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Christiane Spies

Zwillingsmond

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Christiane Spies

Christiane Spies wurde 1981 geboren und lebt in Nürnberg, wo sie als Wissenschaftsjournalistin arbeitet. Nach langen Recherchen in historischen Stadtarchiven, Antiquariaten und Bibliotheken entstand ihre Romane »Mondherz« und »Zwillingsmond«. Diese Werwolfs-Saga, die vor einer beeindruckenden historischen Kulisse spielt, wurde von einem halbjährigen Aufenthalt in Budapest inspiriert.

Impressum

Copyright © 2015 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Antonia Zauner

Karte: Computerkartographie Carrle

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42552-7

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Für Carla

 

* * *

 

Auf der Weide scheint der Mond auf einen Espenstamm,

In den grünen Wald, in das dunkle Tal.

An dem Stamm geht ein zottiger Wolf.

Mond, Mond, goldenes Horn,

Mach flüssig die Kugel, stumpf das Messer,

Lass los die Furcht auf das Getier,

den Menschen und das Gewürm,

dass sie den grauen Wolf nicht fangen,

seinen warmen Pelz nicht schinden.

 

Alte Werwolfsbeschwörung aus Russland

 

 

 

Das Glück wurde als Zwilling geboren.

 

George Byron

Prolog

Ungarn, Frühjahr 1459

Sie wird ein Kind mit zwei Seelen gebären, ein Kind, das allein die Welt aus der Verdammnis retten kann.

Niemals hatte sie die Prophezeiung der heiligen Agnes vergessen. Sie betrachtete den schlafenden Säugling, seine runden Wangen, die runzelige Haut. So zerbrechlich sah er aus, als gehörte er noch nicht ganz in diese Welt. Würde er seiner Aufgabe gewachsen sein? Er war Gottes Geschenk in dieser dunklen Zeit, ein Lebewesen, wie es noch niemals zuvor geboren worden war. Und nach Gottes Gnade würde sie ihn benennen.

Als sie ihm über den Kopf strich, blinzelte er mit verschwommenen hellblauen Augen. Er winselte, und ein leichter Fellflaum überzog seine Wangen.

»Wolfskind«, flüsterte sie. Mensch und Wolf, zwei Seelen in einem so kleinen Körper.

Von draußen hörte sie die Stimmen des Rudels, das die Geburt des Sohnes feierte. Ihr Gelächter verschmolz mit dem Knistern des Lagerfeuers und den nächtlichen Geräuschen des Waldes.

Hinter ihr regte sich etwas. Sie drehte sich um, langsam und vorsichtig, denn ihr Körper schmerzte noch von der Mühsal der Geburt.

Kleine Schwester. Ihre goldbraunen Augen waren weit aufgerissen, und sie strampelte, die winzigen Finger zu Fäusten geballt.

Nachdenklich blickte sie ihre Tochter an. Niemand hatte erwartet, dass sie noch ein zweites Kind gebären würde, selbst die Hebamme war überrascht gewesen. Doch dieses Mädchen hatte sich seinen Weg erkämpft, hochrot und mit einem gellenden Schrei.

»Du wirst deinen Bruder beschützen, nicht wahr?« Sie griff nach einer der kleinen Fäuste und hielt sie fest. Plötzlich lag das Mädchen still, die fremdartigen Augen immer noch weit geöffnet. Für einen Moment sahen sie sich an.

Dann begann das Kind erneut zu strampeln. Seine Faust zuckte in der Hand seiner Mutter.

Die junge Frau runzelte die Stirn. Vorsichtig öffnete sie die Faust des Säuglings. Ein Fleischklumpen fiel heraus, dunkelrot glänzend und groß wie ein Daumennagel. Blut an ihren Händen. Sie erschauerte. Sie hatte gelernt, auf solche Vorzeichen zu achten. Gott hatte ihrem Sohn eine dunkle Gefährtin mit auf den Weg gegeben.

1. Kapitel

Die Wälder der Karpaten, Dezember 1468

Der Sturm fegte über den Wald und ließ die Bohlen der alten Hütte beben. Ildiko hob das Gesicht und spürte die Nässe, die durch das löchrige Dach hereinstob. Der Regen trommelte über ihren Köpfen, als wollte er sich unbedingt Eintritt verschaffen. Die ersten Tropfen sickerten bereits durch die Decke und platschten in die Tonteller, die Mutter dafür aufgestellt hatte.

»Wann kommt Vater wieder?«, fragte Janko. Er presste sich eng an Mutter und spielte mit ihrem blonden Zopf, legte ihn sich über das Gesicht, als wollte er sich dahinter verstecken.

Ildiko verdrehte die Augen. Ihr Bruder stellte diese Frage nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Vor fast allem fürchtete er sich. Vor dem Sturm, vor dem Regen, manchmal sogar vor ihrem Vater. Es war kaum zu glauben, dass er wie Ildiko neun Jahre zählte. Obwohl er sogar einige Augenblicke älter war als sie, verhielt er sich doch wie ein jüngerer Bruder.

»Morgen früh.« Mutter strich Janko über den dunklen Haarschopf. »Wenn der Sturm bis dahin nachgelassen hat.«

Ildiko wandte sich ab, doch sie spürte trotzdem, wie Janko erschauerte.

»Wird Vater neue Pferde mitbringen?«, fragte sie. Sie wickelte sich enger in ihre Decke, die immer noch nach ihrer Stute roch. Ein halber Mond war schon vergangen, seit ihre leeren Taschen sie gezwungen hatten, die Pferde an einen Waffenknecht zu verkaufen. Seitdem waren sie zu Fuß unterwegs.

Mutter lächelte. »Bestimmt wird er das. Magst du ein Talglicht anzünden? Dann erzähl ich euch eine Geschichte.«

»Erzähl uns von Chandra, der Mondgöttin«, forderte Janko sofort. »Und von dem Jäger.«

Ildiko brummte zustimmend, während sie nach Feuerstein und Zunder griff. Sie konnte diese Geschichte ebenfalls immer wieder hören. Obwohl ihre Mutter am Ende der Erzählung immer sagte, dass es in Wirklichkeit gar keine Mondgöttin gab. Doch Ildiko war sich dessen nicht so sicher. Ilai und die anderen Roma glaubten an Chandra, und Ilai war alles andere als dumm.

»Ihr müsst wissen«, begann ihre Mutter mit längst vertrauten Worten. »In den Neumondnächten, wenn der Himmel so schwarz ist wie ein Stück Kohle, kann Chandra, die Mondgöttin, herabsteigen, um unter den Menschen und Tieren zu wandeln.«

»Und unter den Werwölfen«, ergänzte Janko, der es mit solchen Dingen immer sehr genau nahm.

»Und unter den Werwölfen«, fügte ihre Mutter hinzu. »Chandras Haut ist bleich wie der Mond, und der Schleier ihres schweren, nachtschwarzen Haares kleidet sie wie eine Königin. Wunderschön ist sie anzusehen, und ihre Augen strahlen wie zwei Sterne.«

Auch Mutters Augen glommen hell im Licht des Zunders, den Ildiko an den Docht des Talglichts hielt. »In einer Neumondnacht geschah es, dass sich die Mondgöttin einen ganz bestimmten Wald aussuchte, um in ihm spazieren zu gehen.«

»Den Wald des Jägers«, flüsterte Janko.

