Rassismus
C.H.Beck
War Freitag gern Robinsons Sklave? Was lieben wir an Winnetou? Warum kennt sich Tarzan so gut im «Dschungel» aus? Können nur Weiße erröten? Was ist mit der «Bürde des weißen Mannes» gemeint? Begingen Deutsche in Namibia einen Völkermord? Sind Entschädigungsforderungen für Kolonialismus und Sklaverei gerechtfertigt? Wie spreche ich über Rassismus ohne ihn sprachlich zu reproduzieren? Susan Arndt bietet in diesem Buch Einblicke in Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Rassismus, in das Wissen, das ihn trägt, und jenes, das ihn hinterfragt.
Susan Arndt ist Professorin für Englische Literaturwissenschaft und anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth.
Vorwort
I. Rassismus – Begriffsklärungen
1. Was ist Rassismus?
2. Gibt es «Rassen»?
3. Wie viele «Hautfarben» gibt es?
4. Gibt es Gene, die Menschen nach «Rassen» unterscheidbar machen?
5. Wer ist Weiß und wer Schwarz?
6. Was ist anti-Schwarzen Rassismus?
7. Was ist Antisemitismus?
8. Was meint antimuslimischer Rassismus?
9. Was ist Antiziganismus?
10. Gibt es kulturellen Rassismus?
11. Kann Rassismus «positiv» sein?
12. Gibt es auch in Ghana Rassismus?
13. Warum ist es irreführend, von Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit zu sprechen, wenn Rassismus gemeint ist?
14. Was ist Kolonialismus?
15. In welchem Verhältnis stehen Imperialismus und Kolonialismus zueinander?
II. Rassismus vor der Aufklärung
16. Was hat Aristoteles mit Rassismus und Sklaverei zu tun?
17. Wie alt ist die Physiognomie?
18. Was hat Platon mit Euthanasie zu tun?
19. Gab es schon in der Antike rassifizierende Deutungen von «Hautfarbe»?
20. Was hat Rassismus von der christlichen Farbsymbolik gelernt?
21. Was erzählt uns die «Hautfarbe» von Parzivals Bruder?
22. Warum führt der Jakobsweg in die spanische Reconquista?
23. Was entdeckte Christoph Columbus?
24. Wohin führten für Millionen versklavte Afrikaner_innen die «gates of no return»?
25. War die europäische Versklavung von Afrikaner_innen singulär?
26. Hat die Industrielle Revolution etwas mit der europäischen Versklavung von Afrikaner_innen zu tun?
27. Profitierte Deutschland vom europäischen Versklavungshandel?
28. Was ist Maafa?
29. Warum weißte sich Elisabeth I. und wer tanzte auf der Hochzeit von James I.?
30. War Shakespeares «dark lady» eine Schwarze Frau?
31. War Freitag gern Robinsons Sklave?
III. Rassismus seit der Aufklärung
32. Welche Rolle spielt Wissenschaft für Rassismus?
33. Wie aufklärerisch war die Aufklärung wirklich?
34. Warum führte Kant die Idee der «Rassen» in Deutschland ein?
35. Was bedeutet bei Hegel Geschichtslosigkeit?
36. Welche Disziplinen brachte der «wissenschaftliche Rassismus» im 19. Jahrhundert hervor?
37. Was wollten Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain?
38. Können nur Weiße erröten?
39. Wer oder was war Jim Crow?
40. Warum wissen wir nichts über Sarah Baartman?
41. Was ist mit der «Bürde des weißen Mannes» gemeint?
42. Was hat der Song «Truganini» der australischen Band Midnight Oil mit zwei auf Wachszylinder gravierten Liedern zu tun?
43. War Deutschland eine bedeutende Kolonialmacht?
44. Warum begrüßte Karl Marx den britischen Imperialismus?
45. Warum kennt sich Tarzan so gut im «Dschungel» aus?
46. Haben Nationalsozialismus und Kolonialismus etwas miteinander zu tun?
47. Was erachteten Deutsche nach dem Ersten Weltkrieg als «Schande»?
48. Wer befreite Deutschland vom Nationalsozialismus?
49. Was war der Porajmos?
50. Was war Apartheid?
IV. Rassismus (in) Begriffen
51. Wie wird rassistisches Sprechen gerechtfertigt?
52. Woran erkenne ich rassistische Wörter?
53. Was haben «Hottentotten» und «Buschmänner» mit «Barbaren» zu tun?
54. Wer mauschelt?
55. Wo leben Kannibalen?
56. «Indianer» – oder: Wann ist ein Irrtum menschlich?
