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Wolfgang Schieder

DER ITALIENISCHE
FASCHISMUS
1919–1945

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Der Faschismus im 20. Jahrhundert hat seinen Ursprung in Italien. So gut wie alle faschistischen Bewegungen in Europa, einschließlich des Nationalsozialismus, orientierten sich an ihm und seinem ‹Duce› Benito Mussolini. Aufstieg, Herrschaft und Ende des Faschismus werden in diesem Band von dem wohl besten deutschen Kenner eindringlich und auf dem neuesten Forschungsstand beschrieben. Wolfgang Schieder schildert das politische Regime und den Polizeistaat des Faschismus, die ‹charismatische› Herrschaft Mussolinis und ihre Grenzen, und er fragt auch nach dem Ort des Faschismus in der kollektiven Erinnerung der Italiener.

Über den Autor

Wolfgang Schieder war bis zu seiner Emeritierung Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte des Faschismus und des Nationalsozialismus vorgelegt.

Inhalt

I.   Der italienische Faschismus in historischer Perspektive

II.  Entstehungsbedingungen des Faschismus

Unvollendeter Nationalstaat

Parlamentarismus ohne Parteien

Organisierter Kapitalismus

III. Der Faschismus als politische ‹Bewegung› 1919–1922

Benito Mussolini

23.3.1919: Gründungsdatum des Faschismus

Squadrismus: Der Faschismus in der Provinz

Mussolinis politische Doppelstrategie

Von der ‹Bewegung› zur ‹Partei›

28.10.1922: Der ‹Marsch auf Rom›

IV. Die Herausbildung des faschistischen Diktatursystems 1922–1929

Der Faschismus an der Regierung

Die Krise der faschistischen Partei

Der Schein der Normalisierung

Der Mord an Matteotti und die Krise des faschistischen Regimes

Mussolinis Staatsstreich vom 3.1.1925

Faschisierung des Staates

Verständigung mit der katholischen Kirche

Vom Protektionismus zur ‹Autarkie›

Neue Außenpolitik: Gewalt und Subversion

V. Das faschistische Diktaturregime Benito Mussolinis 1929–1943

Nachgelagerte Ideologie

Organisation der Massen: Der Mythos vom ‹Duce›

Das faschistische Regime als Kriegsstaat 1935–1939

Die Entstehung der ‹Achse Rom-Berlin›

Die Vielfalt der ‹Achse›

Die ‹Achse› im Zweiten Weltkrieg

Das faschistische Regime als Besatzungsmacht

25.7.1943: Der Sturz des ‹Duce›

Vom 25.7. zum 8.9.1943: Die Regierung Badoglio

VI. Epilog: Die Italienische Sozialrepublik (Repubblica Sociale Italiana) 1943–1945

Regime von Hitlers Gnaden

Republikanischer Faschismus

Kollaboration

Resistenza

Das Ende der RSI

VII. Der Faschismus in der kollektiven Erinnerung der Italiener

 

Anhang

Zeittafel

Literaturverzeichnis

Register

I. Der italienische Faschismus in historischer Perspektive

Es gibt viele Sonderwege in der Geschichte. Einen davon haben die Italiener beschritten, als sie Anfang des 20. Jahrhunderts den Faschismus hervorbrachten. Auch wer überzeugt ist, daß der Faschismus im 20. Jahrhundert eine gesamteuropäische Bewegung war, muß davon ausgehen, daß diese ihren Ursprung in Italien hatte. So gut wie alle faschistischen Bewegungen in Europa, einschließlich des Nationalsozialismus, orientierten sich bei ihrer Entstehung am italienischen Faschismus, nur dieser hatte kein Vorbild, sondern stellte ein historisches Novum dar. Sich mit dem italienischen Faschismus zu beschäftigen, bedeutet daher, diesen aus sich heraus als ein Ergebnis der Geschichte des italienischen Nationalstaats zu verstehen. Seine europäische Dimension ergibt sich nicht aus seiner Entstehungs-, sondern aus seiner Wirkungsgeschichte.

