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Albrecht Beutelspacher

Christian
und die Zahlenkünstler

Eine Reise in die wundersame
Welt der Mathematik

 

 

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Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Statt wie seine Freunde die Sommerferien am Meer oder in Disneyland zu verbringen, wird der zwölfjährige Christian von seiner Patentante Ursula, einer Mathematikerin, zu einer Sommerakademie mitgenommen. Was anfangs zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass gibt, stellt sich rasch als eine aufregende Mischung heraus. Nicht nur ist der Ort des Geschehens ein so imposantes wie geheimnisvolles Schloss in Italien. Auch das Thema der Sommerschule, das Verschlüsseln von Botschaften und das Knacken von Codes, lässt Christian eine Mathematik entdecken, die selbst erklärte Rechenmuffel in begeisterte Zahlenkünstler verwandelt.

Über den Autor

Prof. Dr. Dr. h.c. Albrecht Beutelspacher ist Professor für Diskrete Mathematik und Geometrie an der Universität Gießen sowie Gründungsdirektor des Mathematikums. Er ist Träger zahlreicher Auszeichnungen und Preise, darunter des Communicator-Preises des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft (2000), des Deutschen IQ-Preis (2004), des Hessischen Kulturpreises (2008) sowie der Medaille für naturwissenschaftliche Publizistik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (2014). Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Albrecht Beutelspachers Kleines Mathematikum. Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten zur Mathematik (42016); Geheimsprachen. Geschichte und Techniken (52013); Zahlen. Geschichte, Gesetze, Geheimnisse (22015);Wie man in eine Seifenblase schlüpft. Die Welt der Mathematik in 100 Experimenten (2015).

Inhalt

Ferien mit Tante Ursula

Christians Lieblingszahl

Dreikommavierzehn

Das Schloss

Der Professor

Die drei Italiener

Il brutto

Cäsars Code

Der Schlüssel

Zahlenzauberer

Der Schrei

Nach Cortona

Code knacken

Eine Überraschung

Codes und Zahlen

Die Schablone

Post von zu Hause

Der unknackbare Code

Eine Privatstunde

Das Dodekaeder

GZSZ

Die wichtigste Formel

Ursula erzählt

Der zweite Schrei

Wie geht es weiter?

Primo rastet aus

Franco

Die letzte Vorlesung

Was ist mit dem Professor los?

Das conference dinner

Das Ende

Der Morgen danach

Abschied

Neue Zeit

Wie ihr euch eine eigene Codierungsmaschine bauen könnt

Ferien mit Tante Ursula

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Christian hatte den Eindruck, die Welt um ihn herum sei aus den Fugen.

Seit Wochen fühlte er sich richtig schlecht. Ständig hatte er furchtbares Kopfweh. Am liebsten lag er in seinem abgedunkelten Zimmer, döste vor sich hin oder las. Seine Mutter stellte fest, er sei krank.

Deshalb hatten sie viele Ärzte besucht. Zuerst die Hausärztin. Die hatte sie an einen Internisten überwiesen. Der hatte nach einigen Wochen gemeint, sie sollten ihn mal in der Uni-Klinik vorstellen. Jedes Mal hatten sie Ewigkeiten gewartet, und er war ausführlich untersucht worden. Als die Ärzte dann erzählten, was ihm fehlte und was man tun sollte, hatte er schon gar nicht mehr zugehört. Geholfen hatte jedenfalls alles nicht.

Seine Schwester hatte nichts Besseres zu tun, als ihn zu veräppeln. Sie setzte sich an den Tisch, stützte ihren Kopf in die Hand und stöhnte: «Mein Kopf, mein Kopf!» Das sollte sein Verhalten darstellen.

Überhaupt hatte sie sich in letzter Zeit zu einem Giftzwerg entwickelt. Sie war zehn – zwei Jahre jünger als er (sie sagte: eineinhalb) –, bildete sich aber ein, was Besonderes zu sein. Deutlich zeigte sie ihm, dass er ihrer Meinung nach vom wirklichen Leben nichts verstand. Dabei bezog sie ihre Informationen nur aus der Bravo. Was ihn wirklich ärgerte und wogegen er leider nichts machen konnte: Sie war größer als er. In den letzten Monaten war sie so schnell gewachsen, dass sie ihn überholt hatte. Für sie war das ein neuer Beweis ihrer Überlegenheit.

