Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu bleiben
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1. Auflage 2022
© 2022 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Aster, einem Imprint der Octupus Publishing Group Ltd, unter dem Titel Sunshine Warm Sober. © 2021 by Catherine Gray. Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Elisabeth Liebl
Redaktion: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt
Umschlagabbildung: shutterstock/amiak
Satz: Andreas Linnemann
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0401-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-783-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-784-7
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www.mvg-verlag.de
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Gewidmet all den Schluckspechten, Schnapsdrosseln, Nachtschattengewächsen, Party People und sonstigen Hedonisten: Ob nun Ex oder nicht – ihr seid mein Stamm!
Vorwort
Der Fisch am Haken
Einführung
TEIL I
Das fünfte Jahr
TEIL II
Das sechste Jahr
TEIL III
Das siebte Jahr
TEIL IV
Das achte Jahr
Der Fisch am Haken
Nachwort
Danksagung
Quellen
11. Juni 2009
Catherine Gray und ihr Vater Bryan spazieren über eine Waldlichtung wie aus einem Elfenmärchen. Tiefgrüne Bäume überschatten die Säume. Über die Steine an der Bachböschung kriecht smaragden das Moos. Wo ein Sonnenstrahl hinfällt, reckt ein Fingerhut seine Blütenkerzen empor. Wasserfälle ergießen sich in colabraune Becken.
Bryan: »Gerade wird mir bewusst, dass ich jetzt seit 15 Jahren nüchtern bin, Kleines!«
Catherine: »Wooah, das ist echt lange. Gut gemacht. Aber ist das Leben nicht stinklangweilig? So stocknüchtern?«
Bryan: »Nein, gar nicht. Das sind reine Behauptungen. Es fühlt sich kein bisschen langweilig an.«
Bryan macht ein paar Schritte auf die Böschung zu und dreht sich um sich selbst.
Bryan: »Es fühlt sich so an! Einfach wunderbar! Jeden Tag aufzuwachen und nicht das Gefühl zu haben, im Arsch eines Rhinozeros zu stecken.«
Catherine verdreht die Augen. Sie ist unruhig, zappelig, ihr ist fad. Mittlerweile reicht es ihr mit Naturgenuss.
Catherine: »Komm schon, du Julie-Andrews-Verschnitt. Gehen wir irgendwo was essen.«
Bryan: »Und vermutlich willst du dazu was trinken?«
Bryan dreht sich nicht mehr um sich selbst wie einst Julie Andrews in Meine Lieder – meine Träume. Sein Gesicht verzieht sich leicht, als er von einem Uferfelsen herunterklettert. Nicht mein Problem.
Catherine: »Es ist doch kein Verbrechen, wenn ich an meinem freien Tag ein Gläschen Wein trinken möchte?« Bryan (resigniert): »Na, dann sehen wir mal zu, dass wir dich ins Pub bekommen.«
Die zwei marschieren den gewundenen Pfad hinunter. Im Unterholz raschelt etwas. Bryan guckt, was es sein könnte. Catherine zeigt null Interesse.
Bryan: »Wusstest du, dass dies einer der wenigen Orte in Nordirland ist, wo es noch rote Eichhörnchen gibt?«
Catherine: »In welches Pub gehen wir denn?«
Bryan: »Es gibt sogar eine Gesellschaft zum Schutz der Eichhörnchen.«
Catherine hört nicht mal zu.
Catherine: »Gehen wir ins Johnny Joe?«
Natürlich hatte er recht. Nüchtern zu sein, fühlt sich wirklich nach strahlenden Sternen an. Stinklangweilig ist anders.
Aber ich würde noch vier Jahre brauchen, um das selbst herauszufinden.
Stocknüchtern: ein negativ besetzter, häufig benutzter Begriff, um einen Mangel an Alkohol im System zu bezeichnen. Ein Begriff, den man als Heranwachsender immer wieder gehört hat, vor allem, wenn man zur Generation X (die von 1965 bis 1980 Geborenen) oder zu den Babyboomern gehört. Bei den Millennials und Angehörigen der Generation Z ist er meinen Recherchen zufolge weniger im Gebrauch. Und das ist an sich schon ein interessanter Befund, denn es ist ein Indiz dafür, dass da ganze Generationen aus einem Muster ausscheren.
Sternhagelnüchtern: Ein von mir geprägter Begriff, den ich der »Stocknüchternheit« entgegensetzen möchte. Denn das Funkeln der Sterne ist ein schönes Bild dafür, wie es sich wirklich anfühlt, nüchtern zu sein. Insbesondere dann, sobald man die harten ersten Tage überwunden hat: »Jetzt ist es offiziell. Ich bin der erste Mensch auf Erden, der an seiner Angst stirbt!«
Es fühlt sich wunderbar an, sanft, gemäßigt und klar. Wie eine wunderbare Sternennacht eben.
Viel zu lernen du noch hast.
Meister Yoda
Ich war seit vier Jahren nüchtern, als ich Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein schrieb. Damals hätte ich Ihnen vermutlich glückstrahlend gesagt, eines meiner täglichen Mottos sei: »Mein Glas ist nie voll!« (*Peace-Zeichen*) Übersetzt: »Es gibt immer noch mehr zu lernen!« Insgeheim aber dachte ich, ich hätte den Großteil dessen, was ich übers Nüchternsein zu lernen hatte, schon intus, weil ich ja keine abgefuckte Säuferin mehr war. Ha! Reichlich idiotisch! Wenn ich mir eine Superkraft wünsche, dann die, nicht immer erst hinterher klüger zu sein.
Yoda hat recht. Viel zu lernen ich noch habe. Ich lerne immer noch dazu, was den Alkohol angeht: die am massivsten glorifizierte, verteufelte, gefeierte, verachtete, manipulierte, vermarktete und süchtig begehrte Substanz auf Erden. Ich bin jedes Mal wieder erstaunt, wenn ich auf neue Informationen darüber stoße, welche Auswirkungen Alkohol auf unsere geistige, körperliche, soziale, elterliche, sexuelle, familiäre und finanzielle Gesundheit hat. Und ich habe allerhand Schmutz ausgegraben über die raffinierten, unerträglichen und so erfolgreichen Methoden der Drogenbosse der Alkoholindustrie – Big Alcohol.
Vor allem aber habe ich einiges dazugelernt – darüber, wie man als nüchterner Mensch ein verantwortungsvolles Leben führt, wie man als Antialkoholiker glücklich ist, wie man als Nichttrinker gesunde Beziehungen führt und wie man mit einer Null-Alkohol-Politik in einer alkzentrierten Gesellschaft wie der unseren überlebt, die uns buchstäblich entgegenzurufen scheint: »Trink, trink, Brüderlein (Schwesterchen), trink!«
Ich bin mittlerweile seit über sieben Jahren nüchtern. In diesem Buch ist alles versammelt, was ich in den letzten Jahren in mein nie volles Glas gekippt habe. Und nein, ich habe es nicht geschrieben, weil mir langweilig war und ich einfach kein neues Thema fand. Ich schrieb es, weil ich es nie nicht hätte schreiben können. Es gibt noch so viel, was ich Ihnen sagen möchte. Was ich Ihnen unbedingt sagen muss! Dieses Buch enthält all das, was ich mir zu wissen gewünscht hätte, bevor ich nüchtern wurde oder in den ersten 30 Tagen oder den ersten vier Jahren.
