Otfried Höffe
Geschichte des politischen Denkens
Zwölf Porträts und acht Miniaturen
C.H.Beck
Unsere heutige politische Ordnung ist nicht nur das Ergebnis von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Sie ist wesentlich von dem Denken geprägt, das diese Entwicklungen bald kommentiert, bald kritisiert, bald auch provoziert. In zwölf Porträts und acht Miniaturen stellt der Philosoph Otfried Höffe die großen politischen Denker von der Antike bis ins 20. Jahrhundert vor.
So sehr sich die politischen Verhältnisse gewandelt und die Debatten sich geändert haben – viele Fragen sind die gleichen geblieben, auch wenn sie sich in neuem Zusammenhang stellen: Wie funktioniert ein Gemeinwesen; welche Strukturen und Hierarchien herrschen in ihm vor? Wie erwirbt man Macht; wie erhält oder stürzt man sie? Unter welchen Bedingungen ist politische Herrschaft gerecht? Solche Fragen haben sich schon Platon und Aristoteles, Machiavelli und Hobbes, Kant und Hegel gestellt. Ihre Werke wenden sich nicht bloß an akademische Zunftgenossen, sondern ebenso an die Öffentlichkeit ihrer Zeit. Und dank der Originalität, Radikalität und Konsequenz ihrer Gedanken sind zahlreiche Begriffe, Prinzipien und Argumentationsfiguren dieser Denker bis heute aktuell.
Otfried Höffe lehrte u.a. in Fribourg, Zürich, Sankt Gallen und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet. Bei C.H.Beck erschien zuletzt: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015). Höffe ist Träger des Bayerischen Literaturpreises (Karl-Vossler-Preis) für wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.
Vorwort
Einleitung: Die lange Vorgeschichte
1. Platon (428/27–348/47 v. Chr.) – Soll der Philosoph König sein?
1.1 Ein hochgebildeter Aristokrat
1.2 Drei Leitmotive: Apologie, Kriton und Protagoras
1.3 Politeia 1: ein Argumentationsdrama
1.4 Ideenlehre
1.5 Politeia 2: Philosophenherrschaft
1.6 Politeia 3: Die Geburt der Herrschaft aus der Unersättlichkeit
1.7 Politische Ökonomie
1.8 Wie politisch ist die Politeia?
1.9 Zweitbeste Herrschaft: Politikos und Nomoi
1.10 Rückfragen
2. Aristoteles (384–322 v. Chr.) – Der Mensch – ein politisches Tier
2.1 Zwischen Platon und Aristoteles
2.2 Aristoteles: Das unruhige Leben eines Universalgenies
2.3 Der Meister aller Wissenden
2.4 Produktive Platon-Kritik
2.5 Politik und Ethik
2.6 Ethische Grundbegriffe des Politischen
2.7 Theoretisches oder politisches Leben?
2.8 Die Politik
2.9 Politische Anthropologie
2.10 Bürgerstaat, nicht Demokratie?
2.11 Elementare Ungleichheiten
2.12 Ein Blick in die Wirkungsgeschichte
Zwischenspiel – Anfänge eines Kosmopolitismus?
3. Cicero (106–43 v. Chr.) – Politisches Denken in Rom
3.1 Politiker und Philosoph
3.2 Vom Gemeinwesen
3.3 Knappe Bilanz
3.4 Von den Gesetzen
3.5 Zur Nachwirkung
Zwischenspiel – Politisches Denken im Neuen Testament
4. Augustinus (354–430) – Jerusalem statt Babylon
4.1 Vom Rhetoriklehrer zum Kirchenvater
4.2 «Außerhalb der Kirche kein Heil»
