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Leslie Kaminoff

Amy Matthews

Yoga

Anatomie

Leslie Kaminoff

Amy Matthews

Yoga

Anatomie

Ihr Begleiter durch die Asanas, Bewegungen und Atemtechniken

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

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Wichtiger Hinweis

Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und die Autoren haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2022

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2022 bei Human Kinetics unter dem Titel Yoga Anatomy: Your illustrated guide to postures, movements, and breathing techniques. Third edition. © der Originalausgabe 2022, 2012 und 2017 The Breathe Trust. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Max Limper

Redaktion: Susanne Schneider

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Illustrationen (Cover und Innenteil): Sharon Ellis

Fotos: Lydia Mann

Satz: Satzwerk Huber, Germering

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7423-2051-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1812-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1813-5

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Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Dieses Buch widme ich meinem Lehrer T. K. V. Desikachar in Dankbarkeit für sein unerschütterliches Beharren darauf, dass ich meine eigene Wahrheit finden soll. Ich kann nur hoffen und wünschen, dass dieses Buch sein in mich gesetztes Vertrauen rechtfertigt.

Und meinem Philosophielehrer Ron Pisaturo – das Lernen wird nie enden.

Und schließlich Glenn Marcus. Nur selten im Leben findet man jemanden, den man einen wahren Freund nennen kann, und noch seltener findet man einen Mentor, der in Liebe nichts weniger als das Beste von einem verlangt. Beides in einer Person zu finden, ist ein Wunder. Glenn, du bist wirklich einzigartig.

Leslie Kaminoff

Allen Lernenden und Lehrenden, die den Weg vor mir gegangen sind, in Dankbarkeit – besonders Philip. Du warst einer meiner ersten Schüler, ein Lehrer und Freund, und du bist vor mir gegangen. Deine Neugier und Entdeckerlust haben mich als Lehrerin am Anfang meines Weges inspiriert, und deine Freundschaft vermisse ich immer noch.

Amy Matthews

INHALT

Vorwort

Einführung

Kapitel 1: Anatomie als Geschichte

Kapitel 2: Das Skelettsystem

Kapitel 3: Das Muskelsystem

Kapitel 4: Das Nervensystem

Kapitel 5: Yoga und die Wirbelsäule

Kapitel 6: Die Dynamik der Atmung

Kapitel 7: Einblick in die Asanas

Kapitel 8: Haltungen im Stehen

Kapitel 9: Haltungen im Sitzen

Kapitel 10: Haltungen im Knien

Kapitel 11: Haltungen in Rückenlage

Kapitel 12: Haltungen in Bauchlage

Kapitel 13: Armgestützte Haltungen

Gelenkverzeichnis

Muskelverzeichnis

Asanaverzeichnis

Bibliografie und Weblinks

Über die Autoren

VORWORT

Ein ganzes Jahrzehnt nach Beendigung der Arbeit an der vorigen Ausgabe freue ich mich sehr, ein Vorwort zu einer neuen, dritten Auflage unseres Buches Yoga-Anatomie zu schreiben. Das vergangene Jahr der Zusammenarbeit mit meiner lieben Freundin Amy Matthews und meiner Lebens- und Arbeitspartnerin Lydia Mann war für uns alle von außergewöhnlichen Umwälzungen und Herausforderungen geprägt. Wie so viele Menschen, die von der anhaltenden weltweiten Covid-19-Pandemie betroffen sind, wurden wir aus unserem gewohnten Umfeld, unseren Netzwerken und Routinen herausgerissen. Statt einem ruhigen, abgeschiedenen Rückzugsort zum Schreiben bot uns das vergangene Jahr einzigartige und beispiellose Herausforderungen – all das hat unsere kleine Gemeinschaft dank der Unterstützung des Teams von Human Kinetics gemeistert.

Seit der Erstveröffentlichung im Jahr 2007 ist Yoga-Anatomie nicht nur zum Standardtext in der Ausbildung von Yogalehrern geworden, sondern auch zum Wendepunkt in unser beider Karrieren. Bis zu der fast ununterbrochenen Quarantäne des letzten Jahres haben Amy und ich die ganze Welt bereist, um in Workshops und Ausbildungskursen vor Schülern zu stehen, die uns hauptsächlich als Autoren dieses Werks kennen, das in zwei Auflagen auf mehr als eine Million Exemplare gekommen ist und in 26 Sprachen übersetzt wurde.

Wie viel wir gelernt haben und als Lehrer gewachsen sind, haben wir gemerkt, als wir durchlasen, was wir vor zehn Jahren geschrieben hatten, und feststellten, dass wir es jetzt anders ausdrücken würden. Diese Ausgabe bedeutet also eine deutliche Tonverschiebung gegenüber den vorherigen. Wir haben den Text durchgekämmt und neue, geschlechtergerechte Formulierungen gefunden, aber an vielen Stellen auch eine persönlichere Ansprache gewählt. Dies sind nur ein paar Facetten unseres Vorhabens, einen Text zu erstellen, der bei Lesenden und Praktizierenden den Forschergeist weckt, anstatt in abstrakter Form Festlegungen und Vorschriften über Anatomie zu machen, so als hätten alle Menschen den gleichen Körper. In diesem Sinne erinnern wir an Stellen, an denen unsere Sichtweise mit fehlerhaften anatomischen Annahmen oder fragwürdigen Lehranweisungen kollidieren mag, unter der Überschrift »Wortweise« daran, dass Yoga durch bewusste Sprache vermittelt wird.

Darüber hinaus haben wir einige der philosophischen Gedanken in der Einleitung des Buches und in bestehenden Kapiteln erweitert und präzisiert und ein neues, gemeinsam verfasstes erstes Kapitel hinzugefügt: »Anatomie als Geschichte«. Die Kapitel 2 und 3 über das Skelettbeziehungsweise Muskelsystem sind aktualisiert worden und werden jetzt durch ein neues viertes Kapitel zum Nervensystem ergänzt, in dem Amy dessen für den Yoga relevante Strukturen und Funktionen geschickt in einer nuancierten Zusammenfassung vereint.

Ich habe den Umfang der Kapitel 5 und 6 über die Wirbelsäule und die Atmung erheblich erweitert. Es ist in dieser Ausgabe mehr Material über Bandscheibenanatomie und ihre Schäden sowie über Rückenschmerzen und Emotionen eingeflossen, in einem Abschnitt am Ende des sechsten Kapitels über die Atmung schreiben wir zusätzlich zur Physiologie auch einiges zur esoterischen, metaphorischen Anatomie des Yoga. Wir haben die Kapitel über Wirbelsäule und Atmung vom Anfang ans Ende des ersten Teils verschoben – eine Idee von Amy, die mir anfangs widerstrebte, aber der inhaltlichen Reihenfolge zugegebenermaßen guttut.