Ich stelle mir meine Leser als Menschen vor, die bereits Teil der nüchternen Community sind. Aber was sagt das über Vorurteile aus? Dass sie uns zu Idioten machen? Nein, wenn überhaupt, dann macht es nur mich zur Idiotin. Sie sind sicher sehr intelligent.
Dieses Buch ist das Folgebuch zu Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein. Idealerweise liest man es nach dem ersten Buch. Aber ganz ehrlich: Tun Sie, was Ihnen verdammt noch mal am liebsten ist. Sie sind schließlich erwachsen. Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen zu sagen, was Sie tun sollten.
Aber wenn Sie Tipps, Hinweise, Tricks und Ratschläge suchen, wie man die ersten nüchternen Tage übersteht, dann ist Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein das Richtige für Sie. Es ist die Blaupause für den Start in ein nüchternes Leben: praxiserprobte Methoden für die ersten 30 Tage. Tipps, was Sie den Leuten sagen können. Tricks, wie Sie nüchtern bleiben und trotzdem ein Sozialleben haben können. Ratschläge, wie man als Abstinenzler Freunde findet. Und dazu noch Literaturhinweise. All das finden Sie in diesem Buch.
Trotzdem: Lesen Sie die Bücher in der Reihenfolge, wie Sie es möchten. Wenn Sie gerne darin herumkritzeln, die Regeln brechen, lieber von hinten anfangen, den Status quo auf den Kopf stellen, dann sind Sie hier richtig. Dies ist das Eiland der Regelbrecher und Nonkonformisten. Früher haben wir rebelliert, indem wir uns zuschütteten. Jetzt rebellieren wir, indem wir unseren nüchternen Kopf oben behalten, selbst wenn ihn rundherum alle zu verlieren scheinen.
Viele, die mit einem Leben ohne Alkohol liebäugeln, lesen dieses Buch, während sie noch (ganz real) trinken. Seid willkommen, meine Schluckspecht-Freunde! Ihr dürft mir gerne weiterhin Fotos schicken, wir ihr bei einem Glas Wein mein Buch lest. Ich bin die Letzte, die Trinker verurteilt. Das wäre auch ganz schön unverschämt von mir, habe ich mich doch 21 Jahre lang regelmäßig unter den Tisch gesoffen. Ja, ich habe sogar mit den Zähnen Bierflaschen aufgemacht. Die Trinker sind mein Stamm.
Ich glaube, man kann mich neuerdings als ein ganz kleines bisschen antialkoholisch beschreiben. (Das Understatement des Jahrhunderts. Es ist wirklich schwierig, nicht zum Antialkoholiker zu werden, wenn man erst einmal die nüchternen Tatsachen und die unglaubliche Korruption der Alkoholindustrie durchschaut hat.) Aber eines bin ich mit Sicherheit nicht: Anti-Trinker.
Ich verstehe, warum Menschen trinken. Ich begreife dieses Luftschloss vom unbeschwerten Miteinander, das Sie auf dem Grund der Flasche suchen. Den Traum von der Nacht der Nächte, dem Sie hinterherhecheln, nur um schließlich um drei Uhr morgens auf dem Klo irgendeiner Kaschemme in Balham Koks von der Oberfläche einer kaputten CD-Hülle zu ziehen. (Habe nur ich das so gemacht?)
Aber ganz egal, auf welcher Höhe des Weges Sie sich im Moment befinden: Betrachten Sie mich einfach als die Vorreiterin in schimmernder Wehr, die auskundschaftet, welche – schönen und grausigen – Dinge Sie erwarten, wenn Sie den nächsten Schritt tun. Wenn Sie sich entscheiden, diese nüchtern-wilde Jagd aufzunehmen oder fortzusetzen.
Was auch immer Ihre Absicht war, als Sie dieses Buch zur Hand nahmen, ob Sie sich eher darüber mokieren oder sich entwickeln wollten, ich kann Ihnen eines versprechen: Ich werde das Ganze so unterhaltsam machen, wie es mir nur möglich ist.
Catherine
Es war einmal ein Fisch, der in der Flut einen Angelhaken schluckte.
Der Fisch wusste nicht, was ein Angelhaken ist. Er sah nur ein paar Federn, ein Blinken, das im Wasser zu schweben schien.
Der Fisch hielt vor diesem merkwürdigen Ding inne, das eine Weile vor seiner Nase tanzte. Er war hingerissen, aufgeregt, bezaubert von diesem neuen Rätsel.
Dann versuchte er, nach dem Ding zu schnappen. Vielleicht schmeckte es ja gut. So etwas passiert in dem Ozean, in dem Fische andere Fische fressen.
Wäääh! Der Fisch spuckte das Ding sofort aus. Gar nicht gut. Dann spuckte er noch mal. Diesmal aber geschah etwas. Das Ding ließ sich nicht ausspucken. Plötzlich hing der Fisch an dem glitzernden Ding fest.
Es verging einige Zeit. Der Nachthimmel legte eine Decke über den Ozean. Längst erloschene Sterne schickten Streifen aus Licht durch die Atmosphäre.
Der Fisch beschloss, sich von seinem neuen Freund zu trennen. Es ging ihm auf die Nerven, derart aneinanderzuhängen. Da verspürte er einen ungekannten Schmerz. Je mehr er versuchte, fortzuschwimmen, desto heftiger bohrte sich der Schmerz in seinen Leib.
Der Fisch hing am Haken.
Bis eines Tages der Schmerz so stark war und der offene Ozean so verlockend, dass der Fisch beschloss, all seine Kraft und all seinen Witz aufzuwenden, um sich loszumachen. Er erkannte, wo sein Problem lag: an diesem Haken. Und überlegte sich eine Strategie, um von ihm loszukommen.
Der erste Plan zum Abhaken funktionierte eine Weile, bis – verdammt noch mal – der Fisch sich wieder am Haken verfing. Und er überlegte sich etwas anderes. Aber auch das klappte nicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich verinnerlichte der Fisch die Lektion, die sein mehrmaliges Scheitern ihn lehrte. Er schaffte es, sich loszuwinden – und ließ den Haken hinter sich.
Welche Freude!
Der Fisch schnellte empor, sprang und glitt durch das gewaltige, schwerkraftfreie Blau.
Aber wie weit er sich auch entfernen mochte, der Haken folgte dem Fisch. Er tänzelte und glitzerte immer verlockend am Rande des Gesichtsfelds. Irgendwann verschwindet er schon, dachte der Fisch. Du darfst ihn nur nicht beachten.
