Anhang

Über den Autor

Otfried Höffe ist Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Er leitet die Forschungsstelle Politische Philosophie und ist Mitherausgeber der Zeitschrift für philosophische Forschung. Bei C.H.Beck sind zuletzt von ihm erschienen: Lebenskunst und Moral oder Macht Tugend glücklich? (2007) und Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung (2004). Er ist Herausgeber der Reihe Denker.

1. Einführung

Eine Politik, die drohende Übel erst erkennt, wenn sie sich deutlich zeigen, verletzt ihre Grundaufgabe. Ebenfalls verletzt sie ihre Aufgabe, wenn sie Chancen nicht rechtzeitig ergreift, überdies, wenn sie das Gemeinwesen für Innovation und Kreativität nicht offenhält. An den Pflock des Augenblicks nicht gebunden, lebt der Mensch nämlich aus der Vergangenheit und im Blick auf die Zukunft. Notgedrungen erwartet er von der Politik, daß sie sich darauf einstellt, für die Zukunft eine facettenreiche Verantwortung übernimmt und dafür aus der Vergangenheit lernt. Eine Gesamtverantwortung für die Zukunft darf man niemandem, auch der Politik nicht, aufbürden. Weil noch andere Faktoren hereinspielen, Sachgesetzlichkeiten, natürliche und gesellschaftliche Vorgaben, die Politik anderer Gemeinwesen, nicht zuletzt die einzelnen Menschen selber, wird die Politik nie Herr über die Zukunft. Mit gutem Grund erwartet man jedoch eine Elementar- und Rahmenverantwortung: beispielsweise für den inneren und den äußeren Frieden, für Rechte und Freiheiten sowie für die Rechtssicherheit, aber auch für materielles Auskommen, seit langem für die Bildung und Ausbildung, für das Gesundheitswesen und die Sozialversicherungen, die Chancengleichheit nicht zu vergessen. Ein Gemeinwesen, das diese Verantwortungen für die Zukunft wahrnimmt, darf zukunftsfähig heißen.

Sowohl Mitglieder autokratischer Staaten, also Bürger, die primär Untertanen sind, als auch die veritablen Bürger, die Mitglied einer Demokratie sind, blicken teils in Sorge, teils in Hoffnung auf die Zukunft. Und die Bürger erwarten, was Untertanen sich zumindest wünschen: daß die Gemeinwesen sich auf die Sorgen und die Hoffnungen einstellen, daß sie für die Zukunft entsprechende Verantwortung übernehmen und zu diesem Zweck eine hohe Zukunftsfähigkeit entwickeln.

Die Menschen hegen nicht bloß diese Erwartung; sie haben auch recht, da die Gemeinwesen genau dafür zuständig sind: das menschliche Zusammenleben nicht allein in der Gegenwart zu ordnen, sondern es auch im Blick auf die Zukunft zu gestalten.

Erstaunlicherweise ist die Zukunftsfähigkeit trotzdem kein klassisches Thema der politischen Philosophie. Indirekt spielt sie natürlich eine Rolle; die Entstehung des politischen Denkens bei den Griechen läßt sich schwerlich ohne einen Gedanken der Zukunftsfähigkeit verstehen. Als direkter Gegenstand, als Grundbegriff der klassischen politischen Philosophie, tauchen aber Zukunft und Zukunftsfähigkeit nicht auf. Diese Sachlage beeinflußt die Art der Erörterung. Üblicherweise führt die Philosophie zumindest im Vorübergehen ein Gespräch mit ihrer Tradition. Die sogenannten systematischen Überlegungen gehen selten anders vor, nur schränken sie beim jeweiligen Thema oft das Gespräch auf Zeitgenossen ein, deren Beiträge sie für den neuesten Stand der Debatte halten. Mangels klassischer Debatten entfällt bei der Zukunftsfähigkeit ein Großteil dieser Gespräche. Weil man hier Neuland betritt, braucht man hier noch andere Inspirationsquellen, und mehr als einen Versuch kann man nicht beanspruchen. (Zu einem Überblick aus sozialwissenschaftlicher Sicht s. Kocka 2007.)

Dieser Versuch ist kein Essay im klassischen Sinn, keine Abhandlung, die ihren Gegenstand kunstvoll erörtert. Beabsichtigt ist eine Untersuchung, die sich nicht annähernd um Vollständigkeit der Themen und der Argumente bemüht, also eine Abhandlung mit dem Mut zum Fragmentarischen. Ohnehin darf man hier, wie generell von der Philosophie, keine Handreichungen, keine Rezepte erwarten. Trotzdem bleibt das methodische Repertoire der Philosophie reich. Es umfaßt die phänomenologische Erhellung des Gegenstandes und zugleich Klärung des Begriffs («Was heißt ‹Zukunftsfähigkeit›?»). Es enthält die Suche nach Argumentationsmustern und Prinzipien und wirft, ohne selber empirische Forschung zu betreiben, doch einen Blick in die Wirklichkeit. Der moralische Zeigefinger und die Klage über die schlechten Zeitläufte gehören aber nicht in das philosophische Repertoire.

Einer Politik, die drohende Übel erst spät erkennt, mangelt es nicht bloß an Verantwortung. Da sie ihre Macht- und zugleich Legitimationsgrundlage gefährdet, fehlt es ihr auch an Klugheit. Dasselbe trifft auf die andere Seite, nicht die drohenden Gefahren, sondern die sich abzeichnenden Chancen zu: Eine Politik, die sie erst wahrnimmt, wenn sie offen zutage treten, zeichnet sich weder durch verantwortliche Voraussicht noch durch ein aufgeklärtes Selbstinteresse, durch Klugheit, aus. Daher die Frage dieser Studie: Wie kann die Politik, wie kann die moderne Demokratie Zukunftsfähigkeit entwickeln, um ihrer Verantwortung vor den Bürgern gerecht zu werden, nicht zuletzt, um ihre Existenzgrundlage, ihre Macht, zu sichern? Nach dem Ideal der Demokratie fallen beide sogar zusammen, das Eigeninteresse der Macht und die Verantwortung für die Bürger.

Vielerorts ist die Demokratie noch nicht verwirklicht. Als wünschenswerte Grundgestalt ist sie aber weithin anerkannt, zumindest verbal. Der Weg dorthin, eine fortschreitende Demokratisierung, gilt fast überall als positive Entwicklung: als politischer Fortschritt. Eine Studie über die Zukunftsfähigkeit von Demokratie geht nicht davon aus, daß alle Gemeinwesen schon Demokratien geworden sind. Sie untersucht aber, wie die Staatsform wirklicher Bürger, die Demokratie, sich sinnvollerweise auf die Zukunft einstellt.