Auch bei seinen Eltern stimmte es nicht. In letzter Zeit benahmen sie sich echt blöd. Eigentlich war es nur noch schön, wenn Mama oder Papa sich alleine um ihn kümmerten. Wenn sie zu zweit waren, ging alles daneben. Und wenn seine Schwester noch dabei war, nahm er einfach Reißaus und schloss sich in seinem Zimmer ein.

Solange er sich erinnern konnte, hatte er die Ferien immer mit seinen Eltern und seiner Schwester gemeinsam verbracht. Dieses Jahr nicht. Ging offenbar nicht. Irgendwann hatten seine Eltern Tante Ursula aus dem Hut gezaubert. Er glaubte, sie wollten ihn einfach abschieben. Vielleicht war es ja auch gut, wenn die Eltern mal alleine waren.

Im Grunde kannte Christian diese Tante Ursula kaum. Er wusste nicht einmal genau, wo sie arbeitete. War sie an einer Schule oder an der Universität? In jedem Fall machte sie Mathematik. Das machte sie nicht sympathischer. Aber in seiner jetzigen Laune hätte ihm nichts auf der Welt die Tante sympathischer machen können.

Zu Weihnachten und an seinen Geburtstagen hatte sie immer angerufen, aber besucht hatte sie ihn nie. Sie hatte immer einen Grund: Arbeit, Reisen, Krankheit. Christian fand, dass das Ausreden waren. Aber angerufen hatte sie immer.

Und auch immer gesagt, dass sie irgendwann mal was zusammen machen würden. Das kam so sicher wie die Glückwünsche. Er hatte sich schon daran gewöhnt und wartete jedes Mal darauf. Er war überzeugt, dass sie nie was zusammen unternehmen würden.

Jetzt sollten sie gemeinsam in die Ferien fahren. Ausgerechnet jetzt. Er wollte überhaupt nicht weg.

Wenn es sich wenigstens um Ferien gehandelt hätte. Aber Tante Ursula fuhr zu einer Mathe-Tagung. Vor einer Woche hatte sie angerufen, superfreundlich getan und ihn gefragt, ob er Lust habe, in den Sommerferien zwei Wochen mit ihr zu verbringen. «Ich fahre zu einer Tagung nach Italien», schwärmte sie, «in ein einsames Schloss. Da hab ich viel Zeit für dich, und wir können alles Mögliche gemeinsam unternehmen.»

Schlimmer konnte es nicht kommen. Seine Freunde fuhren mit ihren Eltern nach Spanien oder in die Türkei. Meike flog mit ihren Eltern sogar nach Amerika, ins Disneyland. Und er sollte seine Ferien in einem gottverlassenen Nest mit abgedrehten Mathematikern verbringen? So ziemlich das Gegenteil dessen, was er sich unter Ferien vorstellte.

Und woher sollte sie überhaupt wissen, was er gerne machte? Eine Frau, die ihn zum letzten Mal bei seiner Taufe gesehen hatte, konnte keine Ahnung von ihm haben.

Aber irgendwie hatte er nicht nur ein schlechtes Gefühl. Denn Tante Ursula war etwas Besonderes. Die Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten waren immer raffiniert ausgesucht. Und die Karte dazu war zwar immer kurz, aber mit echtem Gefühl geschrieben. Tante Ursula machte wenige Worte, aber die trafen das Richtige. Die einzigen Geburtstagskarten, die er zweimal las. Zu seinem 12. Geburtstag vor ein paar Wochen hatte er von ihr Geld bekommen – eigentlich doof. Aber sie hatte das witzig verpackt. Vier Fünfeuroscheine waren zusammengerollt und bildeten die Schnurrbarthaare einer Katze und zwei Zweieurostücke die Ohren. Ja, Tante Ursula war etwas Besonderes. Unnahbar und gleichzeitig nah. Und immer für eine Überraschung gut.