Die Jahre vergingen. Der freie Fisch wurde immer sicherer in dem Wissen, dass er sich von diesem Schmerz nicht mehr würde zerreißen lassen. Er wusste mittlerweile, dass der Haken ihm nicht mehr näher kommen konnte, wenn er nicht auf ihn zuschwamm. Er wusste, dass der Haken, obwohl er glitzerte und funkelte und in ein anderes, schöneres Reich einzuladen schien, nur aus der Illusion der Federn und Blinker bestand. Der Fisch wollte lieber in seinem Reich bleiben.
Und doch: Der Haken tänzelte stets verführerisch am Rande seines Gesichtsfelds. Und so fragte sich der Fisch: »Wann werde ich endlich frei sein von diesem gottverdammten Haken, der mir solche Angst machte? Wie soll ich je ein freies Leben führen, wenn da immer dieser Haken ist?«
In den Jahren null bis vier meines Trockenseins lernte ich die Grundlagen. Wie ich ohne Alkohol atmen, Freunde treffen, daten, küssen, zu Hochzeiten gehen, Weihnachten feiern, ja überhaupt leben konnte. Hier geht es nun um all das, wovon ich Ihnen noch nicht berichtet habe: die Jahre fünf, sechs und sieben.
Sobald wir länger als drei Jahre trocken sind, heißt es, sind wir in der Phase der Nachsorge. Der Grund? Eine maßgebliche Studie, die über acht Jahre geführt wurde, zeigt, dass die Rückfallquote massiv sinkt, sobald wir drei Jahre trocken hinter uns haben.
Im ersten Jahr schaffen es 36 Prozent, nüchtern zu bleiben. Das ist eine Zeit, in der wir immer wieder ins Straucheln geraten, und das ist – möchte ich hier betonen – ganz normal. Ich brauchte fünf Monate, um aufzuhören, wieder anzufangen, aufzuhören, wieder anzufangen, aufzuhören, wieder anzufangen. Bis endlich Tag eins der Trockenheit anbrach. In den Jahren eins bis drei steigt die Erfolgsquote auf 66 Prozent. Herrliche Aussichten! Nach drei Nüchternheitsjahrestagen bleiben umwerfende 86 Prozent trocken.
Das ist doch phänomenal: Nach drei Jahren knicken nur 14 Prozent ein. Aber halt, macht sich die stets negativ summende Drohne in meinem Kopf bemerkbar, das sind aber nicht null Prozent, oder? Immerhin noch 14 Prozent. Und wenn ich es zusammenfasse sollte, würde ich sagen, dass diese Zahl mich in den letzten Jahren beschäftigt hat. Und die Suche nach Wegen, um mich so sicher wie irgend menschenmöglich zu fühlen. Nicht in Angst zu leben, sondern mich aktiv dafür einzusetzen, dass dieser Regenwald nicht auch noch abgeholzt wird.
Die Abstinenz vom Anfang bis etwa zur Mitte ist ein traumhaftes Gefühl, aber ebenso ein angsteinflößender Drahtseilakt. Ab dem vierten Jahr aber haben Sie sich daran gewöhnt, dass Sie sich am Samstagmorgen nicht wie einer der Walking Dead fühlen. Der Reiz verfliegt also. Dass Sie fähig sind, morgens um neun Uhr in Ihren Yogakurs zu gehen, fühlt sich nicht mehr wie eine Offenbarung an. Es wird eben normal: »Na und?«
Die Gratulationen für das Trockensein, die Sie so sehr genossen haben, werden langsam zur Routine. »Was, sechs Jahre sind das jetzt schon? Spitze!« *Freund studiert die Speisekarte.* »Sollen wir Vorspeisen bestellen oder nicht?« Die neue Normalität eben. Die für alle Menschen um Sie herum ebenfalls normal ist. Kein triumphaler Sieg mehr, sondern einfach Ihr Leben.
Nach dem ersten Tag des vierten Jahres ist das Trockenbleiben – darf ich das sagen? – ein Klacks. Aber an diesem Punkt fängt die weniger selbstverständliche, aber tiefer gehende Arbeit an. Ich trainierte Fähigkeiten, die auf den ersten Blick mit dem Trockensein gar nichts zu tun hatten – dabei standen sie absolut in Zusammenhang. Ich lernte Dinge wie: Neinsagen (regelmäßig); Grenzen setzen (ich hasse Grenzen); um Dinge bitten, die ich haben wollte; meine Energie für jene Partys aufsparen, die mir am Herzen lagen; lernen, mit sicherer Begleitung die Kammer der Scham zu öffnen (was ich alles angestellt hatte!). Offen gestanden war das alles nicht so lustig, veränderte mich aber grundlegend.
Als hätte ich in den Jahren null bis vier gelernt, bis auf 18 Meter Tiefe zu tauchen. In den darauffolgenden Jahren aber wurde ich eine meisterliche Taucherin, die sich auch 30 Meter hinunterwagen konnte. Dort unten war es häufig dunkler. Es war auch schwieriger, mit den Dingen umzugehen, die man brauchte, um da hinunterzugelangen. Aber die Erfahrung war mindestens genauso großartig.
Ich war schon glücklich trocken. Quietschvergnügt, kreuzfidel und frohgestimmt wie Augustus Glupsch in Charlie und die Schokoladenfabrik. Es gab eine kurze Zeit, in der ich mich langweilte. Doch dieses Gefühl wurde schnell torpediert von einem klugen Therapeuten, der kurz hüstelte und dann meinte: »Vielleicht langweilen Sie sich ja grundsätzlich?« Ich hakte nach: »Wie meinen Sie das?« Und er: »Möglicherweise empfinden Sie im Moment einfach Ihr Leben als fad? Und nicht das Trockensein?« Verdammt noch mal, der lag ja richtig. Also zog ich los und sorgte für mehr Aufregung im Leben. YouTube ist ein Freund, der Ihnen nie Geld abknöpft, egal, ob Sie nun lernen wollen, im Meer zu schwimmen oder ein Soufflé zu backen.
Und schon war ich nicht mehr gelangweilt und unglücklich. Meine Herausforderung beim langfristigen Trockenbleiben sah vielmehr so aus: Wie kann ich mich endlich sicher fühlen? Sicher vor mir selbst, sicher vor anderen, sicher vor meinen Erinnerungen und last, aber sicher not least: sicher vor Alkohol und dem extremen kulturellen Druck, der mit ihm einhergeht. Und genau damit werden wir uns hier beschäftigen. In meinem ersten Buch ging es darum, wie ich zum Zustand von »glücklich und zufrieden« fand. Hier werden wir uns mit dem »dann leben sie noch heute« beschäftigen.
Also, los geht’s! Was hat sich in den letzten Jahren in der Trinkerlandschaft so zugetragen? Nun, zuerst einmal hat eine Studie des britischen National Health Service ergeben, dass das stereotype Bild vom Säufer schief ist. Trinken ist in den privilegierten Schichten, die in schicken Vierteln wohnen, viel verbreiteter, als man angenommen hatte. La-di-trink-da. Die Leute mit Weinkühlschränken (oder gar Weinkellern), Brettern fürs Stand-up-Paddling, von Farrow & Ball gestalteten Inneneinrichtungen und Wodkasorten in ausgesuchten Geschmacksrichtungen sind die versoffensten Schluckspechte überhaupt.