57. Was essen die «Eskimos»?
58. Wo befindet sich der Orient?
59. Wo liegt «Schwarzafrika»?
60. Ist Barack Obama ein «Farbiger»?
61. Welche Haut ist eigentlich «hautfarben»?
62. Warum nennt jemand seinen Faschingsverein «Mohrenwäsche»?
63. Kann Essen rassistisch sein?
64. Kann ein Mensch illegal sein?
V. Rassismus – Spuren und Auswirkungen
65. Was ist eine Insel?
66. Was sah Leni Riefenstahl in den Nuba?
67. War die DDR antirassistisch?
68. Warum liegt Europa im Zentrum unserer Weltkarte?
69. Kann Naturschutz rassistisch sein?
70. Ist Blackfacing rassistisch?
71. Warum lesen die Deutschen massenhaft Corinne Hofmanns und Peter Scholl-Latours Bücher über Afrika?
72. Kann Feminismus rassistisch sein?
73. Sind nur Rechtsradikale Rassist_innen?
VI. Rassismus – Widerstand, Erinnerung und Aufarbeitung
74. Was heißt Erinnerung und Aufarbeitung?
75. Was lieben wir an Winnetou?
76. Wer widerstand der Sklaverei?
77. Was bedeutet Abolitionismus?
78. Wann entstand der Abolitionismus?
79. «Am I not a Man and a Brother?»
80. Galten die Ideale der Französischen Revolution für alle?
81. Begingen Deutsche in Namibia einen Völkermord?
82. Sind Entschädigungsforderungen für Sklaverei und Kolonialismus gerechtfertigt?
83. Wer war Frantz Fanon?
84. Wie spreche ich über Rassismus, ohne ihn sprachlich zu reproduzieren?
85. Warum heißt die Berliner Mohrenstraße manchmal Möhrenstraße?
86. Wer war Sojourner Truth?
87. Darf man «Hautfarben» sehen?
VII. Rassismus und Migration
88. Warum soll Europa provinzialisiert werden?
89. Was sind Diasporas und was machen sie mit Europa?
90. Ist Deutschland ein Einwanderungsland?
91. Wer hat einen Migrationshintergrund?
92. Wer war Anton Wilhelm Amo?
93. Wer hat in Deutschland Angst vor Kopftüchern?
94. Rassistische Emma?
95. Wann nervt die Frage: «Wo kommst du her?»
96. Ist es rassistisch, Schwarzen in die Haare zu fassen?
VIII. Rassismus – Ein Fazit
97. Kann man aus der Geschichte lernen?
98. Was sollte am Grundgesetz geändert werden?
99. Brauchen wir ein neues Antidiskriminierungsgesetz?
100. Wer sind gegenwärtig die einflussreichsten Intellektuellen?
101. Gibt es eine Welt ohne Rassismus?
Literaturhinweise
Das Thema dieses Buches – Rassismus – hat es in sich. Das beginnt bereits mit der Frage, wie man ein Buch über Rassismus illustrieren könne. Der Verlag entschied sich für ein Coverfoto, das ich nicht haben wollte. Es steht im Widerspruch zu einer zentralen Grundthese dieses Buches, nämlich der, dass die Reproduktion rassistischer Annahmen, Worte, Handlungen, Strategien, in welcher Absicht auch immer, nicht zu rechtfertigen ist.
Das Coverfoto ist von einem weißen Blick geprägt, der auch durch den darüber geschriebenen Titel «Rassismus» nicht wirklich gebrochen wird: Es ist 1940 in Birmingham, Alabama, von Arthur Rothstein, einem weißen Fotografen, gemacht worden. Die Werbung betrifft ein Kino, in dem Schwarze – und zwar nur am Wochenende – im zweiten Rang sitzen dürfen. Das Filmplakat wirbt für die Liebeskomödie Ninotchka von Ernst Lubitsch, produziert 1939. Zu sehen ist in der Hauptrolle Greta Garbo (Abbildung) – vor Marylin Monroe das (weiße) Schönheitsideal im 20. Jahrhundert schlechthin. Das alles könnten Interessierte schnell herausfinden, sollten sie ein paar Minuten geübt recherchieren wollen. Über den Schwarzen, dem sinnbildlichen Opfer des Rassismus auf diesem Foto, bekomme ich dagegen fast nichts heraus: Er hieß Eddie Mitchell, war jung und arbeitslos – das war es. Wie so oft in der Geschichte des Rassismus steht der weiße Blick auf Schwarze im Mittelpunkt, der sich nicht für die Erzählungen, Geschichten und Blicke des Schwarzen interessiert, ja, dessen Interesse am Schwarzen darauf reduziert bleibt, Weißen als Projektionsfläche eigener Fantasien über Schwarze zu dienen. In diesem Fall ist dies sogar offenkundig, denn das Foto ist gestellt; es entstammt einer Serie.
Und was sieht dieser weiße Blick? (Lüsterner) Schwarzer blickt auf weiße Unschuld, die zu ihrer Sicherheit hinter einer durchsichtigen Mauer geschützt wird. Angesichts des rassistischen Mythos, dass Schwarze Männer sexuell hyperaktiv seien und als solche eine Bedrohung für (weiße) Frauen und die von ihnen repräsentierten Nationen darstellen, ist dieser Blick auf seinen Blick nicht ungefährlich – zumal er den Schwarzen zu der Zeit, als das Bild entstand, das Leben hätte kosten können. Denn Rothstein nahm dieses Foto in der Ära der Jim-Crow-Gesetze auf und Birmingham war eine Hochburg des Ku-Klux-Klan; hier hätte Mitchell – was Schwarzen vielfach geschah! – für diesen Blick auf eine Weiße gelyncht werden können; Schwarzen war es sogar untersagt, einer weißen Frau die Zigarette anzuzünden, weil es als sexuelle Anzüglichkeit galt!