Gestern, am Samstag, war sie angekommen. Die Eltern hatten sich zusammengerissen. Wahrscheinlich, weil sie froh waren, ihn demnächst los zu sein. Und weil sie sich’s genau deswegen mit Tante Ursula nicht verscherzen durften.

Abends hatten die Erwachsenen dann noch zusammengesessen. Wahrscheinlich hatte Tante Ursula gute Ratschläge bekommen, wie sie mit Christian umgehen müsse. Mama hatte bestimmt gejammert, dass er zu wenig und zu unregelmäßig esse und deshalb so mager sei. Was für ein Quatsch! Mama dachte immer, ihre Kinder würden verhungern.

Er konnte sich die Szene gut vorstellen. Mama erzählte von seinen angeblichen Problemen, und Papa gab gute Ratschläge. Perfekte Rollenteilung.

Sollten sie doch. Er war jedenfalls nicht bereit, größere Rücksichten zu nehmen. Schon gar nicht auf eine mittelalterliche Tante, die keine Ahnung von ihm hatte.

Christians Lieblingszahl

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Am Sonntagnachmittag ging es los. Seine Eltern hatten darauf bestanden, sie zum Bahnhof zu begleiten. Nachdem sie einen Parkplatz gefunden hatten, nahm Christian seinen großen, roten Rucksack aus dem Kofferraum, setzte ihn auf und trottete durch den Regen zum Bahnhofsgebäude. Dass es regnete, war ihm jetzt auch egal.

Er war froh, als der Zug nach München endlich einfuhr, als Mama und Papa ihn noch einmal abgeküsst hatten, sie eingestiegen waren und ihren Platz gefunden hatten. Christian setzte sich in die Ecke am Fenster, stellte seinen Rucksack auf die andere Seite dicht neben sich, so dass er fast in einer Höhle saß. Er starrte zum Fens ter hinaus und hoffte, dass ihn Tante Ursula in Ruhe ließ.

Christian stützte seinen Kopf in die Hand. Sein Kopfweh war fürchterlich. Der Blick nach draußen munterte ihn auch nicht auf, denn es regnete unaufhörlich. Alles war grau.

«Trübes Wetter», sagte die Tante. Toller Kommentar! Aber wahrscheinlich meinte sie es nur gut.

Er beschloss, ihr ein bisschen auf den Zahn zu fühlen: «Was macht ihr denn auf so einer Mathe-Tagung? Wenn du die ganze Zeit rumrechnest, dann hast du bestimmt den ganzen Tag schlechte Laune.»

Tante Ursula lachte: «Mir macht Mathe keine schlechte Laune. Wenn das so wäre, hätte ich schon längst damit aufgehört.»

Das konnte sich Christian vorstellen, denn sie machte einen entschiedenen Eindruck. Wenn sie etwas als richtig erkannt hatte, tat sie es oder versuchte es jedenfalls. «Aber mit Zahlen macht ihr doch rum», beharrte Christian, «sind das große Zahlen?»

«Natürlich hat Mathematik viel mit Zahlen zu tun. Die Mathematiker beschäftigen sich zwar auch mit ganz anderen Themen, aber Zahlen sind wichtig. Weil sie sich manchmal von den überraschendsten Seiten zeigen.»

«Da bin ich aber gespannt», sagte Christian und glaubte ihr kein Wort.

«Hast du eine Lieblingszahl?», fragte Tante Ursula nach einer Weile wie nebenbei.

«Achtundzwanzig», war seine kurze Antwort.

«Und warum?»

«Weil ich da Geburtstag habe.»

«Richtig, das weiß ich natürlich», sagte sie, holte kurz Luft und sagte dann: «Aber 28 ist auch eine ganz besondere mathematische Zahl.»

«Na ja, 7 mal 4.»

«Gut. Aber sie hat noch eine Eigenschaft. Und diese macht die Zahl 28, seit es Mathematik gibt, zu einer ganz besonderen Zahl!»

Das fing ja gut an. «Was soll das Besondere an 28 sein?»

«Um das zu erkennen, suchen wir die Zahlen, durch die 28 ohne Rest teilbar ist.»

Christian wusste, was das bedeutet. Er zählte auf: «Die 1, die 2, nicht die 3. Die 4, die 7 und die 14.»

«Klasse! Und jetzt zählen wir diese Zahlen mal zusammen.»