Die nämliche Studie bestätigte noch einmal, dass die stärksten Trinker unter uns von den Babyboomern gestellt werden, die jetzt zwischen 55 und 64 Jahre alt sind. Innerhalb dieser Altersgruppe konsumieren zwei von zehn Frauen – und vier von zehn Männern – mehr als 14 Einheiten Alkohol pro Woche. Kein Wunder: Schließlich sind sie in den babylonischen, fetzigen, verrauchten und versoffenen Mad-Men-Sechzigern aufgewachsen.
Damals verschrieb man Schwangeren in Irland ein halbes Guinness täglich, was ihren Eisenspiegel im grünen Bereich halten sollte. (Wahre Geschichte: ist meiner Großmutter passiert.) Die gesundheitlichen Mythen, die den Alkohol umranken, haben die Babyboomer massiv beeinflusst. Was es umso schwieriger macht, eine Sucht zu erkennen. Und einen gordischen Knoten der Abhängigkeit schlang. Einen Knoten, der jeden Matrosen fuchsen würde.
Nichtsdestotrotz nimmt der regelmäßige und suchtgesteuerte Alkoholkonsum stetig ab. 50 Prozent der Frauen und 35 Prozent der Männer haben in der Vorwoche keinen Alkohol getrunken. Yabbadabbadoo! Die Anzahl der Männer, die bei einer Sitzung mehr als acht Einheiten Alkohol konsumieren, ist (von 24 Prozent vor zwölf Jahren) auf 19 Prozent gesunken. Der Prozentsatz der Frauen, die während einer Sause mehr als sechs Einheiten Alkohol konsumieren (was für mein Trinker-Ich nur der Anfang war), ist von 16 auf 12 Prozent zurückgegangen.
Die Millennials schwören dem Alkohol in Massen ab. Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, dass ein Drittel von ihnen ein alkoholfreies Weihnachten plante. Da die Generation X und die Babyboomer den 25. Dezember gewöhnlich als willkommene Gelegenheit betrachten, sich ab zehn Uhr vormittags (der Cocktail zum Geschenke-Öffnen) bis Mitternacht so manches Gläschen hinter die Binde zu kippen, ist das ein echter Fortschritt. Fast die Hälfte der Millennials gibt an, dass sie zum weihnachtlichen Abendessen lieber Tee oder Kaffee trinken als Wein. Angeber! Keine große Überraschung also, dass der Absatz von Bier mit null oder niedrigem Alkoholgehalt seit 2016 um 30 Prozent zugenommen hat.
Und dann: Bumm! die nationalen Lockdowns eins und zwei, die uns nicht nur seelisch aus der Bahn warfen. Sie katapultierten uns so weit ins Niemandsland, dass überhaupt keine Bahn mehr zu sehen war. Eine Studie der Organisation Alcohol Change UK fand heraus, dass ein Fünftel der Briten im Lockdown mehr trank als üblich (hicks!), ein Drittel trank weniger (Yippie!) und sechs Prozent gaben das Trinken ganz auf (allererste Sahne!).
Die Leute (und nicht nur die unter 40), die nicht oder nur wenig trinken, werden also immer mehr. Das veranlasste die Alkoholindustrie, die sozialen Medien mit Trinker-Memen zu überfluten (denn glauben Sie mir, genau da kommen die her). Zum Beispiel: »Das Bacardi-Feeling: einzigartig!« Der verschmähte Liebhaber postet in Folge eine Menge schmeichelhafter Fotos von sich.
Wir müssen lernen, diese raffinierten Marketingstrategien zu durchschauen, mit denen man die sozialen Medien überzieht. Würden wir auf ähnliche Meme für andere Produkte stoßen (zum Beispiel: »Rauchen: Hilft in Sekunden, wirkt für Stunden!« Oder: »Keine Hektik, keine Kompromisse: Essen Sie Rindfleisch!«), fänden wir das wohl ziemlich eigenartig. (Und würden vermuten, dass da die Tabak- oder Fleischindustrie dahintersteckt.) Und nicht wie die Lemminge »Teilen« anklicken.
Dieser zum Trinken animierende Humbug der Alkoholindustrie blieb eine Ewigkeit unkontrolliert. Mittlerweile aber stemmen sich die Regulierungsbehörden gegen die Bilder vom rosaroten Aperitif in den Abendstunden, der häufig nur der Anfang vom Ende ist. So nahm man beispielsweise im Jahr 2018 ein Riesenglas vom Markt, in dem eine ganze Flasche Wein Platz hatte.
2020 wurde die Scottish Gin Society bemerkenswerterweise vom schottischen Werberat (Advertising Standards Authority oder ASA) gerügt, weil in einer Werbesendung behauptet wurde, Gin sei gesünder als eine Banane. Wie bitte? Auch andere Formen der Werbung wurden verboten: »Halt die Klappe, Leber! Dir geht es prima!« Oder ein Strichmännchen namens Bill, das den Januar zum Ginuar machte, weil er ein so langer Monat ist. Unmöglich!
Die Front gegen Big Alcohol formiert sich langsam, aber da der Tod durch Alkoholkonsum weltweit zunimmt, muss das jetzt endlich mal schneller gehen. Ich werde Ihnen später von den tentakelgleichen Verstrickungen zwischen Staat und Big Alcohol erzählen, die Sie mit Empörung erfüllen werden. (Grund genug für einen dieser schicken Aluhüte, die Verschwörungstheoretiker so gerne tragen. Ich selber zögere allerdings noch ein bisschen.)
Ich möchte wetten, Sie fanden mein erstes Buch schon heftig. Nun, liebe Leute, es kommt noch schlimmer. Ich werde Ihnen Geschichten über sexuelle Indiskretion und Untreue erzählen. Dazu gehört auch die Story, warum ich mich immer noch von King Kong verfolgt fühle. Ich werde Ihnen von Drogen berichten, von dem Augenblick, in dem ich dachte, einen Hund getötet zu haben, von meinem Zusammenstoß mit der Polizei in Hackney und den Lügen, die ich regelmäßig meinen Partnern auftischte. Ich werde Ihnen Sachen anvertrauen, die ich noch nie jemandem erzählt habe. Und veröffentlicht schon gar nicht.
Und das Beste: Ich habe hier mehr als 50 Stimmen aufgenommen, die nicht von mir kommen. Wir werden die Geschichte vom Tod der Großmutter hören, die erfunden wurde, um nicht blau zur Arbeit erscheinen zu müssen. Sie wird Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen. Wir werden von einem Mitglied der LGBTQIA-Gemeinschaft hören, das erzählt, wie schwierig es ist, in einer Gemeinschaft das Trinken aufzugeben, die buchstäblich in einer Bar geboren wurde. Oder von einer Mutter, der man vorwarf, den Geburtstag eines Vierjährigen ruiniert zu haben, weil sie nichts trinken wollte. Sie werden die Geschichte der Frau lesen, die ihre Weinflaschen im Kinderwagen versteckte, um nicht um 15 Uhr nachmittags nüchtern bleiben zu müssen. Sie werden Teenager kennenlernen, die zuerst nur neugierig auf ihr erstes Glas waren. Und Mütter, die ihre postnatale Depression im Alkohol ertränkten.
