Alexander Emmerich
John Jacob Astor
Der erfolgreichste deutsche Auswanderer
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© 2009 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Kartographie: Peter Palm, Berlin
Redaktion: Ricarda Berthold, Freiburg
Satz und Gestaltung: primustype Hurler, Notzingen
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-8062-2265-4
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Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-2345-3
eBook (epub): ISBN 978-3-8062-2346-0
EINLEITUNG
HERKUNFT (1763–1780)
Familie und Jugend
Der Entschluss zur Auswanderung
INSTRUMENTENBAUER (1780–1784)
Lehrjahre in London
Nach Amerika!
EINWANDERER (1784–1800)
Ankunft in New York
Auf Indianerpfaden in die Wildnis
Familie und gesellschaftliches Netzwerk
VISIONÄR (1800–1815)
Einstieg in den Chinahandel
Ausbau der Immobiliengeschäfte
Die Gründung der American Fur Company
Astoria, Oregon
Der Krieg von 1812 und der Verlust des Außenpostens
Astor und der Friedensvertrag von Gent
GLOBAL PLAYER (1815–1834)
Der Aufbau der Second Bank of the United States
Wirtschaftsmagnat
Rückkehr nach Europa
Expansion in den Wilden Westen
Rückzug
NEW YORKER (1834–1848)
The Astor House
Washington Irvings Astoria
Wirtschaftskrise und Einwanderungsströme
Alter und Tod
Testament und Nachleben
INS RECHTE LICHT GERÜCKT – EIN RESÜMEE
ANHANG
Nordamerika um 1812
Zeitleiste
Stammbäume
Bibliographie
REGISTER
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Auf die Frage, was zu dem Namen „Astor“ einfällt, erhält man vielfältige Antworten. Häufig werden Verbindungen zur Populärkultur hergestellt: Hieß das Kino in der ARD-Serie Lindenstraße nicht so, und eines der Traumschiffe des ZDF? Wer sich näher mit der Kinowelt auskennt, nennt vielleicht die bis 1956 existierende amerikanische Filmproduktionsgesellschaft Astor Pictures oder die Schauspielerin Lucile Langhanke, deren Karriere erst begann, als sie sich 1921 den Künstlernamen Mary Astor gab. Auch Margret kommt in den Sinn, Kosmetik aus dem Hause Astor. Oder die Zigarettenmarke Astor mit der eleganten roten Packung. War da nicht ein John Jacob Astor IV., der im Jahr 1912 beim Untergang der Titanic starb?
Was aber den meisten nach kurzem Nachdenken einfällt, ist das Waldorf-Astoria, das berühmte Hotel – und man taucht in Gedanken ein in den Glamour und die Eleganz der New Yorker Schönen und Reichen. In allen bedeutenden Städten der Welt trifft man heute auf Nachahmer, die sich im Glanz dieses Namens sonnen. Leuchtende Augen bekommen auch diejenigen, die schon in New York waren: Astor Place, Astor Boulevard, der Stadtteil Astoria, die ehemalige Astor-Library – der Name weckt Erinnerungen. Auch heißen viele Städte in den USA Astoria. Aber manche kennen auch das süddeutsche Städtchen Walldorf bei Heidelberg. Hier ist der Name allgegenwärtig: das Astorhaus, die Johann-Jakob-Astor-Straße, der örtliche Fussballverein FC-Astoria Walldorf.
Und damit sind wir schon mitten in der Geschichte, haben quasi die geographischen Eckpunkte gesetzt. Die Astors waren eine New Yorker Familie, die zusammen mit den Rockefellers, Vanderbilts, Morgans und Carnegies im Gilded Age, dem von Mark Twain so betitelten vergoldeten Zeitalter, am Ende des 19. Jahrhunderts den Geldadel der Metropole ausmachten. Sie lebten dort wie diesseits des Atlantiks die europäischen Fürsten, genossen ihren Reichtum, förderten Kunst und Kultur und kümmerten sich ebenso um soziale Belange. Aber die Astors waren mehr als das, sie waren die erste Familie, die diesen legendären Status der Superreichen erlangte. Doch woher kamen sie? Wo liegt der Ursprung dieser Dynastie? Und woher kam ihr immenser Reichtum?