Für Individuen müssen wir mit Geburt und Tod rechnen und damit, daß in der Zwischenzeit die Kräfte erst aufblühen, dann nachlassen und trotz gestiegener Lebenserwartung schließlich schwinden. Die Politik hat dagegen die Aufgabe, ein Schwinden der Kräfte und das schließliche Sterben ihres Gemeinwesens nicht nur hinauszuschieben, sondern zu vermeiden. Wo ein Gemeinwesen von einem Bürgerkrieg, eventuell sogar dem Zerfall heimgesucht wird, hat die Politik in einem Höchstmaß versagt. Auch gewalttätige Revolutionen zeigen die vorausgehende Unfähigkeit zu friedlichen Reformen, also ein Politikversagen, an. Bringt dagegen die Politik erforderliche Reformen rechtzeitig auf den Weg, sorgt sie darüber hinaus, mit oder ohne Reform, für den gesellschaftlichen Spielraum, in dem sich Innovation und Kreativität entfalten, so verfügt sie über Zukunftsfähigkeit, und sie verfügt darüber um so mehr, je früher sie die allfälligen Reformen einzuleiten und je offener sie den gesellschaftlichen Spielraum zu halten vermag. Auch die globale Finanzkrise ist zu einem erheblichen Teil auf ein Politikversagen zurückzuführen, nämlich auf eine nicht ausreichende politische Kontrolle der Finanzmärkte.

Heute findet die Politik unter externen Bedingungen statt, die die unterschiedlichen Staats- oder Verfassungsformen gleicherweise bestimmen. Dazu gehören die machtvolle Präsenz des elektronischen Weltnetzes, des Internets, und eine Globalisierung, die aber im Gegensatz zur immer noch vorherrschenden ökonomistischen Verkürzung in drei Dimensionen stattfindet. Die einschlägigen Phänomene sind sattsam bekannt: daß die Menschheit in einer globalen Gewaltgemeinschaft, einer nicht bloß ökonomischen Kooperationsgemeinschaft und in einer Schicksalsgemeinschaft von Not und Leid lebt.

Man kann die zugrundeliegenden Entwicklungen als einen Modernisierungsprozeß verstehen, der zu einem Gutteil vom Westen ausgegangen ist, mittlerweile aber alle Gesellschaften, wenn auch nicht in derselben Intensität, erfaßt. Diese Sachlage steuert dem angeblichen «Kampf der Kulturen» entgegen: Trotz beträchtlicher Unterschiede zwischen den Kulturen und noch mehr zwischen den Epochen gibt es weitgehend gleiche Aufgaben und bei der Verantwortung für die Zukunft wesentliche Gemeinsamkeiten.

Versteht man die angedeuteten Entwicklungen als Modernisierungsprozesse, so hat der Ausdruck eine deskriptive Bedeutung. Er beschreibt Bedingungen der Gegenwart, denen sich selbst diejenigen schwerlich entziehen können, die sich diesen Bedingungen, weil sie belasten, entgegenstemmen oder sie, weil sie Ressentiments hervorrufen, verachten. In dieser Studie hat «Modernisierung» noch eine zweite Bedeutung: In einem normativen Sinn darf sich ein Gemeinwesen «modern», und zwar im politischen Sinn «modern» nennen, wenn es den die Menschenrechte einschließenden Kern der liberalen Demokratie anerkennt und zuverlässig durchsetzt.

Erörtert wird die Zukunftsfähigkeit vornehmlich im Blick auf die Demokratie. Weil sie nicht überall herrscht, sie mancher Hoffnung zum Trotz nicht einmal als ein Selbstläufer erscheint, der sich über kurz oder lang überall in der Welt durchsetzt, kann es aber auf die Demokratie allein nicht ankommen. Im übrigen ist es für den Systemvergleich wichtig zu sehen, welche Aufgaben die Demokratie und ihr Gegensatz, die Autokratie, miteinander teilen, wo es sogar gemeinsame Lösungsmuster gibt und ob bei den Lösungsunterschieden die Demokratien den Autokratien überlegen sind.

Offensichtlich besitzt die Demokratie einen Legitimationsvorsprung. Denn sie rechtfertigt die in der Politik enthaltene Herrschaft vom Menschen über Menschen von den Betroffenen her. In der Systemkonkurrenz stellt sich allerdings die Frage, ob die Demokratie für ihren Legitimationsvorsprung den hohen Preis einer geringeren Zukunftsfähigkeit zahlt. Dabei kommt es nicht auf einzelne Aspekte an. Insbesondere erläge man erneut einer ökonomistischen Verkürzung, wenn man wie gebannt nur auf die Wirtschaft und hier bloß auf die Wachstumsraten der letzten ein oder zwei Generationen schaut. Entscheidend ist eine Gesamtbilanz der oben angedeuteten Faktoren. Erst wenn man beim inneren und äußeren Frieden sowie der Rechtssicherheit beginnt, dann auf das Auskommen und eine hohe Beschäftigungschance achtet, wenn man das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die Sozialversicherungen berücksichtigt, ferner Rechte, Freiheiten und Chancengleichheit nicht vergißt, auch an die Effektivität der Staatsorgane, an die Überwindung von Korruption, nicht zuletzt an Toleranz und an Innovationsfähigkeit denkt, kann man abschätzen, ob die Demokratie der Autokratie unterlegen oder ob sie zumindest konkurrenzfähig, sogar überlegen ist.

Vielleicht muß sie aber, um tatsächlich überlegen zu sein, sich noch fortentwickeln. Es gibt genügend Defizite, die die derzeitigen Demokratien vor einer selbstgerechten Zufriedenheit warnen. Tritt spätestens wegen entsprechender Fortentwicklung die Konkurrenzfähigkeit, besser noch: Überlegenheit hinzu, so erweist sich die Demokratie aber in einem zweiten Sinn als zukunftsfähig: Sie vermag nicht bloß die Zukunft einigermaßen zu bewältigen, sondern hat wegen dieser Bewältigungsfähigkeit als Staatsform eine Zukunft.

Noch aus einem anderen Grund schaue man nicht lediglich auf die Demokratie. Weil sich im Zeitalter der Globalisierung Fragen der Zukunftsfähigkeit stellen, empfiehlt es sich, von den Unterschieden der Staatlichkeit und der Verfassungsform einmal abzusehen und auf die Ähnlichkeiten achtzugeben.

Die Ähnlichkeiten beginnen mit einem modernitätsunabhängigen Moment: daß man die Verantwortung für die politische Zukunft in der jeweiligen Gegenwart wahrzunehmen hat. Obwohl die Zukunft als das Noch-Nicht stets unsicher, daher risiko- oder hoffnungsreich, überdies vieldeutig ist, entscheidet sich die Zukunftsfähigkeit in der Gegenwart. Hier und jetzt hat man zu überlegen, was die Zukunft bringen könnte; hier und jetzt macht man sich Sorgen oder Hoffnungen oder begnügt sich nüchtern mit realistischen Erwartungen; in der Gegenwart sind die unterschiedlichen Szenarien und alternative Reaktionen zu entwerfen und ist am Ende zu entscheiden, was man im Blick auf die Zukunft unternimmt und was man unterläßt.