Auch Ärzte gesellen sich zu den Menschen im Beichtstuhl und erzählen uns, warum in ihrem Berufsstand Leberzirrhose so häufig ist. Und junge Null-Alkohol-Verfechter schildern uns, dass ihre etwa 20-jährigen WG-Freunde besser verstehen, warum sie auf Alkohol verzichten, als ihre Eltern. Männer lassen uns daran teilhaben, wie alkoholfreies Bier sie vor dem »Sei doch keine Memme«-Chauvinismus rettete.
Wir werden von den schrecklichen Zwillingen hören – das Tandem aus Alkohol- und Kokainsucht –, und zwar von Wissenschaftlern ebenso wie von Menschen, die sich davon losgemacht haben. Und ich werde Ihnen die auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Trigger der Alkoholsucht vorstellen: Krankheiten, prämenstruelles Syndrom (PMS), Sommer, Aufschieberitis, Telefonate, Sex an Feiertagen und merkwürdigerweise auch Produktivität. Frauen werden uns erzählen, wie sie als Schwangere unter dem sozialen Druck des »Na, einer schadet doch nicht!« gelitten haben. Und wie sie der Höflichkeit halber einen Schluck nahmen, obwohl sie stillten.
Vieles, was ich vorher nur ein wenig gestreift habe, hat hier genug Raum bekommen. Zum Beispiel der zunehmende Trend in der Wellnessindustrie zum Alkoholkonsum. Was ich vorher mit sechs Worten abgehandelt habe, nimmt nun acht Seiten ein. Ich habe schon im ersten Buch einige Sätze über die erstaunlich häufige Koinzidenz von schwerer Kindheit und Sucht geschrieben. Hier werden wir uns intensiver damit beschäftigen.
Eines aber bleibt gleich. Viele Ex-Trinker bekommen diesen Guru-Komplex. Sie streichen sich sinnend über den Bart, schütteln die Mähne und lassen die Welt an ihrer absoluten Weisheit teilhaben. Natürlich sollten Sie sich anhören, was sie zu sagen haben, aber eines dürfen Sie dabei nicht vergessen: Wir haben alle unseren eigenen Weg. Wir picken uns die Rosinen heraus aus dem, was funktioniert. Alles andere sortieren wir aus.
Und ich? Ich werde Ihnen nie sagen, dass mein Weg der einzig richtige war. Ich kann Ihnen nur meine gelebte Erfahrung anbieten und meine unerschütterliche Neugier auf alles, was mit Sucht und Trockensein zu tun hat. Da ich keine Expertin bin, habe ich Experten hinzugezogen. Ich stütze mich auf akademische Quellen, um meine Nachforschungen voranzutreiben.
Wir werden uns aber auch mit einigen der größten, dornigsten, pikantesten und immer präsenten Fragen auseinandersetzen. Verbessert es Ihre Erfolgsaussichten, wenn Sie sich als »Suchtkranker« oder als »Alkoholikerin« bezeichnen? Gibt es so etwas wie eine Suchtpersönlichkeit? Oder: einmal süchtig, immer süchtig?
Das sind Pulverfässer, die in Chatgruppen von hier bis Timbuktu diskutiert werden. Wir besprechen sie mit ausgewählten Fachleuten. Aber wie Sie sehen werden, sind sich diese auch nicht einig. Was die einzig wirklich wahre »Tatsache« unterstreicht, deren wir sicher sein können: Auf die wenigsten Fragen gibt es eine klare Ja/Nein- oder Schwarz/Weiß-Antwort. Wir können hier nur Meinungen anführen, die auf Beobachtungen beruhen. Oder Theorien, die sich auf Forschungsarbeiten gründen. Oder Überzeugungen, welche auf Dingen fußen, die wir gelesen haben.
Tatsächlich war dies eine der wichtigsten Lektionen, die ich als frischgeborene Trockene gelernt habe. Dass es kein Schwarz-Weiß gibt. Ich fing endlich an, die grenzenlosen Schattierungen von Grau wahrzunehmen. Und zu begreifen, dass viele Dinge, die ich für »Fakten« hielt, nur meine Meinung waren. Dass andere ein Recht auf ihre Ansichten hatten. Dass ich nicht jede abweichende Meinung in Grund und Boden ringen und dominieren musste, bis ihr Vertreter endlich aufgab. Wir konnten beide einfach … sein. Koexistieren. Uns höflich zunicken und uns gegenseitig in Ruhe lassen. Statt einander auf die Matte zu werfen.
Ich werde Sie mit der Meinung von Experten bekannt machen. Und auch mit meiner. Und ich werde Sie mit Ansichten bekannt machen, die meinen widersprechen. (So gern ich glauben würde, dass ich alles weiß, so hat es doch den Anschein, als sei dem nicht so.) Und dann … können Sie selbst entscheiden.
Sie sind ein intelligentes Wesen, das seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Ich lasse Sie die Arbeit machen: Sie entscheiden, was Sie glauben. Noch genauer ausgedrückt: Sie entscheiden, welche Version der Wirklichkeit Ihnen beim Trockensein (ob schon angefangen oder erst anvisiert) am besten hilft. Und wenn sie Ihnen hilft, halten Sie daran mit aller Kraft fest. Lassen Sie sich diese Realität nicht nehmen. Auch nicht von mir.
Alles klar? Dann los! Ich hoffe, Sie freuen sich schon, denn ich tue es ganz sicher.
Lieber Mensch, der du dich für das Nüchternsein interessierst!
Willkommen! Auch wenn sich das gruslig anhören mag: Ich kann dich sehen. Hier ein paar Signale, die dir zeigen, dass du am richtigen Ort bist:
Du findest es albern, nur einen Drink zu nehmen. (»Wozu das denn?«)
Du findest, dass der Alkohol zwar deine Ängste löst, dass diese aber am nächsten Morgen in noch viel schlimmerer Form zurückkehren, als wären sie durch Schadenzauber von den Toten wiederauferstanden.
Du hast Erinnerungen an sexuelle Erfahrungen im Zustand der Volltrunkenheit, für die du dich noch Jahre später schämst.
Es ist dir schon öfter passiert, dass du in eine Kneipe oder einen Klub zurückkehren musst, um eine monströse Rechnung zu bezahlen, die du am Vorabend vergessen hast. Oder um zu fragen, ob sie deine Handtasche/Brieftasche/deinen Mantel/deinen Laptop/deinen Pass oder dein DJ-Deck gefunden haben. (Letzteres war die Erfahrung eines Freundes.)
Du googelst schon mal um ein Uhr nachts die Frage »Bin ich Alkoholiker?«.