Der Wohlstand der Astors geht auf den Stammvater der Familie zurück: Johann Jacob Astor (1763–1848). Er war nahezu mittellos aus Walldorf bei Heidelberg nach Amerika ausgewandert. Und als er starb, hinterließ er neben Aktien, zwei Hotels, einem Theater und unzähligen bebauten und unbebauten Grundstücken auf Manhattan die für die damalige Zeit unvorstellbare Summe von 20 Millionen Dollar. Das Forbes Magazine berechnete für das Vermögen und den Besitz zum Zeitpunkt seines Todes den heutigen Gegenwert von 110 Milliarden Dollar. Somit kann Astor als der viertreichste Amerikaner aller Zeiten gelten, doppelt so reich wie Microsoft-Gründer Bill Gates.
Nie zuvor hatte ein amerikanischer Einwanderer einen vergleichbar steilen Aufstieg erlebt, niemand hatte vor ihm annähernd so viel Geld – und niemand konnte sich ein derartiges Vermögen vorstellen. Johann Jacob Astor ist dabei keinem Vorbild gefolgt, weil es schlicht und einfach vor ihm keine vergleichbare Karriere gegeben hatte. Weder die Idee noch der Begriff des American Dream existierten, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten war noch nicht als solches benannt, die Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär beschrieb Horatio Alger erst in den 1860 er Jahren – zwei Jahrzehnte nach Astors Tod. Selbst der Gebrauch des ursprünglich französischen Wortes millionaire ist für die Vereinigten Staaten erst für die 1840 er Jahre belegbar, als Astor bereits ‚Multimillionär‘ war. Er hatte seinen amerikanischen Traum von Aufstieg und wirtschaftlicher Freiheit verwirklicht, bevor andere, Amerikaner wie Europäer, davon zu träumen begannen.
John Jacob Astor stand als erfolgreichster Geschäftsmann seiner Zeit natürlich im Licht der Öffentlichkeit. Obwohl ihm sein gutes Ansehen immer sehr wichtig war, wurde ihm nicht nur Bewunderung zuteil, der unglaubliche Reichtum forderte ebenso Kritik heraus. Nach seinem Tod gewannen Neid und Missgunst bis hin zur Diffamierung die Oberhand. Zu seinen Lebzeiten schilderten Autoren seine Karriere vom armen Einwanderer zu einer der führenden Persönlichkeiten der amerikanischen Wirtschaft noch weitgehend unkritisch und durchweg positiv. So zum Beispiel die Kurzbiographie von David Jacques aus dem Jahr 1844 im Hunt’s Merchant Magazine, einem der meistgelesenen Magazine dieser Zeit, oder die Darstellung seines Lebens von Moses Yale Beach in Wealth and Biography of the Wealthy Citizens of the City of New York von 1845. Danach entstand in der öffentlichen Wahrnehmung ein anderes Bild: Das Image des geizigen, alten Millionärs, wie er uns in der Figur des Ebeneezer Scrooge in der Erzählung A Christmas Carol von Charles Dickens begegnet. Als der berühmte englische Schriftsteller zum ersten Mal die USA bereiste, kam er auch nach New York, wo die High Society ihm einen rauschenden Empfang bereitete. Zu seinen Ehren wurde ein großer Ballabend sowie in den Wochen danach mehrere Dinner organisiert. Bei einem festlichen Abendessen am 19. Februar 1842 im City Hotel, dem ersten Hotel John Jacob Astors, lernte er den schon hochbetagten Mann persönlich kennen. Dickens zeigte sich während seines Aufenthaltes äußerst höflich und von der amerikanischen Lebensweise beeindruckt. Als er aber wieder nach England zurückgekehrt war, begann er, sich öffentlich in negativer Weise über New York City, die New Yorker Gesellschaft und die USA im Allgemeinen zu äußern. Neben mehreren antiamerikanischen Zeitungsartikeln veröffentlichte Charles Dickens nur wenige Monate nach seiner Rückkehr seine berühmt gewordene Weihnachtsgeschichte. Die Begegnung mit John Jacob Astor soll ihn zu der Geschichte des reichen, aber geizigen alten Mannes inspiriert haben, der durch den Geist der Weihnacht wieder zu Mitgefühl und Hilfsbereitschaft gebracht wird. Seither wurde dieses Image häufig in oberflächlichen Dokumentationen zu Astor, in Sammelbiographien von Millionären oder in populären Darstellungen bemüht. Warum geriet das zunächst positive Bild Astors in seinem Alter ins Wanken? Weshalb kehrte es sich nach seinem Tod Ende März des Jahres 1848 in sein Gegenteil? Welches Bild konnte sich in der Öffentlichkeit bis heute behaupten? Was trug die historische Forschung zur Wahrheit über John Jacob Astor bei?