Der italienische Faschismus kann nicht einfach als ein starres politisches System dargestellt werden, er hatte vielmehr eine Geschichte, im Laufe derer er mehrfach seine Form veränderte. Aufstieg, Herrschaft und Ende des Faschismus müssen als ein historischer Prozeß verstanden werden, in dem mehrere Phasen deutlich voneinander unterschieden werden können. Die Entstehungsgeschichte des Faschismus von 1919 bis 1922 kann zunächst als Phase der ‹Bewegung› bezeichnet werden. Sie ging mit dem ‹Marsch auf Rom› am 28.10.1922 zuende, durch den der Faschismus an die Regierung kam. Die Zeit von 1922 bis 1929 kann als entscheidende Übergangsphase angesehen werden, in der sich der Faschismus zur Diktatur entwickelte. Von 1929 bis 1943 reichte schließlich die eigentliche Diktaturphase des Faschismus, in der dieser sich als ein Regime besonderer Art darstellte. Dieses vom Verfasser schon vor längerer Zeit vorgeschlagene Verlaufsschema läßt sich in Anlehnung an Robert Paxton um eine Vorgeschichte und um einen faschistischen Epilog von 1943 bis 1945 erweitern, womit sich für die Geschichte des Faschismus in Italien insgesamt fünf Phasen ergeben.

Die Darstellung der Vorgeschichte des Faschismus soll verständlich machen, weshalb sich diese historisch neuartige Bewegung gerade in Italien herausgebildet hat. Es geht nicht darum, hier eine historische Zwangsläufigkeit zu unterstellen, wohl aber ist nach den Bedingungen der Möglichkeit zu fragen, weshalb sich gerade in Italien ein spezifisches Diktatursystem herausbilden konnte, das bis dahin in Europa nicht seinesgleichen hatte.

Wenn die Konstituierungsphase des Faschismus als Phase der ‹Bewegung› bezeichnet wird, so entspricht das dem faschistischen Selbstverständnis. Der Faschismus verstand sich in seinem Ursprung als ‹Bewegung›, nicht als ‹Partei›. Das bedeutete im wesentlichen dreierlei: Erstens lehnte er es ab, sich einem bürokratischen Apparat unter einer womöglich oligarchischen Führung zu unterwerfen, er wähnte sich vielmehr in einem Zustand permanenter Mobilisierung. Auf diese Weise stilisierte er sich zur Antipartei gegenüber allen anderen Parteien. Zum zweiten war die faschistische Bewegung ursprünglich nicht programmgesteuert, im Vordergrund stand immer die ‹Aktion›. Wie wohl keine andere politische Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts war der Faschismus praxisorientiert. Diese Praxis war immer gewalttätig, der Faschismus wollte seine politischen Gegner nicht überzeugen, sondern vernichten. Das soll nicht heißen, daß ideologische Elemente keine Rolle spielten, aber die Ideologie war immer nachgelagert. Drittens schließlich hatte der Faschismus als Bewegung einen paramilitärischen Charakter, er verstand sich in erster Linie als eine Bürgerkriegsbewegung. Die militanten faschistischen Kampfgruppen (Squadre d’azione) stellten bis zum ‹Marsch auf Rom› den eigentlichen Kern der Bewegung dar, die politische Organisation trat demgegenüber deutlich zurück. Auch nach seiner Machtübernahme erhielt der Faschismus diesen paramilitärischen Charakter aufrecht, da er neben der politischen Organisation des Partito Nazionale Fascista (PNF) mit der Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale (MVSN) in organisatorischer Hinsicht einen militärischen Flügel beibehielt.