Modernitätsunabhängig ist auch der allein sinnvolle Anspruch der Politik: Eine Zukunftskompetenz im Sinn einer Macht, die die Zukunft beherrschen will, ist unmöglich. Man vermag die Zukunft nicht einmal vorherzusehen, geschweige denn, sie nach den eigenen Plänen durchzugestalten. Und was der Mensch generell nicht vermag, kann auch die Politik nicht leisten. Auf der einen Seite kennt man bestenfalls einige wenige Faktoren, aber nicht jene Gesamtkonstellation und deren Bedeutung für das Gemeinwesen, aus denen die zukünftige Gegenwart bestehen wird. Andererseits kann man selbst von den bekannten Faktoren nur einen Teil beeinflussen. In der alleinigen Verfügungsgewalt der Politik liegt fast kein Faktor. Infolgedessen besteht die zu suchende Zukunftsfähigkeit lediglich im Vermögen, sich für die Zukunft zu wappnen, sich gegen leidvolle Entwicklungen zu wehren und günstige Entwicklungen, sofern sie sich abzeichnen, zu stärken und, wo sie noch fehlen, ins Rollen zu bringen. Herr über die Zukunft kann weder eine Demokratie noch eine Autokratie werden.

Nicht erst eine so hochentwickelte Staatsform wie die Demokratie und auch nicht erst ihre heutigen Alternativen setzen sich mit der Zukunft auseinander. Weil es schon früher, weit früher geschieht, ist mit inter- und transkulturell gültigen Elementen zu rechnen. Um die charakteristische Gestalt von heute zu profilieren, blickt diese Studie auch auf andere Kulturen und gibt sich dabei nicht mit den heute anerkannten fremden, nichtwestlichen Kulturen zufrieden. Es genügt auch nicht, so weithin bekannte Fremde wie die frühe Neuzeit, das Mittelalter, Rom und Athen zu berücksichtigen. Um den darin liegenden Eurozentrismus, die Konzentration auf die europäische Kultur, abzumildern, öffne man sich auf heute so unbekannte Fremde wie die altorientalischen Kulturen und die Indianerkulturen.

Für eine zeitgenössische Zukunftsfähigkeit sind Bedingungen wesentlich, die für die heutige Politik den Rahmen abgeben. Einige haben einen anthropologischen Hintergrund, sind daher so gut wie unveränderbar. Andere sind leichter zu ändern, so daß die Demokratie und jede Politik, und zwar sowohl deren Praxis als auch die Theorie, sich klugerweise auf sie einstellen: Teil I.

Die Rahmenbedingungen stecken den Horizont ab, in dem die Zukunftsfähigkeit gefordert ist. Dazu gehört, daß man die Demokratie nicht als eine selbstverständliche Vorgabe ansieht. Mag man sie im Westen als klar überlegen einschätzen – der in Zeiten der Globalisierung erforderliche interkulturelle Blick hält sie für eine Staatsform, die sich zu rechtfertigen hat. Und weil die Rahmenbedingungen die Zukunftsfähigkeit herausfordern, zeigen sie schon auf die Aufgaben, an denen sich die Zukunftsfähigkeit zu bewähren hat.

Wie die Politik mit der Zukunft umgeht, hängt, wie gesagt, nicht von ihr allein ab. Von den zahlreichen Vorgaben sind der Politik einige im Prinzip bekannt, andere spielen sich dagegen hinter ihrem Rücken ab. Zu den so gut wie unvermeidlichen Vor-Bestimmungen gehören Grundeinstellungen, sich zur natürlichen, zur sozialen und zur personalen Welt zu verhalten. Sie stellen tiefreichende Weichenstellungen dar, die sich großenteils sehr früh, lange vor der Moderne herausbildeten.

Derartige Verhaltensmuster werden in dieser Studie in Teil II unter dem Titel «Strategien» untersucht. Im wörtlichen Verständnis ist der Stratege ein Feldherr, und Strategie heißt die Art und Weise, wie er einen gesamten Krieg führt. Mittlerweile haben die Ausdrücke ihre militärische Bedeutung weitgehend verloren. «Strategie» heißt jetzt die Art und Weise, wie jemand, sei es eine Person, eine Institution oder ein gesellschaftliches Teilsystem, sich für seine Ziele, die verschiedenen Facetten der Macht einsetzt. Ein philosophischer Versuch wie diese Studie gibt sich mit Strategien in dem technokratisch verengten Sinn von Verfahren nicht zufrieden, mit deren Hilfe man kleine Ziele geschickt erreicht. Es kommt vielmehr auf jene ebenso weitläufigen wie umfassenden Aufgaben an, die in der Zukunftsfähigkeit zusammenlaufen. Weil die Aufgaben nur langfristig zu bewältigen sind, kann man statt von «Strategien» auch von «strategischen Prozessen» sprechen. Mit Strategien oder strategischen Prozessen versucht ein Gemeinwesen, den Lauf der Welt langfristig und möglichst stark «zu beeinflussen».

Die Studie schließt mit dem Versuch einer Antwort auf die Leitfrage, inwiefern die Demokratie Zukunftsfähigkeit besitzt, und ob sie dabei den Alternativen wie autokratischen Regimes per saldo überlegen oder eher unterlegen ist: Teil III.

Noch eine generelle Bemerkung: Zu vielen der zu behandelnden Teilfragen gibt es weitläufige Debatten. Ist es für die Leitfrage erforderlich, so tritt die Studie in die einschlägigen Feindebatten ein, andernfalls wird auf sie nur verwiesen.

 

Entstanden ist die Studie in einem Forschungsjahr, das das Baden-Württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst großzügig unterstützt hat. Die Anregung zum Rahmenthema kam vom Heidelberger Assyrologen Stefan Maul, der die gemeinsame Leitfrage, wie die Politik mit der Zukunft umgeht, für den Alten Orient untersucht. Ich danke dem Ministerium für seine finanzielle Unterstützung und meinem Kollegen für seine Initiative, ferner sowohl ihm als auch Wolfgang Hellmich und meinem Tübinger Kollegen PD Dr. Wolfgang Schröder sowie den Mitgliedern zweier Arbeitskreise, den Referenten und Teilnehmern zweier Symposien für zahlreiche Anregungen, nicht zuletzt meinen Mitarbeitern Dirk Brantl, M. A., Axel Rittsteiger, M. A. und Giovanni Rubeis, M. A.

 

Tübingen im Herbst 2008

2. Was heißt «Zukunft» für die Politik?

Philosophie beginnt gern mit Präliminarien wie einer Begriffsklärung, allerdings trägt diese schon zur Klärung der Sache bei. Klärungsbedürftig sind beim Leitbegriff dieser Studie, der Zukunftsfähigkeit, beide Bestandteile, die Frage, was für die Politik «Zukunft» heißt, und die Frage, worin die zuständige Fähigkeit besteht.