Die New Yorker Tageszeitungen berichteten damals wochenlang über das Leben John Jacob Astors auf ihren Titelseiten. Mit der Veröffentlichung des Testaments in der New York True Sun am 30. März 1848 wurde die Höhe des Nachlasses bekannt, an der sich die Gemüter der New Yorker Öffentlichkeit erhitzten. Da nie zuvor eine solch unvorstellbare Summe vererbt wurde, mussten die ethischen Grundsätze und auch gesetzliche Reglementierungen erst ausdiskutiert werden. In einer Reihe von Artikeln wurden die Ideale des Republikanismus zum ersten Mal mit den Auswirkungen des Wirtschaftsliberalismus konfrontiert. Astor kam dabei schlecht weg, er wurde als geldgieriger Kapitalist und unrepublikanischer Geizhals dargestellt: „Er war tüchtig im Geldscheffeln, aber er war geizig und knauserig. Was er kriegen konnte, behielt er, und verschloss es bis zum Tag seines Todes.“ In einem Leitartikel vom 5. April gipfelten die Angriffe in der Forderung: Da der Verstorbene sein Vermögen mit Grundstücksspekulationen, also auf Kosten der New Yorker Bürger gemacht habe, müsse ein Großteil des Vermögens an die New Yorker Gesellschaft zurückfließen.
Nach einigen Wochen verebbte die Berichterstattung der New Yorker Zeitungen schließlich, die öffentliche Diskussion aber hielt an. Ein Jahr später diente Astor dem Father of American Education und Mitglied des Parlaments von Massachusetts, Horace Mann, in einem berühmt gewordenen Vortrag zum 29. Jahrestag der Boston Mercantile Library Association als Negativbeispiel, um eindringlich vor den Gefahren eines Millionenvermögens zu warnen: „Astor war der Bekannteste, der Vermögendste, und – berücksichtigt man seine unermesslichen Geldmittel – der Geizigste seiner Klasse in diesem Land. Nichts außer Unzurechnungsfähigkeit kann dies entschuldigen.“
Im Gegensatz dazu propagierten auf der anderen Seite des Atlantiks deutsche Auswandererzeitschriften das gesamte 19. Jahrhundert hindurch Astor stets als Paradebeispiel einer geglückten Auswanderung und erklärten seinen Erfolg durch seine ‚deutschen Tugenden‘. Dagegen stellte die Propaganda des Dritten Reichs Astor als ‚undeutsch‘ dar. Emil Bode charakterisierte die Familie in einer nationalsozialistischen Schrift gar als „Deutsche, die ihr Deutschtum aufgegeben haben“. Im Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums wird Astor vorgeworfen, er habe die Entfaltungsmöglichkeiten in den USA nur für seinen eigenen Machtgewinn und Wohlstand genutzt. Der „deutsche Betrachter [schaut] mit Schrecken und Trauer auf das Leben dieses Mannes“, bei dem der Autor „keine Verbindung zwischen dem Geist des deutschen Volkes und diesem Manne“ sah. Für so jemanden sei in der ‚Volksgemeinschaft‘ kein Platz. Seine Karriere diente der NS-Propaganda als Stereotyp für die Dekadenz der amerikanischen Plutokratie, um zu zeigen, dass die USA moralisch und ideologisch marode und geschwächt seien.
Von Historikern wurde Astor trotz seiner Berühmtheit kaum beachtet. Eine Ausnahme bilden die 1920/30 er Jahre, die Zeit der Großen Depression und der Weltwirtschaftskrise in Amerika. In jener Zeit erschien die zweibändige Lebensdarstellung Astors von Kenneth Wiggins Porter, einem Professor an der Harvard University. Allerdings stand in Porters Studie nicht die Person Astors, sondern vielmehr die Geschäftspolitik seiner Unternehmungen im Mittelpunkt. Diese wirtschaftsgeschichtlich ausgerichtete Biographie beruhte erstmalig nicht nur auf Anekdoten und Gerüchten, die in der Öffentlichkeit kursierten. Porter verwendete für seine Studie Geschäftspapiere sowie private und geschäftliche Briefwechsel. Die zweite wissenschaftliche Studie wurde im Jahr 1991 von John D. Haeger verfasst. Haeger konzentrierte sich mit seiner wirtschaftshistorischen Studie auf den Aufbau des Pelzhandels und die Immobiliengeschäfte Astors. Er führte somit die von Porter begonnene Arbeit fort und modernisierte die Darstellung von Astors unternehmerischen Aktivitäten. Auch in seiner Studie fehlen jedoch alle Aspekte, die über den reinen Gelderwerb Astors hinausgehen und seinen Weg als Einwanderer oder seinen gesellschaftlichen Aufstieg beschreiben.