Du hast alkoholbedingte Filmrisse. Sobald unser Blutalkoholspiegel einen bestimmten Wert übersteigt, hört der Hippocampus auf, Erinnerungen zu speichern. Daher wiederholen wir uns ständig und vergessen ganze Stunden oder was wir in einer Bar getan haben. Obwohl wir immer noch gehen, reden oder ein Brathuhn futtern können.
Du gehst häufig zweimal in den Supermarkt, um Alkohol zu kaufen, weil zwischen der Menge, die du tatsächlich trinkst, und der, die du trinken willst, ein himmelweiter Unterschied liegt. Oder du rufst nächtens einen dieser Flink-Services an, die dir Alkohol frei Haus liefern, weil du zwar längst voll bist, aber um zwei Uhr morgens immer noch denkst, dass es nicht genug ist. Und natürlich musst du morgen früh ins Büro.
Du weigerst dich, zu bestätigen oder zu leugnen, dass du dir auf Facebook Bilder von dir und deinem Ex angeguckt hast, während du gleichzeitig ins Weinglas geflennt hast.
Du drückst den Korken einer Rotweinflasche vorsichtshalber in die Flasche, bevor er beim Rausziehen vielleicht zerbröselt. Oder du öffnest eine Flasche Radler mit den Zähnen. Würdest du es riskieren, einen Zahn zu verlieren, nur um an Limonade zu kommen? Sag ich doch!
Als ich noch getrunken habe, hätte ich bei all diesen Punkten ein Ja ankreuzen müssen. Wenn mehrere dieser Punkte auch auf dich zutreffen, dann bist du hier richtig. Komm ruhig rein.
Catherine
Oktober 1995
Ich bin 15. Und bei einem Rave in Birmingham: Atomic Jam. Oder war es Spacehopper? Ich bin nicht sicher. Ich weiß nur, dass alle Raves sich anfühlten, als würden sie im Weltall passieren.
Ich bin mit meinem verträumten Boyfriend Matt hier, der ein kleiner Drogendealer ist. Und für mich ist er der Eine, Einzige. Nur damit Sie’s wissen. Er und ich sitzen auf einer Bank und beobachten Leute, deren Hemmungen längst die Körpersphäre verlassen haben.
Ich habe eine halbe von Matts Pillen genommen, aber es ist nichts passiert. Er geht voll mit. Er steht auf und stößt die Faust gen Himmel wie ein Superheld. »Lass uns tanzen«, schreit er, aber ich kann nicht aus meiner Haut heraus. Ich bin gehemmt. Ich traue mich kaum aufzustehen, geschweige denn zu tanzen.
Wir haben keinen Tropfen Alkohol getrunken, denn hier geht es darum, high zu werden, nicht betrunken. »Ich bin nicht drauf«, jammere ich. Er springt auf und tanzt mit einem anderen Mädchen, die einen silbernen Bikini trägt. Ihr Haar leuchtet pink. Ich wünschte, ich wäre so kosmisch. Sie sieht aus wie ein sexy Alien.
Rich, ein Freund, kommt und setzt sich neben mich. Er dealt auch. Ich habe mir immer schon den besten gesellschaftlichen Umgang ausgesucht.
»Wo ist Matt?«, fragt er. »Er tanzt mit der da«, murmle ich unglücklich. »Meine Pille hat nichts gebracht.« – »Wo ist denn sein Stoff?«, meint Rich. »In meinem BH.« – »Dann nimm doch noch eine halbe, du Genie.« Ich marschiere zu den Toiletten, wo zwei Mädels mit Pupillen wie Untertassen einander übers Gesicht streicheln, als wären ihre Wangen aus Samt.
Ich werfe noch eine halbe Pille ein. Gerade als ich sie runterschlucke, fängt mein Unterkiefer unter der Einwirkung der ersten Hälfte an zu zittern. Verdammte Scheiße! Ich bin als Ecstasy-Konsument ein totaler Neuling. Ich habe es bisher nur einmal genommen. Ich weiß nicht, ob ich eine ganze Pille packe. Ach, verdammt. Ist doch auch schon egal. Ich ziehe mir mit glänzendem Lipgloss eine Linie übers Gesicht und lächle. Meine Augen sind tot wie die von Joker.
Ich hänge an meinem Äußeren wie an einem kostbaren Tempel. Er wird in einem fort bemalt, poliert und gepudert. Und mein Inneres? Diesen Tempel plündere ich aus für jeden Funken verbotenes Glück, Ekstase oder Vergnügen, den er mir nur geben kann. Ich habe kein Interesse an der Gesundheit meines innersten Selbst. Nur daran, wie die Außenseite wirkt. Das Innere ist ein Wrack, das ich ausplündere. Das Äußere ist die Touristenattraktion.
Mit Zigaretten zeichne ich dunkle Flecken in meine Lunge, mit Alkohol versenke ich mich in die verborgenen Schätze. Und ich bin immer mehr überzeugt, dass harte Drogen diese Grabungen weiter vorantreiben, sodass ich an unterirdische Schätze gelange, zu denen ich ohne keinen Zugang hatte. Sie eröffnen mir Wege in Schatzkammern voller Gold und Perlen. Bring. Mich. Hin.
Ich fange an zu tanzen und kann nicht mehr aufhören. Ruckartig und unermüdlich wie ein aufgezogenes Spielzeug. Ich gehöre ganz dem Bass, als wäre ich ein bassgesteuertes Häschen. Der Hard House hörte sich erst nur an wie Presslufthammergetöse. Nun kommt es mir so vor, als säße ein Engel an den Drums. Ich hasste diese Musik – jetzt bin ich verrückt danach.
Richs Augen leuchten auf, als er mich sieht. »Bumm!«, ruft er aus. Er nimmt mich mit in die verschiedenen Räume dieses abgehalfterten Nachtklub-Palasts, sozusagen als Werbung für sein Angebot. Er deutet auf mein roboterhaftes Getanze und verkauft, verkauft und verkauft. Ich bekomme davon kaum etwas mit.
Mein Freund kommt zu mir zurück und lässt die Alien-Frau mit dem silbernen Bikini stehen. Wir sind eins. Wir gießen Wasser nach, nehmen auf Sitzsäcken Platz und streicheln einander das seidige Haar. Nie hat Haar sich so gut angefühlt! Fühlt Haar sich immer so toll an?
Wir sagen: »Ich liebe dich.« Obwohl keiner von uns das morgen noch denken wird. Ich gehe aufs Damenklo und sehe, dass meine Wangen rot leuchten. Wie bei der sprichwörtlichen Schönheit vom Lande. Die Haare stehen mir vom Kopf ab und ich kann nicht aufhören zu lächeln, nicht einmal, wenn ich meine Lippen mit den Fingern zusammendrücke. Das zahnweiße Lächeln bricht immer wieder durch, springt auf wie eine Registrierkasse. Ping!
Durch meine Adern segeln Rubine. Smaragde explodieren in meinem Gehirn wie ein Feuerwerk. War ich vorher zu schüchtern, so bin ich jetzt so frei, dass ich meine, fliegen zu können.