2.1 Bekannt–unbekannt

Bildlich gesprochen ist die Zukunft der Ort, zu dem jeder geführt wird, obwohl niemand je dort war und niemand je von dort zurückkehrt. Nüchtern gesagt ist sie der Zeitraum, der auf die Gegenwart folgt, das Morgen nach dem Gestern und Heute. Zukunft ist die Zeit, die bevorsteht, eventuell die Zeit, die noch übrigbleibt. Prägnant sagt Friedrich Schiller im «Spruch des Confucius»: «Dreifach ist der Schritt der Zeit./Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,/pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,/ewig still steht die Vergangenheit.» (Werke, Bd. 2.1, 412)

Auf die Vergangenheit richtet sich die Erinnerung, die freilich unvollständig, sogar irrig sein kann, auf die Gegenwart die Wahrnehmung, auf die ebensowenig Verlaß ist, auf die Zukunft die Erwartung oder die Vermutung, auch die Prognose. Wer die Zukunft planen will, muß daher die Vergangenheit kennen, freilich weder die gesamte noch die ferne Vergangenheit. Ohnehin gilt nicht selten die merkwürdige Umkehrung: Um die Vergangenheit zu erfassen, muß man die Zukunft kennen. Man kann daher mit Samuel Butler fragen, was der Hauptunterschied zwischen Gott und den Historikern sei, und süffisant antworten: «Gott kann die Vergangenheit nicht ändern.» Obwohl Historiker die Geschichte von Zeit zu Zeit umschreiben, im Fall neuer Ansichten es sogar sollen, herrscht doch diese selbst Gott vorgegebene Unumkehrbarkeit: Die Vergangenheit liegt abgeschlossen hinter uns; bildlich gesagt ist sie zugeknöpft, sogar geizig: Sie gibt nichts, vor allem keine einmal ausgeführte Entscheidung wieder her.

Nach Ansicht von Begriffshistorikern ist ein wahrer Begriff der Zukunft relativ neu, namentlich dem Mittelalter und der frühen Neuzeit unbekannt (Hölscher 1999, 34ff.). Für einen echten, «modernen» Zukunftsbegriff seien nämlich zwei Dinge erforderlich: ein abstrakter Begriff, die Zukunft als das Ganze der zukünftigen Dinge, und die Ansicht, daß das Zukünftige nicht schon in gewissem Sinn vorhanden, nur dem menschlichen Auge noch verhüllt ist.

Für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie und allgemein der Politik sind allerdings beide Dinge nicht wesentlich. Das Abstraktum «Zukunft» braucht es nicht. Im Familienkreis und im Gespräch mit Freunden, selbst in Umfragen kommt es vor, daß man den erwartungsvollen Blick in die Zukunft wirft und das versucht, was dem Blick in die Vergangenheit, dem Rückblick auf ein Jahr, auf einen bestimmten Lebens- oder Berufsabschnitt oder auf das gesamte bisherige Leben, leichter fällt: Man zieht eine Bilanz des insgesamt «Schlechter oder Besser». Ähnliche voraus- oder rückblickende Gesamtbilanzen finden sich bei Schulen, Hochschulen und Unternehmen, sogar bei Gemeinwesen. Auch wenn sich die Politik mit mancher Verantwortung viel, sogar zu viel aufbürdet (s. Kap. 7), ist sie aber schwerlich für das Ganze zuständig. Und gegen den anderen Gesichtspunkt drängen sich Zweifel auf, von denen hier nur zwei angeführt seien:

In einem Text, der seit der Spätantike über das Mittelalter bis heute viel und kontrovers diskutiert wird (vgl. Weidemann 1994, 223ff.), im neunten Kapitel der Schrift Hermeneutik (Peri hermeneias, De interpretatione), überlegt sich Aristoteles, ob eine Aussage über ein kontingent-zukünftiges Ereignis, also ein Ereignis, das in der Zukunft sowohl eintreten als auch ausbleiben könnte, bereits in der Gegenwart einen Wahrheitswert habe, also wahr oder falsch sei. Mit dem Argument, daß es in der Gegenwart noch nicht feststehe, ob das Ereignis eintrete oder ausbleibe, scheint Aristoteles abzustreiten, derartige Aussagen hätten einen bereits in der Gegenwart zutreffenden Wahrheitswert. Schon er ist also davon überzeugt, daß das Zukünftige bereits jetzt vorhanden, bloß dem menschlichen Auge verhüllt sei.

Ein zweites Gegenargument liegt in der Maxime Machiavellis, auf die die Einführung anspielt: Wer ein drohendes Übel erst erkennt, wenn es sich deutlich zeigt, ist ein schlechter Staatsmann (Der Fürst/Il principe, Kap. 3). Nach dieser eher trivialen Maxime ist die Politik für die Zukunft unabhängig von der Frage verantwortlich, ob das Zukünftige schon gewissermaßen vorhanden oder stärker offen ist. Darüber hinaus hält man schon damals, im Jahr 1513, die Zukunft für etwas, das in den Händen der Menschen liegt. Und schon damals, in der frühesten Neuzeit, dürfte man von der Politik noch mehr als bloß die rechtzeitige Wahrnehmung von Übeln verlangt haben:

Nicht erst im späten 17. Jahrhundert (Hölscher 1999, 41), schon mehr als eineinhalb Jahrhunderte vorher, im frühen 16. Jahrhundert, beginnt die politische Klugheitslehre. Diese greift zudem auf einen Text zurück, der noch mehr als achtzehn Jahrhunderte älter ist: In einer berühmten Passage der Nikomachischen Ethik (VI 5, 1140b7–11) erklärt Aristoteles den Athener Staatsmann Perikles zum Vorbild für Klugheit (phronêsis). Und wer auf einen so wichtigen Teil wie die Katastrophenprophylaxe achtet, findet die Wirklichkeit politischer Klugheit noch früher, überdies nicht bloß in Europa, sondern in vielen Kulturen.

Der Alte Orient beispielsweise kennt beides, die mit der näheren Zukunft befaßte Sterndeutung und Eingeweideschau und die auf die weite Zukunft gerichtete Prophylaxe. Kanäle etwa, gebaut, um fruchtbares Land zu bewässern, finden sich bereits seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. In dieser Zeit entwickelt sich auch eine Architektur, die das Erdbebenrisiko berücksichtigt. Und daß sich die alten Ägypter auf ihre entscheidende Zukunft, die jährlichen Nilüberschwemmungen samt dem dann auftretenden Ungeziefer, einstellen, weiß man schon aus der Schulzeit. In der Begriffsgeschichte herrscht zwar die Neigung vor, sich auf die Wortgeschichte zu beschränken. Die Sachgeschichte ist aber mitzuberücksichtigen und zusätzlich ein Blick in zeitlich und geographisch fernere Kulturen wie Ägypten und das Zweistromland zu werfen.

Die Erwartung der Zukunft tritt idealtypisch in zwei emotional und normativ durchtränkten Gestalten auf. Die nur positive Erwartung richtet ihre ungetrübte Hoffnung auf eine gute Zukunft; in oft naiver Zuversicht rechnet sie damit, daß alles schon gut gehen werde. Die negative Erwartungshaltung, die Sorge vor einer wichtigen Zukunft, kann sich zu einem grundsätzlichen Argwohn verfestigen und sich in Verbindung mit einer Mutlosigkeit zur Verzweiflung steigern. Dort malt man sich die Zukunft in rosigen Farben, freut sich daher auf sie; man sieht sich aufleben und aufblühen. Hier dagegen rechnet man mit schlechteren Verhältnissen, fürchtet sich deshalb vor der Zukunft oder ängstigt sich vor ihr.