Von wegen wir, ich mach das: «1+2+4+7+14, das ist 28.»

«Ja genau. Die alten Griechen untersuchten solche Zahlen schon vor über 2000 Jahren. Und die Zahlen, bei denen die Teiler zusammengezählt die Zahl selbst ergeben, nannten sie ‹perfekt›. Deine Lieblingszahl ist also eine perfekte Zahl!»

Christian wurde wieder still, und auch Tante Ursula ließ ihn in Ruhe. Er überlegte, ob diese Eigenschaft wirklich etwas Besonderes war. Ist die Zahl 25 perfekt?, überlegte er. Ihre Teiler sind nur 1 und 5. Zusammengezählt ergibt das schlappe 6, also ist 25 weit davon entfernt, perfekt zu sein.

So blöd ist Tante Ursula gar nicht, dachte Christian. Kann gut erzählen, schwafelt nicht rum und gibt auch mal Ruhe. Ich glaube, sie bemüht sich richtig, mir zwei schöne Wochen zu machen.

Kurze Zeit später bekam Christian Hunger. Er holte aus seinem Rucksack eine Lakritzrolle und eine Thermosflasche mit Tee.

Er löste den Anfang der Lakritzrolle, steckte ihn in den Mund und wollte die Schlange gerade genüsslich herunterschlucken, da lachte Tante Ursula. Offenbar lachte sie, wenn sie eine Idee hatte. «Pass mal auf, ich zeig dir was: Leg mal den Lakritzfaden um deine Thermosflasche rum!»

Christian wickelte das Lakritzband sorgfältig ab, hielt es an beiden Enden fest und zeigte, wie lang es war. Dann legte er es um die Flasche herum, so dass es einen schönen Kreis bildete, und knipste den überstehenden Rest ab.

«Jetzt stell dir vor, du würdest die Lakritze wieder abziehen und das Band an die Thermosflasche von oben nach unten kleben. Wird es so lang sein wie die Flasche oder kürzer, oder wird es sogar darüber hinausgehen?»

Christian überlegte nicht lange, sagte auch nichts, sondern probierte es aus. Er zog das Lakritzband von der Thermosflasche ab, legte ein Ende oben an und führte das Band senkrecht nach unten: «Wow!» Das hatte er sich nicht vorgestellt. Das Lakritzband reichte nicht nur bis zum unteren Ende der Flasche, sondern noch ein Stückchen darüber hinaus!

«Die Linie außen um die Flasche herum nennen wir den ‹Umfang› eines Kreises. Und der ist riesig groß. Man verschätzt sich eigentlich immer.»

«Wie groß ist er denn?», wollte Christian wissen.

«Das ist eine der spannendsten Fragen der Mathematik. Man vergleicht den Umfang eines Kreises mit dem Durchmesser.»

«Durchmesser heißt quer durch?»

«Ja, genau durch den Mittelpunkt.»

Christian drehte die Thermosflasche um, nahm die Lakritzschlange, die genauso lang wie der Umfang war, und maß einen Durchmesser ab. Dann biss er die Lakritze genau an der Stelle ab und schluckte den ersten Durchmesser hinunter.

Danach wiederholte er die Prozedur: maß einen Durchmesser ab, biss ihn ab und schluckte ihn hinunter.

Schließlich noch ein drittes Mal: abmessen, abbeißen, schlucken. «Drei und ein bisschen was», sagte er mit vollem Mund.

«Das machst du sehr gut. Völlig richtig. Drei und ein bisschen was. Das ‹bisschen was› können die Mathematiker viel genauer ausdrücken, aber wie groß es genau ist, weiß man nicht und wird es nie wissen.»

«Wie groß ist es denn?», fragte Christian unbeeindruckt.

«Die meisten Menschen sagen drei komma vierzehn. Ich weiß noch ein paar Stellen mehr: 3,14159. Aber obwohl man heute Milliarden von Stellen kennt, weiß man es immer noch nicht ganz genau. Das ist bis heute eines der größten und faszinierendsten Rätsel der Mathematik.»

3,14. Drei komma vierzehn, dachte Christian. Komische Rätsel. Damit beschäftigen die sich also.

