Herausgegeben von
Kai Brodersen, Martin Kintzinger,
Uwe Puschner, Volker Reinhardt
Herausgeber für den Bereich Frühe Neuzeit:
Volker Reinhardt
Beratung für den Bereich Frühe Neuzeit:
Sigrid Jahns
Nicole Priesching
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©2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Redaktion: Christina Kruschwitz, Berlin
Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Bickenbach
Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach
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ISBN 978-3-534-25483-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73191-6
eBook (epub): 978-3-534-73192-3
Geschichte kompakt
I. Hinführung
1. Formen von Sklaverei – statt einer Definition
2. Sklaverei und europäische Identität – eine verdrängte Geschichte
3. Sklaverei in der Frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)
3.1 Eine Longue-durée-Perspektive
3.2 Korsarenkrieg im Mittelmeerraum
3.3 Expansion und Sklaverei
3.4 Der religiöse Faktor
II. Sklaverei in der Frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)
1. Europa
1.1 Christliche Flotten im Mittelmeerraum
1.2 Europäische Sklavenmärkte
1.3 Die Lebenswelt der Sklaven
1.4 Der Loskauf
2. Außereuropäische Bezüge
2.1 Auftakt: Expansion nach Afrika und Beginn des Sklavenhandels
2.2 Christliche, muslimische und afrikanische Sklavenhändler in Afrika
2.3 Die Entdeckung Amerikas und die Versklavung der Indios
2.4 Der transatlantische Sklavenhandel
2.5 Juden und Schwarze
2.6 Muslimische und christliche (Sklaven-)Händler in Südostasien
2.7 Leben, Kultur und Religion der afroamerikanischen Sklaven
III. Sklaverei und Religion
1. Judentum
1.1 Theologische Grundlagen
1.2 Jüdische Positionen in der Frühen Neuzeit: Eine Spurensuche
1.3 Politische Rahmenbedingungen
2. Christentum
2.1 Biblische Grundlagen
2.2 Die Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum)
2.3 Die Indiodebatte und die Schule von Salamanca
2.4 Die permanente Sklaverei der Schwarzen
3. Islam
3.1 Sklaverei im Koran
3.2 Sklaverei im islamischen Recht
3.3 Rechtliche Vorschriften
3.4 Der Jhihad als bellum iustum?
3.5 Afrika zwischen Annahme des Islam und Sklaverei
3.6 Rassistische Begründungsversuche
4. Die Verfluchung Hams in interreligiöser Perspektive
IV. Ausblick: Die Kriminalisierung der Sklaverei
1. Der Niedergang der europäischen Galeerenflotten
2. Die Abolitionsbewegung
3. Sklaverei – und kein Ende?
Literaturhinweise
Personenregister
Ortsregister
Geschichte kompakt
In der Geschichte, wie auch sonst,
dürfen Ursachen nicht postuliert werden,
man muss sie suchen. (Marc Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai Brodersen
Martin Kintzinger
Uwe Puschner
Volker Reinhardt
Was ist Sklaverei?
Was man unter einem ‚Sklaven‘ zu verstehen hat, gehört zu den umstrittenen Fragen in der Forschung. Grundsätzlich handelt es sich um einen rechtlichen Status von Unfreiheit, der jedoch je nach Zeit und kulturellem Kontext sehr unterschiedliche Formen annahm. Alle Definitionen scheinen nur teilweise das Phänomen der Sklaverei einzufangen, wie das folgende Beispiel verdeutlicht. Im Hinblick auf afrikanische Sklaverei wurde von den Ethnologen Kopytoff und Miers definiert, ein Sklave sei „zuerst eine Ware, die gekauft, verkauft oder vererbt werden kann“.
Q
Sklave im Kontext afrikanischer Sklaverei
Aus: Kopytoff/Miers, Slavery in Africa, 3f.
Ein Sklave ist „zuerst eine Ware, die gekauft, verkauft und vererbt werden kann. Er ist eine bewegliche Habe, völlig im Besitz einer anderen Person, die ihn zu ihrem privaten Nutzen gebraucht. Er hat keine Kontrolle über seine persönlichen Geschicke; keine Wahl seiner Beschäftigung oder seines Arbeitsgebers, kein Recht auf Eigentum oder Heirat, auch keine Kontrolle über das Schicksal seiner Kinder. Sein Aufenthaltsort ist fremdbestimmt, er kann ohne Rücksicht auf seine Vorstellungen und Gefühle vererbt oder verkauft werden; er kann auch ungestraft misshandelt, in manchen Fällen sogar getötet werden. Zudem vererbt er seinen Sklavenstatus auf jede Nachkommenschaft. Sklaven als Gruppe bilden eine besondere ‚Klasse‘ am unteren Ende der sozialen Leiter, obwohl sie tatsächlich in größerer Sicherheit und besser versorgt als manche der Freien sind.
Diese Definition passt zwar relativ gut zu Verhältnissen der afrikanischen Sklaverei und entspricht auch der klassisch (antiken) römischen Definition, kann aber nicht für alle Formen des globalen Phänomens Sklaverei gelten. Eine Ausnahme bildet bereits die schon im Alten Testament bekannte Schuldsklaverei, nach der sich jemand selbst für eine bestimmte Zeit in die Sklaverei verkauft, um seine Schulden abzutragen. Diese Form von Sklaverei ist auch noch in der Frühen Neuzeit im Mittelmeerraum vereinzelt anzutreffen.