Gegen beide setzt sich eine dritte Haltung ab, die, emotional und normativ neutral, auf ein positives oder negatives Vorabgestimmtsein verzichtet. Emotional und normativ richtet sie sich auf das, was vernünftigerweise, das heißt: nach Lage der Dinge zu erwarten ist. Da kaum jemand von den oft unbemerkten Vorprägungen frei ist, erfordert Neutralität freilich die Anstrengung, störende Vormeinungen aufzudecken und zu überwinden.

Eine zukunftsfähige Politik nimmt auf die positiven und die negativen Einstellungen der Bürger Rücksicht. Statt aber mit Stimmungen von Mutlosigkeit oder voreiliger Zuversicht zu spielen oder sogar Bildern goldener Zeiten oder apokalyptischen Unheils zu erliegen, konzentriert sie sich auf die tatsächlichen Aussichten. Kluge Politik fragt, welche zukünftigen Weltverhältnisse, welche Ereignisse und deren Konstellationen, objektiverweise zu erwarten sind, zusätzlich, auf welche Verhältnisse sie welchen Einfluß nehmen kann. Manche Ereignisse wie eine Sonnenfinsternis lassen sich gut vorhersagen, andere wie Börsenkurse zeigen ein weithin unberechenbares Verhalten. Dabei kann die Politik dort keinerlei und hier bestenfalls einen indirekten, zudem schwer zu steuernden Einfluß nehmen.

Allerdings ist die Frage berechtigt, ob sie beispielsweise die Finanzmärkte sich so weitgehend selbst überlassen soll, daß es zu den enormen Verwerfungen der Jahre 2007 und 2008 kommen konnte. Man ist nicht bloß im nachhinein klüger. Die Finanzmärkte, wenn man sie denn vorsichtig regulieren will, sind ein Beispiel für die Notwendigkeit internationaler, sogar globaler Maßnahmen. Zukunftsfähige Politik sorgt jedenfalls für eine übernationale, teilweise sogar globale Rechtsordnung (s. Kap. 14).

In erster Annäherung kann man von der zukünftigen Weltlage sagen, man wisse, daß sie, aber nicht, wie sie eintrete: Die Konstellation ist unbekannt, freilich nur im Prinzip. Vieles ist nämlich, durch die Naturgesetze und so gut wie unabänderliche Randbedingungen bestimmt, schon heute wohlbekannt, etwa die Abfolge von Tag und Nacht oder in unseren Breiten der Wechsel von Jahreszeiten. Dieses Wissen schließt aber die entscheidende existentielle Bedeutsamkeit nicht ein. In «objektiver» Hinsicht weiß man nicht, ob die Sonne sichtbar oder von Wolken verdeckt sein wird, ebensowenig, wie kalt oder warm, wie regen- und wie sonnenreich die Jahreszeiten ausfallen, ob daher mit guten oder schlechten Ernten zu rechnen ist. Hinzu kommt das «subjektive» Wissensdefizit: Man weiß nicht, wie die Subjekte sich auf die tatsächliche Lage einstellen: Sehen sie bloß Chancen oder nur Gefahren oder eine Mischung von beiden; sind sie enttäuscht, positiv überrascht oder emotional indifferent; können sie eventuell Gegenmaßnahmen ergreifen?

Zweifellos ist die Politik nicht für die Ereignisse zuständig, die aus Naturgesetzen unbeeinflußbar folgen. In anderen Bereichen wie der Wirtschaft herrschen vielleicht keine echten Gesetze, aber doch Gesetzmäßigkeiten, auf die sich die Politik klugerweise einzustellen hätte. In anderen Bereichen trägt sie durchaus Verantwortung, aber nicht allumfassend. Die Sorge, daß keinem Menschen je ein Unfall zustößt, daß niemand alt und gebrechlich wird und keiner stirbt, überträgt niemand der Politik. Der einzelne hat daher zu lernen, was die Politik ihm nicht abnehmen kann, eine Gelassenheit, die mit Unabänderlichem umzugehen vermag (vgl. Höffe 2007, Kap. 10.2). Schließlich kann die Politik auf die Art und Weise, wie Menschen emotional reagieren, nur in engen Grenzen Einfluß nehmen.

Man könnte glauben, für die Politik im engen und strengen Sinn, für die Politik im Unterschied zur Verwaltung, sei die Zukunft grundsätzlich unsicher, die eigene Arbeit daher von Wagnis durchsetzt. Auf die Zukunft im Singular und mit bestimmtem Artikel, für die Gesamtkonstellation der zukünftigen Weltverhältnisse, trifft es zu. Trotz einer Unmenge von Informationen kennt man nicht die Konstellation von Faktoren, die im nächsten Augenblick zusammentreffen, noch weniger, was die Konstellation existentiell bedeutet. Selbst von rationalen, überdies erfahrungsgesättigten Überlegungen darf man keine Straßenkarte der Zukunft erwarten. Dies trifft aber auf alle einzelnen Themen und Projekte nicht gleichermaßen zu. Das Wirtschaftswachstum bleibt sogar für das nächste Quartal unsicher, wenn man die Möglichkeit ökonomischer Katastrophen wie den (Fast-)Zusammenbruch der Finanzmärkte im Herbst 2008 nicht ins Kalkül zieht. Die Bevölkerungsentwicklung dagegen, die Demographie, läßt sich für die nahe und mittlere Zukunft ziemlich verläßlich einschätzen. Selbst hier, wo man die Zukunft ziemlich gut vorhersagen kann, bleibt aber das existentielle Wissensdefizit bestehen: Man kennt die Folgen der demographischen Veränderungen für die Gesellschaft nur zum geringen Teil. Zu den Zusatzfaktoren, die man nicht kennt, gehört die Frage, wann die Menschen nicht nur nach Gesetzeslage, sondern tatsächlich in Rente oder Pension gehen. Noch weniger weiß man, wie rasch und in welcher Weise die Gesellschaft sich umstellt.

Generell ist die Politik nur dort zuständig, wo Menschen eine Rolle spielen, was auf dreierlei Weise möglich ist: als Akteure («Täter»), als Betroffene («Opfer») und als Subjekte mit positiven oder negativen Erwartungen. Dort, wo die Menschen Hand anlegen und den Lauf der Dinge ändern können, sind sie selbst dann Akteure, wenn sie vom Hand-Anlegen Abstand nehmen. Denn das Nicht-Hand-Anlegen, das Unterlassen, ist auch eine Form des Agierens. «Opfer» sind die Menschen dagegen, wenn sie nicht selber tätig sein können, vom Tun oder Unterlassen der anderen aber betroffen sind. Offensichtlich tritt beides nicht bloß in Reinform auf. Man kann als Akteur auch Betroffener, ebenso als Betroffener auch Akteur sein. Schließlich darf man das Gewicht der Wertschätzungen nicht vergessen. Denn die gesamte, sowohl die vom Menschen mitgestaltete als auch die von ihm bloß erlittene Zukunft ist Gegenstand von Hoffnungen und Ängsten.