Mutter nickte. »Dieser Jäger war ein gefährlicher Gesell. Groß und stark war er wie euer Vater, und er aß nichts anderes als rohes Fleisch. Doch er jagte Tiere nicht nur zur Nahrung, er tötete und quälte sie ohne Grund.«

Ildiko lehnte sich zurück, sog tief den Duft ihrer Familie, von Regen, Erde und Baumwipfeln in sich ein. Mutters Stimme machte sie schläfrig. Mit geschlossenen Augen hörte sie von Chandras Begegnung mit den Tieren, die ihr ihr Leid klagten, vom Ansinnen der Mondgöttin, den Jäger um Gnade zu bitten, und von seiner Hinterlist. Er verhexte sie mit finsterer Magie, als er ihr das Herz eines Wolfs zu essen gab. Das Herz eines Wolfs! Unwillkürlich lauschte Ildiko dem Pochen ihres eigenen Herzens.

»Chandras Blick trübte sich, so dass sie die wahre Natur des Jägers nicht mehr erkennen konnte. Getrieben von den dunklen Säften der Erde, die ihr Mondherz betäubten, verfiel sie seinem Lächeln und seiner kräftigen Gestalt …«

Das Talglicht flackerte, als draußen eine neue Bö durch den Wald fegte. Äste krachten und knarrten. Und da war noch etwas.

Ildiko hielt den Atem an, spürte, wie Janko es ihr gleichtat. Das Trappeln von Pfoten. Ein Fuchs vielleicht? Dann ein unterdrücktes Keuchen. Das war kein Tier.

»Fremde!«, wisperten die Geschwister gleichzeitig. Mit einem Satz waren sie auf den Beinen.

Es waren mehrere, Ildiko spürte sie mehr, als dass sie sie hörte. Und sie kamen von zwei Seiten auf die Hütte zu. Janko neben ihr jaulte auf, und sie griff nach seiner Hand. Seine Angst bohrte sich wie eine Kralle in ihr Herz. Sie wusste, was er dachte, sie dachte das Gleiche. Diese Fremden waren der Grund, warum ihr Vater nie ohne Messer schlief, warum das Rudel selten länger als für einen Vollmond an einem Ort verweilte. Und jetzt waren sie hier!

»Ildiko, Janko!« Wie durch einen Schleier drang Mutters Stimme zu ihr durch. Sie flüsterte. »Wer ist dort draußen?«

Ildiko fuhr herum und starrte in ihre aufgerissenen Augen. Mutter wusste es noch nicht! Die Erwachsenen ihres Rudels konnten nicht so gut hören wie Janko und sie.

»Es sind vier«, wisperte sie. »Sie kommen hierher.«

Mutter packte ihren Arm. »Aus welcher Richtung?« Ihr Blick war hart geworden, das Grau ihrer Augen verdunkelte sich zur Farbe des Nachthimmels. Ihr Kopf ruckte zur Seite, als sie herumfuhr und durch die Ritzen zwischen den Holzbohlen nach draußen spähte. »Sind es Menschen?«

»Nein.« Ildiko keuchte. Mutter umklammerte ihren Arm, als wollte sie alles Blut aus ihm herauspressen. »Es sind Werwölfe, in verschiedener Gestalt.«

Für einen Moment stand Mutter steif und mit starrem Gesicht im Raum. Ildiko hörte ihr Herz schlagen, so rasch und leicht wie das eines Vogels. Jäh verstummte draußen der Wind, als hielte er wie die drei in der Hütte den Atem an. Unter dem Rauschen des Regens tappten Pfoten neben Menschenfüßen.

»Ich höre sie auch«, flüsterte Mutter. »Ihr müsst weg von hier. Kommt!«

Sie packte auch Janko am Arm und riss beide Kinder mit sich, stieß mit dem Fuß die Tür auf. Der Regen schlug ihnen ins Gesicht.

Janko wimmerte, doch Mutter ignorierte ihn. Ildiko blickte zu ihr auf, sah, wie sie die Augen zusammenkniff und tief Atem holte. Sie klammerte sich an sie. Draußen war es finster, doch ihre Augen gewöhnten sich mühelos an die Dunkelheit. Schon sah sie einen Schatten zwischen den Bäumen hindurchgleiten, einen hageren hellbraunen Wolf. Seine Augen glommen wie Holzglut.

»Dort entlang«, stieß Mutter hervor und zerrte sie weg von der Hütte und über die Lichtung, hinein in den Wald. »Lauft!«

Ildiko stolperte und fiel auf die Knie. Tannennadeln bohrten sich in ihre nackten Beine. Neben sich hörte sie Jankos Wimmern, das sich jetzt in etwas Dunkleres verwandelte, ein Knurren, das tief aus seiner Kehle kam. Hastig streifte sie ihr Hemd ab. Ihre Hände und Arme waren bereits von dunklem Flaum überzogen. Hitze raste an ihrem Rücken empor, fuhr durch ihre Gliedmaßen und über ihre Haut. Dann spürte sie die Tannennadeln und den Regen nicht mehr, Fell und Pfotenballen schützten sie davor. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte sie los, glitt geräuschlos über Wurzeln und Steine. Janko war direkt hinter ihr. Sie spürte seinen warmen Atem, der stoßweise aus seiner Schnauze drang. Bäume huschten wie Geister an ihnen vorbei.

Den Berg hinauf, rief sie Janko lautlos zu, und er folgte ihr. Im dichten Unterholz des Hangs konnten sie jedem Verfolger entkommen.

Mutter!, ertönte plötzlich Jankos Stimme in ihrem Kopf. Er stolperte, wurde langsamer. Unwillig fuhr sie zu ihm herum.

Flieh, signalisierte sie ihm. Flieh! Sie konnte zwei weitere Fremde riechen. Die Männer waren schon fast heran.

Doch Janko blieb stehen. Sein Schwanz peitschte über den Waldboden. Furchtsam senkte er seinen Blick vor seiner Schwester, aber er bewegte sich nicht. Ildiko knurrte ihn frustriert an. Und dann hörten sie den Schrei, hell drang er zwischen den Bäumen und dem Regen hindurch.

Janko jaulte auf und fuhr so heftig herum, dass nasses Moos vom Boden aufwirbelte. Mutter! Er rannte los. Schnell wie ein Pfeil, aber Ildiko vermochte es mühelos, ihm zu folgen. Kurz vor der Lichtung blieb er stehen.

Ein Mann stand dort neben der Hütte, er hielt Mutter mit festem Griff. Warum hatte sie sich nicht verwandelt?

Der Fremde trug das samtene Wams eines Adligen, doch darunter klirrte ein Kettenhemd, und an seinem Gürtel blitzten zwei Dolche. Er sah aus wie ein Mensch, aber Ildiko konnte seinen Wolfsgestank riechen. Der hagere Wolf mit den Glutaugen schlich wachsam um ihn und Mutter herum. Keiner der beiden schien die zwei jungen Wölfe zu bemerken, die sich am Rand der Lichtung hinter eine Baumwurzel duckten.