Sklave als „Sache“ und „Person“
Der Begriff der Ware deutet auf eine rechtliche Stellung des Sklaven als ‚Sache‘ hin. Diese Vorstellung ist insofern im frühneuzeitlichen Europa weiterhin präsent, als sich hier auch antike römische Traditionen erhalten haben. So wird der Sklave im römischen Recht vor allem als Sache (res) behandelt: Sklaven waren demnach rechtsunfähig und standen als res im Eigentum ihres Herrn. Die Ehe unter Sklaven besaß keine rechtliche Anerkennung, und Kinder einer Sklavin fielen dem Herrn der Mutter zu. Eine Definition des Sklaven als Sache oder Ware ist jedoch nicht verallgemeinerbar. So bemühte sich schon Seneca in seiner Schrift De benificiis, das Menschsein und Personsein des Sklaven herauszustellen. Noch deutlicher wird die doppelte Sichtweise auf Sklaven als Sachen wie als Personen im christlichen Kontext. Auch wenn Sklaven im Neuen Testament nicht empfohlen wird, nach Freiheit zu streben (1 Kor 7,21), so wird der Begriff selbst spiritualisiert und in einen Erlösungszusammenhang gestellt. Christus hat Sklavengestalt angenommen (Phil 2,6). Trotz der rechtlichen Unterschiede der Menschen auf Erden sind vor Gott alle Menschen – geschaffen als sein Ebenbild – gleich. Das gilt auch für Sklaven, die im Kirchenrecht als Personen behandelt werden und Sakramente empfangen können, wobei es hier Einschränkungen gab. Sklaverei stellte nämlich ein Weihehindernis dar, ein Sklave durfte also nicht zum Priester geweiht werden. Es ist daher notwendig, die unterschiedlichen Rechtsräume im Hinblick auf Sklaverei differenziert in den Blick zu nehmen. Der Sklave kann rechtlich als Sache definiert sein, muss es aber nicht notwendigerweise. Das gilt umso mehr, als Sklaverei ein globalgeschichtliches Phänomen ist, das in unterschiedlichen Kulturkreisen und Rechtstraditionen vorkommt. Nicht einmal die Klassifizierung des Sklaven als Eigentum eines anderen (oder von Institutionen) kann nach Orlando Patterson als konstitutives Element der Sklaverei angesehen werden. Vielmehr handelt es sich seiner Meinung nach hierbei um ein ‚Idiom‘, in dem die Sklavereibeziehung repräsentiert und verhandelt wird (Patterson 1982, 17–26).
Sklave von Geburt
Die Vererbbarkeit des Sklavenstatus ist kein Merkmal, das für die Sklaverei in Europa dieselbe Bedeutung hätte wie für Afrika oder für die Neue Welt. In Europa rekrutierten sich die Sklaven weniger aus den Sklavenkindern als vielmehr aus Kriegen, Menschenraub und Sklavenmärkten. Bei den frühneuzeitlichen Galeerensklaven der christlichen Flotten zum Beispiel – eine reine Männergesellschaft – spielten deren (wenn überhaupt, dann illegale) Kinder keine Rolle. Die Sklaven mussten arbeiten, bis sie starben oder losgekauft wurden. Kinder waren in diesem System nicht vorgesehen. Anders war dies bei Haussklaven.
Eigentum der Sklaven
Schließlich gilt weder für Sklaven in Europa noch für Sklaven im muslimischen Raum, dass sie kein Recht auf Eigentum gehabt hätten. Freilich in sehr begrenztem Rahmen war es ihnen erlaubt und möglich, Geld zu verdienen. Damit wurde bei den Sklaven die Hoffnung genährt, sich eines Tages selbst freikaufen zu können. Die meisten erreichten dieses Ziel mit ihrer bescheidenen Habe allerdings nie. Dennoch wurde es erlaubt, auf den eigenen Freikauf hinzuarbeiten. Diese Lockerung stärkte die Moral und stützte auf ihre Weise das System.
Sklaverei – Freiheit
Sklaven konnten also unterschiedliche Handlungsspielräume haben. Diese bemessen sich in den meisten Fällen nach der Willkür des Sklavenbesitzers und können sich nur selten auf gewohnheitsrechtliche Regelungen berufen. In diesem Sinne ist der Sklave ein Unfreier. Im Unterschied zu ihm kann ein ‚freier Mensch‘ nicht als Besitz eines anderen betrachtet werden, kann nicht gekauft, verkauft oder vererbt werden, kann sich zumindest theoretisch seine Arbeit frei wählen, seinen Lebensstil frei bestimmen und frei über sein Eigentum verfügen. Sklave und Freier sind Gegenpositionen. Sklaven waren die Rechte und Entscheidungsfreiheiten entzogen, die dem Status des Freien entsprachen. Unser heutiges Sklavereiverständnis ist demnach geprägt vom Hintergrund einer etwa 200-jährigen europäischen (und teilweise amerikanischen) Geschichte eines Kampfes um Freiheitsrechte. Je nachdem, welche Freiheitsrechte im Zuge dieser Entwicklung als menschliche Grundwerte begriffen wurden, wurde Sklaverei dazu als Widerspruch aufgefasst. Anders ausgedrückt: Wenn in einer Gesellschaft zum Beispiel Ehehindernisse auch für Freie (etwa für Dienstboten) galten oder generell keine freie Partnerwahl üblich war, konnte dies nicht als spezifisches Merkmal von Sklaverei gelten, obwohl das Fehlen solcher Rechte auch sie charakterisierte. Die zeitgenössische Perspektive ist also von einer heutigen Bewertung zu unterscheiden.