4.3 Göttliches statt weltlichem Reich
4.4 Die Weltgeschichte als Heilsgeschichte
4.5 Eine eschatologische Friedenstheorie
4.6 Ein eschatologischer Staatsbegriff
4.7 Kriterien eines gerechten Krieges
4.8 Politische Bedenken gegen den eschatologischen Dualismus
4.9 Zur Wirkungsgeschichte
Zwischenspiel – Islam – Hellenisierung einer politischen Religion
5. Abū Nāsr al-Fārābī (um 870–950) – Islamische Philosophenherrschaft
5.1 Der vortreffliche Staat
5.2 Der vortreffliche Herrscher
5.3 Aphorismen des Staatsmannes
5.4 Weitere politische Denker
Zwischenspiel – Weltliche kontra geistliche Gewalt
6. Thomas von Aquin (1224/5–1274) – Der gute Fürst
6.1 Ein gelehrter Bettelmönch
6.2 Ein universales Werk
6.3 Säkulare Theozentrik
6.4 Ethischer Hintergrund der Politik
6.5 Recht, Gesetz und Gerechtigkeit
6.6 Gerechter Krieg?
6.7 Über die Herrschaft von Fürsten
6.8 Versuch einer Bilanz
6.9 Zur Wirkung
7. Dante Alighieri (1265–1321) – Weltmonarchie
7.1 Ein neues Szenarium
7.2 Dante: Ein vogelfreier Dichter
7.3 Politisches Denken in der Göttlichen Komödie
7.4 Volkssprache und demokratisches Gastmahl
7.5 Weltmonarchie
7.6 Kurzbilanz
8. Marsilius von Padua (1275/80–1342/43) – Säkulare Friedenstheorie
8.1 Politikberater und Arzt
8.2 Der Verteidiger des Friedens
8.3 Sechs zukunftsweisende Gedanken
Zwischenspiel – Wilhelm von Ockham – Ein politisches Sparsamkeitsprinzip
9. Niccolò Machiavelli (1469–1527) – Provisorische Amoral
9.1 Denker in Zeiten des Umbruchs
9.2 Der Fürst: Unmoral in fürstlichen Diensten
9.3 Amoral aus politischer Verantwortung
9.4 Erörterungen: Republikanismus?
9.5 Bewunderung und Dämonisierung
Zwischenspiel – Politische Utopie, christlicher Fürstenspiegel, Völkerrecht
10. Thomas Hobbes (1588–1679) – Politik in Zeiten der Bürgerkriege
10.1 Denker in Zeiten des Bürgerkrieges
10.2 Leviathan – ein biblisches Ungeheuer
10.3 Gedankenexperiment Naturzustand
10.4 Moralische Naturgesetze und Unterwerfungsvertrag
10.5 «Nicht Wahrheit, sondern Autorität»
10.6 Religion und Kirche
10.7 Hochachtung und Hass
10.8 Hobbes’ Aktualität
11. Baruch de Spinoza (1632–1677) – Rationalismus der Freiheit
11.1 Mit einem Bannfluch leben
11.2 Radikaler Rationalismus
11.3 «Der Zweck des Staates ist die Freiheit»
11.4 Wider theologische und politische Vorurteile
11.5 Ein früher Aufklärer
11.6 Von der Anfeindung zur Berühmtheit
12. John Locke (1632–1704) – Erzvater des Liberalismus
12.1 Arzt und Philosoph
12.2 Erkenntnistheoretische Grundlage: Empirismus
12.3 Toleranz, aber nicht uneingeschränkt
12.4 Zwei Abhandlungen über die Regierung
12.5 Natürliche und bürgerliche Freiheit
12.6 Naturzustand und Gesellschaftsvertrag
12.7 Politische Ökonomie: Eigentum und Arbeit
12.8 Gewaltenteilung, Legalitätsprinzip, Widerstandsrecht
12.9 Die künftige politische Elite erziehen
Zwischenspiel – Europäische Aufklärung
13. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) – «Frei geboren und doch in Ketten»
13.1 «Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst»
13.2 Gnadenlose Zivilisationskritik
13.3 Die doppelte Ursünde: Privateigentum und Staat
13.4 Politische statt natürliche Freiheit
13.5 Der Gemeinwille
13.6 Bürgerreligion
13.7 Ein europäischer Völkerbund
13.8 Kindgerechte Erziehung
13.9 Unser aller Vater
14. Alexander Hamilton (1757–1804),
John Jay (1745–1829),
James Madison (1751–1836) – Die geistige Grundlage einer konstitutionellen Demokratie
14.1 Ein genuin politisches Denken
14.2 Vorgeschichte
14.3 Eine konstitutionelle Demokratie
14.4 Zur politischen Anthropologie
14.5 Zur Wirkungsgeschichte
15. Immanuel Kant (1724–1804) – Der Weltbürger aus Königsberg
15. 1 Ein Alleszermalmer?