Durchweg hat uns Lydia, die seit der Konzeption des Projekts vor 15 Jahren ein wesentlicher Bestandteil des Yoga-Anatomie-Teams ist, wunderschöne neue Illustrationen geliefert. Sie hat dem Ganzen als Fotografin, Cover-Illustratorin, Layouterin und Autorenbändigerin gedient. Nun ist sie die offizielle Illustratorin und alle neuen Illustrationen der dritten Auflage stammen von ihr, einschließlich der bezaubernden Strichmännchen, die jedes Asana begleiten.

Wir sind zuversichtlich, dass diese neue Ausgabe von Yoga-Anatomie ein wertvolles Arbeitsmittel für alle bleiben wird, die Yoga und sonstige Formen gesunder Bewegung praktizieren oder unterrichten. Wir hoffen, dass Ihnen das Benutzen des Buches so viel Freude macht wie uns das Schreiben. Bitte teilen Sie uns auch weiterhin Ihre Erfahrungen im Umgang mit diesem Buch mit. Und falls wir dieses Material in zehn Jahren erneut aufgreifen sollten, behalten wir uns das Recht vor, uns und unsere Sichtweise weiterzuentwickeln.

Leslie Kaminoff

Cape Cod, Massachusetts

Januar 2021

EINFÜHRUNG

In diesem Buch betrachten wir den Asana-Yoga mit seinen Haltungs-, Bewegungsund Atemübungen aus Sicht von Anatomie, Kinesiologie und Physiologie, den Wissenschaften von der Struktur, Mechanik und Funktion des menschlichen Körpers. Das Buch haben zwei Menschen gemeinsam geschrieben, die sich intensiv mit östlicher und westlicher Philosophie befasst haben und ihr Leben lang den menschlichen Körper, seine Bewegung und sein Bewusstsein erforscht haben.

Beide Wissensfelder – Yoga und Anatomie – bergen unendlich viele Facetten, auf mikroskopischer wie auf makroskopischer Ebene, und alle sind unendlich faszinierend und je nach Interesse auch nützlich. Wir möchten nur einige wichtige anatomische Details vorstellen, die für all jene von hohem Nutzen sind, die sich mit Yoga befassen, ob als Lernende oder als Lehrende. Beim Schreiben von Yoga-Anatomie haben wir immer darauf geachtet, dass wir eine Darstellungsweise finden, die einfach genug ist, um praktischen Nutzen zu haben, und dennoch detailliert genug, um lehrreich zu sein. Nach diesem Prinzip haben wir entschieden, was in den Texten und Illustrationen dieses Buches vorkommt und was nicht.

Die Autoren

Wir (Amy und Leslie) sind seit fast 20 Jahren in Freundschaft und Zusammenarbeit verbunden und haben in dieser Zeit einen dynamischen Arbeitsprozess entwickelt, in dem sich unsere Fähigkeiten, Interessen und Erfahrungen sowohl ergänzen als auch aneinander reiben. Die Perspektive dieses Buches erwächst aus Grundprinzipien, die wir beide hochhalten, und die Teile des Buches, die wir gemeinsam verfasst haben (diese Einführung und die Kapitel 1 und 7), spiegeln diese Werte wider. Wo unsere Interessen und Fachgebiete auseinandergehen, zeichnet die eine oder der andere für einzelne Kapitel verantwortlich. Die Kapitel 2, 3 und 4 über Knochen, Muskeln und Nervensystem wurden von Amy geschrieben. Die Kapitel 5 und 6 über die Wirbelsäule und die Atmung hat Leslie verfasst. Im Asana-Teil des Buches haben wir gemeinsam die Methode ausgearbeitet, die zur Analyse der Haltungen verwendet wird. Die detaillierte Aufschlüsselung der Gelenk- und Muskelaktionen wurde von Amy besorgt, die dafür ihre Fachkenntnis als zertifizierte Bewegungsanalytikerin, Lehrerin für Body-Mind-Centering und Anatomie-Nerd heranziehen konnte. Die »Atemfragen« zu jeder Haltung sind Leslies Werk. Er greift dafür auf seine lange Erfahrung als Lernender und Lehrender zurück, inspiriert von der therapeutischen, atemzentrierten Yogatradition seines Mentors T. K. V. Desikachar.

Die Grundprinzipien

Beim Yoga geht es darum, an etwas zu rühren, was tief in uns steckt: das wahre Selbst. Das Ziel dieser Suche wird oft in mystische Begriffe gefasst, so als existiere unser wahres Selbst nur auf einer nicht materiellen Ebene. Diese Sichtweise hat lange Zeit Körper und Seele – das Materielle und das Spirituelle – in Widerspruch zueinander gesetzt und unseren physischen Körper eher als Hemmschuh gegen die Erlösung statt als Mittel dazu dargestellt.

In diesem Buch vermitteln wir eine andere Haltung, nämlich, dass ein Weg zur vollkommenen Selbstverwirklichung darin besteht, dass wir mit und in unserem Körper arbeiten, statt ihn abzuwerten und zu transzendieren. Auf diese Weise können wir nicht nur unsere Anatomie besser begreifen, sondern diejenige Wirklichkeit erfahren, die uns mit den Grundprinzipien des Yoga in Einklang bringt. Denn die Urprinzipien des Yoga gründen auf einem feinen und tiefen Verständnis der Konstruktionsweise des menschlichen Körpers. In unseren Augen ist das Mittel und der Zweck des Yoga das Selbst, und das Selbst ist eine Eigenschaft unseres Körpers.

Übung, Einsicht, Hingabe

Die alten überlieferten Lehren entwickelten sich einst durch die Beobachtung des Lebens in all seinen Formen und Ausdrucksweisen. Aus der Beobachtung menschlicher Bewegung entstand die Praxis des Yoga (Kriya Yoga), die Patañjali als Erster festschrieb, und die Reinhold Niebuhr in seinem berühmten Gelassenheitsgebet nachempfand. Sie besteht im Kern aus der Frage, wie wir zwischen den Dingen unterscheiden (swadhyaya), die wir ändern können (tapas), und solchen, die wir nicht ändern können (isvara pranidhana).

Für uns war diese Frage eine zentrale Motivation, Anatomie im Kontext von Yoga zu studieren, und hat unsere Lehrmethoden stark geprägt. Seit unseren ersten Versuchen, Asanas zu praktizieren und zu lehren, sind noch viele damit zusammenhängende Fragen aufgetaucht. Warum sind manche Haltungen relativ einfach und manche so schwierig? Warum tun sich manche Menschen mit Haltungen schwer, die uns leichtfallen, oder umgekehrt? Und warum sind manche Schwierigkeiten leicht zu überwinden, andere dagegen furchtbar hartnäckig? Wie viel Energie sollten wir darauf verwenden, unseren eigenen Widerstand zu überwinden? Wann sollten wir lieber daran arbeiten, uns in etwas zu fügen, was wahrscheinlich nicht veränderbar ist?