Die Bewertung von Sklaverei unterliegt Wandlungsprozessen. Der Kampf um Freiheitsrechte und der Kampf um die Abschaffung der Sklaverei hängen nicht zufällig historisch miteinander zusammen. So dürfte es bei allen unterschiedlichen Versuchen, Sklaverei zu definieren und das Phänomen weiter oder enger zu fassen, heute weitgehend Konsens sein, dass Sklaverei grundsätzlich abzulehnen ist. Dies ist eine relativ junge Errungenschaft. Eine Geschichte der Sklaverei enthält somit stets auch eine moralische Dimension.
Begriffe
In diesem Sinne können scharfe begriffliche Trennungen problematisch werden. So rechtfertigt es die terminologische Unterscheidung von Sklave und Leibeigener nicht unbedingt, Leibeigene in einer Geschichte der Sklaverei unberücksichtigt zu lassen, da Leibeigenschaft nach heutigem Freiheitsverständnis auch eine Form von Sklaverei darstellte. Die Frage, ob die Differenzierung nach Graden von Unfreiheit dazu führen sollte, jede angeblich mildere Form aus einer Geschichte der Sklaverei auszuschließen, wird kontrovers diskutiert. So lassen manche Darstellungen nur diejenigen als Sklaven gelten, die zeitgenössisch mit Begriffen wie servus, mancipium, ancilla (antike Tradition) und später als schiavo, esclave, slave, Sklave bezeichnet wurden. Dies ist zur Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes oftmals sinnvoll. Unklar ist jedoch in vielen Fällen, wie begriffsgeschichtliche Entwicklungen und Ausdifferenzierungen zu deuten sind. So ist nicht vorauszusetzen, dass damit automatisch eine Entwicklung zu mehr Humanisierung und milderen Formen von Unfreiheit stattfand. Gerade Vergleiche von Personengruppen, die weiterhin als Sklaven bezeichnet wurden, mit solchen, die in ihren Freiheitsrechten ebenfalls erheblich eingeschränkt waren, aber nicht mehr so bezeichnet wurden – wie zum Beispiel Zwangsarbeiter oder Strafgefangene – widerlegen solche Vorstellungen. Am untersten Ende der sozialen Ordnung war für mehrere Gruppen Platz, wobei es die Sklaven nicht immer am schlechtesten hatten. Vergleicht man zum Beispiel einen Haussklaven, der wie ein Dienstbote im Kreise einer Familie lebte, mit einem Fremdarbeiter in der Zeit des Nationalsozialismus, wird deutlich, dass die zeitgenössische Terminologie der Zwangsarbeit keine befriedigende Abgrenzung zur in sich vielschichtigen Sklaverei darstellt. Zudem sind zeitgenössische Bezeichnungen auch Ausdruck politischer Strategien, deren Bewertungen nicht unkritisch zu übernehmen sind. Ein anderes Problem ist, dass die Quellen selbst nicht immer eindeutig in der Verwendung des Begriffs sind. So wurde ein muslimischer Kriegsgefangener in den Verkaufsurkunden der genuesischen Notare des 12. Jahrhunderts noch hinreichend mit dem Terminus saracenus bezeichnet, in den 1230er und 1240er Jahren hingegen bereits als sclavus. Aus diesen Gründen beziehen andere Darstellungen auch Gruppen in eine Geschichte der Sklaverei mit ein, die zeitgenössisch davon begrifflich unterschieden waren; der Forschungsbegriff Sklave wird dann weiter gefasst als der Quellenbegriff. Es werden verschiedene Formen von Sklaverei unterschieden, die nicht alle so bezeichnet werden mussten.
Sklavereidiskurse in der Frühen Neuzeit
Sklaverei ist auch eine Frage der Perspektive, die unter anderem in unterschiedlichen Diskursen vertreten und entwickelt wird. Welche Vorstellungen prägten in der Frühen Neuzeit den Diskurs über Sklaverei? Wahrgenommen wurde das Aufleben der Sklaverei in den Kolonien der Neuen Welt (Versklavung der Indios sowie transatlantischer Sklavenhandel). Noch näher war vielen Europäern die Bedrohung durch die nordafrikanischen Barbareskenstaaten (Algerien, Tunesien, Tripolitanien), deren Korsaren (vgl. I.3.2) Menschen aus Europa in die Sklaverei verschleppten. Damit hat sich aus europäischer Sicht der Wechsel von der Perspektive des Sklavenhalters zum Opfer von Sklaverei vollzogen. Daneben existierte aber auch in Europa selbst die Institution der Sklaverei fort. Für den Mittelmeerraum gibt es mittlerweile genügend Belege, hier die Sklaverei (teilweise bis ins 19. Jahrhundert) weder als Rand- noch als Reliktphänomen abzutun. Für Nord- und Mitteleuropa gilt in der Forschung zwar weiterhin, dass Sklaverei in Formen wie Leibeigenschaft transformiert wurde und in der Frühen Neuzeit somit nicht mehr im engeren Sinne anzutreffen war. Es wird sich aber zeigen, ob künftige Studien dieses Bild bestätigen oder relativieren werden. Im ersten Kapitel dieses Buches finden sich einige Hinweise, die an diesem Bild zweifeln lassen.