15.2 Ein reines Vernunftrecht
15.3 Ein kategorischer Rechtsimperativ
15.4 Ein Kriterium für Menschenrechte
15.5 Das Privatrecht: Eigentum
15.6 Das öffentliche Recht: Der liberale Rechtsstaat
15.7 Die Kriminalstrafe
15.8 Zum ewigen Frieden
15.9 Die Politik als ausübende Rechtslehre
15.10 Zur Wirkung
Zwischenspiel – Deutscher Idealismus
16. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) – Kampf um Anerkennung
16.1 Vom Tübinger Stift zur Berliner Professur
16.2 Spekulative Dialektik
16.3 Herrschaft und Knechtschaft
16.4 Rechts- und Staatsphilosophie
16.5 Die Wirklichkeit der sittlichen Idee
16.6 Die Weltgeschichte als Rechtsfortschritt
16.7 Verkürzter Kosmopolitismus
16.8 Zur Bedeutung
17. John Stuart Mill (1806–1873) – Liberalismus plus Utilitarismus
17.1 Philosoph, Beamter und Parlamentarier
17.2 Erkenntnistheoretischer Liberalismus
17.3 Ethik: Utilitarismus und Hedonismus
17.4 Sozialer Wirtschaftsliberalismus
17.5 Liberalismus in der Politik
17.6 Repräsentative Demokratie und Gleichstellung der Frau
17.7 Zur Wirkung
18. Karl Marx (1818–1883) – Kritik der politischen Ökonomie
18.1 Der lange Weg von Trier nach London
18.2 Entfremdung
18.3 Klassenlose, kommunistische Gesellschaft
18.4 Wissenschaftlicher Sozialismus
18.5 Versuch einer Beurteilung
19. Friedrich Nietzsche (1844–1900) – Antipolitik als Politik
19.1 Vom Pfarrerssohn zum aristokratischen Rebellen
19.2 Ohne Sklaven keine Kultur
19.3 Lebensdienliche Geschichte und Wille zur Macht
19.4 Sozialismus, Demokratie, Judentum
19.5 Umwertung aller Werte
19.6 Vorbild: Gerechtigkeit
19.7 Zur Geburt des Staates
19.8 Zu Nietzsches Wirkungsmacht
Zwischenspiel – Herrschaftstypologie und Begriff des Politischen
20. John Rawls (1921–2002) – Politische Gerechtigkeit
20.1 Ein einziges Lebensthema
20.2 Eine religiöse Frühphase
20.3 Gerechtigkeit als Fairness
20.4 Zwei Gerechtigkeitsprinzipien
20.5 Nutzenkalkulation und Überlegungsgleichgewicht
20.6 Wohlgeordnete Gesellschaft und überlappender Konsens
20.7 Völkerrecht: Die Idee einer Weltgemeinschaft
20.8 Klarstellungen und Versuch ihrer Bewertung
20.9 Rawls als Philosophiehistoriker
20.10 Eine Kurzbilanz
Ausblick: Weltrechtsordnung
Literatur zur Vertiefung
Personenregister
Sachregister
Fußnoten
Für Evelyn –
denn die Politik beginnt
in der Familie
Große politische Denker sind nicht einfach vergangene Gestalten, die nur noch in einer historischen Bildung und den ihr dienenden Bibliotheken einen Platz verdienen. So sehr sich nämlich die politischen Verhältnisse wandeln und die Debatten darüber sich ändern – die entscheidenden Fragen können die gleichen bleiben, auch wenn sie sich in neuem Zusammenhang und mit unterschiedlichem Schwerpunkt anders darstellen: Was ist ein Gemeinwesen; wie funktioniert es; welche Strukturen, welche Institutionen mit welchen Hierarchien und welche Art von Regierenden herrschen vor: tatsächlich, sinnvollerweise oder idealiter? Ferner: Wie gründet man ein Gemeinwesen; wie gelangt man an die Macht; wie erhält man oder wie stürzt man sie? Dabei stehen erneut teils empirische, teils normative, nicht zuletzt vorbildliche Verhältnisse im Vordergrund. Denn die Politik ist nicht bloß eine Frage von Macht, sondern auch eine von Visionen. So gut wie alles politische Denken beruht nämlich letztlich oft ausdrücklich, gelegentlich mitlaufend auf dem Entwurf einer besseren sozialen und politischen Welt.