In jüngster Zeit erschien in den USA noch das populärwissenschaftliche Buch des Bestsellerautors Axel Madsen. Diese Biographie aus dem Jahr 2001 beschäftigt sich zwar mit der Person Astors, bleibt dem historischen Astor aber so fern wie die meisten Veröffentlichungen. Madsen fügt den kolportierten Anekdoten einige historische Ereignisse hinzu, die jedoch für eine Lebensdarstellung Astors nicht relevant sind.
Im deutschsprachigen Raum ist Astor bislang meist übersehen worden. Es existiert lediglich eine Festschrift der Stadt Walldorf, die Herbert C. Ebeling im Jahr 1998 zum 150. Todestag Astors verfasste. Und 2007 erschien eine Gesamtdarstellung der Familie Astor, die aber zum großen Teil fiktional ist, deren Dialoge frei erfunden sind und die ihren Fokus auf die Frauen der Familie richtet.
Die folgende Biographie stützt sich nun erstmals auf eine Auswertung aller zugänglichen Archivmaterialien auf beiden Seiten des Atlantiks, die es ermöglichten, John Jacob Astor von seinen Wurzeln in Walldorf über alle Stationen seines erfolgreichen Lebens zu begleiten. Neben Hunderten von Briefen wurden Kirchenbücher, Tageszeitungen, Tagebücher, Memoiren, Schiffsbücher, Passagierlisten, Testamente, zeitgenössische Publikationen und Werbeanzeigen eingesehen und ausgewertet. Aus diesen primären Quellen kristallisierte sich nach und nach die historische Person John Jacob Astor heraus, die sich von den kolportierten Legenden doch deutlich abhob. Die ursprüngliche Studie wurde 2005 als Dissertation an der Universität Heidelberg eingereicht. Für das vorliegende Buch wurde die Geschichte John Jacob Astors nach den wissenschaftlichen Ergebnissen noch einmal neu erzählt.
Johann Jacob Astor stammt aus dem kurpfälzischen Walldorf, das südlich von Mannheim und Heidelberg gelegen ist. Seit dem Mittelalter spielte die Pfalz eine bedeutende Rolle in der Politik des Heiligen Römischen Reiches. Nach dem erbittert geführten Pfälzer Erbfolgekrieg (1688–1697), in dem unter anderem die Hauptstädte Mannheim und Heidelberg von den Franzosen zerstört wurden, zog für acht Jahrzehnte eine Zeit des Friedens und der kulturellen Blüte ein. Anders als seine Vorgänger konnte sich Kurfürst Carl Theodor (Regierungszeit 1742–1799) daher ausführlich seinen wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen widmen. Große Namen sind mit seiner Regentschaft verbunden: Mozart und Schiller besuchten die pfälzische Residenzstadt Mannheim ebenso wie Voltaire und Lessing. Die erst kurz zuvor prachtvoll wieder errichtete Stadt Mannheim erlebte deshalb einen umso tieferen Fall, als Carl Theodor nach der Vereinigung der Pfalz mit dem Königreich Bayern wegzog, um das Erbe des Hauses Wittelsbach anzutreten: Fortan residierte er in München. Die einst so bedeutende Pfalz am Rhein wurde nach der Verlegung der kurpfälzischen Residenz zu einem politischen Nebenschauplatz in Deutschland.