Nord- und Mitteleuropa
In Berührung kam Nord- und Mitteleuropa sicher dann mit der Sklaverei, wenn Soldaten oder Seeleute aus diesen Regionen in Kriegen mit dem Osmanischen Reich oder mit den nordafrikanischen Barbareskenstaaten in muslimische Kriegsgefangenschaft gerieten und als Sklaven von ihren Verwandten und Freunden aus der Heimat losgekauft werden konnten. Die Loskaufpredigten, die für diesen Zweck sowohl in katholischen als auch in evangelischen Gebieten gehalten wurden, zeichnen ein Bild grausamer muslimischer Sklavenhalter, unter denen die armen christlichen Sklaven märtyrerähnlich litten. Die eigene Sklavenhaltung wurde in diesem Kontext ausgeblendet – zumindest lässt sich für den christlichen Mittelmeerraum deuten, dass es sich dabei um einen bewussten und gesteuerten Vorgang handelte. So ist für die Frühe Neuzeit nicht nur zu klären, wo es überall noch Sklaven gab, sondern auch, welcher Wissenshorizont von Sklaverei existierte, welche Funktionen der Diskurs über Sklaverei einnahm und wie Sklaverei in unterschiedlichen Kontexten bewertet wurde.
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Loskauf
Der Sklavenloskauf ist eine sehr alte Praxis. Bereits das Alte Testament kennt ihn. Er wurde im Römischen Reich praktiziert, und auch Christen engagierten sich seit der Antike in diesem Bereich. Mit dem Wiederaufleben der Sklaverei im Mittelmeerraum des 12. Jahrhunderts wurden vereinzelt Maßnahmen zum Schutz der eigenen Landsleute ergriffen. Im Kontext der Kreuzzüge entstanden Orden, die sich primär um den Loskauf christlicher Gefangener aus den Händen der Muslime kümmerten. Der erste Schritt war das Almosensammeln für den Loskauf. Der zweite Schritt bestand im Loskauf vor Ort durch bestimmte Loskäufer. Den dritten Schritt bildete schließlich die Rückführung der losgekauften Sklaven in die Heimat.
Der Loskauf von (Kriegs-)Gefangenen bzw. Sklaven ist auch eines der zentralen Themen der interreligiösen Beziehungsgeschichte. Er wurde von Juden, Christen und Muslimen durchgeführt, um die eigenen Glaubensbrüder und -schwestern aus der Hand ihrer andersgläubigen Sklavenhalter zu befreien. Zudem taucht der Begriff des Loskaufs in allen drei abrahamitischen Religionen als spiritueller Begriff im übertragenen Sinne auf. So hat zum Beispiel Gott das Volk Israel aus Ägypten ‚losgekauft‘. Im Neuen Testament erscheint der Loskauf als Metapher, um Aussagen über das Wesen des Menschen und die Erlösungstat Jesu Christi zu machen. Der Koran empfiehlt den Loskauf als gottgefälliges Werk. Die Spiritualisierung von Loskauf stand in einer komplexen Beziehung zur realen Praxis; sie konnte zum Loskauf motivieren, aber auch die Akzeptanz der Sklaverei fördern.
Mittelmeerraum
Kommen wir nochmals zur europäischen Praxis. Die christliche Sklavenhaltung erstreckte sich in der Frühen Neuzeit im Mittelmeerraum auf zwei Bereiche: Es gab erstens Privatsklaven oder Haussklaven und zweitens öffentliche Sklaven oder Staatssklaven. Sklaven der ersten Kategorie gehörten Privatleuten oder kleineren Gemeinschaften zur deren Nutzen, meist als Diener oder Dienerinnen in einem Haushalt. Sklaven der zweiten Kategorie waren rechtliches Eigentum eines Herrschers und entweder auf den Galeeren als Ruderer eingesetzt oder für Festungsbauten und andere Instandsetzungsarbeiten. Ein Staatssklave war dem Herrscher unter den Bedingungen des frühmodernen Staates zugehörig. Die meisten Staatssklaven wurden auf den Galeeren eingesetzt, weshalb man auch von Galeerensklaverei sprechen kann. Galeerensklaven gab es vermutlich bereits in der Antike, so dass hier eine lange Traditionslinie sichtbar wird.