In der Konsolidierungsphase des Faschismus entschied sich, welches Machtgefüge er als Regime annehmen würde. Im Prinzip gab es drei Entwicklungsmöglichkeiten. Vielen Führern des extremistischen Provinzfaschismus schwebte eine Parteidiktatur vor. Die faschistischen Sympathisanten innerhalb des Bürgertums, die sogenannten Fiancheggiatori, gingen dagegen mehrheitlich davon aus, daß die faschistische Bewegung absorbiert und ein monarchisches Diktaturregime errichtet werden könnte. Benito Mussolini, der den Faschismus an die Macht geführt hatte, dachte dagegen weder an die eine noch die andere Diktaturvariante. Er verfolgte vielmehr die politische Doppelstrategie, eine persönliche Führerdiktatur zu errichten, die sich sowohl auf die faschistische Massenpartei als auch auf die nationalmonarchischen Eliten innerhalb des Bürgertums stützte, die seine Machtergreifung unterstützt hatten. Er hat diesen eigentümlichen Herrschaftskompromiß seit 1922 zielstrebig verfolgt und seit seinem Staatsstreich vom 3.1.1925 schrittweise durchsetzen können.

Die lange Regimephase des Faschismus zeichnete sich dadurch aus, daß Mussolini eine Art von Vermittlungsdiktatur ausüben konnte, mit der er sich sowohl über die Partei als auch die monarchisch orientierten faschistischen Sympathisanten stellte und als ‹Duce del fascismo› für beide Seiten unentbehrlich machte. Diese Diktatur war nicht bürokratisch vermittelt, schon gar nicht lag ihr eine klare institutionelle Regelung zugrunde. In Anlehnung an Max Weber kann man Mussolinis persönliche Diktaturausübung deshalb durchaus als ‹charismatische Herrschaft› bezeichnen.

Mussolinis Herrschaft baute auf persönlicher Loyalität auf, nicht auf sachlicher Zuständigkeit und fachlicher Kompetenz. Sie wurde durch einen Personenkult abgesichert, der die Beherrschten zu blinder Unterwerfung bringen sollte. Max Weber spricht in diesem Zusammenhang von «charismatischer Gefolgschaft», die auf der direkten Konfrontation mit dem ‹Führer› beruhte, sei es in medialer Vermittlung oder sei es in persönlicher Begegnung. Mussolinis zahllose öffentliche Auftritte in organisierten Massenversammlungen finden hier ebenso ihre Erklärung wie die internen Audienzen, bei denen seine Entourage fast täglich bei ihm vorsprechen mußte. Als charismatischer Führer erschien Mussolini bei diesen Gelegenheiten stets als Repräsentation seiner selbst.

Mussolinis Führerautorität war jedoch nicht nur ein Ergebnis einer geschickten Performance, sie war vielmehr in hohem Maße erfolgsabhängig. Solange Mussolini politische Erfolge, die er vor allem in imperialistischer Gewaltpolitik suchte, vorweisen konnte, war ihm die Zustimmung der Italiener sicher. Der Massenkonsens ging zurück, als die vermeintlichen Erfolge ausblieben und die sich häufenden militärischen Niederlagen im Krieg den Glauben an den unfehlbaren ‹Duce› dahinschwinden ließen.

Schließlich ist davor zu warnen, das idealtypische Konstrukt ‹charismatischer Führerherrschaft› mit der historischen Realität zu verwechseln. Zunächst einmal ergab sich der Massenkonsens mit dem Faschismus nicht allein aus dem Dialog des ‹Duce› mit der ‹Masse›. Es handelte sich nicht um spontane Begegnungen, sondern durchweg um sorgfältig geplante Inszenierungen. Der Kult um den allgegenwärtigen ‹Duce› wurde von einer gewaltigen Propagandamaschine organisiert und in Gang gehalten. Ebenso wichtig war, daß die propagandistisch zur Schau gestellte Harmonie zwischen ‹Führer› und ‹Gefolgschaft› eine repressive Grundlage hatte. Die Führerherrschaft des ‹Duce› beruhte auf politischer Einschüchterung, polizeilicher Überwachung und unerbittlicher Verfolgung jedes abweichenden Verhaltens. Der charismatische Führerstaat des Faschismus war ein Polizeistaat, was niemand stärker bewußt war als Mussolini selbst. «Konsens» und «Gewalt» waren für ihn zwei Seiten ein und derselben Medaille. Kurz und bündig formulierte er dies am 7.3.1923 in einer seiner ersten Reden als Ministerpräsident: «Wenn der Konsens fehlt, gibt es die Gewalt» (quando mancasse il consenso, c’è la forza).