Eigentlich ganz gute Geschichten. Kaum zu glauben, dass Zahlen so spannend sein können.

Und Christian hatte noch keine Ahnung, wie spannend die Geschichte mit den Zahlen werden sollte.

Dreikommavierzehn

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In München mussten sie umsteigen. Um 21:03 fuhr der Zug nach Florenz. Christian hatte kurz auf die Anzeigentafel geschaut und informierte Tante Ursula: «Gleis 12.»

«Ich habe uns Betten im Liegewagen reserviert», sagte Tante Ursula.

«Cool. Ich bin noch nie im Liegewagen gefahren.» Eigentlich war er überhaupt noch nie länger Bahn gefahren.

Am Bahnsteig mussten sie den ganzen Zug abklappern, bis sie, ganz vorne, ihren Wagen entdeckten.

Im Abteil befanden sich auf beiden Seiten drei Betten übereinander. Sie hatten die obersten. Christian war begeistert und kletterte das Leiterchen hoch. Oben angekommen, bemerkte er, dass Tante Ursula einen etwas hilflosen Eindruck machte. Klar, ihr wäre ein Bett weiter unten lieber gewesen. Christian war großzügig: «Ich bringe dir deine Sachen nach oben.»

Sie waren früh dran. Der Zug fuhr erst in 20 Minuten. Deshalb vertraten sie sich noch die Beine auf dem Bahnsteig.

«Wo geht es eigentlich hin?» Christian stellte fest, dass er so gut wie nichts wusste. Er war so mit sich selbst und dem Kuddelmuddel zu Hause beschäftigt gewesen, dass er sich nicht auch noch darum hatte kümmern können.

«Wir fahren zu einer Sommerschule. Da kommen lauter junge Mathematiker zusammen.»

Christian betrachtete Tante Ursula von der Seite. Jung? Wie alt mochte sie sein? Schwer zu schätzen. Ihre ruhige Art, ihr glattes schwarzes Haar, ihre manchmal raschen Bewegungen … Vielleicht dreißig?

«Sommer und Schule passen aber nicht gut zusammen.»

«Doch, wir gehen alle freiwillig hin. Weil wir dort die Chance haben, etwas wirklich Interessantes zu lernen. Und diese Sommerschule ist ganz besonders aufregend.»

«Warum?», fragte Christian ungläubig.

«Weil dort ein berühmter Professor unterrichtet und», jetzt senkte sie die Stimme und sprach geheimnisvoll weiter, «weil er uns über etwas ganz Spannendes berichten wird, von dem noch niemand gehört hat.»

«Und was soll das sein?» Hatte das vielleicht mit den Zahlen zu tun?

Ursula sprach leise weiter: «Es geht um Codes. Verstehst du, Geheimschriften und so. Und wie man sie knacken kann.»

Christian war baff. Er hätte nicht gedacht, dass sich Erwachsene – sogar ein berühmter Professor – für so was interessierten. Und auch nicht, dass Geheimschriften etwas mit Mathe zu tun haben sollten. Aber eines war klar: Auf diesem Gebiet kannte er sich aus.

Der Schaffner winkte ihnen einzusteigen. Zurück im Wagen, blieben sie auf dem Gang stehen und schauten zu, wie der Zug langsam und ruckelig aus dem Bahnhof fuhr.

Das Gespräch auf dem Bahnsteig ließ Christian keine Ruhe: «Macht ihr echt Geheimschriften?»

«Ja. Weshalb fragst du?»

«Weil», er zögerte kurz, «weil ich das auch kann!»

Tante Ursula lächelte: «Klasse. Erinnerst du dich an eine?» Sie schien froh zu sein, dass sie ein gemeinsames Thema hatten.

«Ich kann eine mit Geheimzeichen.» Und ohne zu zögern, malte er mit seinem Finger auf die beschlagene Scheibe ein Schema:

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Und wenn ich jetzt ‹geheim› schreiben will, dann schreibe ich einfach

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Tante Ursula war begeistert: «Hast du das in der Schule gelernt?»

«Nö, in der Schule lernen wir so was nicht.»

«Woher kennst du es dann?»