»Wo ist dein Balg?«, zischte der Mann und schüttelte Mutter. Ildiko spürte, wie Janko neben ihr zitterte. Seine Angst grub sich in ihr Herz, und sie drückte sich eng an ihn. Was wollten die Fremden von ihnen?

Mutter reckte ihr Kinn und starrte den Mann mit funkelnden Augen an.

»Schickt euch Pavel?«, rief sie. »Ihm sieht es ähnlich, eine wehrlose Frau überfallen zu lassen.«

Einen Herzschlag lang streifte ihr Blick den Wald. Sie weiß, dass wir hier sind. Ildiko duckte sich tiefer.

»Von wegen wehrlos, Veronika«, knurrte der Fremde. »Wo hast du deinen Sohn versteckt?« Er schüttelte sie, und als sie ihn anfauchte, schlug er ihr ins Gesicht. »Wenn du mir nicht sagst, wo er ist, töten wir dich!«

Nein! Ildiko fletschte die Zähne. Ihre Angst war nur ein Funke gewesen, doch jetzt packte sie das sengende Feuer der Wut. Sie durften Mutter nichts antun, niemand durfte das! Bellend sprang sie auf die Lichtung. Der Mann und der Wolf fuhren herum.

»Ist er das?« Die Frage des Mannes drang kaum durch Ildikos Belfern hindurch. Ihre Wut ließ jeden Zweifel verglühen, riss sie in die rote Hitze von Hass und Blutgier. Mit einem Satz stürzte sie sich auf den Wolf, der sich ihr in den Weg stellen wollte. Er war fast doppelt so groß wie sie, doch sie schnappte nach seiner Kehle, wich seinen Zähnen aus, war hinter ihm, ehe er begriff, was geschah.

Janko, rief sie in Gedanken, und schon war der Bruder heran. Sein Schwung riss den älteren Wolf von den Beinen. Ildiko nutzte die Gelegenheit und verbiss sich in seinem Hals. Sie schmeckte sein Blut, süß und dick rann es ihre Kehle hinab.

»Es sind zwei?«, rief der Mann, seine Stimme klang schrill vor Überraschung. »Du hast zwei Bälger von diesem Türken?«

Ildiko kümmerte sich nicht darum, hörte einzig das Gurgeln des fremden Wolfs, dessen Leben zwischen ihren Zähnen aus ihm herausströmte. Doch Janko setzte über sie hinweg, auf den Mann zu.

»Nein!«, keuchte der Mann in diesem Moment. »Weib, untersteht Euch!«

Endlich ließ Ildiko ihr Opfer los und wandte sich um. Janko war vor dem Mann zum Stehen gekommen, denn Mutter hatte offenbar die Überraschung des Fremden ausgenutzt und presste ihm jetzt einen Dolch gegen die Kehle. Doch schon griff der Fremde mit beiden Händen nach ihrem Arm. Janko duckte sich winselnd.

Am Waldrand raschelte es, als zwei weitere Männer die Lichtung betraten.

»Was …«, rief der eine, und der andere packte den Bogen, der neben einem Pfeilköcher auf seinem Rücken hing. Ildiko zögerte nicht. Bringt zuerst die Männer mit den Schusswaffen zu Fall. Wie ein Echo aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihres Vaters. Nur im Nahkampf seid ihr als Wolf überlegen.

Sie sprang, und der Augenblick dehnte sich, wurde zu einer Ewigkeit. Dann prallte sie gegen den Mann, sein Körper war warm und feucht von Regen. Sie schnappte und zerrte, verbiss sich in seinem Arm und dann in sein Gesicht. Seine Schreie stachelten sie noch mehr an, ihr Puls trommelte voller Wut.

Als das Gesicht des Mannes kaum mehr als eine einzige blutende Wunde war, ließ Ildiko von ihm ab. Jetzt sah sie, dass Janko neben ihr war. Er hatte den anderen Angreifer zu Fall gebracht und stand über ihm, doch er zögerte zuzubeißen. Der Mann tastete bereits nach einem Dolch an seinem Gürtel. Mit einem Satz war sie bei ihm, stieß Janko zur Seite und biss dem Mann die Kehle durch. Sein Blut sprudelte aus dem aufgerissenen Hals und versickerte in der nassen Erde, während er unter ihr erschlaffte. Janko jaulte auf, dann war es ruhig.

»Ildiko. Janko«, sagte Mutter. »Kommt zu mir.«

Ihre Stimme zitterte, doch sie stand ruhig da, den blutigen Dolch ihres Opfers noch in der Hand. Sofort waren ihre Kinder bei ihr, schmiegten sich an ihren Rock, bis sie in die Knie ging und die beiden Wölfe in die Arme schloss. Janko leckte Ildiko über den Rücken, leckte das Blut fort, bevor es auf den Boden tropfte.

»Was hast du getan?«, murmelte Mutter, und als Ildiko ihr mit der Schnauze über das Gesicht fuhr, schmeckte der Regen salzig. »Ihr seid doch noch Kinder …«

Ildiko winselte. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Ihre Arme und Beine streckten sich. Das Fell zog sich zurück, und sie krümmte sich nackt in den Armen ihrer Mutter zusammen.

Sie lauschte, doch niemand sagte etwas. Sie hörte nur Mutters Pulsschlag, den von Janko und ihren eigenen. Die vier Körper der Fremden waren nur noch Schemen, die bereits mit dem Waldboden verschmolzen.

»Tot«, flüsterte sie. »Sie sind alle tot.« Ein Schauer rann über ihre Haut, und sie wischte sich mit den Händen über Gesicht und Lippen. Sie hatte immer noch den Geschmack von Blut im Mund, fremdem Blut, das in ihrem Magen revoltierte. In ihrem Kopf tobten die Bilder des Kampfs. »Ich wollte das nicht«, schluchzte sie und wusste doch, dass es eine Lüge war. Sie hatte es gewollt, für Janko, für ihre Mutter, und sie bereute es nicht. Sie fand den Blick ihres Bruders, vor dem sie nichts verbergen konnte. Er wimmerte und wich zurück, schmiegte seinen nackten Körper enger an Mutter. Dann wandte er auch den Blick von ihr ab, und seine Furcht kroch in ihr hoch, umschlang sie ganz und gar, Furcht vor der Finsternis in ihr selbst.

* * *
Istanbul, im Serail des Sultans, zur gleichen Zeit

Sultan Mehmed, der größte Herrscher unter der Sonne, der Schatten Allahs auf Erden und Fürst der Gläubigen, er war nur noch wenige hundert Schritte und zwei Mauern von ihm entfernt. Adem konnte kaum stillsitzen.

»Deine Hände flattern, als wolltest du Schmetterlinge fangen.« Sein Vater musterte ihn mit kritischem Blick. Rasch verschränkte Adem die Arme hinter dem Rücken.