In Krisenzeiten, die unsere von Konflikten gezeichnete politische Welt wieder einmal erlebt, stellen sich all diese Fragen mit zunehmender Dringlichkeit. Hinzu kommt die Einsicht, dass die heutigen Gegebenheiten nicht bloß von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen abhängen. Sie sind auch wesentlich von den Denkern geprägt, die diese Entwicklungen bald kommentierend, bald kritisierend, bald auch provozierend begleitet haben. Denn ihre Werke wenden sich nicht bloß an akademische Zunftgenossen, sondern ebenso an die Öffentlichkeit. Im Bewusstsein ihrer Bedeutsamkeit haben sie beide Dimensionen im Blick, nicht nur die Gegenwart, sondern ebenso die Zukunft, nicht zuletzt die dritte Dimension: dank entsprechender Kenntnis die Vergangenheit.
Mit hohem Selbstbewusstsein erklärt Karl Marx in der letzten, der Elften These über Feuerbach: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.» Dieses Interesse verfolgt nicht erst Marx, sondern so gut wie jeder politische Denker vor und nach ihm. Fraglos haben sie alle Erfolg. Sie haben tatsächlich die Welt verändert, zunächst die Welt des Denkens, nicht selten auch die soziale und politische Welt selbst. Dank der Originalität, Radikalität und Konsequenz ihrer Gedanken enthalten sie jedenfalls sowohl Fragen als auch Begriffe, sowohl Prinzipien als auch Argumentationsfiguren, die bis heute aktuell sind.
Diese Geschichte des politischen Denkens verfolgt daher zwei Ziele. Sie will zum einen an die Herkunft erinnern, der sich das heutige politische Denken, auch die politische Welt selbst bald ausdrücklich, bald stillschweigend verdankt. Dabei versucht sie, die Gegenwart durch Einblicke in Kontraste, aber auch in Gemeinsamkeiten zu verstehen. Zum anderen stellt sie Diagnosen und Therapievorschläge mitsamt deren Begriffen und Denkfiguren vor, die zwar nicht einfachhin zu übernehmen sind, von denen aber immer noch viel zu lernen ist, vorausgesetzt, sie werden vielerlei Missverständnissen und Verwirrungen enthoben. Dazu gehört, was der Lesbarkeit nicht geopfert werden darf: die «Anstrengung des Begriffs».
Im Laufe der Jahre habe ich mich mit vielen Phasen des politischen Denkens befasst. Daraus entstand der hier realisierte Wunsch, teils unter Rückgriff auf frühere Überlegungen, eine «Geschichte des politischen Denkens» zunächst in einer Vorlesungsreihe (im Tübinger Wintersemester 2015/16) von zwölf Porträts («von Platon bis John Rawls») vorzutragen und sie schließlich, um acht Miniaturen und einige Mini-Porträts erweitert, zu veröffentlichen.
Gemäß den Stichworten «Porträts» und «Miniaturen» räume ich den Denkern ein unterschiedliches Gewicht ein. Dass dabei persönliche Vorlieben mitschwingen, muss einer Geschichte des politischen Denkens nicht zum Nachteil gereichen. Dasselbe dürfte auf eine weitere Eigenart zutreffen, die Beschränkung auf jene unstrittig Großen, die wegen ihrer zeitübergreifenden Gedanken wahrhaft «Geschichte gemacht» haben. Das bedeutet nicht, dass ihr Denken außerhalb ihrer Zeit und deren politischen Verhältnissen entstanden wäre. Um diesem Missverständnis entgegenzutreten, erinnere ich jeweils in gebotener Kürze an den geschichtlichen Kontext.