Warum muss es ein solcher weißer Blick auf einen Schwarzen sein, der dem Buch als Ouvertüre dient? Der Verlag zeigte sich sicher, dass der Titel «Rassismus» das Bild ausreichend kontextualisiere und gerade auf diese Weise die Betrachter_innen dazu anrege, sich mit ihrer eigenen Haltung zum Thema Rassismus auseinanderzusetzen. Doch warum muss ein rassistisches Wort auf dem Coverfoto stehen und dadurch verbale Gewalt ausüben? Warum ist ein Schwarzer Mann und kein weißer Mann zu sehen, denn letztere haben die rassistischen Schilder geschrieben, aufgehängt und diese Politik auch durchgesetzt – Seite an Seite mit weißen Frauen? Warum ist nicht ein Fotodokument des antirassistischen Kampfes als Covergrundlage genommen worden, ein Foto, das die Handelnden dieses Kampfes zeigt? Warum wird ein Motiv aus den USA genommen und nicht aus Deutschland, so als wäre er dort virulenter als hierzulande? Es ließen sich weitere solche Fragen anschließen, auf die letztlich dieses Buch Antworten liefern soll. Insofern bietet das Cover einen vielleicht dann doch produktiven und dennoch zugleich verstörenden Einstieg ins Thema.
Bücher können irritieren, zum Nachdenken anregen, Streit provozieren, Bewährtes hinterfragen, Gewohntes in eine andere Perspektive stellen. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit Rassismus. Ich begann damit in dem Glauben, längst über Rassismus Bescheid zu wissen und daher, als unbedingte Anti-Rassistin, selbst fern jeglicher rassistischer Tendenzen zu sein. Ich habe viel lernen müssen, aber auch wollen. Das war und ist mit vielen Einsichten, die meine Selbstwahrnehmungen und mein Innerstes heftig erschütterten, verbunden. Wie aufwändig, aufwühlend und fordernd muss es aber für jene sein, die sich quasi von Geburt an Rassismus ausgesetzt sehen, die dies sich und anderen, vor allem jenen, die rassistisch diskriminieren, wieder und wieder erklären müssen und die sich ihm konsequent widersetzen? Bücher, Performances, Musikprojekte und Blogs etwa von Esther Dischereit, Philippa Ebéné, Mutlu Ergün, Kien Nghi Hâ, Philipp Khabo Köpsell, Nicola Lauré al-Samarai, Peggy Piesche, Miriam Popal oder Noah Sow kann ich allen nur empfehlen. Von ihnen und vielen anderen People of Color in Europa, Afrika, Asien und Nordamerika habe ich die Lektion gelernt: Rassismus ist nicht irgendein Thema – Rassismus ist allgegenwärtig: in Sprache, Politik, Alltag, Ökonomie, Werbung, Medien, Sport, Musik, Internet, Theater, Literatur, am Arbeitsplatz wie am Postschalter, in Bewerbungsverfahren wie in Gesetzestexten, in den klassischen Texten der Philosophie wie in der aktuellen Historiographie, in der Medizinforschung wie im Naturschutz. Ja, so unglaublich es sich für viele anhören mag, aber es ist wahr: Es gibt keine No-Go-Area, die der Rassismus verschonen würde oder könnte. Gleichzeitig aber nehme ich nur partiell (wenn überhaupt) wahr, dass ich als Weiße viele Privilegien genieße und dass Weißsein zu einem globalen «unmarkierten Marker» (Ruth Frankenberg) geworden ist, der mir den Rücken stärkt – mit Rückenwind aus der Geschichte. Es waren Weiße, die Rassismus erfunden haben und mit ihm die krude Logik, dass sich alles am Weißsein auszurichten und zu orientieren habe, womit dann wiederum Verbrechen, Unterdrückung, Ausbeutung und Kolonialismus gerechtfertigt wurden.
Von vielen Vorträgen, Konferenzen, Debatten, Seminaren, Vorlesungen, ja, auch unzähligen Gesprächen in privaten, freundschaftlichen und familiären Zusammenhängen weiß ich, dass Rassismus dann aufhört, irgendein Thema zu sein, wenn aus dem «die bösen Rassist_innen» (dort drüben, etwa in den USA) ein «wir Weiße» wird, und aus dem «man» ein «ich». Schnell, zu schnell, wird hier oft abgewehrt: Das sei übertrieben oder zu pc. Doch vorschnelle Antworten tragen hier nicht weit. Es sind wissensgesättigte Fragen, die dem Rassismus die Stirn bieten: Warum und Wie, Wo und Wann, Wer und Wen sind nicht nur die typischen Fragewörter an historische Quellen, sondern auch Verbindungslinien zwischen vermeintlicher Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft.
Dieses Buch stellt sich 101 Fragen, die der Rassismus jedem und jeder von uns aufgibt. Dabei kann ich selbstredend nur einen kleinen Ausschnitt des großen Themas anschneiden. Manche Fragen mögen überraschen, aber die Antworten sollen wenigstens die Vielschichtigkeit des Themas andeuten. Gewiss werden einige Lesende manche Frage, ja, zentrale Fragen vermissen. Davon fallen mir selbst aus historischen Kontexten hunderte ein – aber diese Reihe heißt eben «Die 101 wichtigsten Fragen». Eine Auswahl meiner momentan wichtigsten Fragen bedeutet Verzicht, Einschränkung und immer wieder eine beim Schreiben und Wörterzählen fast unerträglich erscheinende Kürze.