Kriegsgefangenschaft als Weg in die Sklaverei
Wie wurde man Sklave in der Frühen Neuzeit? Die häufigste Rekrutierungsform stellte die Kriegsgefangenschaft dar. Hierbei spielte allerdings die Religionszugehörigkeit eine Rolle. So bildete sich im 14. Jahrhundert das Gewohnheitsrecht heraus, dass Christen keine Christen versklaven sollten. Zwar nahmen sich auch Christen, wenn sie gegeneinander Krieg führten, gegenseitig gefangen. Doch diese Kriegsgefangenen waren nun unterschieden von muslimischen Kriegsgefangenen, die versklavt werden durften. Deshalb haben wir es auf den christlichen Galeerenflotten der Frühen Neuzeit fast ausschließlich mit muslimischen Galeerensklaven zu tun (neben einigen jüdischen, die aus muslimischen Gebieten stammten).
Terminologisch wurde die Unterscheidung zwischen Gefangener und Sklave nicht konsequent verfolgt. Trotz des formalen Unterschiedes – nicht alle Kriegsgefangenen wurden versklavt – verwendete man die Begriffe häufig synonym. Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob der Loskauf eines Sklaven im Mittelmeerraum zu unterscheiden ist von einem Freilassungsverfahren der christlichen Kriegsgefangenen. Eine Parallele besteht zunächst darin, dass auch muslimische Kriegsgefangene als Sklaven losgekauft werden konnten und somit nicht alle zum Arbeitsdienst auf die Galeeren kamen oder dort lebenslänglich blieben. Der Loskauf war für Staatssklaven meist die einzige Chance, aus der Sklaverei herauszukommen. Hinsichtlich des Verfahrens gab es jedoch Unterschiede (vgl. Kaiser 2008).
Christliche Strafgefangene (forzati)
Eine Überschneidung der Begriffe ‚Gefangener‘ und ‚Sklave‘ zeigt sich gefangene (forzati) noch auf einem weiteren Feld. Auf den Galeeren der christlichen Flotten ruderten nicht nur andersgläubige Sklaven, sondern auch christliche Strafgefangene (ital. forzato/frz. forçat). Im Sinne einer begrifflichen Eingrenzung könnte man diese Gruppe bei einer Geschichte der frühneuzeitlichen Galeerensklaverei ausblenden. Vergleicht man diese beiden Gruppen miteinander, erscheint eine solche Perspektive jedoch als problematisch. So lebten beide unter denselben Lebensbedingungen auf der Galeere und im Hafen (vgl. II.1.3). Sowohl Sklaven als auch Strafgefangene konnten lebenslänglich auf der Galeere Dienst tun sowie nach einer gewissen Zeit wieder freikommen. Die Verurteilung zur Galeere auf eine bestimmte Anzahl von Jahren konnte von den Strafgefangenen in der Praxis nicht als Recht auf Freilassung nach dieser Zeit in Anspruch genommen werden. Vielmehr ließ sich unter fadenscheinigen Vorwänden (etwa Verdacht auf Fluchtversuch) ein solcher Dienst beliebig verlängern. Die Verurteilung auf eine Galeere war juristisch gleichrangig mit einem Todesurteil, das aus Gnade – und angesichts des chronischen Mangels an Ruderern – umgewandelt wurde. Vergehen wie Mord und Diebstahl konnten zur Galeerenstrafe führen – freilich nur für Männer. Es spricht also vieles dafür, die Strafgefangenen in eine Geschichte der Sklaverei mit einzubeziehen. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass das Strafrecht und das Kriegsrecht zu zwei verschiedenen Kategorien von Zwangsarbeitern führten: Zu Strafgefangenen einerseits und zu Kriegsgefangenen, die unter Umständen versklavt werden konnten, andererseits. Was dies jeweils bedeutete, ist vergleichend zu erforschen.
Versklavung und Religionszugehörigkeit
Für die europäische Sklavereigeschichte sind besonders die Voraussetzungen interessant, die eine Versklavung rechtfertigten. So wurde in der Frühen Neuzeit zum Beispiel darüber diskutiert, ob das Verbot, Christen zu versklaven, auch für Häretiker gelte. Zudem waren einige Theologen der Ansicht, dass auch der Islam nichts anderes als eine christliche Häresie sei. Der theologische Disput über das Wesen des Islam bekommt somit vor dem Hintergrund der Sklaverei eine besondere Brisanz. Durchgesetzt hat sich eine Unterscheidung zwischen Muslimen und christlichen Häretikern: Die Versklavung von Muslimen war unproblematisch, während christliche Häretiker grundsätzlich in die gewohnheitsrechtliche Regelung der Nichtversklavung von Christen einbezogen wurden. Allerdings wurde immer wieder gegen diese Regelung verstoßen, was dann zu Protesten führte (zum Beispiel bei der Versklavung orthodoxer Christen). Häretiker konnten ferner über das Rekrutierungssystem der Verurteilung in Sklaverei geraten, vorausgesetzt man fasst die Strafgefangenen auch unter die Sklaven. So ließ der französische König Ludwig XIV. zum Beispiel nach der Widerrufung des Ediktes von Nantes 1685 die französischen Calvinisten (Hugenotten) zur Galeere verurteilen. Was sie im Fall des Kriegsrechts vor der Sklaverei geschützt hätte, war auf der Seite des Strafrechts der Grund ihrer Gefangennahme: Ihr aus katholischer Sicht häretisches Bekenntnis. Diese Maßnahme betraf aber nur einen kleinen Teil der Hugenotten und kann nicht verallgemeinert werden (vgl. II.1.1.7).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Sklaverei ein Phänomen mit vielen Gesichtern ist. Es ist unmöglich, sie allgemeingültig zu definieren. Sklaverei kam in den meisten Kulturen der Menschheit vor. Sie ist ein Thema der Politik-, Wirtschafts-, und Sozialgeschichte. Indem Religionen über sie reflektieren, Verhaltensnormen vorgeben, legitimieren und trösten, spielen auch sie eine wichtige Rolle in der Geschichte der Sklaverei. Dieses Studienbuch beabsichtigt nicht, eine umfassende Geschichte der Sklaverei in der Frühen Neuzeit vorzulegen, sondern legt zwei Schwerpunkte: Zum einen soll der Sklaverei in Europa ebenso viel Beachtung geschenkt werden wie der außereuropäischen. Damit soll ein Geschichtsbild korrigiert werden, das in Europa eine ‚slave-free zone‘ sieht. Zum anderen soll der Faktor Religion stärker gewichtet werden als dies bisher unter den Vorzeichen einer wirtschaftsgeschichtlich dominierten Perspektive der Fall ist.