Hinzu kommen zwei weitere Intentionen, auch wenn sie aus Platzgründen nur zurückhaltend verfolgt werden können. Ideengeschichtlich sollen sowohl einige Entwicklungs- und Verbindungslinien aufgespürt als auch da und dort Zusammenhänge wahrgenommen, nicht zuletzt die Wirkungsgeschichte angedeutet werden. In philosophischer Hinsicht hingegen sollen Begriffe und Argumente nicht bloß genannt, sondern gelegentlich auf ihre Tragweite hin geprüft werden. Um den Leser zu eigenen Studien, auch zum eigenen Denken anzuregen, schließt jedes Kapitel mit Lektüreempfehlungen zu den klassischen Texten. Über Literaturhinweise am Ende des Buches lässt sich das Eigenstudium erweitern und vertiefen.
Ohne Zweifel findet politisches Denken nicht nur im Abendland, sondern in allen Kulturen statt. Überdies verdienen nicht erst heute, in Zeiten der Globalisierung, andere Kulturräume, von uns kennengelernt und im Fall systematischer Debatten in interkulturelle Diskurse eingebunden zu werden. In einer globalen Welt ist ethnozentrische Genügsamkeit unangebracht. Die Achtung des anderen und der anderen gebietet aber, sich um hinreichende Sprach- und Fachkenntnisse zu bemühen und mit ihrer Hilfe nicht nur zum Beispiel arabische, chinesische und japanische Quellen, sondern auch die aus Afrika, Indonesien Malaysia, den Indianerkulturen usw. zu studieren. Da mir die erforderlichen Kenntnisse für nichtokzidentale Kulturen fehlen, beschränke ich mich auf das Abendland – mit einer Ausnahme. Ich berücksichtige einen der klassischen islamischen Denker, da er wie andere seines Kulturraums im Diskurs mit der aus Griechenland stammenden Tradition politischen Denkens steht.
Eine andere Beschränkung: Ich behandele nur Autoren, die nicht mehr unter den Lebenden weilen, denn deren Einschätzung und Wertschätzung erlaubt eine größere Objektivität. Hingegen werden nicht nur Philosophen behandelt. Denn wie vom Gegenstand nicht anders zu erwarten, ist politisches Denken keine Domäne, die den Philosophen, schon gar nicht eine, die akademischen Lehrern vorbehalten ist. Augustinus, Thomas von Aquin und al-Fārābī sind auch Theologen, Dante ein Dichter, Machiavelli ein politischer Intellektueller, und ein maßgeblicher Autor der Federalist Papers, Hamilton, ist ein aktiver Politiker. Gemeinsam ist ihnen das Interesse, die politische Welt zu begreifen und über den Weg des Begreifens Einfluss zu nehmen.[1]
Wieder darf ich danken: dem Tübinger Publikum, meinen engagierten Mitarbeitern, für hilfreiche Kommentare Dr. Moritz Hildt und der großzügigen Fritz-Thyssen-Stiftung.
Tübingen, im Frühjahr 2016 |
Otfried Höffe |
Gemeinwesen sind für die Menschen so wesentlich, dass sie sehr früh zum Gegenstand ihrer Überlegungen werden, in die wiederum politische Interessen eingehen. Kein Kulturraum kann sich hier eines Exklusivrechts und kein politischer Denker einer uneingeschränkten politischen Neutralität rühmen. Im Gegenteil finden wir politisches Denken mit politischem Interesse, also ein im emphatischen Sinn politisches Denken, in vielen Kulturen und Epochen. Exemplarisch sei das klassische China genannt, das in den Zeiten schwerer politischer Krisen des 6. bis 3. Jahrhunderts v. Chr. drei einflussreiche Richtungen hervorbringt: den sozial engagierten, eher konservativen Konfuzianismus, den gesellschaftskritischen Daoismus und den «rechts- und staatsfrommen» Legismus bzw. Legalismus.