Er war stolz, heute hier zu sein, ja, das war er. Und er wollte seinem Vater, dem Ali-Bey, auf keinen Fall Schande bereiten. Seit Wochen redete ihre Familie über nichts anderes als über den Tag, an dem Adem dem Sultan vorgestellt werden sollte. Selbst seinem Onkel Harun war gestern die Anspannung anzumerken gewesen, dabei stand er doch als religiöser Gelehrter meist über allen weltlichen Dingen. Gestern war Adem zwölf Jahre alt geworden, und heute würde es sich entscheiden, ob der Sultan ihn in den Palastdienst aufnehmen würde. Adem selbst wäre lieber zum Militär gegangen wie sein Vater, der unter den Rossschweifen des Sultans in den Kampf zog, um das Osmanische Reich über alle Grenzen auszudehnen. Doch der Ali-Bey interessierte sich nicht für Adems Meinung.

In deinem Blut fließt das edelste Turkmenentum, hatte er heute nach dem Morgengebet gesagt. Dein Großonkel war Halil Pascha, der Großwesir, der dem Sultan und dessen Vater bis in den Tod treu gedient hat. Du wirst wie er im Serail wohnen. Du wirst achtsam sein und dich klug verhalten, denn als mein einziger Sohn bist du zu Großem bestimmt.

Adem musterte seinen Vater. Eine breite Narbe zerfurchte seine Schläfe, seit ihn in seiner Kindheit ein Pferd abgeworfen hatte. Diese Narbe war der Grund, dass sein Vater niemals selbst in den Palastdienst eingetreten war. Der Sultan bevorzugte Hofdiener mit wohlgestalteten Gesichtszügen. Ob er wohl Adem für geeignet hielt?

Ali-Bey erwiderte den Blick seines Sohnes mit hochgezogenen Augenbrauen.

Rasch wandte Adem sich ab und schaute sich um. Sie saßen auf einer Bank im zweiten Hof des Serails, des Sultanspalasts von Istanbul, der allein schon so groß war wie ein ganzes Stadtviertel. Zierliche Brunnen standen zwischen Zypressen, und auf einer Grünfläche weideten zahme Rehe. Allerlei Würdenträger schlenderten über gepflasterte Wege, und zwischen ihnen eilten Sklaven hindurch, die mit ihren ockerfarbenen Kitteln und den bartlosen Gesichtern deutlich von den Osmanen zu unterscheiden waren.

Adem spürte, wie die Aufregung wie eine Schlange in ihm herumkroch, seine Wangen glühen und seine Finger zittern ließ.

Bald würde er die Hand des Sultans küssen! Er würde den Kopf dabei gesenkt halten, doch er hatte vor, so viele Blicke wie möglich zu riskieren. Er hatte seiner Mutter versprochen, ihr von all den Kostbarkeiten zu erzählen, die er erspähen konnte. Wie jede Frau, die diesen Bereich des Palastes nicht betreten durfte, interessierte sie sich brennend dafür.

»Selamun aleyküm, Ali-Bey, welch Freude, dein Gesicht zu sehen!« Eine gekünstelte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Ein Mann war vor ihnen stehen geblieben. Er war groß, bestimmt eine Handbreit größer als Adems Vater, der sofort auf die Füße gesprungen war. Auch Adem erhob sich und betrachtete den Fremden neugierig. Er trug keine Kopfbedeckung auf seinem kahlen Schädel. Wie die Ungläubigen war er bartlos, und seine Haut sah weich und so hell aus, als käme er aus dem fernen Norden. Blaue Augen blickten aufmerksam zwischen Adem und seinem Vater hin und her.

»Aleyküm selam, Sulejmân-Pascha.« Sein Vater senkte das Haupt, und als er sich wieder aufrichtete, berührte er Mund und Stirn mit der rechten Hand, um seine Ehrerbietung zu zeigen.

Rasch tat Adem es ihm nach. Dabei riss er staunend die Augen auf. Das also war Sulejmân, den der Sultan trotz seiner gerade einmal zwanzig Jahre bereits zum Pascha erhoben hatte. Als Kind war Sulejmân aus Bosnien entführt worden, so erzählten es die Leute. Seine Schönheit und Klugheit hatten es dem Sultan so angetan, dass er den Jungen zwar seiner Männlichkeit beraubt, ihn jedoch in den folgenden Jahren als Ratgeber in seinen Diwan berufen hatte. Aufgrund der großherrlichen Gunst war Sulejmân heute einer der wichtigsten Männer im Osmanischen Reich.

»Und dies ist dein Sohn, Ali-Bey?« Der Eunuch lächelte, doch der Junge spürte, wie ihn die eisblauen Augen prüfend musterten. »Wahrlich, ein ansehnlicher Bursche. Wie heißt du?«

»Adem heiße ich, hoher Herr.« Er strich sich über die Weste, die er über einem neuen Kaftan trug.

»Wartet ihr auf eine Audienz bei unserem Sultan? Gepriesen sei er, unser Herrscher.« Sulejmân wandte sich von Adem ab. Seine Miene wurde ernst, während er einen weiteren Schritt auf Adems Vater zutrat. »Ich fürchte bei meinem Herzen, dass ihr einen schlechten Tag gewählt habt.« Er senkte seine Stimme. »Ihr wisst sicher, dass die Pest, der vergiftete Atem des Scheitans, erneut in den Armenvierteln der Stadt wütet.«

Adem lauschte beklommen. Wachen hinter dem ersten Tor des Serails hatten jeden, der den Palast betrat, sorgfältig gemustert, ob er nicht krank war. Der Sultan fürchtete sich angeblich vor der Seuche wie vor dem Bösen selbst, und Adem konnte es ihm nicht übelnehmen. Es wäre nicht auszudenken für das Reich, wenn sich der Herrscher mit der tödlichen Krankheit ansteckte.

»Soeben habe ich eine schlechte Nachricht erhalten.« Sulejmâns Stimme war kaum mehr als ein Wispern. »Fachr ed-Dîn ist vor wenigen Stunden der Seuche erlegen.«

Adem stockte der Atem. Fachr ed-Dîn, der langjährige Muftî von Istanbul und Mehmeds persönlicher Rechtsgelehrter!

»Allah sei seiner Seele gnädig«, murmelte sein Vater.

»Ich befürchte, der Sultan wird nach dieser schrecklichen Nachricht augenblicklich die Stadt verlassen wollen, um zu vermeiden, dass weitere Mitglieder seines Hofstaats der Seuche zum Opfer fallen«, sprach der Eunuch weiter. »Dies wird all unsere Pläne ändern. Ali-Bey, als Oberst der Sipahi-Truppen bitte ich dich, dass du mich sogleich zum Sultan begleitest. Nach den anderen Heerführern habe ich bereits schicken lassen.«

Der Ali-Bey nickte mit ernster Miene. Adem wusste, dass der Sultan erst vor wenigen Wochen von einer siegreichen Schlacht aus Karaman zurückgekehrt war. Doch schon sprach die ganze Stadt von einem neuen Feldzug, der angeblich im Geheimen geplant wurde. Gegen Uzun Hasan und seine turkmenischen Steppenhorden sollte es gehen, mutmaßten die einen, gegen König Mathias Corvinus und das ungarische Reich, glaubten die anderen. Ali-Bey hatte die letzten Tage oft bis spät in die Nacht im Palast verbracht. Nicht einmal seine Familie hatte er eingeweiht, worüber er mit den anderen Heerführern sprach.