Mit dem Sturz Mussolinis am 25.7.1943 ging das monarchisch-faschistische Regime zu Ende. Der ‹Duce› konnte jedoch in Oberitalien im Auftrag der deutschen Besatzungsmacht nochmals ein Kollaborationsregime ausüben, das sich vom monarchisch-faschistischen System durch seinen republikanischen Charakter unterschied. Mussolini hatte in diesem republikanisch-faschistischen Regime keine Rücksicht mehr auf Koalitionspartner zu nehmen, um so mehr war er abhängig von den Deutschen. Die von ihm gegründete Repubblica Sociale Italiana (RSI) war ein deutscher Satellitenstaat.

II. Entstehungsbedingungen des Faschismus

Die europäische Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 war eine Zeit des politischen Umbruchs. In zahlreichen europäischen Staaten gerieten parlamentarisch-demokratische Regierungssysteme in die Krise und wurden durch rechtsorientierte Diktaturregime ersetzt. Je nach historischer Tradition und politischer Ausgangslage handelte es sich dabei um Königsdiktaturen, Präsidialdiktaturen oder Militärdiktaturen. Für alle, so sehr sie sich im einzelnen voneinander unterschieden, war charakteristisch, daß sie ausschließlich von den traditionellen Eliten des Landes (Monarchie, Militär, Beamtenschaft, Kirchen) herbeigeführt worden waren und sich auf keine genuine Massenbewegung stützten. In Italien kam es dagegen durch den Faschismus zur Bildung eines Diktaturregimes eigener Art, bei dem eine rechtsextremistische Massenbewegung mit nationalkonservativen Gruppierungen zusammenging. Man kann diese widersprüchliche Regimebildung nur damit erklären, daß Italien infolge des Ersten Weltkrieges einer dreifachen gesellschaftlichen Systemkrise ausgesetzt war, wie sie in ähnlicher Form sonst nur noch Deutschland belastet hat. Diese Krisenakkumulation bewirkte sowohl das Entstehen der systemfeindlichen faschistischen Protestbewegung als auch deren politische Machtergreifung mit Hilfe politischer Repräsentanten dieses Systems.

Sie ergab sich aus drei säkularen Entwicklungsprozessen, denen Italien – wie andere europäische Staaten auch – in der Moderne unterworfen war, die aber in diesem Land infolge ihres nahezu gleichzeitigen Auftretens zu einer kumulativen Krise führten. Zum ersten handelte es sich um den Prozeß der nationalen Integration, einerseits im Sinne zwischenstaatlicher Abgrenzung und andererseits im Sinne binnenstaatlicher Nationsbildung. Zweitens ging es um den Prozeß politischer Verfassungsbildung, also um den Weg von der absolutistischen Monarchie zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat. Und drittens schließlich stand der Prozeß der Industrialisierung an, durch den sich Italien, zumindest partiell, vom reinen Agrarstaat zum Industriestaat entwickelte. Es war die relative Gleichzeitigkeit von unvollendeter Nationsbildung, ungelösten Verfassungskonflikten und unbewältigten wirtschaftlichen Wachstumskrisen, durch welche die besonderen historischen Rahmenbedingungen für die Entstehung des Faschismus in Italien geschaffen wurden.