Durch die friedliche Zeit war die Einwohnerzahl der Kurpfalz rapide angestiegen. Doch extreme Wetterbedingungen, Überschwemmungen, Frost und große Hitze brachten Missernten und Seuchen in die Region, was dazu führte, dass in weiten Teilen Hunger und Elend herrschte. Die Bauernhöfe wurden durch die traditionelle Realerbteilung, die gleichmäßige Aufteilung des Bodens unter allen Erben, immer weiter verkleinert, bis sie schließlich so klein waren, dass sie in schlechten Zeiten keine ertragreiche Familienwirtschaft mehr erlaubten. Auch waren Innovationen wie die Stallfütterung und neuere Düngemethoden, die in anderen Regionen bereits zu einer Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion geführt hatten, in der Kurpfalz noch unbekannt. Viele Pfälzer sahen angesichts ihrer schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage in der Auswanderung nach Nordamerika ihre einzige Chance auf ein besseres Leben. Diejenigen, die zurückblieben, hatten kaum eine Möglichkeit, ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
Das Bildungswesen unterlag seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, als der katholische Kurfürst Carl Theodor die Macht in der einst protestantischen Kurpfalz übernommen hatte, einer konfessionellen Spaltung. Dies hatte zur Folge, dass in den einzelnen Ortschaften mindestens zwei, in manchen Fällen sogar drei Schulen eingerichtet wurden. Eine allgemeine Schulpflicht wurde dennoch nicht eingeführt, da sich Carl Theodor zwar am Hof in Mannheim der Wissenschaft und Kunst widmete, das Bildungswesen aber nicht reformierte. Entsprechend ärmlich blieb die Ausstattung der Schulen, und entsprechend gering war die fachliche Qualifikation der Lehrer.
Das Dörfchen Walldorf bestand in dieser Zeit aus etwa 250 Familien und hatte knapp über 1000 Einwohner, die in etwa 200 Häusern lebten. Für das ausgehende 18. Jahrhundert war es ein verhältnismäßig großes Dorf. In Walldorf gab es die für die damalige Zeit üblichen drei Kirchen, die katholische, die reformierte und die lutherische, sowie eine jüdische Synagoge. Das dörfliche Leben war vollständig auf die Erträge der eigenen Landwirtschaft ausgerichtet und daher immer abhängig von den Launen der Natur.
In den Kirchenbüchern der reformierten Gemeinde Walldorfs findet sich am 17. Juli 1763 der Geburtseintrag Johann Jacob Astors. Er wurde als sechstes Kind der Eheleute Maria Magdalena und Johann Jacob Astor dem Älteren in Walldorf geboren. Astors Familie war sehr arm. Der Vater übte den Beruf des Metzgers aus, was im 18. Jahrhundert bedeutete, dass er von Hof zu Hof zog, um dort das Vieh der Bauern zu schlachten. Gewinnbringend war sein Beruf nur im Vorfeld der alljährlichen Feste, da es sich die Bewohner und Bauern Walldorfs nur dann leisteten, ihr Vieh zu schlachten. So hatte Vater Astor im Laufe eines Jahres nur vor Weihnachten und Ostern, vor Hochzeiten, Taufen, der Erstkommunion und der Konfirmation ausreichend Arbeit, um seine Familie angemessen ernähren zu können. Sonst hungerte die Familie meist.
Die Eltern des kleinen Johann Jacob waren seit dem 15. April 1749 verheiratet. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit gebar Maria Magdalena im März 1750 das erste Kind, Peter Astor, der noch im Säuglingsalter starb. Das zweite Kind wurde zwei Jahre später geboren und in Erinnerung an das erste auf den Namen Georg Peter getauft. Ihm folgten Heinrich, Catherina, Melchior und schließlich im Jahre 1763 Johann Jacob. Er erhielt den Namen seines Vaters.
Die Familie Astor erlitt einen schweren Schicksalsschlag, als wenige Monate nach der Geburt Johann Jacobs die Mutter am 1. Mai 1764 im Alter von nur 33 Jahren starb. Johann Jacob war gerade zehn Monate alt. Viele Familien wurden in dieser Zeit von solchen Schicksalsschlägen ereilt. Hohe Geburtenraten, zugleich eine hohe Sterblichkeit der Kinder und auch der Ehepartner gehörten zum Leben einer Familie. Waisenkinder und zweite Ehen waren ein trauriger, doch normaler Bestandteil des familiären Lebens.
So heiratete auch Vater Astor nach einer zweijährigen Trauerphase erneut. Die Hochzeit zwischen ihm und der 24jährigen Christina Barbara Seybold fand am 8. Juli 1766 in Walldorf statt. Das Paar bekam in den Folgejahren sechs Kinder, wodurch sich die Familie Astor mehr als verdoppelte. Die Familie musste in dem kleinen Haus immer enger zusammenrücken. Oft saßen alle Kinder hungernd um den wärmenden Ofen. Doch auch das erstgeborene Kind der zweiten Ehe, Maria Magdalena, das den Namen von Johann Jacobs erster Frau erhielt, überlebte das Säuglingsalter nicht und wurde nur wenige Wochen alt. Das zweite Kind dieser Ehe wurde ebenfalls auf den Namen Maria Magdalena getauft. Ihr folgten Anna Eva, Elisabetha, Sebastian und schließlich Maria Barbara.