»Warte hier auf mich«, befahl er Adem. »Zum Abendgebet sollte ich wieder zurück sein.«

Adem öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder. Sein Vater und der Pascha eilten bereits davon, auf den Durchgang zum nächsten Hof zu. Enttäuscht setzte er sich wieder auf die Bank. Seine Hoffnung, den Sultan zu treffen, verflog im Winterwind. Wäre er doch nur endlich erwachsen, könnte er doch nur die Geschicke des Reiches mitbestimmen wie sein Vater!

Er beobachtete die Männer, die um ihn herum gemächlich ihren Diensten nachgingen. Alle ignorierten ihn, und die Zeit tropfte zäh und klebrig wie Honig dahin. Irgendwann warfen die Bäume lange Schatten über den Innenhof. Adem bekam allmählich Hunger. Er stand auf, dann setzte er sich wieder hin. Die Düfte aus den nahen Küchengebäuden waren zwar verlockend, doch sein Vater würde wütend sein, wenn er ihn bei seiner Rückkehr nicht mehr vorfand.

Plötzlich kam Bewegung an den Toren auf, Bedienstete stürmten wie von einer Windböe getrieben über den Hof.

»Sultan Mehmed reist heute Abend noch ab«, rief einer. »Er wird nach Edirne reiten, und der Hofstaat wird ihn begleiten. Macht Platz, macht Platz!«

Schon führten Knechte mehrere prächtige Hengste vorbei, die persönlichen Pferde des Sultans. Sklaven schleppten Karaffen und schwere Kisten. Beamte eilten mit wehenden Mänteln an Adem vorbei. Dann öffnete sich das Tor, durch das sein Vater gegangen war. Zwei Dutzend Eunuchen traten heraus. Sie eskortierten eine Anzahl verschleierter Frauen über den Hof. Adem setzte sich auf. Waren das Ehefrauen des Sultans?

»Was machst du hier?« Ein Janitschar war neben Adem stehen geblieben und schaute grimmig auf ihn herab. Sein Rangabzeichen wies den Mann als Ağa aus, einen Hauptmann. Die eisenbeschlagenen Spitzen seiner Schaftstiefel funkelten in der Abendsonne. Erschrocken sprang Adem auf die Füße.

»Entehre die hohen Frauen nicht mit deinen Blicken«, knurrte der Krieger. »Such dir einen anderen Platz zum Herumlungern, wenn du keine Aufgabe hast!«

»Aber …«

»Fort mit dir!« Der Mann trat einen Schritt auf ihn zu, und Adem wich zurück.

»He!« Ein Silbertablett mit Zinnbechern schwankte Adem bedrohlich entgegen. Erst im letzten Moment fing der Bedienstete sein Gleichgewicht wieder und balancierte das Tablett mit beiden Händen. »Geh aus dem Weg.« Er blitzte Adem böse an.

Adem richtete sich auf. Auch der Hauptmann beobachtete ihn immer noch missbilligend. Als wäre er ein Bettelkind, das sie herumscheuchen konnten! Er stammte aus einer stolzen Familie, er musste sich das nicht bieten lassen.

»Ich bin der Sohn des Ali-Bey, der beim Sultan weilt, um den Feldzug zu besprechen!« Er starrte den Bediensteten so finster an, dass dieser den Blick senkte. »Du solltest mir aus dem Weg gehen, wenn du dir nicht meinen Zorn zuziehen willst!« Er fuhr herum, und ohne sich noch einmal umzudrehen, eilte er über den Hof davon. Keinesfalls wollte er mehr den Eindruck erwecken, untätig herumzusitzen. Sein Weg endete vor den Küchenbaracken, die er vorhin schon ins Auge gefasst hatte.

Er schob die Tür auf. Es herrschte hektisches Treiben. Köche und Sklaven hasteten herum, in riesigen Pfannen schmorten Zwiebeln und Knoblauch in Olivenöl, und aus Kesseln, so groß wie Fässer, dampfte und brodelte es. Es roch nach tausenderlei Gewürzen und Kräutern, doch vor allem nach frisch gebackenem Brot. Auf Adems Frage hin händigte ihm ein Sklave einen der flachen Fladen aus, die in Öl gebacken und mit Sesam bestreut waren. Hungrig biss er hinein, dann ging er mit dem Brot in der Hand weiter. Ständig musste er Sklaven ausweichen, die Körbe voller Brot und getrocknetem Hammelfleisch, Zwiebeln und Ziegenkäse an ihm vorbeitrugen, Proviant für die Reise des Sultans. Gehetzte Blicke streiften ihn, und er wusste, dass er im Weg war. Doch er schüttelte das schlechte Gewissen ab – sollte er in den Palastdienst eintreten, würde dies schließlich sein Zuhause sein. Stolz straffte er die Schultern.

Durch einen Hinterausgang trat er in eine schmale Gasse. Er überquerte einen kleinen, schlammigen Platz mit einem Brunnen, aus dem mehrere Männer Wasser schöpften. Hier mussten die Sklaven wohnen, und dort waren die Stallungen, ein Gewirr von Holzgebäuden, aus denen er Schafe blöken hörte. War er überhaupt noch im Serail? Er war plötzlich unsicher, doch statt stehen zu bleiben, beschleunigte er seinen Schritt. Es wäre beschämend, wenn er den Weg zurück nicht aus eigener Kraft fände. Er schob sich an zwei Karren vorbei, durchquerte einen Säulengang, und dann stand er plötzlich wieder im Freien. Ein verlassener Garten breitete sich vor ihm aus. Rosenhecken, Reihe um Reihe, angeordnet wie Ringe, schlossen sich um eine Laube aus alten Weinstöcken, die von einem prachtvollen Baldachin überspannt war. Adem folgte einem der schmalen, gewundenen Pfade und bemühte sich, nicht mit seinem neuen Gewand an den Dornen hängenzubleiben. Hinter dem Garten tauchte die Abendsonne die Mauern des Palasts in rotes Licht. Und dort an der Seite war ein weiterer Durchgang. Bestimmt würde er dort wieder zum Haupthof kommen. Vater wartete vielleicht schon auf ihn, denn bald würde der Muezzin zum Abendgebet rufen.

Er ging schneller, dann blieb er stehen. Er hatte sich geirrt, das war kein Durchgang, sondern nur der Eingang in ein weiteres Gebäude. Er runzelte die Stirn. Sollte er umkehren? In diesem Moment hörte er Schritte und ein Klirren, als würde Metall auf den Boden scheppern. Neugierig sprang er die wenigen Stufen zur Pforte hinauf und lugte den dunklen Gang hinunter. Vier Janitscharen kamen auf ihn zu. Er riss die Augen auf. Sie führten einen Gefangenen zwischen sich, hielten ihn an schweren Eisenketten, die sich um seine Handgelenke schlangen. Der Mann schlurfte mit gesenktem Kopf, so dass Adem nur einen wirren Haarschopf sah, durch den sich graue Strähnen zogen. Er schauderte. Wie gefährlich musste dieser Gefangene sein, wenn die bewaffneten Krieger ihn so fesselten!