Sklaverei als Bestandteil europäischer Geschichte
Bis heute denkt man bei Sklaverei meist an die Antike oder an Amerika, an die Indios und den transatlantischen Sklavenhandel. Bis heute findet sich in den geschichtlichen Überblicksdarstellungen zur Frühen Neuzeit kaum ein Hinweis darauf, dass Sklaverei auch in dieser Epoche noch zur Realität christlicher Gesellschaften im Mittelmeerraum gehörte – und damit auch zur europäischen Geschichte.
Das ist kein Zufall. Schon die Zeitgenossen selbst vermieden eine Identifikation Europas mit Sklaverei. Vielmehr wurden der Orient und seine muslimischen Sklavenhalter dem zivilisierten Abendland gegenübergestellt. So spielt die Sklaverei durchaus eine Rolle in der frühneuzeitlichen Konstruktion einer europäischen Identität, die in Abgrenzung zum ‚anderen‘ entwickelt wird.
E
Identitäten
Der Begriff der Identität hat im Bereich der Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren Konjunktur. Er umfasst sowohl den Bereich biographisch personaler Identität als auch unterschiedliche Formen kollektiver Identitäten. Bei kollektiven Identitäten unterscheidet man Geschlechteridentität, ethnische Identität und nationale Identität. Es geht um Wir-Gruppen, die nach Benedict Anderson als vorgestellte Gemeinschaften‘ (imagined communities) aufzufassen sind. Bei der Frage nach einer europäischen Identität geht es um das Konstrukt einer vorgestellten Gemeinschaft Europa, das wiederum kulturelle Werte darstellt und erzeugt. Identität inszeniert sich zwar selbst als etwas gesetztes, gewissermaßen Wesenhaftes, ist in Wirklichkeit jedoch Teil einer sozialen und politischen Praxis.
Europäischen Identität und Sklaverei
Was lässt sich nun über den Zusammenhang von europäischer Identität und Sklaverei sagen? Zahlreiche Studien postulieren heute die Entstehung Europas im Mittelalter. Dabei geht es bei ‚Europa‘ um das, was Max Weber als ‚okzidentalen Sonderweg‘ bezeichnet hat. Es wird also die Herausbildung einer spezifischen okzidentalen Kultur analysiert, die dann heute als europäische‘ zu bezeichnen ist. Häufig wird dabei die muslimische Kultur einer europäischen vergleichend gegenübergestellt. Im Rahmen einer Identitätsdebatte ist nun von Interesse, welche Bedeutung der Islam insgesamt für die Entwicklung Europas als imagined community hatte. In dieser Hinsicht verlagert sich die Debatte rasch vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. So stellte Josef Köstelbauer fest: „Es war aber erst das Osmanische Reich, das als bedrohlicher Antagonist der Christenheit den frühneuzeitlichen Europadiskurs mitprägte“ (Köstelbauer 2004, 45). Am Beginn dieser Entwicklung stand nun das Trauma der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmet II. (1451–1481). Im Gefolge dieses Ereignisses sei es dann zu einer deutlichen Konjunktur des Europabegriffes gekommen. Erst jetzt könne eine Verschmelzung der Begriffe ‚Europa‘ und ‚Christenheit‘ angesichts der äußeren Gefahr festgestellt werden. Europa sei als eine von Heiden und Ungläubigen bedrohte christliche Festung gesehen worden. Diese Perspektive habe sich bis zum Ende der ‚Türkengefahr‘ im ausgehenden 17. Jahrhundert gehalten.
Abb. 1: Der Mittelmeerraum im 17. Jhr.