Dieses Buch stellt vieles in Frage, hinterfragt vieles, dekonstruiert und stellt Zusammenhänge her, die den einen absurd, überstrapaziert und merkwürdig, den anderen banal, verkürzt und längst bekannt erscheinen mögen. Das Buch weist Wiederholungen auf – sie sind unumgänglich, weil jede Frage und jede Antwort für sich stehen sollen. Und dennoch baut Frage auf Frage, Antwort auf Antwort auf. Es hätten auch 1001 Fragen und 1001 Antworten sein können – es blieben Ausschnitte und Verkürzungen.
Mein Buch stellt eine Einladung an jene dar, die sich mit Rassismus auseinandersetzen wollen. Ich will exemplarische Denk-, aber auch Verhaltens- und Sprachanstöße bieten. People of Color, die sich mit Rassismus neben ihren Alltagserfahrungen auch theoretisch und historisch beschäftigen, kann ich nichts sagen, was sie nicht ohnehin wüssten, besser wüssten, differenzierter wüssten. Auch vielen anderen, die sich mit Weißsein und Rassismus professionell auseinandersetzen, mag dieses Buch vielleicht zu oberflächlich, zu undifferenziert argumentieren. Aber allen anderen könnte und soll es Anregungen, Denkanstöße, zuweilen auch praktische Hinweise geben, warum etwas so geworden ist, wie sich manches verändern ließe, woher manche Alltäglichkeit kommt. Das Buch ist kein Ratgeber, aber es will anstoßen, irritieren, provozieren, zur Debatte einladen. Mein Buch endet mit einem Satz, den ich hier schon einmal als Credo wiedergebe – mit der Hoffnung, Neugierde geweckt zu haben: Verantwortungsübernahme in Freiheit – das war schon immer die beste Lebenshaltung.
1. Was ist Rassismus? Der Sexualforscher und Publizist Magnus Hirschfeld (1868–1935) verwendete als Erster den Begriff Rassismus für eine Lehre, die an die Existenz menschlicher «Rassen» glaubt, in seinem 1933/34 geschriebenen und 1938 veröffentlichten Werk Racism, mit dem er die nationalsozialistische «Rassen»-Ideologie widerlegen wollte. In ein breiteres öffentliches Bewusstsein drangen Begriffe wie Rassismus und Genozid in den 1950er Jahren. «Rassentheorien» waren aber nicht erst vom Nationalsozialismus erfunden worden und fanden mit ihm auch kein Ende. Die Ideologie des Rassismus setzt mit der Erfindung menschlicher «Rassen» ein.
Es war ein paneuropäisches Projekt, das seine Anfänge nahm, als Europa Millionen Menschen auf der ganzen Welt enteignete, versklavte und ermordete und dies dadurch zu rechtfertigen suchte, dass es diese Menschen als nicht-weiß charakterisierte – als so anders, dass es berechtigt erschien, gegenüber Hunderten Gesellschaften auf der ganzen Welt Prinzipien wie Humanismus und Aufklärung, Freiheit und Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit zuwiderzuhandeln. Was für ein infamer Euphemismus, der im Angesicht dieser barbarischen Gewalt den Mythos von der «Bürde des weißen Mannes» erfand, die Welt zivilisieren zu müssen, und der Lynchmorde als Akt der «Zivilisierung» deklarierte. Hierin zeigt sich aber, dass es dem Rassismus im Kern darum geht, die weiße «Rasse» mitsamt dem Christentum, das als dem Weißsein inhärent verstanden wird, als vermeintlich naturgegebene Norm(alität) hinzustellen, um eigene Ansprüche auf Herrschaft, Macht und Privilegien zu legitimieren und zu sichern. Dabei produziert der Rassismus Wissen, das sich ebenso facettenreich wie wirkmächtig in Glaubensgrundsätze, (Sprach)Handlungen und identitäre Muster einschrieb und sich – und zwar unabhängig davon, ob Weiße dies anerkennen oder nicht – die Welt durch adäquate Strukturen passförmig gemacht hat, um sie zu beherrschen.