Den Janitscharen folgten ein halbes Dutzend Sklaven. Sie taumelten unter dem Gewicht eines leeren Metallkäfigs, der fast eine Mannslänge hoch und breit war. Was hatten sie damit vor?

»Verschwinde von hier!« Das raue Bellen eines Janitscharen riss Adem aus seinen Gedanken. Die grimmigen Mienen der Männer ließen ihn auf dem Absatz umkehren und die Treppe zum Rosengarten hinunterspringen. Dort verharrte er jedoch, immer noch von Neugier getrieben.

»Geht vor, macht schon!«, hörte er den Janitscharen bellen. Das Geklirr der Ketten verstummte. Dann traten die Sklaven durch die Pforte in den Rosengarten. Ihre Gesichter glänzten vor Schweiß. Adem wich weiter zurück, folgte dem gewundenen Pfad zur überdachten Laube. Bis auf ein paar gestapelte Holztruhen war sie leer. Er verbarg sich hinter dem dünnen Vorhang aus Weinblättern und lugte zurück. Zu gern wollte er wissen, was dort vor sich ging!

»Öffnet den Käfig.«

Die Sklaven gingen ächzend in die Knie und luden den Käfig ab, der gefährlich schwankte.

Der Gefangene war im Abendlicht stehen geblieben. Er hielt die Augen geschlossen, das Gesicht in die Sonne gereckt. Unter dem grauen Bart war er bleich, als wäre er lange nicht mehr draußen gewesen. Eingefallen sah er aus, alt. Doch plötzlich begann er zu lächeln, und seine Nasenflügel weiteten sich. »Hier«, sagte er. »Endlich.«

In seiner melodischen Stimme schwang etwas, vor dem Adem zutiefst zurückschreckte. Böse, flüsterte sein Instinkt. Sein Herz schlug laut wie ein Schmiedehammer.

Die Janitscharen schienen allerdings nicht beeindruckt zu sein. Einer packte die Kette und zerrte daran, um den Mann zum Weitergehen zu zwingen. Ohne die Augen zu öffnen, machte der Gefangene einen Schritt – und stolperte über die Stufen.

Er fiel nach vorne, fiel, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen, und riss drei seiner Gefangenenwärter mit sich.

»Ihr lahmen Söhne eines Kamels!«, schimpfte der Anführer, der als Einziger stehen geblieben war. »Ihr …«

Adem keuchte auf. Jäh war der Gefangene in die Höhe geschnellt und riss jetzt die Hände nach oben. Seine Ketten zischten wie Peitschen durch die Luft. Er schlang das Eisen um den Hals des Anführers. Der Mann strauchelte, riss seinen Mund auf, doch kein Wort drang heraus. Dann sackte er zusammen, die Augen verdreht. Schon ließ der Gefangene von ihm ab und wandte sich den anderen Janitscharen zu.

Adem wollte schreien, doch kein Ton kam über seine Lippen. Stattdessen schrien die Sklaven und wichen mit furchtsam aufgerissenen Augen zurück.

»Lauft«, rief einer der Janitscharen, »holt Unterstützung!« Er zog seinen Säbel aus dem Gürtel. Doch der Gefangene schwang erneut seine Fesseln mit furchtbarer Wucht gegen die Wärter. Zwei traf er im Gesicht und brachte sie damit zum Taumeln. Dem Dritten rammte er seine Schulter in die Brust.

»Was machst du hier?« Neben Adem tauchte plötzlich einer der Sklaven auf, die den Käfig getragen hatten, ein Junge, kaum älter als er selbst. Er packte Adem am Kaftan und zog ihn mit sich. »Du musst dich verstecken, schnell, bevor er uns erwischt!«

»Wohin …« Adem sprach nicht weiter, denn der Junge deutete nur auf die Holztruhen, und schon waren sie dahinter auf den Knien, hielten die Köpfe gesenkt und starrten sich mit furchtsamen Augen an.

»Solltest du nicht Hilfe holen?«, flüsterte Adem. Doch der Sklave schüttelte den Kopf.

»Dann wird er mich kriegen«, wisperte er. »Er tötet uns alle, der graue Fremde.«

»Wer ist er?«, flüsterte Adem.

»Ich weiß es nicht.« Der Junge schüttelte den Kopf, doch Adem konnte sehen, dass er log. »Ein persönlicher Gefangener des Sultans. Der hohe Herr wollte ihn mitnehmen nach Edirne …« Er verstummte und duckte den Kopf zwischen die Schultern.

Adem fragte nicht weiter, sondern lauschte. Waffen und Ketten klirrten, ein Mann brüllte, ein anderer stöhnte. Doch er hörte die schrillen Schreie der Sklaven nicht mehr, sie waren wohl alle davongelaufen. Allah kerim, sie mussten ebenfalls fliehen, bevor der Mann sie entdeckte! Vorsichtig richtete er sich auf, spähte zwischen den Weinstöcken hinaus. Gerade beugte der Mann sich mit dem Rücken zu ihnen über den letzten Janitscharen und zog die Kette fest um seine Kehle. Dann richtete der Fremde sich auf und schlang sich die Eisenketten so geschwind um die Arme, als wären sie Stoffbänder.

Mit lautlosen, großen Sätzen sprang er über die Reihen der Rosenbüsche hinweg. Nicht auf den Pavillon zu, sondern in Richtung der Mauer. Er erinnerte Adem an ein Tier, an eine große, kraftvolle, gefährliche Kreatur. Eine Katze, nein, einen Wolf. Wie gebannt sah er zu, als der Fremde plötzlich verharrte und sich bückte. Tief senkte er den Kopf, als wollte er am Boden horchen. Dann begann er in der Erde zwischen den Büschen zu graben. Was suchte er dort? Ein Scharren ertönte, als ob Krallen wühlten … Adem erwachte aus dem Bann und erkannte die Gelegenheit.

»Gehen wir!«, zischte er dem Sklavenjungen zu. Doch der starrte nur mit bebenden Schultern auf den Boden. Adem zerrte ihn auf die Beine. »Rasch!«

Im gleichen Augenblick fuhr der Fremde in die Höhe. Hass und Triumph zugleich verzerrten seine Züge zu einer Fratze. In der Hand hielt er etwas, einen länglichen, spitzen Gegenstand. Einen Dolch?

»Komm!« Adem schrie nun, stolperte fast über die Truhen, riss den Sklavenjungen mit sich. Schon waren sie zwischen den Weinstöcken, vor ihnen die andere Seite des Rosengartens und der Weg zu den Stallungen, den Adem vorhin gekommen war.

Nur einen letzten Blick riskierte er über die Schulter, und der rettete ihm das Leben. Er ließ den Jungen los, warf sich zur Seite, und der Dolchhieb ging ins Leere. Wie war der Mann so schnell herangekommen?

Gurgelnd ging der Sklave in die Knie. Der zweite Hieb des Fremden hatte ihm die Kehle durchtrennt. Adem atmete selbst nicht mehr, so schien es ihm, als er sah, wie die Augen des Jungen brachen. Der Sklave kippte hintenüber, und der Fremde wandte sich Adem zu. Er sprang auf und wich zurück. Dann sah er dem Mann in die Augen. Sie waren grau wie ein Abgrund aus uralten Felsen, der ihn zu verschlingen drohte. Böse, kreischte sein Innerstes auf.