Obwohl also vielerorts politische Überlegungen entstehen, beginnt das politische Denken im engeren Sinn bei den Griechen. Dieser Behauptung liegt kein ungebührlicher Ethnozentrismus zugrunde. Sie trifft vielmehr in einem wörtlichen Sinn zu: Die in alle europäischen Sprachen eingegangenen, so gut wie unübersetzbaren Fremdwörter der «Politik», des «Politischen» und der «Politiker» gehen nicht bloß auf die antiken Griechen zurück. Sie beziehen sich auch auf die von ihnen erfundene Form eines Gemeinwesens, die Polis. Nicht zuletzt setzen erst die Griechen die Verfasstheit ihres Gemeinwesens einem streng methodischen Denken aus. Dieses Denken, eine von Begriffen und Argumenten getragene Reflexion, ist zu einem Vermächtnis geworden, das mittlerweile, im Zuge einer kulturellen Globalisierung, in aller Welt studiert wird.
Die griechischen Gemeinwesen wie Athen, Korinth und Theben sowie viele Dutzend weitere Einheiten waren nach heutigen Verhältnissen klein: ummauerte Städte, oft nur Städtchen, mit einem dazugehörigen Stück Land. Diese Stadtrepubliken, Poleis, sprechen wir gern als Demokratien an. Für sie selbst ist etwas anderes entscheidend: die isonomia, eine politische Ordnung (-nomia) rechtlicher und politischer Gleichheit (iso-). Diese ermöglicht den Bürgern eine politische Selbstorganisation, deren Grad an Bürgerbeteiligung wohl von keiner späteren Demokratie je wieder erreicht wird. Gleichberechtigt sind allerdings nur die Bürger im engen und strengen Sinn, nicht die Frauen, ohnehin nicht die Sklaven, auch nicht jene Bürger anderer griechischer Gemeinwesen, die niedergelassenen Ausländer, die Metöken («Beisassen»), zu denen in Athen auch Aristoteles gehört.
Der Grieche findet jedenfalls seine Identität in erster Linie als Bürger seiner Polis. «Politik» heißt, was in seiner Polis geschieht: unter seinen Augen, unter seiner Mitwirkung und ohne besondere Experten. Die griechische Polis kennt weder ein Parlament mit gewählten Abgeordneten noch professionelle Politiker, Parteien oder einen Juristenstand. Erst an zweiter Stelle fühlt sich der Grieche als Hellene, der mit den anderen Hellenen durch die Sprache, die Religion, die reiche Literatur, das Orakel von Delphi und «Nationalfeste» wie die Olympischen, die Pythischen, Nemeischen und Isthmischen Wettkämpfe, nicht zuletzt durch das Militärbündnis gegen Persien verbunden ist.
Die Träger dieses politischen Denkens sind nicht wie in anderen Kulturen charismatische Propheten oder Priester, auch keine Richter, ohnehin keine Universitätsdozenten. Es sind zunächst die Dichter. In allen Schichten bekannt und anerkannt, gehören die Epen von Homer, die Ilias und die Odyssee, und Hesiods Theogonie («Götterentstehung») zur kulturellen Bildung jedes Griechen. In ihnen spielen göttliche Mächte eine herausragende Rolle. Die Rechtsordnung gilt als sakral, zugleich als Vorbedingung humanen Lebens und bedarf wegen ihres göttlichen Ursprungs keiner kritischen Reflexion.
Weitere Orte politischer Überlegungen sind die von Chorlyrikern wie Simonides und Pindar verfassten Preislieder auf Götter und Menschen. Sie werden vor der gesamten Bürgerschaft vorgetragen, so wie die Tragödien eines Aischylos, etwa die Orestie und die Perser, die eines Sophokles mit der Antigone und Euripides’ Medea vor der ganzen Stadt aufgeführt werden. Auch in dieser Hinsicht, der allgemeinen Kenntnis ihrer großen Literatur, dürfte das politische Denken der Griechen weit demokratischer als das aller Nachfolger sein.