Korsarenkrieg
Dass die Sklaverei auch im frühneuzeitlichen Europa noch eine Realität darstellte, hängt besonders mit dem sogenannten ‚Korsarenkrieg‘ zwischen der muslimischen und christlichen Welt des Mittelmeerraumes zusammen. Dieser Krieg war nicht in erster Linie durch Kriegserklärungen, Schlachten und Friedensschlüsse gekennzeichnet, sondern durch eine Taktik der Nadelstiche. Es war eine Art permanenter Krieg, der heiß und kalt geführt werden konnte. Kapereien konnten vor diesem Hintergrund als Verteidigungsmaßnahme gegen den Glaubensfeind legitimiert werden, kamen aber auch in illegitimer Form als Piratenaktionen vor (zu den Begriffen siehe I.3.2). Es gab sowohl muslimische als auch christliche Korsaren und Piraten, die die Schifffahrt und die Küstenregionen permanent bedrohten. Auf beiden Seiten gerieten Menschen dadurch in Sklaverei. Beide Seiten kannten auch die Praxis des Loskaufs. Der Sklave wurde einerseits als Beute und andererseits als Loskaufobjekt zum Bestandteil eines interkulturellen und interreligiösen Wirtschaftskreislaufes. Es entstand ein ‚Warenkreislauf‘ gekaperter und losgekaufter Sklaven. Dieser Kreislauf funktionierte idealtypisch nach dem klassischen Freund-Feind-Schema eines Religionskrieges: Christliche Korsaren kaperten muslimische Schiffe und umgekehrt. Beide Seiten versklavten die Gefangenen dieser Kaperzüge. Beide Seiten bemühten sich auf ihre Weise, ihre Glaubensbrüder wieder freizukaufen. Juden als jeweilige Minderheit konnten auf beiden Seiten sowohl Profiteure als auch Opfer dieses Systems sein. Beim Loskauf der Sklaven waren allerdings die christlichen Staaten über darauf spezialisierte Orden wie die Mercedarier und Trinitarier oder auch über Bruderschaften besser organisiert. Das führte zu einer Asymmetrie in diesem Warenkreislauf: Die christlichen Sklaven wurden weniger als Arbeitskräfte gebraucht, sondern wurden zunehmend in großer Anzahl wegen des zu erwartenden Lösegelds für muslimische Korsaren attraktiv. Eine nicht-intendierte Folge gesteigerter Loskaufbemühungen war demnach die größere Nachfrage an christlichen Sklaven und somit eine Intensivierung der Korsarentätigkeit. Die Barbareskenstaaten lebten zunehmend von diesem Geschäft. Der Loskauf trug somit auch zu einer Dynamisierung dieses Warenkreislaufes bei.
Reziprozität der christlichen und muslimischen Sklaverei
Die Sklaverei im Mittelmeerraum kann als reziprokes Verhältnis zwischen Muslimen und Christen beschrieben werden; auf beiden Seiten gab es Sklavenhalter und Sklaven. Diesem Befund diametral gegenüber steht die zeitgenössische europäische Wahrnehmung der Sklaverei in der Frühen Neuzeit bzw. die zeitgenössische Propaganda. Hier erscheint der Muslim einseitig als barbarischer Sklavenhalter und der Christ einseitig als unter diesem leidenden Sklaven. Diese Propaganda hing vor allem mit dem Bemühen zusammen, christliche Sklaven loszukaufen.
Christliche Loskaufpropaganda
Die christliche Loskaufpropaganda zielte auf das Mitleid ihrer Zuhörer ab, um diese zu Spenden für den Loskauf zu motivieren. Dementsprechend verwundert es nicht, dass es vor allem die Schauergeschichten waren, die in das kollektive europäische Gedächtnis über muslimische Sklavenhalter eingingen. Unterstützt wurden sie durch Briefe der Sklaven selbst, die aus den Sklavengefängnissen Nordafrikas oder des Osmanischen Reiches in die Heimatländer gelangten. Da man aus heutiger Sicht nicht sicher entscheiden kann, was unter diesen mit Topoi durchsetzten Briefen tatsächlich auf eigene Erfahrungen zurückging und was an Übertreibungen oder Klischees transportiert wurde zum Nutzen des Loskaufs – der wiederum auch im Interesse der Sklavenhalter lag –, sind diese Egodokumente nur sehr vorsichtig zu interpretieren.
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Loskäufer in der Frühen Neuzeit
Die wichtigsten Loskauforden waren die im 12. Jahrhundert gegründeten Trinitarier und die Mercedarier, die beide auch in der Frühen Neuzeit wirkten. Im 16. Jahrhundert wurden in vielen italienischen Staaten Bruderschaften zum Loskauf der eigenen Untertanen gegründet oder – wie im Fall der römischen Erzbruderschaft der Gonfalone – zusätzlich mit diesem frommen Werk beauftragt. Daneben entwickelten sich Selbsthilfemaßnahmen, wie das Beispiel der Sklavenkassen und der Seeversicherungen in den protestantischen Hansestädten Lübeck und Hamburg für ihre Matrosen zeigt. Loskauf stellte in der Frühen Neuzeit keine konfessionelle Besonderheit dar. Loskaufbruderschaften gab es auch bei Juden. Bei den Muslimen bildeten sich zwar weder staatliche noch religiöse Loskauforganisationen heraus, aber auch hier gab es entsprechende Bemühungen über Freunde und Verwandte des betroffenen muslimischen Sklaven und über die Vermittlung von Händlern. Vor allem in den Grenzgebieten betätigten sich zahlreiche Loskaufagenten jeglicher Couleur, die professionell ihr Geschäft mit Loskäufen von Menschen unterschiedlichen Glaubens machten. Sogar Korsaren konnten einerseits als Menschenfänger und andererseits als Loskäufer agieren (vgl. II. 1.4).