Sowohl die Arbeit (tapas) als auch die Hingabe (ishvara pranidhana) machen Mühe, weil auch die Hingabe an sich ein Willensakt ist. Die Antworten auf diese grundlegenden, nicht enden wollenden Fragen scheinen sich mit jedem Tag zu ändern – genau wie unser Körper. Und genau deshalb müssen wir die Fragen immer wieder stellen.

Willkommen im Labor

Yoga gibt dem Anatomiestudium einen Beziehungsrahmen, der auf der Frage gründet, wie sich die Lebenskraft selbst durch Bewegungen des Körpers, des Atems und des Geistes ausdrückt. Die uralte Metaphernsprache des Yoga hat sich durch anatomische Experimente von Millionen von Forschenden während Tausenden von Jahren gebildet, aber ihre Forschungsmethoden und -ergebnisse wurden nicht in der Sprache der westlichen Anatomie festgehalten.

Dieses Buch versucht nicht, die metaphorische Sprache von Prana, Chakras, Nadis und so weiter in anatomische Entsprechungen zu übersetzen, sondern bietet vielmehr einen Rundgang durch das Labor, das uns allen offensteht: den menschlichen Körper. Statt genauer Anleitungen für eine bestimmte Yogarichtung möchten wir solide Grundkenntnisse vermitteln, die der Ausübung aller Arten von Yoga zugrunde liegen.

Unseren Laborbesuch beginnen wir mit Kapiteln über das Skelett-, Muskel- und Nervensystem. Ein Grundwissen über diese Systeme und die zu ihrer Beschreibung verwendeten Begriffe bildet die Grundlage für das Verständnis der komplexeren analytischen Zusammenhänge im Asana-Teil. In diesem Teil liefern wir im Einklang mit dem yogischen Prinzip der dynamischen Verbundenheit Informationen und Anregungen zu Ausrichtung, Atmung und Wahrnehmung beim selbsterforschenden Asana-Üben. Auf diese Weise vermeiden wir eine Asana-Analyse, die sich in einer präskriptiven und restriktiven Auflistung von Wirkungen und Vorteilen erschöpft.

Da es beim Yoga auf das Zusammenwirken von Atem und Wirbelsäule ankommt, werden wir diesen Systemen besondere Beachtung schenken und ihnen eigene Kapitel widmen. Nebenbei wird es auch zur »Zerstörung« von populären Mythen und Missverständnissen über Sprachgebrauch im Unterricht, Wirbelsäulensicherheit und Atmung kommen.

Alles, was wir brauchen, ist da

Die alten Yogis waren der Ansicht, dass wir drei Leiber besitzen: einen physischen, einen astralen und einen kausalen. So gesehen ist die Anatomie des Yoga ein Studium der feinen Energieströme, die durch die Schichten oder »Hüllen« dieser drei Leiber fließen. Es geht in diesem Buch nicht darum, diese Ansicht zu untermauern oder infrage zu stellen. Aber ich möchte Ihnen die Vorstellung nahebringen, dass Sie einen Geist und einen Körper besitzen, der ein- und ausatmet und sich in einem Gravitationsfeld bewegt. Und so können Sie Yoga als Lernprozess begreifen, der Sie dazu befähigt, klarer zu denken, leichter zu atmen und sich effizienter zu bewegen. Das ist unser Ausgangspunkt und gleichzeitig die grundlegende Definition des Yogapraktizierens: die Integration von Geist, Atem und Körper.

Eine weitere alte Weisheit sagt uns, dass die Hauptaufgabe beim Yogapraktizieren darin besteht, Blockaden zu lösen, die dem natürlichen Funktionieren unseres Organismus im Wege stehen. Das mag einfach klingen, widerspricht jedoch der weitverbreiteten Ansicht, dass unsere Probleme auf einem Mangel an etwas beruhen. Durch Yoga können wir lernen, dass alles, was wir für Glück und Wohlbefinden brauchen, in unserem System bereits vorhanden ist. Wir müssen nur einige der Blockaden identifizieren und beseitigen, die die naturgegebenen Kräfte in ihrem Wirken behindern, »wie ein Bauer, der einen Damm ansticht, damit Wasser dort auf das Feld fließen kann, wo es gebraucht wird«1. Diesen Ausspruch darf sich jeder zu Herzen nehmen, egal, wie alt, schwach oder unflexibel er ist: Solange es Atem und Geist gibt, kann es auch Yoga geben.

Vor diesem Hintergrund wird das Üben von Asanas zu einer systematischen Erforschung und Befreiung der tiefer liegenden, sich selbst erhaltenden Kräfte von Atem und Haltung. Unsere Haltungs- und Atemgewohnheiten funktionieren größtenteils unbewusst, es sei denn, im Organismus entsteht eine absichtliche Veränderung (tapas) durch Körperarbeit, wie es Yoga ist. Daher bezeichnen wir Yoga oft als kontrollierte Stresserfahrung.

Asanas sind keine Formen, die dem menschlichen Organismus aufgezwungen werden. Sehen Sie sie lieber als Möglichkeit, die von der Natur vorgesehene innere Ordnung zu entdecken – was nicht bedeutet, dass wir Fragen zu Haltung, Stellung und Bewegungsablauf vernachlässigen sollten. Wir möchten nur betonen, dass die richtige Haltung ein Mittel zu einem höheren Zweck ist und kein Selbstzweck. Wir leben nicht, um Yoga zu üben, sondern wir üben Yoga, damit wir leben – leichter, freudvoller und anmutiger.

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Anatomie als Geschichte

Das Studium des Yoga und das Studium der westlichen Anatomie sind tiefgründige und reichhaltige Forschungsgebiete, die uns neue Sichtweisen dessen eröffnen, wer wir sind und wie wir uns bewegen, wie wir denken, fühlen und die Welt erleben. Diese Forschungsfelder konfrontieren uns mit Fragen über das Wesen des Lebens: Was es bedeutet, menschlich zu sein, wie unser Sein überhaupt begann und was sein Zweck sein könnte.

In diesem Buch befassen wir uns eingehend mit dem Schnittpunkt dieser beiden Felder: Welche Kenntnisse gewinnen wir, welche Fragen stellen sich und welche neuen Perspektiven werden möglich, wenn wir westliches anatomisches Wissen auf den Yoga anwenden? In den ersten sechs Kapiteln gehen wir Begriffen und Ideen auf den Grund, die dir bei deiner Beschäftigung mit den Asana-Analysen in den späteren Kapiteln helfen mögen.