Da es im Hause Astor allmählich zu eng wurde, entschieden sich die ältesten der Kinder, Georg Peter und Heinrich, das Elternhaus zu verlassen und auszuwandern. Nach dem bitteren Verlust der Mutter musste der junge Johann Jacob nun den Fortgang seiner beiden ältesten Brüder hinnehmen. Heinrich war der erste Astor, der seine Heimat verließ. Im Jahre 1775 schloss er sich als Söldner einem hessischen Regiment an, das von den Briten angeheuert wurde, um in Nordamerika gegen die amerikanischen Revolutionäre zu kämpfen. Henry, wie er sich bald nannte, genoss dadurch eine freie und kostenlose Überfahrt in die nordamerikanischen Kolonien, die er an Bord eines britischen Marineschiffes verbrachte. Der älteste Bruder, Georg Peter, emigrierte 1777 nach London und wurde dort Instrumentenbauer. Im gleichen Jahr verließ auch noch der dritte Bruder, Melchior, der bei seinem Vater das Metzgerhandwerk gelernt hatte, das Elternhaus. Er machte sich in der Nachbargemeinde Oftersheim als Metzger selbstständig. Zu Hause blieben nun nur noch Catherina und Johann Jacob und die Kinder aus der zweiten Ehe.
Astor und seine Geschwister erhielten eine für die damalige Zeit typische, schlichte Schulbildung in der reformierten Kirche in Walldorf. Zwar behaupten einige Autoren, Astor habe eine vorzügliche Schulausbildung genossen. Sie nahmen allerdings an, dass Walldorf zu diesem Zeitpunkt bereits zum Großherzogtum Baden gehörte, wo der wohlwollende Markgraf Karl Friedrich von Baden im Jahre 1771 eine umfassende Schulreform durchführte. Immerhin gab es in Walldorf seit dem Jahr 1737 eine reformierte Schule, die aus einem kleinen Raum bestand, in dem alle Schüler aller Jahrgänge gemeinsam unterrichtet wurden. Die widrigen Umstände und Unterrichtsbedingungen der reformierten Schule und die Tatsache, dass keine allgemeine Schulpflicht bestand, waren jedoch der Grund, dass kaum jeder Zehnte der Dorfkinder Lesen und Schreiben lernte. Sie mussten vielmehr ihren Eltern bei der Arbeit helfen. Den Sinn einer Schulbildung sahen die Wenigsten.
Geleitet wurde die Schule von Johann Valentine Jeune, einem Nachkommen geflüchteter französischer Hugenotten, der dieses Amt 1740 übernommen hatte. Jeune blieb bis zu seinem Tod 1783 Lehrer an dieser Schule. Zusammen mit dem reformierten Dorfpfarrer Johann Philip Steiner unterrichtete er die Schüler der Kirchengemeinde. Die frommen und gebildeten Männer förderten Johann Jacob, da sie in ihm einen besonders talentierten und neugierigen Schüler erkannten, dessen Fähigkeiten die der anderen Mitschüler übertrafen und der offen für ihre Lehren und Ideen war. Allerdings war Johann Jacob verhältnismäßig selten in der Schule. Umso mehr versuchte Jeune, den jungen Astor mit seiner Fürsorge zu unterstützen. Er führte Astor in die Grundzüge der calvinistischen Religionslehre ein, für die seine Vorfahren in Frankreich verfolgt worden waren. Mit Fleiß und Arbeitseifer könne man Wohlstand erreichen, der ein Zeichen der Auserwähltheit durch Gott darstelle. Ebenso sei eine asketische Lebensführung für diese Auserwähltheit unverzichtbar.
Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr lebte Johann Jacob das gewöhnliche Leben eines armen Jungen. Seine Zeit verbrachte er teils in der Schule, zu Hause und bei den gelegentlichen Schlachtungen seines Vaters. Mit der Konfirmation am Ostersonntag 1777 aber endete diese Zeit. Das Glaubensfest markierte nicht nur das Ende der Schulzeit, von diesem Zeitpunkt an musste ein junger Mann selbst die Verantwortung für sich und sein Leben übernehmen. Der Tradition entsprechend begann nun eine Handwerkslehre, zumeist an einem fremden Ort. Die weniger Begabten heuerten als Knecht oder als Landarbeiter auf einem Bauernhof an. Astor sah sich im Frühsommer mit genau dieser Entscheidung konfrontiert. Nach seiner Konfirmation musste er nun die Weichen für sein weiteres Leben stellen. Seine beiden Lehrer hatten erkannt, dass er ein intelligenter, junger Mann war, der seinen Weg machen würde. Und Astor sollte seine beiden Mentoren nicht enttäuschen. In ihm war das Interesse erwacht, etwas aus seinem Leben zu machen. Doch die ärmlichen Verhältnisse seiner Familie schienen ihm jede Möglichkeit zu verwehren. An die Finanzierung einer Ausbildung war in keiner Weise zu denken. Nachdem seine beiden ältesten Brüder bereits ausgewandert waren und Melchior in der Nachbargemeinde lebte, bestand sein Vater darauf, dass Johann Jacob ihn bei seinen Schlachtungen unterstützte. Johann Jacob hatte seinem Vater schon während der Schulzeit in all den Jahren zuvor immer wieder geholfen. Ihm widerstrebte aber der Gedanke, dass dies nun seine Lebensaufgabe werden sollte. Doch letztlich akzeptierte er den Wunsch seines Vaters. Fortan arbeitete er für ihn als Laufbursche.
Das Verhältnis von Vater und Sohn war seit einiger Zeit belastet. Schon als Kleinkind litt Johann Jacob unter seiner Stiefmutter, mit der er oft aneinander geriet. Daher entfloh der junge Johann Jacob häufig dem Elternhaus. William Oertel von Horn berichtet in seinem 1854 erschienenen Büchlein davon, dass Valentin Kamm, der zusammen mit Astor konfirmiert wurde, erzählte, dass Johann Jacob oft tagelang gehungert habe und seinem Vater nur während der Arbeit unter die Augen getreten war. Nachts habe sich Johann Jacob oft zum Schlafen in einen Heuschober zurückgezogen. Wenn er unter allzu großem Hunger litt, wurde er von seinen früheren Schulfreunden versorgt.
Johann Jacob Astors Entscheidung, seine Heimat zu verlassen war weder religiös noch politisch motiviert, er wollte in erster Linie seine eigene Lebenssituation verbessern und dem Leben in Armut entkommen. Auch die familiäre Situation spielte dabei wohl eine bedeutende Rolle. Nach dem frühen Tod seiner Mutter fehlte ihm die Bindung an die leibliche Mutter. Christina Barbara, die zweite Frau seines Vaters, konnte diesen Verlust nie auffangen. Schließlich beeinflusste ihn sicher die Auswanderung seiner Brüder. Einerseits hatte er weitere, ihm nahe stehende Menschen verloren. Andererseits zeigten sie ihm, dass es nicht unmöglich war, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Besonders die Briefe seines Bruders Heinrich vermittelten ihm ein Bild aus der Neuen Welt, das seine Hoffnungen und Erwartungen weckte. Der junge Astor wollte nicht so werden wie sein Vater, der mürrisch und verärgert auf den Fortgang seiner Söhne reagiert hatte und nicht zuletzt durch den Tod seiner ersten Frau zu einem rauen, schweigsamen Mann geworden war, der die Freude am Leben verloren zu haben schien. Häufig hielt er sich bis spät in die Nacht in einem der Walldorfer Wirtshäuser auf und suchte dort nach Ablenkung.
Zu Astors zerrütteter Familiensituation kam hinzu, dass er nach seiner Konfirmation weder Ziele hatte, noch Perspektiven für sich sah. In Walldorf würde sich für ihn nichts ändern. Er musste fort von hier. Die Briefe seiner beiden Brüder aus der neuen, weiten Welt weckten in ihm Neugierde und Spannung. Heinrich berichtete von dem aufregenden Kriegsgeschehen in Nordamerika. Schließlich erreichte die Familie ein Brief, in dem Heinrich schrieb, dass er sich von den britischen Soldaten gelöst und in New York niedergelassen hatte. Johann Jacob atmete auf, als er dies las. Sein Bruder befand sich nicht mehr im Kampf. Der andere Bruder, Georg, schrieb von der blühenden Wirtschaftsmetropole London, der größten Stadt dieser Zeit, und von seinen Erfolgen als Instrumentenbauer. Ihren Briefen zufolge ging es den beiden Brüdern nach ihrer Auswanderung erheblich besser als zuvor. Vor allem Heinrichs Berichte von den politischen Ereignissen der Amerikanischen Revolution und den neuen Ideen der Unabhängigkeitsbewegung interessierten Johann Jacob sehr. Vor einem Jahr hatten sich die ehemals nordamerikanischen Kolonien für unabhängig erklärt und wurden zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Von da an war jeder Bewohner dieser Staaten seines eigenen Glückes Schmied.