Einen aristokratischen, vornehmlich bildungsaristokratischen Zug bringen erst professionelle Wanderlehrer herein, die Sophisten, ferner Geschichtsschreiber wie Herodot und Thukydides. Die Sophisten wie Gorgias (483–374 v. Chr.) und Protagoras (481–411 v. Chr.), nach Sokrates angeblich Wortverdreher, sind in Wahrheit in einer Person Aufklärer, Gelehrte und Intellektuelle und werden als solche hochgeachtet. Einer Gesellschaft, die weder Schulen noch Hochschulen kennt, bieten sie ihre Dienste gegen Honorar an. Wegen der Herausforderungen ihrer Zeit, wegen sozialer und politischer Strukturveränderungen, stellen sie nicht mehr das geordnete All, den Kosmos, sondern jetzt den Menschen in den Mittelpunkt: sein Reden und Handeln, sein Gemeinwesen und die Rechtfertigung politischer Macht. Sie entdecken dabei den agonalen, auf den Sieg der eigenen Sache ausgerichteten Charakter der Rede.
Dafür, für die Sprache als Machtinstrument, entwickeln sie eine für die demokratische Politik unerlässliche Kunst, die der Argumentation und Rhetorik. Sie erleichtert ihren Schülern, der wohlhabenden Jugend, in der Volksversammlung und vor Gericht erfolgreich aufzutreten. Auf die Sophisten geht die für das politische Denken seitdem entscheidende Frage nach der Alternative von Naturrecht und bloß positivem Recht zurück: Gibt es für das Recht und die politische Ordnung etwas, das «von Natur aus» (physei), das heißt, für alle Menschen und alle Zeiten, gilt und ihrer Verfügung entzogen ist? Oder verdanken sich alle Verbindlichkeiten der Gewohnheit und (willkürlichen) Vereinbarung einer bloß positiven Satzung (nomô)?
Der Weg zu den ersten veritablen Philosophen des Politischen, zu Platon und Aristoteles, ist also lang. Es ist ein Glücksfall, dass sie, zwei der überhaupt größten Denker der Menschheit und Kirchenväter der abendländischen Philosophie, auch überragende politische Denker sind. Ihre Überlegungen entfalten sie auf einem derart hohen begrifflich-argumentativen Niveau, dass das nachfolgende politische Denken zu einem Großteil aus Fußnoten zu Platon und Aristoteles besteht.
Zu den Gründen der überragenden Bedeutung gehört nicht nur der Vorlauf von vier Jahrhunderten politischen Denkens. Platon und Aristoteles verfügen auch über einen ungewöhnlichen Reichtum an politischer Erfahrung: Sie kennen die vielfältigen Wandlungen der Athener Verfassung, zusätzlich die Verhältnisse anderer griechischer Gemeinwesen. Sie haben die zahlreichen griechischen Koloniegründungen im Blick, die zugleich Experimentierfelder der Politik waren. Schließlich sind ihnen die Verhältnisse der Perser und der Meder sowie die von Karthago vertraut, was ihnen eine einzigartige Verbindung von Empirie und «Theorie» ermöglicht.
Ein Defizit fällt auf: Die «nicht-politischen» Ordnungen bleiben so gut wie unberücksichtigt. Weder die Stammesverbände (Ethnien) Griechenlands noch die wichtigen Kultverbindungen (Amphiktyonien) und Kriegsbündnisse (Symmachien) nehmen einen wesentlichen Raum ein; die praktizierte panhellenische Solidarität spielt in der politischen Theorie von Platon und Aristoteles eine geringe Rolle. Infolgedessen kommen die schon damals möglichen Ansätze zu kurz, das Denken auf jene größeren und offeneren Lebensverhältnisse auszurichten, die später in den hellenistischen Reichen und vor allem heute, dank der industriellen und der bürokratischen Revolution, der Bevölkerungsexplosion und der neuen Kommunikationsmittel, unübersehbar sind.
Nicht zuletzt ist an eine weitere Eigenart zu erinnern: Mit ihrer Neigung, die «öffentlichen» und die «privaten» Angelegenheiten eng zusammenzurücken und die Selbstverwirklichung in der agonalen Mitarbeit an der politischen Gestaltung zu suchen, ist die Polis in erster Linie eine Personengemeinschaft. Anders als heute hat für sie der Bereich des Politischen mehr Lebenswelt- als Systemcharakter; und von einer Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat kann keine Rede sein.