Bevor wir jedoch eintauchen, sollten wir anerkennen, dass jedes Forschungsfeld – Yoga wie Anatomie – eine bestimmte Perspektive oder einen bestimmten Kontext mit sich bringt, eine Brille, durch die man die Welt betrachtet. Jedes Feld hat auch eine Art Landkarte, um das Beobachtete einzuordnen und das Erlebte zu benennen. Die jeweiligen Karten sind nicht dieselben; sie tragen die Prägung unterschiedlicher Kulturen und vermitteln unterschiedliche Werte.

Unsere Arbeit als Autorenteam ist auch von unserer Geschichte und unseren Werten geprägt, und was wir schreiben, entstammt unserem Blick und unserem Kontext. Wir haben sowohl westliche Philosophie als auch Yoga nach T. K. V. Desikachar studiert. Leslies Arbeit in der Sportmedizin und der manuellen Therapie hat seine Sichtweise geprägt, ebenso wie Amys Arbeit mit somatischen Bewegungsmethoden. Es ist wichtig, sich Kontext und Perspektive eines Ansatzes bewusst zu machen, damit man weiß, welche (und wessen) Werte unseren Erkenntnisweg prägen, und damit man entscheiden kann, wo sich diese Perspektiven mit dem eigenen Kontext, den eigenen Werten und Weltkarten überschneiden.

Später in diesem Kapitel werden wir einen Überblick über die traditionellen Prinzipien der Anatomie und Kinesiologie skizzieren. Aber zunächst wollen wir das, was wir unter »Kontext« und »Karten« verstehen, gründlicher erläutern.

Der individuelle Kontext

Wenn wir Menschen Asanas machen sehen (oder die Straße entlanggehen oder Basketball spielen oder Geschirr spülen), dann gibt es einiges zu bemerken: was sie tragen, welche Form ihr Körper hat, welche Körperteile sich bewegen, welche Farbe ihr Haar, ihre Haut und ihre Augen haben, wie schnell oder langsam sie sich bewegen und so weiter. Aus diesen anfänglichen Beobachtungen leiten wir – oft automatisch und unbewusst – Annahmen über Geschlecht und Alter ab, über Fitnessgrad, Klassenzugehörigkeit und Bildungsstand, ja sogar über ihre Stimmung und ihren emotionalen Zustand. Sowohl unsere Beobachtungen als auch die daraus gezogenen Schlüsse sind durch die Brille geprägt, durch die wir schauen. Wir mögen uns für neutrale Beobachter halten, aber was wir auf den ersten Blick erkennen, ist ein Spiegelbild dessen, was wir sehen wollen.2

Wenn die Brille, durch die wir auf die Welt blicken, alles Gesehene formt, was formt dann unsere Brille? Unser Kontext. Schon als Kleinkinder lernen wir das, was wir sehen und fühlen, so einzuordnen, dass es für uns Sinn ergibt. Dazu verweben wir das, was uns von Eltern und Bezugspersonen beigebracht wird, die Geschichten, die wir hören und uns selbst erzählen, unsere eigenen Erfahrungen sowie die unseres Umfelds.

In diesen kontextuellen Rahmen zwängen uns unsere Familie, unsere Kultur, unsere Erziehung und Schulbildung und all die versteckten und offenen Botschaften, mit denen man uns überall sagt, was wahr ist, wem wir vertrauen können, was wir erwarten sollen und wonach wir uns richten müssen. Egal, ob wir uns entscheiden, diese Einflüsse aufzunehmen oder sie abzuwehren, in gewisser Weise werden sie zur Grundlage unserer Erwartungen an uns selbst und an andere. Dieser Kontext wird zum Rahmen dafür, was wir uns über die Welt erzählen, sowohl als Individuum als auch als kulturelle Gruppe.

Die Karte ist nicht das Gelände

Alfred Korzybski, der das Forschungsgebiet der allgemeinen Semantik mitbegründet hat, hat mit seinem Satz »Die Karte ist nicht das Gelände« die Idee ausgedrückt, dass die Beschreibung eines Objekts nicht dasselbe ist wie das Objekt selbst. Notwendigerweise lässt eine Karte manche Einzelheiten weg, damit andere verzeichnet oder hervorgehoben werden können. (Es ist davon auszugehen, dass eine Karte, die jedes Detail des Geländes abbildet, zu viele Informationen enthielte, um danach richtige Entscheidungen zu treffen. Es wäre dann auch unmöglich, die Karte kleiner als das Gelände selbst zu machen, sodass sie gar keine Karte mehr wäre.)

Ein kurzes Plädoyer für verschiedene Sichtweisen

Die Felder Yoga und Anatomie geben viele verschiedene Karten her. Keines der beiden Felder hat eine einzige universelle Sicht darauf, was die Wahrheit ist, was das Forschungsziel ist oder wie Yoga oder Anatomie überhaupt definiert werden.

Als Autoren gehen wir von unseren eigenen Erfahrungen und Sichtweisen aus. Wenn die Ihrigen davon abweichen, hoffen wir, dass Sie sich dennoch mit den von uns angebotenen Ideen auseinandersetzen und prüfen, ob sie sich mit Ihren eigenen überschneiden.

Karten sind nützlich. Sie verraten uns, wo wir sind und wie wir dorthin gelangen, wo wir hinwollen. Die Nützlichkeit einer Karte hängt jedoch direkt von der Beziehung zwischen dem Dargestellten und dem zu Findenden ab. Auf explizite (und weniger explizite) Weise vermitteln Karten eine Reihe von Werten. Wer Karten erstellt, kuratiert die auf der Karte dargestellten Dinge, um die Bedürfnisse und Erwartungen der beabsichtigten Zielgruppe zu erfüllen und in den jeweiligen Kontext zu passen.

Dass Karten ein Ausdruck von Kontext und Werten sind, ist ein wichtiger Gedanke. Wenn wir auf die Karten schauen, mit deren Hilfe wir uns selbst und die Welt verstehen – unsere Konstrukte zum Verständnis von Natur und Wissenschaft, Kultur und Sprache, Körpern und Beziehungen, Philosophie und Lernprozessen –, dann schauen wir auf ein Ergebnis unseres Kontextes und unserer Werte.

Die Biologie ist die Wissenschaft des Lebens, und das Wissen um Anatomie, Kinesiologie, Physiologie und Embryologie bildet die Grundlage, um uns genauer mit den Asanas, den Körperhaltungen und Übungen im Yoga, auseinanderzusetzen.

Wir, glauben, dass sowohl Anatomie als auch Yoga äußerst nutzbringende Wissensgebiete sind, in deren Rahmen wir erforschen können, wie wir unseren Körper und unser Bewusstsein erleben. Diese Erkenntnisräume geben uns eine Sprache, mit der wir über solche Erfahrungen kommunizieren. Sie systematisieren die Erkenntnisse, aus denen wir lernen und mit deren Hilfe wir die Asanas schließlich anderen beibringen können.