Unvollendeter Nationalstaat Als Nationalstaat gehörte Italien wie Deutschland im europäischen Vergleich zu den Nationen, die erst spät (1861/70) zu staatlicher Einheit gefunden hatten. Die als Wiederauferstehung (Risorgimento) interpretierte Gründung des italienischen Nationalstaats wurde von den bürgerlichen und aristokratischen Herrschaftseliten des Landes als unvollendet angesehen. Die Außenpolitik des Landes war deshalb bis zum Ersten Weltkrieg zwanghaft von der Vorstellung geprägt, außerhalb Italiens die ‹unerlösten› Gebiete einer ‹Irredenta› heimholen zu müssen. Dieser irredentistische Nationalismus wurde so lange politisch abgemildert, wie er liberal unterfüttert war. Um die Jahrhundertwende schlug die national-liberale Ideologie jedoch in einen militanten, imperialistisch aufgeladenen Nationalismus um. Es war dieser neue Nationalismus, der Italien 1911 in den Libyenkrieg und 1915 in den Ersten Weltkrieg führte. Die übersteigerten Hoffnungen der Kriegspartei, die Italien in den Krieg gegen Österreich-Ungarn und Deutschland geführt hatte, wurden 1919/20 auf den Pariser Friedenskonferenzen großenteils erfüllt. Italien konnte mit Trient, Südtirol bis zum Brenner, Görz, Triest und Istrien sowie außerdem noch Rhodos und dem Dodekanes enorme Territorialgewinne verbuchen, es mußte lediglich seine Ansprüche auf Dalmatien und Fiume zurückstellen. Die nationale Identität des Landes war jedoch immer noch so ungefestigt, daß dieser beträchtliche Zuwachs als völlig unzureichend empfunden wurde und sich das Gefühl eines ‹verstümmelten Sieges› (Vittoria mutilata), der italienischen Variante der Dolchstoßlegende, breitmachte.

Parlamentarismus ohne Parteien Bei der Gründung des italienischen Nationalstaats wurde 1861 das 1848 im Königreich Piemont-Sardinien vom Regenten Carlo Alberto erlassene Verfassungsstatut (Statuto Albertino) als konstitutionelle Grundlage übernommen. Der italienische König wurde damit an die Verfassung gebunden, behielt jedoch eine Reihe von monarchischen Vorrechten, zu denen vor allem das Ernennungsrecht des Ministerpräsidenten gehörte. Die liberale Bewegung war in Italien jedoch stark genug, in der Praxis nach kurzer Zeit die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit durchzusetzen und die Verfassung auf diese Weise zu einem parlamentarischen Regierungssystem umzuformen. Dieses vergleichsweise moderne Regierungssystem stagnierte jedoch seit Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Entwicklung, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen war der das Parlament beherrschende Liberalismus nicht in der Lage, organisierte Parteien aufzubauen. Im Parlament standen einander vielmehr bis zur Jahrhundertwende lediglich die beiden großen, nicht klar voneinander abgegrenzten Blöcke der ‹Destra› und der ‹Sinistra› gegenüber, die abwechselnd die Regierung stellten. Das führte schon frühzeitig zu Wahlmanipulationen und parlamentarischer Korruption. In der Ära des Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lösten sich die Parlamentsparteien vollends auf. An ihre Stelle trat die Praxis des sogenannten ‹Trasformismo›, in dem der Ministerpräsident sich die Mehrheiten mit Hilfe eines ausgefeilten Systems klientelistischer Abhängigkeiten jeweils zusammensuchte.

Die zweite Schwäche des italienischen Regierungssystems bestand darin, daß die liberalen Führungsschichten sich oligarchisch abschlossen und das Wahlrecht rigoros beschränkten. In einem Land, in dem noch Ende des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Erwachsenen Analphabeten waren, wollte man sich auf diese Weise vor einem unkalkulierbaren Verhalten der Unterschichten schützen. Seit der Gründung des Partito Socialista Italiano (PSI) im Jahr 1892 stand dahinter jedoch auch die diffuse Angst vor der ‹Revolution›, wie sie in den bürgerlichen Schichten der meisten Länder Europas verbreitet war.