2.2 Zukunftsfähigkeit

Die bloße Möglichkeit erreicht keine Wirklichkeit. Wer die Zukunft tatsächlich mitgestalten will, braucht als zweites den Willen, den Lauf der Dinge zu beeinflussen, in der Regel zu den eigenen Gunsten. Er will beispielsweise ein drohendes Unheil abwenden, zumindest abschwächen; er arbeitet darauf hin, daß es einem inskünftig besser geht; oder er will Gegner oder gar Feinde in ihrer Fähigkeit zu schaden schwächen, vielleicht sogar unschädlich machen.

Immer wieder taucht die Erwartung auf, die Zukunft sei zunehmend beherrschbar, sogar in den drei Dimensionen, sowohl im technischen als auch im sozialen und vor allem im politischen Sinn. Selbst Johann Gottfried Herder sieht in der Abhandlung «Vom Wissen und Nicht-Wissen der Zukunft» eine Zeit kommen, «da es eine Wissenschaft der Zukunft wie der Vergangenheit giebt» (Werke 16, 375). Diese Zeit ist nie gekommen und wird es vermutlich nie geben, so daß das Vertrauen darauf zu Recht weitgehend verbraucht ist. Endgültig verbraucht ist die Erwartung von Beherrschbarkeit zwar nicht; in gewissen Wellen taucht sie immer wieder auf. Der Optimismus der frühen Neuzeit, die Wissenschaftsutopie eines Francis Bacon samt deren Bekräftigung durch René Descartes, und der Optimismus der europäischen Aufklärung werden zwar durch das Erdbeben von Lissabon bis in die Grundlagen erschüttert (vgl. Kap. 10.2). Die Französische Revolution läßt aber einen neuartigen Optimismus aufleben, einen anderen die sowjetische Revolution, wieder andere Hoffnungen wecken die Industrielle Revolution und neuerdings die Computer-Revolution. Völlig wirklichkeitsfremd, zeigen schon wenige Beispiele, sind die jeweiligen Hoffnungen nicht: Kaum jemand, der in den Genuß einer liberalen Demokratie oder der neuen medizinischen Möglichkeiten oder auch nur der Haushaltsgeräte und der Telekommunikation gelangt, sehnt sich nach den früheren Zeiten mit ihren weit geringeren Rechten, Möglichkeiten und Fähigkeiten zurück.

Die immer wieder neuen Versuche, sowohl die Prognosemöglichkeiten als auch die Einfluß- und Gestaltungsmöglichkeiten zu steigern und selbst die Rechtsverhältnisse zu verbessern, sind nicht schlicht allesamt erfolglos. Häufig tauchen zwar negative Nebenwirkungen auf, deren Versuch, sie zu beheben, andere negative Nebenwirkungen nach sich zieht. Mit der Behauptung einer zunehmend positiven Gesamtbilanz halten sich daher vorsichtige Zeitgenossen lieber zurück. Den Glauben, die materielle, soziale und politische Zukunft lasse sich «technokratisch» in den Griff nehmen, teilen sie nicht. Trotzdem läßt sich kaum bestreiten, daß man die Zukunft zu den eigenen Gunsten beeinflussen kann, weshalb man sie besser nicht «fatalistisch» bloß auf sich zukommen läßt.

Mit der ersten (partiellen) Ernüchterung hängt eine zweite zusammen. Wo der Glaube an eine zunehmende Beherrschbarkeit geschwächt ist, gibt es zwar teils eher optimistische, teils mehr pessimistische Zeitgenossen. Auch breiten sich schwankende gesellschaftliche Stimmungen aus. Die Grunderwartung, für die Zukunft sei mit einer steten Verbesserung der Lebensverhältnisse zu rechnen, ist aber als eine stabile Dauererwartung verlorengegangen. Freilich muß man einschränken: vielerorts und weithin. Wo man hungert oder in Armut lebt, unter Unterdrückung, Ausbeutung oder unter Ausschluß (Exklusion) leidet, wo man von Kriegen oder Bürgerkriegen heimgesucht wird, dort kann man sich die Fortschrittsskepsis wirtschaftlich saturierter Demokratien nicht leisten.

Selbst diese Gemeinwesen haben sich im Laufe der letzten Generationen größere Pflichten aufgelastet, womit auch sie noch unausgesprochen Verbesserung erwarten: daß nämlich die Gemeinwesen den Pflichten tatsächlich nachkommen können. Und unrealistisch ist die Erwartung nicht, daß sowohl im eigenen Land als auch weltweit die Armut ab- und der Wohlstand zunehme, daß Medizin und Technik, daß Bildung, Toleranz und die Herrschaft von Recht und Menschenrechten Fortschritte machen.

Zukunftsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit eines Gemeinwesens, sowohl anstehende als auch neu aufkommende Probleme unter Berücksichtigung der Handlungsspielräume nachhaltig zu lösen. Wird diese Zukunftsfähigkeit von einer angeblich grundlegend neuen Weltlage bedroht: daß die heutige Welt riskanter sei? Nach einer vielzitierten Diagnose leben die Menschen zunächst in einer Risikogesellschaft (Beck 172003), mittlerweile in einer Weltrisikogesellschaft (Beck 2007), wofür das Bankendebakel vom Herbst 2008 als Bestätigung erscheint. Weil ein quantitatives Kriterium für Risiko fehlt, folglich Vergleiche zwischen heute und früher spekulativ sind, auch weil dank eines gewachsenen natur- und sozialtechnischen Wissens den eventuell gestiegenen Risiken andernorts eine Risikominderung entgegensteht, läßt sich aber schwerlich eine Bilanz ziehen: Die These des erhöhten Risikos steht auf schwankendem Boden. Eher kann man wegen der jeweils herrschenden Rechts- und Staatsverhältnisse relativ sicherere von relativ unsichereren Weltgegenden unterscheiden. Darauf kommt es hier aber nicht an.

Wichtiger ist, daß man die Weltlage in drei Stufen beeinflussen kann: Auf der bescheidensten Stufe vermag man den Lauf der Dinge nicht zu ändern, ihn vielleicht nicht einmal in gewissem Rahmen vorherzusehen. Trotzdem ist selbst unter diesen Umständen der Mensch nicht machtlos. Denn er weiß aus Erfahrung, daß unvermutet ungünstige, vielleicht sogar katastrophale Verhältnisse eintreten können, und auf das nur im Wie, nicht im Daß Unbekannte vermag er sich einzustellen. Insofern vermag er sogar das Unvorhersehbare vorherzusehen. Nicht bloß durch eine Haltung der Gelassenheit kann er sich gegen ungünstige Verhältnisse wappnen, sondern zusätzlich durch Maßnahmen der Vorsicht und Vorsorge. Und diese Maßnahmen werden durch den Umstand erleichtert, daß man sich auf unterschiedliche Katastrophen auf sehr ähnliche Weise einstellen kann (s. Kap. 10).