Die sogenannten Karten, die Yoga und Anatomie bereitstellen, haben allerdings auch Beschränkungen. Was wir beschreiben und erklären, stimmt möglicherweise nicht mit Ihrer Erfahrung überein oder schränkt Ihre Sicht der Dinge auf eine Weise ein, die nicht zielführend ist. Wir bieten Ihnen an, sich mit diesem Stoff im Kontext Ihres eigenen Lebens und Ihrer eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Unsere Gedanken können das, was Sie durch eigenes Studium herausgefunden haben, stützen, aber auch Dinge infrage stellen, die Sie gelernt haben. Und auch wenn Ihre Erfahrung nicht in unsere Karten passen sollte, dann bleibt Ihre eigene Geschichte, Ihre Erfahrung und Ihr Wissen für Sie von hohem Wert. Machen Sie sich Ihre eigene Karte.

Definitionen der Yogakarte

Bezüglich der Anatomiekarte skizzieren wir zuallererst die körperlich fundamentale (Sinn-)Struktur und definieren grundlegende Begriffe.

Biologie (wörtlich: die Wissenschaft vom Leben) ist das Forschungsgebiet, das Anatomie, Kinesiologie, Physiologie und Embryologie umfasst. Seit Jahrtausenden betreiben Menschen auf der ganzen Welt Naturwissenschaft, auch wenn sie sich erst Ende des 18. Jahrhunderts in Europa unter dem Namen Biologie etablierte.

Das heutige Feld der Biologie ist vom Zeitalter der Aufklärung in Westeuropa geprägt und basiert auf der damals vorherrschenden Theorie, man könne den Körper verstehen, indem man ihn auf kleinste Teile reduziert, die wie die Teile einer Maschine zusammenarbeiten. Das Vokabular entstammt dem Griechischen und Lateinischen und kommt aus einer Zeit, als Biologen Körperteile gern nach den Menschen benannten, die sie angeblich entdeckt hatten.

Die Biologie hat mehrere Zweige, und davon werden wir die folgenden betrachten:

Anatomie als Weltanschauung

Welche Teile es wert sind, benannt zu werden, und wie die Teile auseinandergehalten werden, ist eine eher komplexe Frage, in die Werte, Perspektive und Kontext hineinspielen. Im organischen Ganzen eines lebenden Organismus gibt es keine einzelnen Teile, und das Wort Anatomie ist aus dem griechischen oder lateinischen Wort für »zerschneiden« abgeleitet. Egal, ob es ein Skalpell ist oder eine Theorie, die eins vom anderen trennt, das zugrunde liegende Prinzip ist, dass Anatomie als Geschichte mit einem scharfen Instrument erzählt wird und Ausdruck einer Weltanschauung ist.

Zellen, Gewebe, Organe und Systeme

Ein Grundprinzip der Biologie besagt, dass die Zelle der Grundbaustein des Lebens ist und dass alle Lebewesen aus einer oder mehreren Zellen bestehen. Zellen mit gleicher Form und Funktion arbeiten als Gewebe zusammen; aus verschiedenen Gewebearten zusammengesetzte Gruppen, die gemeinsam eine bestimmte Funktion erfüllen, werden als Organe bezeichnet. Jedes Organ hat mehr als eine Funktion im Körper und ist potenziell Teil von mehr als einem Körpersystem.

Körpersysteme sind Ansammlungen von Organen und Geweben, die konzeptionell gruppiert sind, um spezifische Aufgaben im Körper zu erfüllen. Einige Systeme sind nach ihrer Funktion benannt: Verdauung, Atmung, Ausscheidung, Immunsystem, Kreislauf. Andere Systeme heißen eher nach ihren Geweben oder Organen: Skelett, Bindegewebe, Muskel, Nerven, Hormone, Herz-Kreislauf-System.

Körpersysteme sind keine abgetrennten Gruppierungen von Organen: Jedes Organ spielt eine Rolle in mehr als einem Körpersystem, und alle Körpersysteme sind voneinander abhängig und regulieren sich gegenseitig, manchmal auf überraschende Weise.

Bewegung

An jeder Bewegung, die wir ausführen, sind alle Körpersysteme beteiligt. Ohne die aktive Beteiligung von Nerven-, Herz-Kreislauf-, Hormon-, Immun-, Bindegewebs-, Lymph-, Skelett-, Bänder- und Muskelsystem, Atem- und Verdauungsapparat (um nur einige zu nennen) wären wir nicht in der Lage, Atembewegungen auszuführen oder unsere Arme über den Kopf zu heben und uns nach vorn in Uttanasana zu beugen, geschweige denn, den Körper in den Handstand zu manövrieren.

Die Körpersysteme im dynamischen Gleichgewicht

Jeder Teil des Körpers, auf den wir unsere Aufmerksamkeit richten, ist an mehr als einem System beteiligt. Während beispielsweise Knochen im Allgemeinen als Teil des Skelettsystems angesehen werden, spielen sie auch in anderen Systemen eine wichtige Rolle, beispielsweise im Herz-Kreislauf-, Nerven-, Immun- und Hormonsystem. Die Knochen sind Teil des Kreislauf- und Immunsystems, denn im Knochenmark werden rote und weiße Blutkörperchen gebildet. Sie sind Teil des Nervensystems, weil Kalzium für die Funktion von Neuronen von Bedeutung ist, und sie sind Teil des Hormonsystems, weil Knochenzellen Hormone ausschütten, die eine Rolle im Stoffwechsel spielen.

Konstrukte sind nicht identisch mit dem großen Ganzen

Nicht vergessen: Diese Theorie von Zellen, Geweben, Organen und Körpersystemen ist eine Karte, ein Konstrukt, das uns verstehen hilft, wie der Körper funktioniert. Zellen, Gewebe, Organe und Körpersysteme funktionieren aber nicht ganz so strukturiert oder hierarchisch. Insbesondere Körpersysteme sind gar nicht so stark voneinander getrennt, wie es üblicherweise innerhalb der Konstrukte, die die Biologie erstellt hat, dargestellt wird.

Tatsache ist auch, dass keines der Systeme für sich allein funktionieren kann. Ohne das Kreislaufsystem wären beispielsweise andere Systeme wie das Atmungs-, Hormon- oder Verdauungssystem nicht in der Lage, die Körperzellen mit Sauerstoff, Hormonen und Nährstoffen zu versorgen. Ohne das Nervensystem wäre es unmöglich, die Muskeln der Gliedmaßen zu koordinieren oder die Weite der Blutgefäße zu regeln, um Knochen, Gehirn, Herz und Muskeln mit ausreichend Blut zu versorgen. Alle Systeme des Körpers greifen ineinander und sind voneinander abhängig (Abbildung 1.1).