»Dschinn!« Er hob die Hand zur Abwehr gegen den bösen Blick und wich zurück. »Du bist kein Mensch, du bist ein Dämon!«

»Ach ja?« Der Mann blieb stehen, von seiner Waffe tropfte Blut. Adem erkannte, dass sie zu fahl für eine Dolchklinge war. Ein Knochen?

Der Fremde kam näher. »Wer bist du, dass du das behauptest?« Seine Stimme klang sanft, als interessierte er sich wirklich dafür.

»Ich …« Plötzlich brach Adems Stimme. Der Mann würde ihn töten, er wusste es. »Deine Augen.«

»Meine Augen?« Der Mann hob die Brauen. »Musst du dich denn nicht abwenden, wenn ich dich ansehe?«

Seine Augen verengten sich, und Adem starrte ihm weiterhin ins Gesicht, er konnte nicht anders. Grau wie Nebel waren diese Augen, grau wie Wolfsfell im Winterwind …

Adem keuchte. Der Mann trat einen weiteren Schritt auf ihn zu.

»Ich fürchte dich nicht, du Tierdämon!« Er spie die letzten Worte mit Verzweiflung heraus, dann schloss er die Augen. Jetzt würde er sterben.

Ketten klirrten.

»Tierdämon?« Der Mann wiederholte das Wort leise, zärtlich fast. »Schau mich an.«

Adem duckte sich, doch dann spürte er die Finger des Fremden an seiner Kehle. »Schau mich an!«

Er riss die Augen auf. Das Gesicht des Mannes berührte ihn fast, sein Blick glitt nachdenklich über Adems Züge, als suchte er etwas.

»Wie heißt du?«

Er spürte nichts als die Finger an seinem Hals, ein todbringendes Streicheln, das die Zeit zum Stillstand brachte.

»Adem«, flüsterte er.

»Adem. Deine Augen sind wie meine«, murmelte der Fremde. »Ich würde dich mitnehmen, wenn ich könnte, ja, das würde ich.« Plötzlich lachte er auf. »Aber stattdessen gebe ich dir etwas.«

Plötzlich riss er Adem an sich heran, in eine feste Umarmung, die den Jungen erstarren ließ. Etwas Spitzes bohrte sich in seinen Rücken. Er keuchte auf. Tränen verschleierten seinen Blick. Ein Brennen durchfuhr ihn wie flüssiges Feuer, ein ziehender, scharfer Schmerz. Und es hörte nicht auf, es war, als zöge die Knochenwaffe eine Spur aus flammenden Stichen und Strichen über seinen Rücken, ein Gemälde der Qual, unter dem Adem meinte zu verglühen.

Schreie durchbrachen die Luft, er hörte Rennen und Stampfen.

»Ja, ich bin ein Tierdämon.« Wieder lachte der Mann, tonlos und dunkel. Adem blinzelte zur Pforte hinüber, suchte einen letzten Halt in dem, was er sah. Ein Dutzend Janitscharen kamen von dort. An ihrer Spitze lief Sulejmân-Pascha mit wehendem Kaftan, sein glattes Gesicht zu einer Grimasse der Wut verzerrt.

Der Fremde knurrte, ein Grollen, das tief aus seiner Kehle kam. »Ihr werdet euch noch wünschen, mich niemals gesehen zu haben. Aptal domuz soyu – ihr seid nichts anderes als ein dummes Volk von Schweinen, bereit für die Schlachtbank.«

Plötzlich verschwand seine Hand von Adems Kehle. Der Mann trat zurück. Adem sank in die Knie und schloss die Augen. Es war, als würde sich das Feuer von seinem Rücken immer weiter über ihn ausbreiten, über seine Brust, seine Schultern, seinen Hinterkopf … Dunkelheit ergriff ihn. Er wurde verzehrt. Und durch das Fieber, das seinen Körper schüttelte, konnte er noch etwas anderes spüren, eine unheimliche, uralte Präsenz, die sich wand und nach ihm schnüffelte, heiß und mächtig und auf der Suche nach Beute.

»Nein!«, schrie er und riss die Augen auf.

Der Fremde sah ihn an. Und Adem war es, als erblickte er ihn zum ersten Mal in seiner wirklichen Gestalt. Ein Schatten wogte über dem Kopf des Mannes, schmiegte sich zugleich wie Nebel an seine Fersen. Fast mannshoch war er, schimmerte schwarz. Spitze Ohren, spitze Zähne, ein Glühen wie von bösen Augen.

»Wolf«, flüsterte Adem, und der Mann lachte ein letztes Mal auf. Dann fuhr er herum und sprang so schnell über die Rosenbüsche, dass seine Bewegungen zu verschwimmen schienen. Schon war er an der Mauer, die den Palast von der Stadt trennte. Unüberwindbar funkelten die weißen Steine im Abendlicht, überragten den Fremden ums Dreifache. Er klemmte sich den Knochen zwischen die Zähne und begann zu klettern.

»Haltet ihn auf!« Sulejmâns Schreie klangen schrill. Adem konnte den Blick nicht von dem Fremden abwenden. Der Wolfsschatten umhüllte ihn und färbte das Weiß der Mauer grau. Und schon war der Mann oben, schneller als jeder Mensch. Ohne sich umzudrehen, sprang er auf der anderen Seite hinunter und verschwand.

2. Kapitel

Sieben Jahre später – Gebirgssee von Ahlat, Reich von Uzun Hasan, im Spätherbst 1475

Ildiko rannte und rannte. Der Stein unter ihren nackten Füßen war feucht, und der Atem stand in weißen Wolken vor ihrem Gesicht. Dort, den steilen Abhang hinauf!

Hinter sich hörte sie Janko keuchen. Sie grinste. Ihr Bruder hatte Mühe, mit ihr mitzuhalten. Kein Wunder – seit die Tage kälter und die Nächte länger geworden waren, hatte er sich mit den Aufzeichnungen ihres Vaters verkrochen. Doch auch ohne ihre tägliche Übung war sie schneller als er, schneller als alle, die sie kannte.

Sie sprang über einen Felsbrocken und gab acht, dass sie auf den glitschigen Steinen nicht ausrutschte. Gestern hatte es geregnet, und auch heute Morgen hingen die Wolken grau und schwer am Himmel. Doch es war schön, draußen unterwegs zu sein und den kalten Wind auf den Armen und im Gesicht zu spüren.

Der Geröllhang wurde flacher, Gras und niedrige Büsche lösten die Felsen ab. Ildiko setzte über einen weiteren Brocken hinweg, dann bog sie die Zweige eines Kreuzdorns auseinander. Wassertropfen spritzten ihr ins Gesicht. Sie lachte.

»Dort oben!« Sie drehte sich zu Janko um. Er war nur wenige Schritte hinter ihr. »Da haben wir den besten Blick.«

Sie waren auf einer Bergkuppe angelangt. Moosiges Gras bedeckte den Hang, Flecken von braunen und grünen Halmen auf gelbem Gestein. Ein Wildwechsel führte zu einem Felsen, der sich drei Mannslängen über der Kuppe erhob. Ildiko konnte die Fährte mehrerer Gemsen riechen, die vor nicht allzu langer Zeit über den kargen Boden gewandert waren. Unwillkürlich spitzte sie die Ohren.