Im Zentrum der Ideologie des Rassismus steht die Erfindung von körperlichen Unterschieden. Die britische Ethnologin Mary Douglas betont, jedes Sehen des menschlichen Körpers besitze eine soziale Dimension. Das bedeutet, ohne das Verlangen, soziale Hierarchien und Grenzen herzustellen, bestünde nicht das Interesse, körperliche Grenzen zu erfinden. Auch die Erfindung von «Rassen» bedurfte Grenzziehungen mit Hilfe vermeintlich naturgegebener körperlicher Unterschiede. Dazu wurden aus einer Vielzahl möglicher körperlicher Merkmale einzelne (z.B. «Hautfarbe») herausgenommen und zu Bündeln geschnürt, die vermeintlich naturgegebene Antithesen repräsentieren und angeblich relevante Unterscheidungsmerkmale bilden. Welche Kriterien angelegt werden, um körperliche Unterschiede zu zementieren, folgt keineswegs reiner Willkür. Vielmehr ist die betreffende Logik einem ökonomischen und politischen Machtstreben verpflichtet. Entscheidend ist zudem, dass die so gewählten Unterschiede (und die diesbezüglichen Kriterien) als «natürlich gegebene» Marker der Differenz erklärt werden, wodurch negiert wird, dass sie menschengemacht und historisch geworden sind. Diesen vermeintlich statischen und objektiven körperlichen Unterscheidungsmerkmalen werden dann bestimmte soziale, kulturelle und religiöse Eigenschaften und Verhaltensmuster zugeschrieben. Die auf diese Weise hergestellten Unterschiede werden, wie der Schriftsteller und Rassismusforscher Albert Memmi (geb. 1920) ausführt, verallgemeinert, verabsolutiert, hierarchisiert und als naturgegeben deklariert.
Es lassen sich verschiedene Formen von Rassismus unterscheiden, die aber eine gemeinsame strukturelle und diskursive Schnittmenge aufweisen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei Rassismus zu konkretisieren, wer von wem vor dem Hintergrund welcher historischen und gegenwärtigen Prozesse als «Rasse» erfunden und rassistisch bewertet wurde bzw. wird.
2. Gibt es «Rassen»? Natürlich gibt es «Rassen» – in der Pflanzen- und Tierwelt. Hier versteht man unter «Rassen» Gruppen einer Art, die sich von anderen Gruppen derselben Art durch konstante und vererbbare Merkmale unterscheiden. Im ausgehenden 16. Jahrhundert wurde dieses Klassifikationsmuster erstmalig auf Menschen übertragen.
Zunächst wurde die Idee, dass es menschliche «Rassen» gebe, von einer biologistischen Anordnung von «Hautfarben» als Marker religiöser und kultureller Differenz getragen. Als Weiße im Zuge der Kolonisierung begannen, in anderen als europäischen Klimazonen zu leben und Afrikaner_innen in vormals weiße Räume deportiert und dort zwangsangesiedelt wurden, kamen zunehmend Zweifel an den seit der Antike gültigen Klimatheorien und an «Hautfarbe» als alleinigem Träger von «Rassentheorien» auf. Um die Existenz von «Rassen» nachweisen zu können, nahmen weiße Wissenschaftler_innen deshalb immer stärker andere angebliche Merkmale in den Blick.
Dazu vermaßen sie zunächst Körperteile, wie etwa den Schädel oder das Skelett, aber auch Sexualorgane. Noch heute lagern Relikte dieser biologistischen Forschungen in ethnologischen Museen Europas oder auch deutschen Krankenhäusern. Die Vermessung des sichtbaren Körpers, als Methode bis weit ins 19. Jahrhundert hinein anerkannt, führte nicht dazu, dass feststehende «Rassenmerkmale» gefunden werden konnten. Jene Versuchsreihen, die zu bejahenden Erkenntnissen gelangten, weisen methodisch vielerlei Schwächen auf. So erstellte etwa der niederländische Anatom Peter Camper (1722–1789) seine Skala der «Rassen» auf der Grundlage von lediglich sieben Köpfen und verfälschte dabei noch. «Bei der geometrischen Ermittlung des Schädelvolumens der griechischen Apollbüste in frontaler Ansicht», die als Repräsentant der weißen Norm fungiert, addierte er, wie dem Kulturwissenschaftler Thomas Becker auffiel, «schlichtweg einige Zentimeter, die wohl eher der Haarpracht Apolls als der Schädelgröße zuzuschreiben waren.»
Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Zweifel daran wuchsen, «Rassen» über Vermessungen des sichtbaren Körpers nachweisen zu können, setzte ein Paradigmenwechsel innerhalb der «Rassentheorien» ein. Zunehmend konzentrierten sich die Beobachtungstechniken nun auf die unsichtbare Determination durch innere Vererbungsdispositionen anhand von Untersuchungen des Blutes. Man hoffte, «Rassen» genetisch nachweisen zu können. Mit der Hinwendung zur Vererbung innerer Dispositionen kam es zu einem Anstieg identifizierbarer «Rassen» auf mehr als 100. Diese stetig wachsende Anzahl vermeintlicher «Rassen» zeigt letztlich nur eines deutlich: Eindeutige Grenzziehungen lassen sich weder ermitteln noch begründen. Die UNESCO legte bereits 1950 nahe, auf den Begriff «Rasse» zu verzichten. Das Europäische Parlament empfahl Mitte der 1990er Jahre, in amtlichen Dokumenten den Begriff nicht zu verwenden.