Wenn wir beim Erkunden von Bewegung auf nur zwei oder drei Körpersysteme schauen, vereinfachen wir womöglich einerseits die komplexe Rolle, die jedes Körpersystem bei unseren Körperübungen und Bewegungen spielt. Andererseits können wir den Fokus dank dieser differenzierten Betrachtungsweise auch auf einzelne Schwerpunkte lenken und darin eine unglaubliche Komplexität entdecken, die unser Erlebnis des Ganzen bereichert. Im Rahmen dieses Buches gehen wir detaillierter auf die Funktionsweise von Skelett-, Muskel-, Atmungs- und Nervensystem ein und befassen uns dann näher damit, was wohl beim Üben von Asanas im Skelett- und Muskelsystem passiert – in dem Wissen, dass jeder Ausgangspunkt uns in ein Verhältnis zu allen anderen Systemen und Geweben im Körper setzen kann.

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Abb. 1.1 Die Körpersysteme: Nervensystem, Verdauungssystem, Atmung, Kreislaufsystem, Skelett und Muskeln

Das Nerven-Muskel-Skelett-System als nützliches Konstrukt für ein Bewegungssystem

Das Skelettsystem, das Muskelsystem, das Bindegewebs- und das Nervensystem werden als separate Körpersysteme begriffen. Wie bereits erwähnt, entstand diese anatomische Theorie, die getrennte Körpersysteme vorsieht, aus einer Sichtweise, die die Funktionsweise des Körpers nach Möglichkeit als die einer Maschine darstellen wollte, die auf ihre kleinsten Teile reduziert und dann nach Komplexität und Bedeutung in eine Hierarchie eingeteilt werden konnte.

Wir wissen inzwischen, dass unser Körper keine Maschine ist. Wir sind nicht gebaut worden, sondern aus uns selbst gewachsen. Und was wir über unsere Einzelteile herausgefunden haben, lässt wesentliche Funktionen außer Acht, die sich aus den Wechselbeziehungen zwischen Zellen, Geweben, Organen und Systemen ergeben. Insbesondere durch neuere Forschungen zum Immunsystem kam die Idee auf, dass wir nicht bestimmte Organgruppen als System bezeichnen sollten, sondern stattdessen verschiedene (und sich verändernde) Konstellationen von Ereignissen betrachten müssen, die als Reaktion auf die Erfordernisse des Augenblicks in adaptiven Mustern zusammenkommen. Statt von Hormonsystem könnten wir also von Hormonreaktion oder Hormonfunktion sprechen.

Das Modell der Körpersysteme bleibt jedoch bestehen. Wir möchten daher lieber untersuchen, wie sich die Organe und Gewebe jedes dieser Systeme zu einem dynamischen Ganzen verweben, das man unser Bewegungssystem nennen könnte: ein Nerven-Muskel-Skelett-System. Auch wenn man sie jeweils einzeln betrachten kann, sind Muskeln, Faszien, Nerven und Knochen untrennbar miteinander verbunden, sobald wir eine Beziehung zur Schwerkraft und zum Raum aufnehmen, in die aufrechte Haltung finden, uns nähren, Werkzeuge verwenden, uns durch die Welt bewegen und Veränderungen schaffen.

Der Skelett-Teil dieses Systems besteht aus den Knochen, den Bändern und den Geweben in den Gelenken (Gelenkflüssigkeit, hyaliner Knorpel und faserknorpelige Bandscheiben und Keile). Der muskuläre Teil besteht aus den Muskeln und Sehnen, die sich von Gelenk zu Gelenk spannen und an den Knochen ansetzen. Der neuronale Teil umfasst die motorischen Nerven, die Botschaften über Bewegungen an unsere Muskeln leiten, die sensorischen Nerven, die Informationen sammeln und uns Feedback geben, sowie die Gliazellen und andere Nervenzellen, die die exquisite Abfolge und das Timing unserer Muskelarbeit verarbeiten und planen und Bewegungsmuster zum späteren Abruf aufzeichnen. All diese Gewebe – Nerven, Muskeln, Sehnen, Knochen, Bänder und Gelenke – bestehen entweder aus Bindegewebsschichten, die sowohl Verbindung als auch Trennung, sowohl Kommunikation als auch Dämpfung bieten, oder sind darin eingehüllt.

Fazit

In den nächsten drei Kapiteln werden wir uns das ansehen, was als Skelettsystem, Muskelsystem und Nervensystem bezeichnet wird, und untersuchen, wie diese Systeme zusammenarbeiten, um Bewegungen im Körper zu erzeugen, beginnend mit dem Skelettsystem.3

Denken Sie beim Lesen daran, diese Konzepte immer wieder mit Ihrer eigenen Karte der Bewegungserfahrungen zu vergleichen. Verschafft Ihnen das von uns Dargebotene eine neue Perspektive? Erinnert es Sie an Dinge, die Sie bereits wissen? Wie setzen Sie es in den Kontext Ihres eigenen Körpers?

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Das Skelettsystem

Unsere Knochen sind unglaubliche Konstruktionen. Sie spielen eine wesentliche Rolle bei Körperfunktionen wie der Synthese von Hormonen und Blut oder bei der Speicherung von Kalzium und Schwermetallen. Sie sind auch stark genug, um den Kräften, denen wir sie aussetzen, standzuhalten, leicht genug, um sich mit ihnen im Raum zu bewegen, und widerstandsfähig genug, um sich an Belastungen aus allen drei Raumdimensionen anzupassen.

Auch die Bänder leisten Erstaunliches. Sie sind flexibel genug, um dreidimensionale Gelenkaktionen zuzulassen, und stark genug, um enorme Kräfte über das Gelenk hinweg von Knochen zu Knochen zu leiten.

Was Bewegungen betrifft, übertragen Knochen und Bänder die Druck- und Zugkräfte, die durch die Schwerkraft und durch die Arbeit der Muskeln entstehen. So wird das Gewicht des Kopfes, wenn wir aufrecht stehen, auf den Boden übertragen, und die von den Beinmuskeln erzeugte Kraft wird in die Arme weitergeleitet, sodass wir einen Ball werfen können.

Bewegung findet im Skelettsystem auf vielerlei Ebenen statt. Auf der zellulären Ebene bauen einzelne Zellen das Knochengewebe und die Fasern der Bänder ständig ab und auf. Auf der Gewebeebene besitzt jeder Knochen und jedes Band bis zu einem gewissen Grad die Fähigkeit, die Form zu verändern, wenn Kräfte durch sie hindurchgeleitet werden. Auf der Systemebene betrachtet entstehen Bewegungen dort, wo zwei oder mehr Knochen aufeinandertreffen: in den Gelenken.

Gelenke

Im Skelettsystem bezeichnet der Begriff Gelenk den Ort, an dem die Oberflächen von zwei oder mehr Knochen zueinander in Beziehung treten und ein Gelenk miteinander bilden. Ein Gelenk ist eher ein Geschehen als ein Ort, da seine Existenz von Bewegung und Veränderung abhängt. Wo Bewegung stattfindet, und ist sie noch so klein, da ist auch ein Gelenk.