Die Briefe aus der Ferne hielten Astor vor Augen, dass dort die große Chance auf eine bessere Zukunft auf ihn wartete. Eines Tages schlug Georg vor, dass Johann Jacob zu ihm nach London kommen, das Handwerk des Instrumentenbauers lernen und ihm beim Instrumentenbau helfen könnte. In mehreren Briefen versicherte Georg seinem Vater, dass dies der richtige Schritt für den jüngeren Bruder sei, die Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten in London wären um so vieles besser als in Walldorf. Doch Vater Astor wollte der Auswanderung seines Sohnes nicht zustimmen. Nachdem drei seiner Söhne das Haus verlassen hatten, sollte der jüngste bei ihm bleiben, um ihm zur Hand zu gehen. Die Kinder aus der zweiten Ehe waren noch zu klein, um ihm zu helfen.
Aus seiner Schulzeit wusste Johann Jacob, dass er mit seinen Ideen und Sorgen immer zu seinen Lehrern Jeune und Steiner kommen konnte. Er erzählte ihnen von seinem Vorhaben und bat sie, mit seinem Vater zu sprechen. Beide erklärten sich gerne dazu bereit. Sie waren davon überzeugt, dass der junge Astor auswandern sollte und dass er in der Lage sei, diese Chance für sich zu nutzen. Gemeinsam überzeugten sie den Vater, der schließlich einwilligte. Johann Jacob sollte zu Georg nach London gehen, dort die englische Sprache erlernen und zum Instrumentenbauer ausgebildet werden. Ob er anschließend zu Heinrich weiterziehen würde, blieb offen. Noch tobte der Unabhängigkeitskrieg in Nordamerika. Johann Jacob aber war von dem Gedanken der Gleichheit der Menschen in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fasziniert. Die Ideen der persönlichen und politischen Freiheit und der Gleichheit der Bewohner waren etwas, das er weder in Walldorf noch im Europa jener Zeit finden würde. Sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten zu können, dafür sah er in den Vereinigten Staaten eine reale Chance.
Den amerikanischen Zeitungen, die im März 1848 über Astors Tod berichteten, ist zu entnehmen, dass Astor 1780 Walldorf verlassen haben soll. Nur mit einem Bündel Kleider und ein paar Münzen in der Tasche nahm Johann Jacob Abschied von seiner Familie und seinen Freunden, die ihn unter Tränen bis an den Ortsrand Walldorfs begleiteten. Er holte tief Luft, sah noch einmal in die vertrauten Gesichter, bevor er sich umdrehte und fortzog. Während sich Astor vom Dorf entfernte und allmählich am Horizont verschwand, wandte sich Jeune an die kleine Gruppe mit den tröstenden Worten: „Er wird seinen Weg durch die Welt machen. Er hat einen klaren Verstand und ist nicht mehr grün hinter den Ohren.“ Nach dem tränenreichen Abschied von der ihm bekannten Welt wanderte Astor zunächst die wenigen Kilometer in Richtung Rhein, hielt aber noch einmal in Sichtweite seines Heimatdorfes auf einer kleinen Sanddüne in der Nähe des Nachbarortes Sandhausen an und setzte sich unter einen Baum. Der Abschied und die Tränen der Freunde hatten ihn berührt. Würde er sein Glück wirklich in der Ferne finden? Doch sein Entschluss stand fest. Er ließ seine Gedanken schweifen, richtete sie auf seine Zukunft und die Reise nach London. Nach einer Weile stand er auf und schwor sich in Gedanken an seinen Lehrer Jeune, „immer ehrlich zu sein, immer eifrig zu sein und nicht verschwenderisch zu leben“. Ein letztes Mal blickte er auf Walldorf und beschloss, die Armut seiner Jugend für immer hinter sich zu lassen.
British Empire
City of London City of London.