Holger Schmale

Chausseestraße

Holger Schmale

CHAUSSEESTRASSE

Berliner Geschichte im Brennglas

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Ch. Links Verlag ist eine Marke

der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

entspricht der 1. Druckauflage von 2022

www.christoph-links-verlag.de

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung eines Fotos von der Chausseestraße, Ecke Invalidenstraße

© Bildagentur-online / Schoening /Alamy Stock Foto

ISBN 978-3-96289-143-5

eISBN 978-3-86284-524-8

INHALT

Vorwort

1 »Mächtige Ströme von schwärzlichen Arbeitern« Im »Feuerland« stand die Wiege der deutschen Schwerindustrie

August Borsig – Prototyp des neuen Unternehmers — Vor der Akzisemauer — Neues Leben in alten Höfen — Vom Schweiß und Fleiß der Tiefbauer aus der Chausseestraße — Wo der Schmied der König ist

2 »Warte nicht auf bessre Zeiten« Das Biermann-Haus, ein Knotenpunkt deutscher Geschichte

Komplizierte Besitzverhältnisse — Eine Weltkarte jüdischer Schicksale — Wem gehört(e) die Biermann-Wohnung? — Die Villa am Schwielowsee

3 »Wer kann Auskunft geben?« Das Ende jüdischen Lebens in der Chausseestraße

Flucht aus dem Sammellager der SS

4 »Da liegt allerhand große Leute« Die berühmten Friedhöfe

Ein Freilichtmuseum der Berliner Geschichte und Denkmalkunst — Die Möwe unter den Friedhöfen — Im Schatten des großen Nachbarn

5 »Sie kommen in Rabenschwärmen« Zu Hause bei Brecht und Weigel

Zufrieden im ältesten Haus der Chausseestraße — Die Tüte unter dem Ladentisch — Literatur auf Bestellung – aber keine Moldaufische mehr

6 »Zumindest war mal einer hier« Totengedenken im Grenzgebiet

Ein Besuch bei Theodor Fontane – mit Hindernissen — Von der S-Bahn sieht man nur das Dach

7 »Das war unsere Strecke« Das Leben im westlichsten Zipfel Ost-Berlins

Kaninchen an der Mauer — Eines der wenigen Schlupflöcher — Relaisstation zwischen Ost und West — Die Geisterbahn im Untergrund — Als die Straßenbahnen stoppten — Der letzte Schuss an der Mauer — 300 Meter Westen

8 »Vor der Kaserne …« Der spezielle Standort des BND

Friedrich Engels in der Sandwüste — Vom Polizeisportplatz zum Stadion der Weltjugend — Das rote Woodstock — Das größte Bauprojekt seit dem Zweiten Weltkrieg — Ein Besuch beim Bundesnachrichtendienst — Eine Festung bleibt eine Festung

9 »Das heißt Wille und Tat« Immer wieder Aufruhr (1848, 1918, 1933, 1953)

Spartakus im Luxusrevier — Barrikaden am Oranienburger Tor — Eine Hochburg der Linken — Der Braune Laden und der Terror der Nazis — Der 17. Juni 1953 in der Chausseestraße

10 »Das schönste aller Dinge …« Theater, Amüsiertempel und ein Drei-Sterne-Restaurant

Mit Gartenlokalen fing es an — Der Ärger mit den Bunkern — Die Werkstatt der Kultur — Im Ballhaus — Ein schneller Schluck — Voran im neuen Kurs — Döner statt Boulette — Eine surreale Welt in Grau — Der Glanz dreier Sterne

11 »Die Glühlampe hielt triumphalen Einzug« Start-ups gab es hier schon vor 140 Jahren

Ein Heim für digitale Nomaden — Aus Erfahrung gut — Ernst Schering, Apotheker 1. Klasse — Der Untergang der Titanic – im Hinterhof verfilmt — Auch ein Wissenschaftscampus

12 »In bester Lage …« Wie die Chausseestraße sich verändert hat

Niedergang und Goldgräberstimmung — Außen pfui, innen hui — Ein positives Beispiel gegen Spekulation — Auf der Grenze zwischen Bürgertum und Proletariat — Der Stasi-Wirt im Borsig-Eck

Anhang

Karte — Literatur- und Quellenverzeichnis — Bildnachweis — Der Autor

VORWORT

Chausseestraße – was für ein Straßenname! Den meisten Berlinern fällt der Unsinn gar nicht auf. Seit rund 220 Jahren trägt die einstige Oranienburger Landstraße diese Bezeichnung. So etwas wird in der Sprachwissenschaft Pleonasmus oder Tautologie genannt – Berliner würden sagen: doppelt jemoppelt. Denn eine Chaussee ist nichts anderes als eine gut ausgebaute Landstraße, und als die nach Oranienburg im Norden Berlins führende um das Jahr 1800 mit Pflastersteinen befestigt wurde, nannte man sie französisch-modern Chausseestraße. Es gibt sogar eine zweite Chausseestraße in Berlin, weit draußen im Westen der Stadt, in Wannsee.