Das Bild des grausamen muslimischen Sklavenhalters
Den Kontrapunkt zum frommen christlichen Sklavenloskäufer bildet der grausame muslimische Sklavenhalter, der seine christlichen Sklaven auf mannigfache Weise quält, misshandelt und tötet. Dieses Bild wurde in Predigten und Büchern von Loskauforganisationen verbreitet, um den Verdienstcharakter des eigenen Werks herauszustellen, das eigene gesellschaftliche Prestige zu stärken sowie um mit dieser Propaganda Mitleid zu erregen und so die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Zum einen ist es Teil eines Wettbewerbsdiskurses christlicher Orden und Bruderschaften, die ihre tätigen Werke der Barmherzigkeit in besonders leuchtenden Farben auszumalen suchten, und zum anderen ist es Teil eines Barbareidiskurses, in dem Muslime als unzivilisiert dargestellt wurden – ganz im Gegensatz zu den Christen.
Pierre Dan
Ein prominentes Beispiel einer solchen mitleiderregenden Propaganda ist das Buch des französischen Trinitariers Pierre Dan (ca. 1580–1649), der von 1631 bis 1635 in Algier 42 christliche Sklaven losgekauft hatte. Kaum zurück, schrieb er ein Buch über die Geschichte der Barbareskenstaaten und ihre Korsaren (Histoire de Barbarie et de ses corsaires).
Auf dem Titelbild dieses Buches (Abb. 1) sind drei Personengruppen zu sehen: die Loskäufer (in diesem Fall Trinitarier, links), die muslimischen Sklavenhalter (rechts) und dahinter die geschlagenen armen christlichen Sklaven. Die Botschaft ist eindeutig: Die Muslime gehen grausam mit den Sklaven um. Im Buch werden sie als Inbegriff der ‚Barbarei‘ geschildert. Die Loskäufer sind ihre einzige Hoffnung. Wer Mitleid hat, soll diesen deshalb ein Almosen geben.
Sklaven als Märtyrer
Noch deutlicher wird die Propaganda in einer illustrierenden Bilderserie im Buch (Abb. 2). Der Betrachter oder die Betrachterin sieht eine Reihe von Folter- und Tötungsmöglichkeiten, die die muslimischen Sklavenhalter an den armen christlichen Sklaven exerzieren. Diese Darstellung erinnert an Märtyrergeschichten. Auch christliche Märtyrer wurden verbrannt, gekreuzigt, gehäutet, geschlagen, gesteinigt, zu Tode geschleift etc. Die armen christlichen Sklaven nahmen in ihrem Leiden quasi märtyrerähnliche Züge an. Diese Assoziation setzt allerdings voraus, dass die Sklaven für ihren Glauben litten. In der Tat zeigte sich die Loskaufpropaganda besonders darüber besorgt, dass die christlichen Sklaven vom Glauben abfallen und ihr Seelenheil damit verlieren könnten. Diese Gefahr wurde immer wieder deutlich heraufbeschworen. Dem barbarischen muslimischen Sklavenhalter wird also der arme christliche Sklave gegenübergestellt, der mit seinem Leiden noch ein christliches Bekenntnis ablegt und das Mitleid der Mitchristen erregt, die ihn um der Liebe Christi willen nicht im Stich lassen durften.
Abb. 2: Titelbild von Pierre Dan, Histoire de Barbarie et de ses corsaires, Paris 1637.
Barbareidiskurs
Auch wenn katholische Loskauforden in der Propaganda besonders aktiv waren, so war diese Loskaufpropaganda doch ein Bestandteil eines größeren überkonfessionellen Barbareidiskurses, an dem sich auch Protestanten beteiligten (vgl. II.1.4.2). Mit Jürgen Osterhammel ist für die Frühe Neuzeit festzuhalten, dass die zentrale Bedeutung des Begriffs ‚Barbarei‘ für die Bezeichnung des Fremden als Gegenbegriff zu Zivilisiertheit diente. Der Übergang von der Barbarei zur Zivilisation konnte sowohl als bewusste Stiftung als auch als allmählicher Prozess im Kontext von Stadientheorien gedacht werden. Zusammen mit dem Despotiediskurs (also der Befreiung der Untertanen von ihrem despotischen Herrscher) mündete der Barbareidiskurs dann später in napoleonischer Zeit in die Rechtfertigung eines Befreiungsimperialismus (vgl. Osterhammel 1998). Ob auch die frühneuzeitliche Loskaufpropaganda zur Legitimation kriegerischer Unternehmungen herangezogen wurde, ist bisher unklar und bedarf weiterer Forschungen.
Abb. 3: Das Leiden der christlichen Sklaven unter muslimischer Herrschaft (aus: Pierre Dan, Histoire de Barbarie, S. 416)
Einseitige Wahrnehmung