Erst in der Nachkriegskrise von 1919 wurde in Italien das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt. Bei den ersten nationalen, nach dem Verhältniswahlrecht durchgeführten Wahlen stellten der PSI mit 156 und der neuformierte katholische Partito Popolare Italiano (PPI) mit 100 Abgeordneten zusammen die Mehrheit der insgesamt 508 Parlamentsmitglieder. Nur die restlichen 252 Sitze entfielen noch auf das bürgerliche Lager, das damit weit von einer Mehrheit entfernt war. Zu einer Koalition mit den Sozialisten oder den Katholiken waren die bürgerlichen Gruppen ebenso wenig fähig, wie die beiden Massenparteien, die bisher außerhalb jeder politischen Verantwortung gestanden hatten, miteinander koalieren konnten. Alle großen Lager waren zu politischen Kompromissen unfähig, was auch daran lag, daß sie in sich jeweils gespalten waren. Innerhalb des PSI standen sich Reformisten und potentielle Revolutionäre schon unversöhnlich einander gegenüber, bevor es 1921 zur Abspaltung des Partito Comunista d’Italia (PCI) kam. Der PPI wurde zwar von seinem Generalsekretär Don Sturzo straff geführt, die Partei war jedoch tief in Christliche Demokraten und Konservative gespalten. Und das bürgerliche Lager war ohnehin in zahlreiche personenorientierte Gruppierungen zersplittert. Der Schritt in eine demokratische Zukunft des Landes, der mit den ersten Wahlen nach dem allgemeinen Männerwahlrecht getan schien, führte deshalb nur zu einer Lähmung des liberalen Verfassungssystems.

Organisierter Kapitalismus Schließlich wurde Italien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in außergewöhnlicher Weise von der Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft getroffen. Das hatte zunächst eine weit in die Vergangenheit zurückreichende Ursache. Entgegen den wirtschaftstheoretischen Grundsätzen des seit der Nationalstaatsgründung politisch vorherrschenden Liberalismus hatte sich die Industrialisierung in Italien unter ungewöhnlich hoher Beteiligung des Staates vollzogen. Man kann daher in Italien im Sinne von Joseph Schumpeter durchaus von einem ‹organisierten Kapitalismus› sprechen. Dieses protektionistische System hatte jedoch eine Schieflage: Es förderte einseitig die Schwerindustrie und benachteiligte die Produktion von Konsum- und sonstigen Investitionsgütern. Vor allem aber vernachlässigte es die Landwirtschaft, die besonders in Süditalien in geradezu archaischen Produktionsbedingungen verharrte. Das war, wie Rosario Romeo in einer berühmten Auseinandersetzung mit den Thesen des kommunistischen Theoretikers Antonio Gramsci argumentiert hat, insofern unvermeidlich, als zum Aufbau des Industriesystems nur ein Kapitaltransfer aus der Landwirtschaft in Frage kam. Da sich der Aufschwung der Industrie jedoch fast ausschließlich im Städtedreieck (Triangolo) zwischen Turin, Mailand und Genua vollzog, wurde durch die Industrialisierung ein für allemal die Rückständigkeit des Südens (Mezzogiorno) zementiert.

Da der ‹Take-off› des Industrialisierungsprozesses in Italien erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stattfand, stand Italien bei Beginn des Ersten Weltkrieges noch eher am Anfang seiner industriellen Entwicklung. Die einseitige Ausrichtung auf die Schwerindustrie, den Maschinen- und den Fahrzeugbau sowie die Energieerzeugung wurde durch den italienischen Kriegseintritt von 1915 extrem forciert. Es kam «zu einem treibhausartigen Aufblühen der rüstungswichtigen Zweige» der Industrie (Jens Petersen). Mit dem Ilva- und dem von den Brüdern Perrone geführten Ansaldo-Konzern entstanden große Rüstungsbetriebe, die jeweils eng mit großen Banken verbunden waren. Das plötzliche Kriegsende führte diese Industriegiganten in eine Krise, die mit dem Zusammenbruch der beiden Komplexe endete. Nur durch ein rigoroses Eingreifen der Regierung konnte das Schlimmste verhindert werden, stieg jedoch die durch die Kriegsfinanzierung ohnehin schon enorme Staatsverschuldung des Landes ins Unermeßliche. Vergeblich versuchte Giolitti, der 1921 nochmals an die Regierung gekommen war, den Staatshaushalt zu sanieren und eine gerechte Verteilung der Kriegsfolgekosten zu erreichen.