Die herkömmliche Klassifikation der Gelenke richtet sich nach der Struktur des Gewebes, das die beiden Knochen verbindet. Dabei kann es sich um Knorpel, faseriges Gewebe, Gelenkflüssigkeit oder eine Kombination aus allen drei handeln. Gelenke können darüber hinaus auch funktionell nach dem Grad ihres Bewegungsumfangs sowie biomechanisch nach der Anzahl der beteiligten Knochen und der Komplexität des Gelenks eingeteilt werden.

In der Asana-Analyse betrachten wir die Bewegung der sogenannten echten Gelenke, der beweglichsten Gelenke des Körpers. (Einige dieser Gelenke sind allerdings teilweise knorpelig oder faserig.)

Echte Gelenke

Ein echtes Gelenk besteht – von innen nach außen betrachtet – aus den Knochen, die miteinander agieren, der Gelenkflüssigkeit (Synovialflüssigkeit) dazwischen, der Synovialmembran (oder Gelenkinnenhaut), die die Gelenkflüssigkeit produziert, und dem Bindegewebe, das die ganze Struktur schützend umgibt (Abbildung 2.1).

Betrachtet man die aufeinandertreffenden Knochenenden genauer, sind diese Gelenkflächen mit einer schützenden und stoßdämpfenden Schicht, dem Hyalinknorpel, überzogen. Diese Schicht ist sehr glatt, damit die Knochenenden ohne viel Reibung aneinander vorbeigleiten können.

Zwischen diesen Hyalinknorpelschichten wirkt die Gelenkflüssigkeit wie ein Schmiermittel, das die Reibung zwischen den Gelenkflächen verringert. Daneben verteilt die Gelenkflüssigkeit in geringem Maße auch die Druckkräfte im Gelenk und fungiert als flüssiges Siegel zwischen den Gelenkflächen, um sie wie Öl zwischen zwei Glasscheiben aneinanderzubinden. Die Gelenkflüssigkeit wird von der Synovialmembran schützend umgeben, die wiederum mit beiden Knochen verbunden ist. Diese Membran definiert auch die Grenzen der Gelenkhöhle: Alles, was außerhalb der Synovialmembran liegt, ist außerhalb der Gelenkhöhle.

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Abb. 2.1 Alle echten Gelenke bestehen aus: den Gelenkflächen der Knochen, dem Hyalinknorpel, der Gelenkflüssigkeit, der Synovialmembran und der Gelenkkapsel.

Die Synovialmembran ist in Bindegewebsschichten eingehüllt, die die Gelenkkapsel bilden und den durch Hyalinknorpel und Gelenkflüssigkeit ermöglichten Bewegungsspielraum eingrenzen. Gleich außerhalb der Gelenkkapsel liegen Fasern, die verdickt und in Gurtform angeordnet sind: die Gelenkbänder. Diese Bänder lenken die vom Gelenk übertragenen Kräfte und halten seine Bewegungen in der Spur. Über all diesen Bestandteilen liegen die Muskeln, die das Gelenk überspannen.

Ausgewogene Gelenkhöhle

Die Idee der ausbalancierten, ausgewogenen Gelenkhöhle lenkt die Aufmerksamkeit auf die Qualität der Bewegung in einem Gelenk. (Die Idee stammt aus dem Body-Mind-Centering.) In einem gesunden, funktionierenden Gelenk reagiert der Flüssigkeitsraum zwischen zwei Knochen ständig auf die Kräfte, die über die Knochen und Bänder ins Gelenk gelangen, indem er sich an diese Kräfte anpasst und einen dynamischen Ausgleich schafft. In diesem Fall bedeutet Ausgleich nicht Symmetrie, und die Aufrechterhaltung einer gesunden Gelenkhöhle, die über den gesamten Bewegungsumfang mühelose Bewegung zulässt, bedeutet nicht, dass der Gelenkraum zu jedem Zeitpunkt gleichmäßig verteilt ist. Es bedeutet, dass ein Gelenk in seiner Bewegung den Ausgleich findet und in mehreren Positionen über seinen gesamten Bewegungsumfang ausgeglichen sein kann.

Dass eine Gelenkhöhle in diesem Sinne in Balance ist, kommt durch das komplexe Zusammenspiel verschiedener Faktoren zustande, zu denen die Gelenkknorpel an den Gelenkflächen der Knochen, die Viskosität der Gelenkflüssigkeit, die Widerstandsfähigkeit der Gelenkkapsel und der umgebenden Bänder und die gelenknahen Muskelkontraktionen gehören. Im weiteren Sinne wird diese Balance auch durch den Flüssigkeitshaushalt, die Effektivität, mit der die sensorischen Nerven Bewegungen im Gelenk wahrnehmen und mit der die motorischen Nerven auf dieses Feedback reagieren, durch die Leistungsfähigkeit des Hormonsystems und die Qualität unserer geistigen Aufmerksamkeit beeinflusst.

Die Hyalinknorpelschicht am Ende jedes Knochens kann enorme Kräfte auffangen und in die Knochentrabekeln – die tragenden, schaumartigen Strukturen des Knochens – weiterleiten. Diese Kräfte werden über die Gelenke von Knochen zu Knochen übertragen, bis sie auf eine Oberfläche treffen, die sie absorbieren kann, wie etwa der Erdboden, oder sie entladen sich in einer räumlichen Bewegung, etwa einem Ballwurf. Kräfte können auch auf andere Körperstrukturen übertragen werden oder auf wenig hilfreiche Weise in Weichteilen verschwinden.

Wenn die Gelenkhöhle nicht über den gesamten Bewegungsumfang hinweg eine optimal freie Bewegung zulässt und die Kraftübertragung nicht über die Gelenkflächen verteilt wird, kommt es zur Abnutzung des Hyalinknorpels. Wie andere Gewebe erneuert sich auch der Hyalinknorpel ständig und kann kleine Abnutzungserscheinungen reparieren, ohne dass langfristig Schäden zurückbleiben. Jedoch erneuert sich der Hyalinknorpel im Vergleich zu anderen Gewebearten im Körper, wie beispielsweise den Muskeln, verhältnismäßig langsam. Wenn das Ungleichgewicht in der Gelenkhöhle über einen längeren Zeitraum ununterbrochen anhält, kann sich der Hyalinknorpel nicht mehr schnell genug nachbilden, sodass er schließlich beschädigt wird oder sich vollständig abnutzt. Ist der Hyalinknorpel erst einmal abgenutzt, reiben sich die Knochenenden aneinander. Diese Reibung regt die Knochen schließlich zu ungleichmäßigem Wachstum an, was wiederum noch mehr Reibung und Belastung bedeutet. Dieser Teufelskreis aus Reibung und Wachstum kann ziemlich schmerzhaft sein und ist einer der Gründe für Arthrose.