«Rassen» gibt es nicht, schreibt die feministische Soziologin Colette Guillaume, aber sie töten Menschen. Denn der Glaube, dass es «Rassen» gebe, der Rassismus also, ist präsent. Das anzuerkennen ist wichtig. Der Literaturwissenschaftler Shankar Raman glaubt daher, dass es notwendig ist, einen Kampf um die Bedeutung von «Rasse» zu führen, sich diesen Begriff aus anti-rassistischer Sicht anzueignen. Deswegen schlägt er eine doppelte Denkbewegung vor, die weg führt von «Rasse» und hin zu Rasse. In der geschriebenen Sprache ist es leicht, die doppelte Denkbewegung symbolisch zu unterstützen: Es ist möglich, «Rasse» immer dann in Anführungszeichen zu setzen, wenn vom biologistischen Konstrukt die Rede ist, das keine reale Entsprechung hat – und Rasse kursiv zu schreiben, wenn von der sozialen Position die Rede ist, die durch den Rassismus erzeugt wird. In der gesprochenen Sprache ist dies schwerer umzusetzen. Manche sprechen von rassialisierter Position, von einer Position im Rassismus oder einfach von Rasse als sozialer Position.
3. Wie viele «Hautfarben» gibt es? Eine für die Geschichte der Menschheit zentrale symbolische Grenzziehung am Körper ist die Erfindung menschlicher «Hautfarben» zur Fundierung der biologistischen Theorie von «menschlichen Rassen».
Natürlich tritt menschliche Haut in unterschiedlichen Farbtönen auf. Aber so wie kein Mensch (äußerlich) einem anderen entspricht, so gibt es auch keine zwei Menschen mit exakt gleicher Hautfarbe. Noch mehr als die Farbe des Haares ist die Farbe der Haut individuell tagtäglichen Schwankungen unterworfen, in Abhängigkeit innerer Erregungszustände, Erkrankungen, Sonneneinwirkung etc. Und weil etwa die Haut von Weißen alle möglichen Nuancierungen zwischen rosa, olive und diversen Beige- und Brauntönen zeigen kann, bedarf es doch einer hohen Abstraktionskunst, Menschen als Weiße zu beschreiben und sie klar zum Beispiel von «Gelben», «Schwarzen» oder «Roten» abzusetzen. Zwar ist die Pigmentierung der Haut ein genetisch übertragbares Merkmal, das sich durchaus in Abhängigkeit von klimatischen Differenzen entwickelt haben mag, auch lassen sich dunkelbraun und rosa kontrastreich voneinander abgrenzen, jedoch gibt es keine Möglichkeit, klar definierbare Grenzen zu ziehen. Natürlich könnte man Menschen so «anordnen», dass ihr Teint immer heller bzw. dunkler wird. Jedoch ist es ein Ding der Unmöglichkeit, eine klar benennbare Trennlinie zu ziehen und einen Farbteint zu benennen, der einen Menschen «gerade noch» bzw. «nicht mehr» weiß oder Schwarz sein lässt. Folglich ist es unmöglich, das Spektrum von «Hautfarben» irgendwie in plausibel voneinander abgrenzbare Räume zu verwandeln, geschweige denn, sie konstruierten «Menschenrassen» zuzuschreiben.
Tatsächlich wirft ein solches Unterfangen die Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Projektes «Hautfarbe» auf. Letztlich gibt es ebenso viele «Hautfarben» wie es Nasenformen oder Gesichtskonturen gibt – annähernd unendlich viele. Deswegen mündet die Frage «Wie viele Hautfarben gibt es?» in die Frage: «Warum sehen wir eigentlich Hautfarben?» Wir sehen sie, weil uns beigebracht wurde, «Rassen» zu sehen, und «Hautfarbe» dabei – im Verbund mit anderen körperlichen Konstitutionen sowie kulturellen und religiösen Merkmalen – eine wichtige Rolle zugewiesen wird. Anders ausgedrückt: «Hautfarben» sind nicht von Natur aus sichtbar, sondern wir sehen sie, weil Rassismus dieses Sehen erfunden und instrumentalisiert hat. Letztlich ist es pure Ideologie, wenn man versucht, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Pigmentierung, anderen körperlichen Konstitutionen und kulturellen und religiösen Merkmalen herzustellen.
Die Erfindung der Grenzen zwischen «Hautfarben», auch in ihrer abstrahierenden Dichotomisierung von «schwarz» und «weiß», und ihre Funktion für kulturelle Alterisierungsprozesse sind seit der Antike angelegt. Insbesondere in der Physiognomie spielt das (Haut) Farbentheorem eine wichtige Rolle. In Mythen wie in philosophischen Schriften wird nach den Ursachen und Implikationen von verschiedenen «Hautfarben» gesucht und dabei meist das Klima als ursächlich verantwortlich skizziert.
Mit dem Erstarken des Christentums erhielten antike «Hautfarbensymboliken» eine neue Bedeutung und Bedeutsamkeit. Weiß wird als schön, rein und tugendsam imaginiert und Schwarz als Farbe des Bösen, des Unheils und der Abwesenheit von Schönheit. Dieses Wissen stand zur Verfügung, als sich das weiße Europa im 16. Jahrhundert weltweit fremde Territorien, Reichtümer und Menschen aneignete. Dass hier all den von der Antike über die Renaissance bis zur Aufklärung als genuin europäisch postulierten Grundwerten – nämlich Freiheit, Demokratie, Moral, «Zivilisation» und das Primat menschlicher Würde – widersprochen wurde, war auch damals bereits offenkundig und rief Kritik hervor, wie etwa William Shakespeares Othello oder The Tempest belegen.