Sind die Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Verhältnisse überhaupt nicht bekannt, so spricht man in der Theorie rationaler Entscheidung von Entscheidungen unter Unsicherheit. Für sie gibt es keine eindeutigen Rationalitätskriterien. Wer wie viele Glücksspieler in hohem Maß risikobereit ist, wird der Maximax-Regel folgen, das heißt das Maximum «maximieren», also die maximal günstige Situation annehmen und für sie den maximal günstigen Nutzen suchen. Bei sehr geringer Risikobereitschaft – sie entspricht einer hoch ausgebildeten Versicherungsmentalität – drängt sich dagegen die Maximin-Regel auf, das Maximieren des Minimums: Man nimmt die ungünstigste Lage, das Minimum, an und sucht sich selbst in ihr noch bestmöglich («maximal») zu stellen. Einer dritten Regel, dem minimalen Bedauern zufolge, sucht man eine Entscheidung, die man selbst bei ungünstigstem Ausgang am wenigsten bedauert. Die Politik, wird sich zeigen, hat es nicht leicht, hier die richtige Entscheidung über die Entscheidungsregel, also die richtige Meta-Entscheidung, zu treffen. (Zu den verschiedenen Entscheidungsregeln vgl. Jeffrey 1967, Laux 62005.)

Auf der anspruchsvolleren, zweiten Stufe kennt man die Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte Zukunft eintritt. Hier gibt es eine klare Entscheidungsregel: Maximiere die Nutzenerwartungen! Man stützt sich aber häufig auf unzureichende Berechnungen, etwa auf die schlichte Extrapolation einer kurzfristigen Entwicklung, so daß man nicht ernsthaft von einer gewissen Wahrscheinlichkeit sprechen kann. Selbst dann mag es gute Gründe geben, bescheidenere, nämlich qualitative Einschätzungen vorzunehmen und das Eintreten einer Situation für unwahrscheinlich, für gering-, für mittel- oder für hochwahrscheinlich zu halten.

Sobald man von der Zukunft nähere Kenntnisse hat, beispielsweise um die Art einer etwaigen Katastrophe weiß, kann man mehr tun, als sich gegen eine ungünstige Zukunft bloß zu wappnen. Man vermag sich gegen sie auch zu wehren, indem man ungünstige Verhältnisse wie den drohenden Klimawandel abzumildern oder ganz zu verhindern sucht (s. Kap. 12).

Gleichwohl verhält man sich auf der zweiten Stufe gegen die Zukunft noch weitgehend re-aktiv. Erst auf der dritten Stufe sucht man, sie aktiv zu gestalten. Die menschlichen Einflußmöglichkeiten beginnen also mit dem Sich-Wappnen, steigern sich zum Sich-Wehren und enden beim aktiven Eingreifen.

Die beste Weise, die Zukunft vorherzusagen, ist: sie selbst zu gestalten. (Freilich handelt es sich nur um eine Quasi-Vorhersage; tatsächlich schränkt man den Kontingenzcharakter ein.) Ohnehin wäre es verfehlt, die Zukunftsfähigkeit auf die Lösung auftretender Probleme zu verkürzen; man muß sie rechtzeitig erahnen.

Eine gesteigerte Zukunftsfähigkeit sieht voraus, daß bestimmte Entwicklungen Schwierigkeiten hervorrufen können, und sucht die Entwicklungen so zu beeinflussen, daß es zu den Schwierigkeiten gar nicht kommt. Hohe Zukunftsfähigkeit löst viele Probleme, indem sie die Probleme erst gar nicht entstehen läßt.

Selbst in Verbindung mit einem Gestaltungswillen schafft die Möglichkeit noch keine Wirklichkeit. Zusätzlich braucht es die Fähigkeit zur Zukunftsgestaltung. Generell gehören zur Fähigkeit drei Gesichtspunkte: der Sachverstand als Inbegriff von erforderlichen Kenntnissen («know that») und Fertigkeiten («know how»), die Macht als Chance, sich durchzusetzen, und das Recht im Sinne von Ermächtigung und Befugnis. Die Zukunftsfähigkeit umfaßt also Zukunftssachverstand, Zukunftsmacht und Zukunftsbefugnisse.

Im Fall der Politik gehört zur Zukunftsfähigkeit die Aufgabe, die Gegenwart im Hinblick auf eine mögliche Zukunft hin zu deuten, also eine Deutungsfähigkeit. Gute Politik muß abschätzen können, welche politikrelevante Zukunft sich in der Gegenwart abzeichnet. Dabei gerät sie in eine Aporie. Wer die Dramatisierung liebt, spricht von einer tragischen oder ausweglosen Situation: Die Politik trägt eine Mitverantwortung für die Zukunft, nämlich für deren Deutung, obwohl sie dafür gar nicht befähigt, nämlich fachlich nicht kompetent ist. Sie soll also, was sie gar nicht kann. Oder: Sie will, wozu sie außerstande ist.

Die Aporie besteht aber nur scheinbar. Ihre Auflösung erfolgt über eine begriffliche Erweiterung, die zugleich unterscheidet: Die Zukunftsfähigkeit erschöpft sich nicht in der genannten Fähigkeit zur Deutung, sie umfaßt auch die Gestaltung, weshalb es zwei grundverschiedene Aufgaben gibt. Bei der Deutungsfähigkeit geht es um die Frage, was die Zukunft bringen wird, bei der Gestaltungsfähigkeit um die Frage, wie man die Zukunft, soweit es in der eigenen Hand liegt, zu formen vermag. In beiden Fällen hat «Fähigkeit» die genannte dreifache Bedeutung: Sie meint entweder den Sachverstand oder die Macht oder die Befugnis. Folglich braucht es eine zweimal dreiteilige Zukunftsfähigkeit. Ihr entsprechen auf der einen Seite Deutungsfähige (Deutungsfachleute bzw. -experten), Deutungsmächtige und Deutungsberechtigte, auf der anderen Seite Gestaltungsfachleute bzw. -experten, Gestaltungsmächtige und Gestaltungsberechtigte.

Beide Aufgaben sind übrigens in der Gegenwart gefragt, weshalb der Ausdruck «Zukunftsfähigkeit» mißverständlich ist. Ob Deutung oder Gestaltung – die Zukunftsfähigkeit ist wesentlich eine Gegenwartsfähigkeit, die allerdings im Blick auf die Zukunft wahrgenommen wird. Wegen dieses Blicks gibt es eine Bewährung. Im Fall der Deutung entscheidet sie sich an der Frage, ob die erwartete Zukunft eintritt, im Fall der Gestaltung an der Frage, ob die Zukunft, soweit man sie mitherbeiführt, hinreichend erfreulich ist. Die Frage der Bewährung wird sich allerdings noch als schwierig erweisen.

Die Zukunftsdeutung kennt noch einen vierten, aber anonymen Experten, das visionäre Element. Der «bunte Strauß» aus Weltbild, Weltanschauung und Religion, auch utopischem Entwurf einer wünschenswerten oder aber zu vermeidenden Zukunft, bildet vielfach einen Hintergrund, vor dem die gewöhnlichen Zukunftsexperten tätig werden, oder einen Rahmen, innerhalb dessen sie ihre nähere Arbeit vornehmen (s. Kap. 13).