Das Problem, dass die Gelenkhöhle nicht genügend freien Raum für die Bewegung bietet, kann aus den verschiedensten Gründen entstehen. Manche Menschen (weniger, als man denkt) werden mit Gelenken geboren, die sich einfach nicht perfekt zusammenfügen. Häufiger liegt die Ursache in ineffizienten Bewegungsmustern, die zu einer Unausgewogenheit in der Gelenkkapsel und bei den Bändern führen, zu überbeanspruchten oder unterforderten Muskeln in der Gelenkumgebung oder zu ungesunden Gewohnheitsmustern des Nervensystems. Diese Gewohnheiten halten sich oft deshalb, weil sie vertraut und nicht bewusst sind. Selbst die sinnvollste Idee, Übung oder Vorstellung kann gefährlich sein, wenn sie zu lange gehegt wird oder andere Ideen ausschließt. Unsere Vorstellungen von Bewegung sind genauso wenig perfekt wie die Knochen und Bänder, mit denen wir geboren wurden. Eine geläufige Anweisung lautet beispielsweise, dass man die Schultern nach hinten ziehen soll, um den Brustkorb vorn zu öffnen. Diese Anweisung ist nützlich für die Menschen, deren Schultern nach vorn zum Brustkorb sinken und die dadurch eine schlechte Haltung einnehmen. Wenn aber ein Problem mit der Wirbelsäule vorliegt, kann das Zurückziehen der Schultern den Nacken und den oberen Rücken überanstrengen, ohne dass das zugrunde liegende Problem mit der Wirbelsäule angegangen wird. Die Anweisung mag auch ein- oder zweimal Wirkung zeigen, aber wer über einen längeren Zeitraum die Schultern nach hinten zieht, kann irgendwann so weit in eine Rücklage geraten, dass er in die andere Richtung aus dem Gleichgewicht gerät.

Gelenkaktionen

Die konventionellen Begriffe, mit denen die Aktivität der Gelenke, eben die Gelenkaktionen, beschrieben werden, umfassen nur eher simple Bewegungen, die flach und zweidimensional sind und sich auf einer einzigen räumlichen Ebene abspielen. Keine einzelne Gelenkaktion berücksichtigt die Menge an Bewegungsmöglichkeiten, die jedes Gelenk grundsätzlich ausführen kann.

Nichts im Körper ist vollkommen glatt oder gerade oder weniger als dreidimensional, auch nicht die Gelenkflächen der Knochen. Da diese Gelenkflächen immer uneben und konturiert sind, ist jede Gelenkaktion dreidimensional.

Die Verwendung von zweidimensionalen Begriffen zur Beschreibung von Gelenkaktionen führt dazu, dass wir unsere Vorstellung von möglichen Bewegungen vereinfachen und folglich auch nur solch reduzierte Bewegungen ausführen. Die Gefahr dabei ist, dass wir uns der Vielfalt unserer naturgegebenen Bewegungsmöglichkeiten berauben und die wenigen uns bewussten Optionen überbeanspruchen.

Keine einzelne Gelenkaktion berücksichtigt die Menge an Bewegungsmöglichkeiten, für die jedes Gelenk »gemacht« ist. Es ist ein fundamentaler Irrtum zu denken, dass unser menschlicher Körper so funktioniert wie die von Menschen gebauten Konstruktionen. Menschliche Gelenke werden oft mit Bauteilen aus maschinell gefertigten Gelenken verglichen wie einem Scharnier- oder Kugelgelenk. Aber die Mechanik eines menschlichen Gelenks ist nicht dieselbe wie die zwischen Bauteilen aus Holz, Metall, Keramik oder Plastik, was auch an den Materialeigenschaften liegt.

Es mag oberflächlich praktisch erscheinen, die Funktionsweise des Ellenbogens mit der eines Scharniers zu vergleichen, doch diese Parallele engt unsere Vorstellung von der Beweglichkeit dieses Gelenks ein. Da alle Gelenkflächen dreidimensional sind, ist jedes Gelenk im Körper zu mehr als einer Gelenkaktion fähig, manche sogar zu dreien oder vieren. Nicht jede Bewegung kann in gleichem Maße ausgeführt werden, aber selbst eine minimale Bewegung bedeutet Beweglichkeit in jede Raumdimension. Eine winzige Bewegung über zwei oder drei Gelenke hinweg kann in fünf bis zehn Jahren gewaltige Auswirkungen haben.

Geläufige Definitionen der Gelenkaktionen

Die Grundbegriffe, mit denen sich Gelenkaktionen beschreiben lassen, gelten für den Großteil der Gelenke im Körper. Einige Begriffe haben bei bestimmten Gelenken besondere Bedeutungen und manche werden bei mehreren Gelenken verwendet, haben aber je nach Gelenk unterschiedliche Bedeutungen.

Bei anatomischen Definitionen von Gelenkaktionen werden oft Ebenen zur Beschreibung der Bewegung verwendet. Eine Ebene ist eine zweidimensionale Fläche, und die drei Hauptebenen des menschlichen Skeletts überschneiden sich im rechten Winkel. Wenn die Ebenen so angesetzt werden, dass ihr Schnittpunkt in der Körpermitte liegt, können mit ihrer Hilfe Beziehungen zueinander im Körper (vorn, lateinisch anterior, und hinten, lateinisch posterior, beschreiben die Lage von Körperteilen auf der Sagittalebene) oder Bewegungen (Beugung und Streckung sind sagittale Bewegungen der Wirbelsäule) beschrieben werden. Die Vertikal- oder Frontalebene (auch Koronal- oder bildhaft Türebene genannt) teilt den Körper in Vorder- und Rückseite. Die Horizontalebene (auch Transversal- oder Tischebene) teilt ihn in obere und untere Hälfte. Die Sagittalebene (auch Median- oder Radebene) teilt ihn in eine rechte und eine linke Seite.

Gelenkaktionen der Wirbelsäule

Die folgenden Begriffe bezeichnen unterschiedliche Arten von Bewegungen der Wirbelsäulengelenke zwischen den einzelnen Wirbeln. Bei diesen Bewegungen verändert die Wirbelsäule ihre Form. Jedoch sind diese Bewegungen andere als diejenige, bei der die Wirbelsäule im Raum bewegt wird (beispielsweise durch die Gelenkaktion der Hüften, die durch eine Bewegung in den Beinen dargestellt wird). Im gängigen Yogasprachgebrauch ist die Vorbeuge keine anatomische Beschreibung, die sich entweder auf die räumliche Bewegung der Wirbelsäule oder die Gelenkaktion, hier die Beugung, beziehen kann (Kapitel 5, ab Seite 80).