Die tobende Menge hat, was sie suchte. Dieses vollkommene Gemeinschaftsgefühl, bei der die Musik zum Zwilling deiner Seele wird. Endlich weißt du, wo du hingehörst. Jeder Witz, den du machst, hat seine Lacher. Jeder Mensch scheint dich zu lieben. Wir tanzen mit den Händen, als wäre uns alles egal, in Wirklichkeit ist es ganz anders: Wir nehmen alles wichtig. Viel zu wichtig. Darum mussten wir ja auf künstlichem Wege an diesen Punkt kommen.
Nichts davon ist real. Es ist die reine Chemie. Verbotene Fülle. Diese Schatzkammern unter der Erde standen mir ja nicht wirklich offen. Ich sollte sie nicht gewaltsam aufbrechen. Keiner von uns sollte das. Denn das hat Folgen.
Es offenbart zu viele Reichtümer, man genießt sie in vollen Zügen und lässt nichts mehr übrig für das Morgen – den nächsten Tag, den übernächsten. Ich zerstöre die natürliche Ordnung dieses Vergnügungstempels. Und ich habe seine Wächter verärgert. Die Strafe folgt auf dem Fuß. Millimetergenau.
Ich verbringe die ganze nächste Woche im Tempel des Verderbens. Ich schleppe mich von zu Hause zur Schule und zurück, ein trauriger Sack Fleisch. Ich schwöre mir, nie wieder Ecstasy zu nehmen.
Und ich muss sagen: Ich schaffe es. Es erschreckte mich zutiefst, dass ich mich fühlen konnte wie ein zu stark aufgezogenes Spielzeug. Dass ich die Kontrolle verlor. Mein Körper fühlte sich an, als gehörte er mir nicht. Aber das hält mich nicht davon ab, in den nächsten Jahren andere harte Drogen auszuprobieren. Immer dann, wenn ich erneut in die verbotenen Schatzkammern der verbotenen Tempel vordringen möchte.
Ich kaufe mir keine Drogen. Ich besorge sie mir nicht. Aber wenn sie da sind, nehme ich sie. Acid. Kokain. MDMA … Jedoch meist Kokain. Insgesamt etwa 20 Mal im Laufe meines Lebens.
Warum auch nicht? Es war mir scheißegal, wie die Innenseite meines Tempels aussah, solange mein Körper mir den Gefallen tat und solange ich mich an den Juwelen ergötzen konnte. Und solange das Äußere des Tempels immer noch Gefallen findet.
Meine Freunde und ich sahen diese kosmisch verlinkten Szenen in Filmen wie Human Traffic oder Trainspotting. Und obwohl die Drogenerfahrungen auch dort in die Sucht führten, suchen wir alle immer wieder dieses magische Einssein. Diesen Moment der Nacht, in dem alle Sterne immer heller zu leuchten scheinen und sich alles einfach richtig anfühlt.
Jedes Mal wieder schummeln wir uns dorthin, selbst wenn die Wächter uns für unseren Einbruchdiebstahl bestrafen.
Interessanterweise klingt ihr wütendes Grollen bei harten Drogen ärgerlicher als beim Alkohol. Was es heißt, einen Kater zu haben, lerne ich erst, als ich schon an der Uni bin.
Also konzentriere ich mich auf den Alkohol. Alkohol bringt einen zwar nicht so auf Touren, aber er zieht auch weniger Verderben nach sich. Für mich ist es fortan der Alk.
Ich werde im Laufe unseres Zusammenseins immer wieder »brennende Fragen« anschneiden und Ihnen erzählen, was unsere vier Experten darüber denken. Es sind dies Fragen, die immer wieder diskutiert werden. (Was sich vermutlich auch in den nächsten 100 Jahren nicht ändern wird.)
Was mich daran fasziniert: Sie können diese einfachen, häufig gestellten Fragen einem Heer von Kapazitäten vorlegen und trotzdem sicher sein, dass sich nicht zwei Antworten gleichen. Das zeigt einmal mehr, dass es – wenn es um Süchte geht – keine allein gültige Antwort gibt. Es sind vielmehr immer mehrere Antworten möglich.
Dr. Judith Grisel, Professorin für Psychologie und Neurologie an der Bucknell University. Sie hat auch ein Buch verfasst: Never Enough: The Neuroscience and Experience of Addiction.
Dr. Marc Lewis ist Neurowissenschaftler und emeritierter Professor für Entwicklungspsychologie. Er ist Autor von: Memoirs of an Addicted Brain. Und: The Biology of Desire: Why Addiction Is Not a Disease.
Dr. Julia Lewis ist Psychiaterin und arbeitet seit 15 Jahren auf dem Gebiet der Suchtbekämpfung.
Dr. David Nutt ist Professor für Neuro-Psychopharmakologie am Imperial College in London. Von ihm stammt das Buch: Drink? The New Science of Alcohol and Your Health.
Dr. Judith Grisel sagt: »Zur Sucht kommt es, wenn eine Schuld fällig wird. Die Schulden sammeln wir an, indem wir uns auf Kosten der Zukunft gute Gefühle verschaffen. Manche Experten gehen heute davon aus, dass es sich um eine Lernstörung handelt. Korrekter wäre es, wenn man es als übermäßige Lernfähigkeit bezeichnen würde. Es ist ein perfektes Beispiel dafür, wie gut unser Gehirn lernt, auch wenn es um eine selbstzerstörerische Gewohnheit geht. Wir lernen schneller, wenn das Gelernte uns zusagt und für uns Bedeutung hat. Und für das Gehirn haben Drogen wie Alkohol eine enorme Bedeutung.«
Dr. Marc Lewis sagt: »Sucht ist eine sehr eng gefasste Kategorie, eine Reihe von Aktivitäten beziehungsweise Substanzen, die Menschen mit Problemen irgendwie Erleichterung zu verschaffen scheinen oder Lust oder Hilfe. Menschen, die diese Erleichterung eben nicht in ihren sozialen oder kulturellen Aktivitäten finden.«
Dr. Julia Lewis sagt: »Eine Reihe von Verhaltensweisen, die von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren gestützt werden. Wenn man nur die biologische Seite nimmt, könnte man es als abnormes Lernen betrachten. Es gibt einige höchst urtümliche Schaltkreise im Gehirn, die uns dazu bringen, Verhaltensweisen zu wiederholen, die unserem Überleben dienen: essen, schlafen, sich paaren und so weiter. Die Sucht kapert dieses System nun und reiht Trinken, Spielen oder Drogennehmen ein unter die ›überlebensnotwendigen Verhaltensweisen‹. Das wiederum heißt: Wenn Sie ihr nicht gehorchen, fühlt sich die innere Unruhe, dieser Aufruhr im Belohnungssystem wirklich schrecklich an.«
Dr. David Nutt sagt: »Sucht ist ein Verhaltenszustand, in dem Sie nicht aufhören können, etwas zu tun, auch wenn Sie es eigentlich nicht wollen.«
Ich: Hier will ich mich mal bei einer der brennenden Fragen einmischen, auch wenn ich keine Expertin bin. Warum? Ganz einfach: Man stellt mir nämlich diese Frage immer wieder.