4. Gibt es Gene, die Menschen nach «Rassen» unterscheidbar machen? Wissenschaftler_innen wie Francesco Cavalli-Sforza haben herausgearbeitet, dass es nicht möglich ist, Menschen genetisch nach «Rassen» zu unterscheiden. Die genetischen Unterschiede zwischen zwei Menschen aus Afrika sind durchschnittlich mindestens genauso hoch oder noch höher als die zwischen Weißen und Schwarzen. Oft herrscht zwischen Individuen einer von den «Rassentheorien» als genetisch gleich definierten Gruppe eine größere Variabilität als zwischen Individuen, die von diesen als Angehörige verschiedener «Rassen» angesehen werden. Es gibt bei Menschen keine reinerbigen Teilpopulationen, vielmehr ist von einem Kontinuum genetischer Unterschiede auszugehen. Jede Grenzziehung in diesem Kontinuum ist daher willkürlich und folgt einem ideologisch motivierten historischen Herstellungsverfahren. Letztlich ist es die symbolische Ordnung von rassialisierter Differenz, die dem Sehen zugrunde liegt, und nicht umgekehrt. Diese baut auf der Menge von Melanin auf, die dem Teint menschlicher Haut eigen ist. Allein diese ist durch 5 von insgesamt 25.000 Genen geregelt.
5. Wer ist Weiß und wer Schwarz? So paradox das klingen mag, aber das Ignorieren von «Hautfarben» ist auch keine Lösung. Rassismus kategorisiert und markiert u.a. mit Hilfe von «Hautfarben» Menschen als Akteur_innen, Profiteur_innen und Privilegierte des Rassismus oder als Diskriminierte, Fremdmarkierte und Entmachtete – ob diese das (wahr haben) wollen oder nicht.
Als der Rassismus sich formierte, ging es darum, Europäer_innen als allen anderen Menschen überlegen zu deklarieren. Dabei kam es in der verallgemeinernden, verabsolutierenden und wertenden Façon des Rassismus und in Vernachlässigung bereits bestehender Kollektivbezeichnungen zu einer Fülle diskriminierender Fremdbezeichnungen. Zum einen wurden Begriffe aus dem Tierreich entlehnt (z.B. «Bastard», «Mulatte», «Mischling», «Mestize»), um über die Nähe zu Natur und Tieren den Kolonisierten das Menschsein abzusprechen und einer vermeintlichen Mischung von «Menschenrassen» verbal Ausdruck zu verleihen. Zudem wurden Neologismen entwickelt, die in ihrer Semantik auf Konstrukte von «Hautfarben» aufbauten. So wurden Menschen etwa in Anlehnung an das Wort «schwarz» in romanischen Sprachen mit dem N-Wort oder mit anderen Farben bezeichnet.
Widerstandsbewegungen rassistisch diskriminierter Menschen setzten hier an. Sie meinten nicht nur, alle Menschen sind gleich, sie sagten auch, wir werden von Weißen als Nicht-Weiße angesehen und auf dieser Basis diskriminiert. Deswegen können rassistische Begriffe nicht ignoriert werden, vielmehr muss versucht werden, sie sich über neue Schreibweisen anzueignen. So entstehen politische Begriffe, die in der Logik der «Hautfarbenkonstruktionen» bleiben, dabei jedoch den Konstruktcharakter unterstreichen und gleichzeitig dem dahinter stehenden Blick von Weißen widersprechen. Jene, die mit rassistischen Wörtern diskriminiert werden, bezeichnen sich selbst als Black(s) oder Schwarze Deutsche (die Großschreibung des Adjektivs ist ein solcher sprachlicher Marker von Widerstand); «Farbige» und «Colored» wurde widerständig gewendet zu People of Color. Während People of Color heute, gerade auch im deutschsprachigen Raum, alle Menschen bezeichnet, die rassistisch diskriminiert werden, fungiert Black/Schwarze (je nach Kontext) sowohl als politische Bezeichnung für Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, als auch allein für Menschen afrikanischer Herkunftsgeschichten. Daneben gibt es aber auch Begriffe wie afrodeutsch bzw. African American.
Die afrikanisch amerikanische Nobelpreisträgerin für Literatur Toni Morrison (geb. 1931) schreibt, dass es seit einigen Jahrzehnten unter Weißen als generös und liberal gelte, nicht über «Rasse» zu sprechen und sich nicht als Weiße zu bezeichnen. Dabei handele es sich um Verleugnung des Rassismus: Morrison spricht von «colour-blindness» oder «evasion», die Schwarze Literaturwissenschaftlerin bell hooks (geb. 1952) von «myth of sameness». Dies ist ein Privileg, das der Rassismus nur Weißen gibt – eine Option, die People of Color nicht leben können. Weißsein als nicht für das eigene Leben relevant einzustufen, bedeutet zu verkennen, dass der Rassismus bis heute existiert und dabei seinem Wesen gemäß eine «soziokulturelle Währungseinheit» (Ruth Frankenberg) darstellt, die Weiße privilegiert und ihnen Macht verleiht. Wenn Weißsein ignoriert wird, werden auch die sozialen Positionen, Privilegien, Hegemonien und Rhetoriken verleugnet, die daran gebunden sind. Weißsein behält dadurch seinen Status als «unmarkierter Markierer» (Frankenberg) und «unsichtbar herrschende Normalität» (Ursula Wachendorfer) bei.