Lassen wir die bisherige Begriffsbestimmung Revue passieren, so nehmen generell vier Faktoren auf die Zukunftsfähigkeit Einfluß: Ein erster Faktor besteht in emotionalen Einstellungen wie der Sorge und der Zuversicht, die die Wahrnehmung der Zukunft vorprägen. Dort blickt man ängstlich und kummervoll, hier zuversichtlich und unbekümmert in die Zukunft. Das eine Extrem bilden Endzeiterwartungen und apokalyptische Stimmungen eines nahen Weltuntergangs. Das andere Extrem besteht in einer Sorglosigkeit, die sich für den Menschen wünscht, was «den Vögeln des Himmels» vorbehalten bleibt, oder die diese Leistung stillschweigend an die Eltern oder das maternalistisch verstandene Gemeinwesen delegiert: Man erwartet seinen Lebensunterhalt, ohne zuvor säen zu müssen.

Obwohl die Bilder, die man sich von der Zukunft macht, nicht im strengen Sinn emotionalen Charakter haben, kann man sie doch dem ersten Faktor zuordnen. Die visionären Elemente prägen nämlich die Art und Weise, wie man in die Zukunft blickt.

Den zweiten Faktor bilden Grundhaltungen, die sich zwischen den zwei Extremen, einer fatalistischen Ohnmacht und einer technokratischen Allmachtsillusion, auch zwischen törichter Euphorie und zersetzender Verzweiflung, bewegen. Die relativ emotionsfreie Einstellung, die nüchterne Neugier auf das, was denn die Zukunft so bringen werde, führt zur Bereitschaft, eine Situation in ihre Bestandteile zu zerlegen und deren Zusammenhänge abzuschätzen, Tatsachen zu erkunden, Folgerungen zu ziehen und Möglichkeiten zu überlegen sowie alternative Szenarien zu entwerfen, nicht zuletzt, wo erforderlich, fehlende Informationen zu beschaffen. In der damit verbundenen Bereitschaft, das Richtige zu erwarten, dabei Risiken, aber auch Chancen anzuerkennen, liegt übrigens eine hohe Kunst.

Innerhalb der Gesellschaft und Politik kommt es drittens auf Strukturen und Organisationsformen, pars pro toto: auf Institutionen, an. Gemeint ist die soziale Ergänzung zum zweiten Faktor. Institutionen sind wörtlich Einrichtungen, dabei zum Teil Organisationsformen, die in einer durch Gewohnheiten, Sitte und Recht auf Dauer gestellten Weise bestimmten Interessen und Bedürfnissen zu einer verläßlichen Erfüllung verhelfen. Auf der gesellschaftlichen Ebene bringen Institutionen zustande, was auf persönlicher Ebene Einstellungen und Haltungen leisten: eine von momentanen Ablenkungen weitgehend freigesetzte Stabilisierung des Verhaltens.

Im Rahmen der Politik sind Institutionen der öffentlichen Gewalten, also staatliche Institutionen, von Institutionen der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft zu unterscheiden. Dabei erscheint es als sinnvoll, die elementarsten Aufgaben staatlichen Institutionen zu übertragen und nur die Ergänzungen der Bürgergesellschaft zu überantworten.

Schließlich gibt es den Komplex von Überlegen und Planen, der sich als Sachverstand wissenschaftlicher Rationalität bedient.

In der Sprache der abendländischen Philosophie kann man diese vier Faktoren Pathos, Ethos, Nomos und Logos nennen. Pathos heißt hier der Inbegriff der spontanen, Ethos jener durch Einüben gewonnenen, überlegten und kontrollierten Antriebskräfte. Nomos spielt auf die Bedeutung von Institutionen an und Logos auf das weite Feld der erforderlichen Rationalität.

2.3 Zukunftsdiskont

Viele Menschen pflegen die Gegenwart für wichtiger als die Zukunft und die nahe Zukunft für wichtiger als die ferne Zukunft zu halten. Sie geben der Zukunft einen Abschlag, einen Diskont, der mit wachsendem Abstand zur Gegenwart steigt und einer zunehmenden Entwertung gleicht. Dieses Phänomen, der Zukunftsdiskont, auch positive Zeitpräferenz genannt (vgl. Birnbacher 1988, Kap. 2), erschwert offensichtlich die Zukunftsfähigkeit.

Die Neigung, den Wert der Zukunft geringer als den der Gegenwart einzuschätzen, daher die Ansprüche der Zukunft an die Gegenwart zu ermäßigen, ist nicht für die Moderne charakteristisch. Sie ist weder für deren Wirtschaftsform, den sozialstaatlich gebundenen Kapitalismus, die soziale Marktwirtschaft, spezifisch, noch für deren Verfassungsform, die liberale Demokratie. Sie hat nämlich einen doppelten anthropologischen und zusätzlich einen ontologischen Grund: In der Regel ist dem Menschen am wichtigsten, was ihn hier und jetzt trifft. Weniger wichtig ist ihm, was er für morgen erwartet, und trotz aller Zukunftssorgen ist ihm weit weniger wichtig, was ihn in ferner Zukunft treffen und betreffen wird. Diese Diskontierung der Zukunft dürfte bei politischen Entscheidungen noch ausgeprägter als im persönlichen Bereich sein. Wegen der doppelten Ungewißheit, daß die Menschen weder wissen, was die Zukunft bringt, noch ob sie sie erleben werden, ist ein Zukunftsdiskont durchaus vernünftig, freilich im persönlichen Bereich mehr als in der Politik. Denn das Gemeinwesen ist auch für die nachwachsenden Generationen verantwortlich.

Verstärkt wird die Diskontierung der Zukunft durch die zweite, weit verbreitete Neigung, die eigenen Belange höher als die der anderen, folglich auch die der zukünftig Lebenden einzuschätzen. Gegenüber dem Lebenspartner, den eigenen Kindern und Enkelkindern sowie engsten Freunden dürfte diese Neigung zur Selbstprivilegierung, letztlich ein Egoismus, zwar schwächer ausfallen. Da man aber für diesen Personenkreis private Vorsorge treffen kann, schlägt die Abschwächung des Egoismus kaum auf politische Entscheidungen durch.

Zwei demographische Entwicklungen könnten den Zukunftsdiskont verschärfen: der wachsende Anteil älterer Wähler an der Gesamtwählerschaft und der Rückgang der Menschen, die noch Kinder haben. Bei Älteren muß man damit rechnen, daß sie sich mehr für die Bewahrung des Bekannten und die Erhaltung des Gegenwärtigen als für die Vorsorge für die Zukunft interessieren: Rentnern liegt mehr an ihren derzeitigen Renten als an der Zukunft des Alterssicherungssystems. Mehr auf sich fixiert, orientieren sich Kinderlose stärker an materiellen und postmateriellen Werten, als daß sie sich für eine kinderfreundlichere Gesellschaft, mithin die Zukunft interessieren. (In gewissen Phasen können Kinder freilich auch eine Belastung sein, die die Eltern auf die Gegenwart fixiert.)