Für mich ist Sucht: Man greift nach einer Sache oder Person in der Außenwelt, um seinen Gefühlszustand zu verändern. Sucht ist ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten, die sich nicht schwarz auf weiß fassen lassen. Sucht ist ein Kontinuum, keine binäre Entscheidung zwischen Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß.
Der Unterschied zwischen Suchtverhalten und Nicht-Suchtverhalten ist im Grunde einfach. Sobald Sie damit angefangen haben, finden Sie es schwierig, damit wieder aufzuhören. Ihre besten Absichten werden an eine Rakete gefesselt und in den Weltraum geschossen.
Jedenfalls verhält es sich bei alkoholbezogenem Suchtverhalten so. Es ist nicht entscheidend, ob Sie nur zweimal die Woche trinken oder nur alkoholarmes Bier. Es zählt nicht, ob Sie sich immer an alles erinnern können und nie die Hosen vor Publikum herunterlassen oder … oder … oder.
Ein untrügliches Zeichen: Sie ziehen los und wollen vielleicht nur ein bestimmtes Quantum Alkohol zu sich nehmen, aber meist trinken Sie eben mehr. Sie stürzen sich in die Nacht und denken: Ich werde genau x Drinks konsumieren. Stattdessen trinken Sie y. Und das ist der entscheidende Punkt. Wenn Sie ständig mehr trinken als gewollt, dann geht hier die rote Fahne nach oben.
Denken Sie darüber mal nach. Wo machen Sie das sonst im Leben? Ich gehe nicht los, um mir eine Cola zu kaufen, und trinke dann aber vier. Ich kaufe nicht einen ganzen Käsekuchen, wenn ich nur ein Stück möchte, und verdrücke ihn dann ratzeputz, obwohl ich ständig versuche, von Käsekuchen loszukommen. (Ich weiß, das hört sich hart an. Ihr habt mein Mitgefühl, Leute.) Daher bin ich nicht abhängig von Käsekuchen. So einfach ist das. Der Käsekuchen ist einfach nicht mein Ding.
Dagegen mache ich oft das Folgende: Ich schnappe mir mein Telefon und will nur schnell die Anrufliste durchgehen, und schwuppdiwupp ist eine ganze Stunde verflogen. Ich bin also in gewisser Weise (nicht schwer, aber immerhin doch) süchtig nach meinem Smartphone. Wie die meisten Menschen.
Alkohol war durch und durch mein Ding. Mein Smartphone ist mein Ding. Und wenn Alkohol auch Ihr Ding ist, dann sollten Sie eines gut verstehen: Mit Ihnen ist alles in Ordnung. Das Einzige, was Quatsch ist, ist die verbreitete Vorstellung, dass alle Menschen von etwas hochgradig Suchterregendem einfach die Finger lassen können. Okay? Okay.
*Catherine steigt von ihrer rutschigen Seifenkiste runter und legt das Mikro weg.*
Im fünften Jahr fing ich an, mich langsam zu entspannen – aaaahhhhh –, im Wissen, dass meine selbstzerstörerischen unmoralischen Eskapaden mir kein Bein mehr stellen würden. Sie würden nicht mehr die Bühne beherrschen wie ein boshafter, höhnischer Clown mit Handfeuerwaffe, der mir seit dem ersten Akt nicht mehr begegnet war.
Als ich vorsichtig die Zehe in den Ozean des Trockenseins tauchte und so langsam damit rausrückte, welche beschämenden Dinge ich angestellt hatte, erwartete ich eigentlich, die Leute würden mir selbstgerechte Moralpredigten halten: »Wie konntest du so etwas tun? Du bist eine BÖSE Trinkerin!«
Mehr daneben hätte ich gar nicht liegen können. Wenn Sie Leuten, die trocken sind, Dinge beichten, die Sie Ihrer Ansicht nach mit Attila, dem Hunnen, gleichsetzen, können Sie darauf wetten, dass folgender Satz fällt: »Du glaubst, das ist scheiße? Hol dir einen Stuhl, dann erzähle ich dir mal, was wirklich beschissen ist, Mädel!« Wenn jemand so richtig angibt mit haarsträubenden Alkoholstorys, dann das trockene Volk.
Fremdgehen, klauen, den Polizeinotruf missbrauchen, damit sie einen nach Hause fahren, weil man selbst zu besoffen ist, sich krankmelden und sich mit deutlich mehr als 0,5 Promille ans Steuer setzen – lauter völlig normale Begleiterscheinungen des abhängigen Trinkens. Was wiederum heißt, dass man solche Aktionen im Land der Nüchternen versteht. Dieses ist ein sicherer Hafen, wo Sie die Ketten der Reue abwerfen können. Und die Kammer der Scham öffnen.
Alkohol ist für unsere moralischen Prinzipien, was der Magnet für den Kompass ist: Er lässt ihn komplett verrückt spielen. Er zeigt nicht mehr länger nach Norden. Warum ist das so? Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die das erklären können?
»Im Normalfall hält der präfrontale Kortex fragwürdiges Verhalten unter Kontrolle«, erklärt die Neurowissenschaftlerin Dr. Grisel. »Der präfrontale Kortex ist wie diese strengen Eltern: ›Tu dies, lass das! Wenn du das machst, guckst du nur dumm aus der Wäsche! Das ist falsch, hör sofort auf damit!‹ Hemmungen und moralische Prinzipien sind in der Großhirnrinde verankert«, fährt sie fort.
»Aber wenn Sie trinken«, so Dr. Grisel, »meldet sich der moralische Kompass ab.« Der präfrontale Kortex ist der erste Teil im Gehirn, der sich schlafen legt. Was sich anfangs toll anfühlt. Man fühlt sich befreit. Am Ende aber sitzt die Braut am Hochzeitstag heulend im Badezimmer oder der Bräutigam prügelt sich mit seinen Gästen. Denn die Hemmungen sind ja weg. Der »Elternteil« hat sich schlafen gelegt.
Ohne einen verantwortungsbewussten Erwachsenen im Raum bricht das Chaos aus. Ihr Gehirn benimmt sich jetzt wie ein Teenager, der sturmfreie Bude hat und da gleich mal eine Party schmeißt. (»Stellen wir doch unsere Adresse bei Facebook ein.«)
Wir regredieren buchstäblich. »Der Trinker wird vom subkortikalen Hirn gesteuert, wo Motivation und Emotion zu Hause sind«, meint Dr. Grisel. »Diese sind im limbischen System angesiedelt, wo Gefühle und Triebe verarbeitet werden. Wenn der Trinker noch weiter die Kellertreppe hinuntersteigt, dann kommt er im Hirnstamm an. Der befindet sich auf demselben Bewusstseinsniveau wie eine Schlange.«
Der Hammer! Gleichauf mit einem Reptil. Ich frage Dr. Grisel: »Wir entwickeln uns also zurück, wenn wir eine Nacht lang trinken?« Sie nickt. »Ja, im Grunde schon.«