»Das lohnt sich nicht, sie sind zu weit weg«, sagte Janko hinter ihr. »Außerdem hat Mutter schon eine Ziege für das Gastmahl geschlachtet.«

Im letzten Satz schwang ein Unterton mit, und Ildiko wusste wie immer genau, was er nicht aussprach: dass sie lieber Mutter hätte helfen sollen, statt sich hier herumzutreiben. Sie schnaubte. Sollte er sich doch einmal dazu bequemen, das Feuer zu schüren und den Brotteig zu kneten.

Mit wenigen Schritten war sie am Felsen angelangt und suchte mit den Fingern nach Ritzen in dem porösen Stein. Sie zog sich hinauf und achtete darauf, sich nicht die Füße an den scharfen Kanten aufzureißen.

Dann war sie oben. Sie setzte sich an die Kante und atmete tief ein. Ihr Herz schlug wieder ruhig und gleichmäßig.

Unter ihr breitete sich der Gebirgssee fast bis zum Horizont aus, grau und dunkelblau schimmernd, ein Spiegelbild der Wolkenmassen, die sich Richtung Osten schoben. Rechts und links erstreckten sich baumlose Ebenen und Berge, deren braune Hänge trügerisch sanft aussahen. Nur wenige Bäume und Menschen hielten in diesen kargen Höhen der Wucht von Wind und Winter stand. Dunst verwischte die Konturen am gegenüberliegenden Ufer, dort, wo die Bergspitzen bereits weiß waren. Bald würde der Schnee auch das südliche Ufer erreicht haben.

Ildiko seufzte, und ihre Freude war wie weggewischt. Es würde der zweite Winter sein, den das Rudel in dieser Einöde verbrachte. Wenn in den langen Nächten die Schneestürme über dem See und den Bergen wie finstere Götter wüteten, durften nicht einmal mehr die Männer jagen gehen – und die Langeweile in der Enge der Hütten würde furchtbar sein.

»Trübe Gedanken?« Janko ließ sich neben ihr nieder. Wie stets ließ er ein bisschen Abstand zwischen ihnen, berührte sie nicht. Ildiko seufzte erneut.

»Ich hasse den Winter.«

»Ich weiß.« Janko hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und sah hinunter auf die Wasserfläche.

Ildiko musterte ihn, das schmale Gesicht mit der hohen Stirn, das dem ihren so ähnlich war. Doch bei ihm bedeckten Bartstoppeln die Wangen und ließen ihn älter wirken. Er war fast schon ein Mann, und er sah ihrem Vater immer ähnlicher. Ihrem Vater, dem Grund für ihr Leben auf der Flucht. Ildiko konnte die vielen Orte, die sie auf ihrer Reise gesehen hatte, gar nicht mehr zählen. Sie waren in der Walachei gewesen, in Serbien und im Türkischen Reich. Doch nirgends hatten sie lange bleiben können, denn der Wolfsbund verfolgte sie. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Alte Männer mit oberflächlichem Prunk und einem falschen Lächeln, hinter dem sie ihre Wolfszähne vor den Menschen versteckten, so stellte sie sich die Mitglieder des Geheimbunds vor. Sie schienen besessen vom Kampf gegen die Türken und sahen es als ihr Vorrecht an, alle Wolfsrudel Europas zu beherrschen. Sollten sie doch versuchen, Ildikos Familie zu unterdrücken, sie würde es ihnen schon zeigen! Ihr Vater sagte allerdings, diese alten Männer seien gefährlich, denn mit ihrer Macht beeinflussten sie Könige und Kirchenmänner. Er musste es wissen, denn einst hatte er zu ihnen gehört. Der Bund hatte ihn jedoch verstoßen, als die Alten herausfanden, dass er durch Geburt ein halber Türke war. Und nicht nur irgendeiner, sondern ausgerechnet der Halbbruder des Sultans. Pah! Sie schüttelte sich innerlich. Diese Verwandtschaft war Schande und Fluch für ihr Rudel, das hatte ihr Vater einmal selbst gesagt.

Die Türken teilten diese Meinung, und deshalb waren sie wie der Wolfsbund hinter ihrem Vater her, um ihn zu töten. Ildikos Wut auf all die Fremden, die auf diese Weise ihr Leben bestimmten, war in den letzten Jahren zu einem tiefen Groll gewachsen. Vater duldete allerdings keine Diskussionen, die ihre jahrelange Flucht in Frage stellten.

Er war ein eher schweigsamer Mann, und Janko war ihm darin sehr ähnlich. Er schien oft unerreichbar, während seine Gedanken wie Zugvögel in die Ferne schweiften. Ildiko konnte seine Gedanken zwar nicht lesen, doch sie spürte es, wenn er sich wieder einmal in ihnen verlor. Seit diesem Sommer schien er sich mehr denn je von ihr zu entfernen. Ein Wunder, dass er überhaupt eingewilligt hatte, sie zu diesem Ausflug zu begleiten!

Sie schüttelte den Kopf, befreite sich von ihren trüben Gedanken. Grübeln hatte ihr noch nie weitergeholfen.

»Siehst du sie schon?«, fragte sie.

Janko kniff die Augen zusammen, und sie tat es ihm nach. Dort unten, zwischen den Felsen, die das Ufer des Sees von Ahlat begrenzten, verlief ein schmaler Pfad, den nur wenige Menschen kannten. Und dort, noch viele Pfeilschusslängen entfernt, bewegte sich tatsächlich etwas.

»Sie sind es!« Sie sprang auf die Beine und lachte laut heraus. Es gab nichts, was ihre Laune schneller wieder hätte heben können. Endlich hatte die Langeweile ein Ende, endlich würde sie ihren Freund Ilai und die anderen Roma wiedersehen. Die einzigen Menschen, die ihr Rudel Freunde nennen konnte.

»Ob sie gute Nachrichten bringen?« Janko war ebenfalls aufgestanden, doch er runzelte die Stirn.

»Du bist ein Schwarzseher.« Ildiko grinste ihn an. »Komm.« Sie tanzte auf dem Felsen auf und ab. »Beeilen wir uns, damit wir vor ihnen da sind.«

 

Die Roma trafen mittags ein, als es die Sonne endlich schaffte, ein paar kraftlose Strahlen durch die Wolkendecke zu schicken. Ildiko verließ das Küchenfeuer, um ihnen entgegenzulaufen.

Die vier Neuankömmlinge führten ihre Pferde am Zügel, zwei Hunde sprangen um sie herum. Ildiko konnte ihren Menschengeruch wahrnehmen, süß und andersartig zugleich. Ihm fehlte der dunkle Duft, den sie von ihrem Rudel gewohnt war. Und da war noch mehr, ein Geruch, der einzig das Volk der Roma begleitete, nach exotischen Gewürzen, Safran und Ingwer. Auch ihre Kleidung war fremdartig, bunte Tücher und dunkle Pelzumhänge mit Fransen, darüber ihre nicht weniger dunklen Gesichter.