verschwinden von Gletschern auch für sich genommen – also auch dann, wenn es keinen Menschen gäbe, der davon in irgendeiner Weise betroffen wäre? Das ist bereits strittiger. Zum anderen ist ein Rückgriff auf eine ökozentrische Argumentationsstrategie gar nicht nötig, weil sie (abgesehen von zwei Stellen in Kapitel 4 und 18, an denen wir noch einmal kurz darauf verweisen) im Ergebnis keinen großen Unterschied macht. Denn wenn man zeigen kann, dass sich eine moralische Pflicht zum Klimaschutz bereits durch den alleinigen und weniger strittigen Bezug auf Wohl und Belange des Menschen (und der Tiere) rechtfertigen lässt, dann hat man schon eine Menge gewonnen, und der moralische Status der Pflanzen oder der unbelebten Natur muss einen im Hinblick auf unsere Klimaschutzpflichten nicht weiter beschäftigen. Ob man dies zeigen kann, wollen wir nun prüfen. Wenden wir uns also der ersten klimaethischen Leitfrage zu.

Teil I   Müssen wir überhaupt etwas tun?
Handlungsbedarf moralisch begründen

2   Dreifache Skepsis gegenüber der Pflicht zum Klimaschutz

Wir hatten betont, dass es einen grundsätzlichen Graben zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel auf der einen Seite und ethischen Schlussfolgerungen (dass wir z.B. Klimaschutz leisten sollen) auf der anderen Seite gibt. Allerdings scheint der Schritt zur Überschreitung dieses Grabens nicht allzu groß oder allzu schwierig zu sein. Denn die Wissenschaft erklärt uns, mit welchen Konsequenzen wir in Zukunft rechnen und leben müssen, wenn wir weitermachen wie bisher: Hitzewellen und Dürren, Überschwemmungen und Meeresspiegelanstieg, Artensterben und Ausbreitung tropischer Insekten – und infolgedessen Not, Hunger, Migration, Krankheit, Tod. Diese Erkenntnisse scheinen doch bereits eine ethische Schlussfolgerung nahe zu legen: Wir sollten den Klimawandel vermeiden. Oder anders gesagt: Wir haben eine moralische Pflicht zum Klimaschutz. Damit scheint die erste klimaethische Leitfrage – „Müssen wir angesichts des Klimawandels überhaupt etwas tun?“ – leicht zu beantworten zu sein.

Für manche Menschen ist dieser Schritt von den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Beantwortung der ersten klimaethischen Leitfrage allerdings nicht so naheliegend. Immer wieder stößt man auf Stimmen, die die erste klimaethische Leitfrage negativ beantworten und leugnen, dass es eine Pflicht zum Klimaschutz gibt. In diesem Kapitel möchten wir zunächst drei typische Varianten dieses Leugnens unterscheiden und eine Variante dann genauer untersuchen. Zum Ende des Kapitels greifen wir eine Frage auf, die insbesondere für Journalisten und Lobbyisten relevant ist: Darf man eine Pflicht zum Klimaschutz eigentlich leugnen und wie sollte man – moralisch gesehen – eigentlich mit Menschen umgehen, die eben dies tun?

Drei Arten, die Pflicht zum Klimaschutz zu leugnen

Wer behauptet, dass es so etwas wie eine moralische Pflicht zum Klimaschutz gibt, der behauptet in aller Regel, dass der Klimawandel ein moralisches Problem darstellt, auf das wir – die Mitglieder der heutigen Generation – mit Klimaschutz reagieren müssen. Die These, wir hätten eine Pflicht zum Klimaschutz, umfasst also eigentlich drei Thesen: erstens die Behauptung, dass der Klimawandel grundsätzlich ein moralisches Problem darstellt, auf das überhaupt irgendwer irgendwie reagieren muss; zweitens die Behauptung, dass wir (die Mitglieder der heutigen Generation) es sind, die reagieren müssen; und drittens die Behauptung, dass das, was wir tun müssen, Klimaschutz ist. Das gilt ganz allgemein auch in anderen Zusammenhängen: Wer behauptet, Frieda habe die Pflicht, für den kranken Nachbarn einen Einkauf zu erledigen, der behauptet, dass überhaupt irgendjemand irgendwie auf die Krankheit des Nachbarn reagieren muss (dass die Krankheit also ein moralisches Problem darstellt), dass es Frieda ist, die hier etwas tun muss, und dass das, was sie tun muss, die Erledigung des Einkaufs ist.

Entsprechend kann man nun unterscheiden zwischen drei verschiedenen „Gegnern“ der Behauptung, es gebe eine moralische Pflicht zum Klimaschutz. Erstens gibt es jene, die bestreiten, dass der Klimawandel überhaupt ein moralisches Problem darstellt; sie bestreiten also, dass der Klimawandel überhaupt irgendjemandem irgendetwas abverlangt. Wer z.B. glaubt, es gebe gar keinen Klimawandel oder er habe keine negativen Folgen, der wird auch leugnen, dass es moralischen Handlungsbedarf gibt – denn wenn es nichts gibt, worauf man reagieren könnte, dann muss man auch nicht reagieren.

Zweitens gibt es aber auch jene, die zwar zugestehen, dass der Klimawandel ein moralisches Problem ist, die aber leugnen, dass gerade wir es sind, die etwas dagegen tun müssen; hier wird nicht bestritten, dass der Klimawandel irgendjemandem etwas abverlangt, sondern nur, dass er uns etwas abverlangt. Man könnte z.B. der Ansicht sein, dass der Klimawandel ja nicht uns Menschen der heutigen Generation, sondern ausschließlich die Menschen der ferneren Zukunft betrifft. Und man könnte weiter glauben, dass wir diesen Menschen gar nichts schulden können, weil wir zu Menschen in der ferneren Zukunft in keinerlei Beziehungen treten können: Wenn sie existieren, existieren wir nicht mehr. Wer also der Auffassung ist, dass heutige Generationen zukünftigen Generationen moralisch grundsätzlich gar nichts schulden können, der wird auch der Ansicht sein, dass es keine Klimaschutzpflicht gibt.

Klimaschutz