Die Leidtragenden waren in erster Linie die Millionen von heimkehrenden Frontsoldaten (Combattenti), denen während des Krieges große Versprechungen gemacht worden waren. Statt persönliche Anerkennung und das versprochene Land oder einen sicheren Arbeitsplatz zu erhalten, gerieten vor allem die ländlichen Halbpächter, Saisonarbeiter und Handlanger, aber auch die ungelernten Arbeiter in den Städten in die Arbeitslosigkeit. In den beiden Jahren nach Kriegsende kam es daraufhin zu einer Serie von Unruhen, in denen sich die Unzufriedenheit der enttäuschten Massen Luft machte. Diese freilich eher ohnmächtigen Protestbewegungen begannen im Frühjahr 1919 mit Hungerrevolten und Landbesetzungen, setzten sich im Januar/Februar 1920 mit Post- und Eisenbahnerstreiks fort und endeten im August/September 1920 mit der Besetzung von Fabriken.

Nationale Unzufriedenheit, parlamentarische Handlungsunfähigkeit und eine wirtschaftliche Konfliktsituation führten nach Kriegsende in Italien zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise, wie sie in dieser komprimierten Form sonst in Europa nicht aufgetreten ist. Nur in Deutschland kam es ein Jahrzehnt später aus vergleichbaren Gründen zu einer ähnlichen Situation. Die Krise wurde dadurch dramatisch verschärft, daß der mörderische Erste Weltkrieg bei Millionen Männern eine Gewaltbereitschaft erzeugt hatte, die viele dafür anfällig machte, den Krieg als Bürgerkrieg fortzusetzen. Ohne diese Enthemmung der Gewalt ist die Entstehung des Faschismus nicht zu erklären. Dieser war insofern eine gewalttätige Abwehrreaktion auf die kumulierte Krisensituation Italiens seit dem Ende des Krieges. Es war nicht zwingend, daß das politische System Italiens dieser Belastung nicht standhielt, jedoch wurden die traditionellen Herrschaftseliten des Landes zusätzlich durch die Angst vor dem ‹Bolschewismus› verunsichert. Sie ließen sich daher auf ein Zusammengehen mit der faschistischen Bewegung ein, welche die ‹rote Gefahr› am kompromißlosesten zu bekämpfen versprach. Daß die Faschisten zugleich auch ihre eigene politische Hegemonie bedrohten, begriff man entweder nicht oder glaubte, sie politisch einbinden und auf diese Weise domestizieren zu können. Der Durchbruch des Faschismus war in hohem Maße seiner politischen Unterschätzung geschuldet.

III. Der Faschismus als politische ‹Bewegung› 1919–1922

Benito Mussolini Die Entstehung des Faschismus ist untrennbar mit der historischen Figur Benito Mussolinis verbunden. Ohne den politischen Willen, aber auch ohne die ideologische Wendigkeit und die persönliche Rücksichtslosigkeit des am 29.7.1883 in dem kleinen Ort Predappio bei Forlì geborenen Romagnolen hätte sich der Faschismus in seiner historischen Form nicht entfalten können.

Mussolinis Weg in die Politik begann in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Seit 1910 war er in Forlì Sekretär des Partito Socialista Italiano und Herausgeber der Zeitschrift «La lotta di classe», auf dem Parteikongreß von Reggio Emilia wurde er 1912 zum Chefredakteur der zentralen sozialistischen Parteizeitung «Avanti!» und damit faktisch zum Parteiführer des PSI gewählt. Entgegen seiner revolutionären Attitüde unterstützte er nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zunächst die italienische Neutralitätspolitik. Erst im Oktober 1914 trat er in einer seiner plötzlichen Wendungen von der Chefredaktion des «Avanti!» zurück und schlug sich auf die Seite der nationalistischen Interventisten, die einen Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Ententemächte forderten. Es ist nicht bis zum letzten geklärt, wie es ihm gelungen ist, von der Kriegsindustrie, aber auch von der französischen Botschaft in Rom so viel Geld zu erhalten, daß er am 15.11.1914 mit dem «Popolo d’Italia» erstmals die Tageszeitung herausbringen konnte, die bis 1943 sein politisches Kampforgan bleiben sollte. Mussolini profilierte sich mit dieser Zeitung als Wortführer eines nationalrevolutionären Sozialismus, dessen Durchsetzung er sich als Folgewirkung des Krieges versprach.