»Unsere« in Mitte gehört nicht zu den berühmten Adressen Berlins wie Unter den Linden, der Kurfürstendamm oder die Friedrichstraße, obwohl sie direkt an Letztere anschließt. Aber sie steht exemplarisch für die Anfänge und das Wachsen der Metropole Berlin, für die Brüche, die Katastrophen, die Neuanfänge, die Vielfalt und die Vitalität der Stadt.

Anfang des 19. Jahrhunderts entstand hier die erste Schwerindustrie Preußens; wegen der vielen qualmenden Schlote wurde die Gegend Feuerland genannt. Ein Begriff, der sich an manchen Stellen der Chausseestraße bis heute findet oder im Zuge der Wiederbelebung der Straße nach 2000 neu entdeckt wurde: Gleich das erste Gebäude, Hausnummer 1, trägt den Namen Haus Feuerland; das auf dem Gelände der einstigen Bromfabrik an der Chausseestraße 38 bis 42 entstandene neue Wohnquartier heißt Feuerlandhöfe, und dort gibt es seit 2018 auch die Feuerland Apotheke. Dafür steht vor allem die Maschinenbauanstalt von August Borsig, die gleich am Anfang der Straße, lag. Ernst Schering eröffnete 1851 in der damaligen Hausnummer 17 eine Apotheke, aus der später das berühmte Pharmaunternehmen hervorging. Emil Rathenau gründete 30 Jahre später etwas weiter nördlich die Deutsche Edison-Gesellschaft, aus der später die AEG werden sollte.

Kaum 100 Meter vom Oranienburger Tor die Straße hinauf finden sich der Französische und der Dorotheenstädtische Friedhof mit ihren vielen Gräbern prominenter Persönlichkeiten: von Schinkel, Hegel und Fichte über Heinrich Mann, Arnold Zweig und Anna Seghers bis zu Heiner Müller, John Heartfield, Johannes Rau und Egon Bahr. Gleich nebenan liegt das Wohnhaus von Helene Weigel und Bertolt Brecht. Einige Blöcke weiter erstreckt sich das monumentale Gebäude des Bundesnachrichtendienstes, das wiederum auf historischem Boden steht. Einst ein Exerzierplatz, später Kasernengelände, entstand hier zu DDR-Zeiten das Walter-Ulbricht-, später Stadion der Weltjugend.

Kurz vor dem Ende der 1,7 Kilometer langen Straße endete schließlich bis vor dreißig Jahren auch Ost-Berlin am Grenzübergang Chausseestraße, an dem im April 1989 der letzte Schuss an der Mauer fiel und der wenig später zu den ersten Schauplätzen des Mauerfalls wurde. Und die Grenze ging nicht nur quer über die Straße, die Teilung verlief auch unter ihr hinweg – dort verkehrte die West-Berliner U-Bahn ohne Halt zwischen Wedding und Kreuzberg.

Das sind nur einige Beispiele für den Geschichtsreichtum dieser Straße, entlang der sich Berliner und überhaupt deutsche Wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte durch zwei Jahrhunderte und fünf Gesellschaftssysteme anschaulich erzählen lässt. Es gibt viele kleinere Glanzpunkte, Orte und Fassaden, in denen sich Lebenswelten, Schicksale, kurz: Stadtgeschichte wie unter einem Brennglas bündeln. In diesem Buch sollen sie anhand alter Pläne, Adressbücher, Fotos, Dokumente entschlüsselt und neu im Zusammenhang dargestellt werden. So entsteht eine vielfältige Sicht auf das Leben der Stadt am Beispiel einer Straße und ihrer Entwicklung und gleichzeitig wird der Blick auf die Gegenwart geschärft. Das Buch folgt in seiner Erzählung nicht dem Straßenverlauf und auch nicht einer strengen Chronologie, sondern betrachtet thematische Komplexe. Aktuelle Ortsbesichtigungen verknüpfen die Geschichte immer wieder mit der Gegenwart.

Die Nummerierung der Grundstücke an der Chausseestraße entspricht, wie es im Königreich Preußen üblich war, dem Hufeisensystem: Sie beginnt beim ersten Haus auf der rechten Straßenseite, folgt ihr bis zum letzten Haus und wird dann auf der anderen Straßenseite zurückgeführt, die Form eines Hufeisens beschreibend. Durch den über die Jahrhunderte wechselnden Zuschnitt der Grundstücke hat sich auch mehrfach die Nummerierung geändert. Im Buch werden in der Regel die heute geltenden Hausnummern verwendet.

Ich danke allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, den Autorinnen und Autoren der verwendeten Texte und Fotos, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive, die mir geholfen haben, ein möglichst genaues, farbiges und interessantes Bild der Chausseestraße zu zeichnen.