Weißsein ist ein kollektives Erbe des Rassismus. Es geht weder um Schuldzuschreibungen noch um Sühne, sondern darum, anzuerkennen, dass Rassismus – analog zum Patriarchat im Falle der Geschlechterkonzeptionen – ein komplexes Netzwerk an Strukturen und Wissen hervorgebracht hat, das uns sozialisiert und prägt. Freiheit und Unabhängigkeit von durch Patriarchat oder Rassismus erzeugten Strukturen und Diskursen sind bislang nur Utopie.
6. Was ist anti-Schwarzen Rassismus? Werden Afrika, Afrikaner_innen oder Menschen afrikanischer Herkunft diskriminiert, so bezeichnet man dies häufig als anti-Schwarzen Rassismus. Afrika und Schwarze werden zur Projektionsfläche weißer europäischer Fantasien. So beinhaltet die an afrodeutsche Menschen gerichtete Frage «Wo kommst du her?» tendenziell die Grundannahme, dass sie «afrikanisch» seien, und zugleich die Weigerung, sie als deutsch, das hier synonym mit weiß verstanden wird, anzusehen. Es liegt im Wesen des anti-Schwarzen Rassismus zu postulieren, dass es eine Norm(alität) von Körperlichkeit und Lebenskultur gebe und dass sich diese Norm im Europäischen und seinem Weißsein ausdrückt. Umgekehrt reduziert der anti-Schwarzen Rassismus Afrika und Schwarze Menschen darauf, genau das Gegenteil, ja, die Negation all dessen zu sein, wofür sich ein als genuin weiß verstehendes Europa hielt und hält: nicht zivilisiert, sondern barbarisch; nicht organisiert, sondern chaotisch; nicht vernunftgeleitet, sondern emotional/irrational gesteuert; kurzum: nicht überlegen, sondern unterlegen; nicht normal, sondern anders. Afrika gilt als Natur, was auch die Abwesenheit, ja, Negation von Kultur beinhaltet. Deswegen werden Sprachen in Afrika von Europäer_innen oft als Dialekte bezeichnet und ebenso wie afrikanische Literaturen oder afrikanische Religionen nicht ernst genommen. Dabei bilden Exotisierung und Dämonisierung zwei Seiten derselben Medaille.
Exotisierung unterstellt Schwarzen, dass sie naturverbunden, gefühlsorientiert und körperbetont seien, gut tanzen, singen und schnell laufen könnten. Im Muster der Antithese sagt das viel darüber aus, was sie nicht (gut) können: komponieren, rechnen oder denken. Wie stark Rassismus immer auch sexistisch aufgeladen ist, zeigt sich an der erotisierenden Rhetorik der Fantasien, die Schwarzen unterstellen, sie seien sexuell hyperaktiv. Dies drückt sich nicht zuletzt darin symbolisch aus, dass behauptet wird, ihre Geschlechtsorgane seien unnormal groß. Zur rassistischen Erotisierung des Schwarzen Körpers gehört auch die Unterstellung, Schwarze Männer trachteten stets nur danach, weiße Frauen zu vergewaltigen – während die Vergewaltigung unzähliger versklavter Afrikanerinnen von weißen Männern lange Zeit nicht einmal als solche galt oder geahndet wurde. Nicht nur werden die eigenen Taten auf den Schwarzen Körper projiziert, zudem lässt diese Phobie die Angst vor Schwarzem Widerstand und davor erkennen, dass Schwarze als weiß deklarierte Lebenswelten und Territorien penetrieren. Dass dieser erotisierende Exotismus selbst vor dem Tod keinen Respekt kennt, zeigt Gloria von Thurn und Taxis’ schwindelerregend ungebildeter Ausspruch, in Afrika sei AIDS so weit verbreitet, weil Afrikaner_innen so gerne «schnackseln».
Die Dämonisierung hat Frantz Fanon (1925–1961) auf die Formel gebracht, Afrika werde als «Quintessenz des Bösen» und «Feind aller Werte» konstruiert, um dem Kontinent vermeintlich legitimiert weiße Kontrolle, Züchtigung und Gewalt antun zu können. Afrika kenne nur Tyrannei. Zum Wohle dieses Irrtums brachte die kolonialistische Sprache ganz verschiedene gesellschaftliche Strukturen auf die Vokabel «Stamm» und wurden alle Herrscher_innen abwertend und undifferenziert als «Häuptlinge» bezeichnet, während soziale und politische Strukturen zerstört und gesellschaftliche Dynamiken unter koloniale Kontrolle gestellt wurden, nur um im selben Atemzug zu unterstellen, dass es in Afrika weder Geschichte noch Zukunftsvorstellungen gebe. Selbst Kriege in der afrikanischen Geschichte werden in Europa anders bewertet (z.B. als «Stammesfehde») als Kriege in Europa. Bis heute gilt Afrika als Synonym für Diktatur und Korruption, fast so, als gäbe es Diktatur und Korruption nicht auch in Europa.
7. Was ist Antisemitismus?