Was ging das seine Tante an? Er kannte es eben. Aber sie schaute auffordernd zu ihm herüber.

«Zu mir kommt manchmal ein kleines Männchen, das mir Dinge erklärt. Es heißt Dreikommavierzehn.» Christian hatte nicht nachgedacht, der Satz war ihm einfach so herausgerutscht.

«Wie bitte?» Tante Ursula schien sprachlos.

Christian gefiel die Idee. «Ich stell mir den Dreikommavierzehn einfach vor, und schwupp ist er da und erklärt mir was.» Er blickte seine Tante an.

«Wie heißt der?»

«Dreikommavierzehn. Sag ich doch.»

«Und der kommt zu dir, wann du willst?»

«Nein, manchmal auch nicht.» Christian überlegte einen Moment. «Ich weiß auch nicht genau. Manchmal klappt’s und manchmal auch nicht. Und manchmal kommt er, sagt mir aber nicht das, was ich möchte, sondern erzählt irgendwelchen Quatsch.»

Auch Tante Ursula schien an dem Spiel Gefallen zu finden: «Wie sieht dein Dreikommavierzehn denn aus?»

Christian sagte nichts. Tante Ursula neckte ihn: «Ich vermute, du denkst dir den Dreikommavierzehn nur aus!»

«Nein!», empörte sich Christian, «den gibt’s echt!»

«Dann muss er doch auch irgendwie aussehen!»

Christians Antwort war einfach: «Der sieht so aus, wie er heißt.»

«Was meinst du denn damit?» fragte Tante Ursula.

«Ist doch klar», grinste Christian, «3 Haare, 14 Augen. Und sein Mund ist wie ein Komma, von oben nach unten.»

«14 Augen?» Seine Tante schien entsetzt. «Wo sollen die denn sein? Und ein senkrechter Mund? Habe ich noch nie gesehen!»

Doch Christian wusste, dass er Recht hatte: «Die Augen sind rings um seinen Kopf angeordnet. Damit er überall hinsehen kann. Und der Mund, der ist eben senkrecht. Ist doch nichts dabei.» Christian kicherte: «Beim Sprechen und Essen geht sein Mund nach rechts und links auf.»

Nun schien es seiner Tante die Sprache verschlagen zu haben. Fröhlich fabulierte Christian weiter: «Wenn er grinst, gehen die Mundwinkel nach rechts, und wenn er traurig ist, nach links.»

Tante Ursula blieb skeptisch: «Das ist sein Kopf. Und wie sieht er sonst aus?»

Christian kam richtig in Fahrt: «Sonst hat er gar nichts. Er hat nur einen Kopf. Er ist der perfekte Mathematiker und braucht nur seinen Kopf zum Denken.»

«Und wie soll sich der Dreikommavierzehn bewegen?»

«Kein Problem. Der ist einfach da. Du denkst an ihn, und schon ist er da. Wozu braucht er da noch Beine?»

Langsam schien Tante Ursula die Sache unheimlich zu werden: «Du kannst ja mal versuchen, mit deinem Dreikommavierzehn in Kontakt zu treten. Dann wirst du schon sehen, wie er wirklich aussieht.»

«Ich weiß, wie er aussieht.» Christian blieb stur: «Habe ich dir doch gesagt.»

Tante Ursula lenkte ab: «Ich glaube, wir sollten mal in unsere Betten steigen.»

Nachdem sie sich frisch gemacht hatten und in ihren Hochbetten lagen, meinte Tante Ursula noch: «Den Dreikommavierzehn finde ich übrigens gar nicht schlecht. Und noch etwas: Du solltest ‹Ursula› zu mir sagen. ‹Tante› find ich blöd. Ich bin doch keine Tante.»

«Gute Nacht, Ursula.»

«Schlaf gut, Christian!»

Er zog sich die Decke über den Kopf, drehte sich noch zweimal herum und war im nächsten Moment eingeschlafen. Das Letzte, was er dachte, war: «Dreikommavierzehn. Und Ursula ist eigentlich erstaunlich nett.»

Das Schloss

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Jetzt standen sie vor dem Bahnhof Cortona-Terontola.

Kurz nach sechs Uhr morgens waren sie in Firenze, wie Florenz auf Italienisch heißt, angekommen, dort in den Zug in Richtung Roma umgestiegen und nach etwa einer Stunde am Bahnhof Cortona-Terontola wieder ausgestiegen. Und offenbar waren sie hier am Ende der Welt angekommen.

Jedoch: Die Sonne schien. Der deutsche Regen war wie weggeblasen. Schon jetzt, um acht, war die Sonne warm. Und vor allem hell. Das Licht war so weiß, so blendend, wie Christian das in Deutschland noch nie erlebt hatte. Er kniff seine Augen ganz schmal zusammen. Zum Glück hatte er eine Sonnenbrille mitgenommen.

Ursula kramte in ihrer Tasche, zog einen Zettel heraus. Nachdem sie ihn gelesen hatte sagte sie: «Wir können bis zehn warten; dann kommen auch die anderen Teilnehmer an und werden abgeholt. Oder wir bestellen uns in der Bar gegenüber ein Taxi.» Christian hockte auf seinem Rucksack, Ursula schaute ihn an und entschied: «Wir nehmen ein Taxi!»

In der Bar waren sie die einzigen Gäste, aber die Bedienung wusste sofort Bescheid und sagte nur: «Quarto d’ora

Ursula schien zu wissen, was das bedeutete, bestellte an der Bar einen Cappuccino für sich und für Christian eine Coca-Cola. Sie setzten sich an ein Tischchen und tranken langsam und genüsslich.

Schon nach kurzer Zeit kam der Taxifahrer. Offenbar war er Besitzer der Bar, Taxiunternehmer und Fahrer in einem. Er verstaute Christians Rucksack und Ursulas Koffer in seinem Fiat Ritmo. Er hatte ihnen angesehen, wohin sie wollten, denn er fragte nur der Form halber: «Palazzone?»

Sie verließen den Ort, und nach einigen Kilometern ging es bergauf. «Qui fa fresco», meinte der Taxifahrer seufzend, «da noi fa caldissimo.» Ursula konnte anscheinend Italienisch und übersetzte: «Er sagt, dass es da oben kühl sei, unten im Ort sei es wahnsinnig heiß.» Sie fuhr fort: «In der Einladung steht, dass der ‹Palazzone› ein altes Schloss mit einem Turm und dicken Mauern sei.»

Auf der kurvenreichen Straße schraubte sich das Auto immer höher. Dann fuhr der Fahrer durch eine 180°-Kurve und bremste stark ab. Das Taxi hoppelte über einen Schotterweg zum Eingangstor, passierte es und hielt auf einem großen Hof an.

«Ecco!» Sie waren da. Was sie sahen, war ein echtes Schloss. Rechts, an der Frontseite des Hofes, war eine lange Mauer mit Zinnen, zwischen denen hindurch man weit in die Ebene hinaussehen konnte. Das Schloss lag linker Hand. Imposant und stumm. Fenster und Türen waren verschlossen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Außer dem Zirpen der Grillen war nichts zu hören.

Der Fahrer hatte seinen Auftrag erfüllt. Er stellte eine Quittung aus, Ursula bezahlte, der Fahrer hob den Koffer aus dem Auto, sagte «Arrivederci» und fuhr wieder ab.

Nichts deutete auf menschliches Leben hin.

Links führte eine lange Rampe zu einem großen Tor empor. Mit einem «Schauen wir mal» machte Ursula sich und Christian Mut. Die Rampe war lang und mit groben Steinen gepflastert. Oben angelangt, stellten sie fest, dass es keine Klingel gab, sondern stattdessen einen schweren, eisernen Ring. Ursula hob ihn an und ließ ihn fallen. Das erste Mal vorsichtig, dann energischer. Beim dritten Mal warf Christian den Ring mit all seiner Kraft nach unten. Aber das Tor ging nicht auf, und es blieb weiterhin still.

Sie traten den Rückzug an. Vielleicht hatten sie ja den falschen Eingang erwischt. Wenn überhaupt jemand dieses Schloss bewohnte, so konnte es sich nur um einen alten Fürsten mit verknittertem Gesicht und grauem Anzug oder um eine uralte Frau mit einer schwarzen Katze auf der Schulter handeln, dachte Christian.