Wir leben in einer Welt, in der fast alles, was wir tun, Spuren hinterlässt.
Kann aus den digitalen Daten, die ein Mensch im Laufe seines Lebens produziert, seine Persönlichkeit ermittelt werden: sein Humor, seine Empathie, seine Art zu denken und zu fühlen? Kann mithilfe Künstlicher Intelligenz diese Persönlichkeit nach dem Tod wiederbelebt werden, mitsamt ihrer Stimme? Die preisgekrönten Dokumentarfilmer Moritz Riesewieck und Hans Block beobachten, wie die ersten Kund*innen ihren digitalen Klonen begegnen und Stimmen von Verstorbenen mit den Trauernden sprechen. Sie erzählen von herzzerreißenden, skurrilen und witzigen Begegnungen mit den neuen Un-Toten. Während sich mehr und mehr Menschen von den Religionen abwenden, erfährt der Glaube an ein Leben nach dem Tod im Digitalzeitalter eine überraschende Renaissance. Entsteht hier eine neue, weltliche Heilserzählung: die digitale Unsterblichkeit?
»Ein kluges, extrem spannend zu lesendes Buch.« Radio Eins
»Zwei mutige und kreative Autoren, die die digitale Revolution von ihrer gefährlichen Seite betrachten.« WDR
»Leidenschaftlich, kritisch, neugierig und unvoreingenommen beleuchten [Riesewieck und Block] eine bisher kaum bekannte digitale Welt zwischen Leben und Tod.« Galore
Der gekürzte Neuauftritt des Hardcover-Ausgabe »Die digitale Seele. Unsterblich werden im Zeitalter Künstlicher Intelligenz« (Goldmann, Herbst 2020).
Hans Block und und Moritz Riesewieck
(beide *1985) sind Shootingstars des internationalen Dokfilm-Kinos. Ihr Debütfilm »The Cleaners« wurde unter anderem mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet und für einen Emmy nominiert, ihr TED-Talk über die geheimen Löschtrupps der sozialen Netzwerke erreichte ein Millionenpublikum. Unter dem Label Laokoon entwickeln Hans Block und Moritz Riesewieck zusammen mit Cosima Terrasse viel beachtete künstlerische und crossmediale Projekte. Ihre Arbeiten setzen sich mit der Frage auseinander, wie sich unsere Vorstellung von Mensch und Gesellschaft im digitalen Zeitalter verändert.
MORITZ RIESEWIECK HANS BLOCK
VOM ENDE DER
ENDLICHKEIT
Unsterblichkeit im Zeitalter
Künstlicher Intelligenz
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung hinweisen.
Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechtsinhaber ausfindig zu machen. Sollte dies im Einzelfall einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir berechtigte Ansprüche natürlich branchenüblich honorieren.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München, unter Verwendung von Motiven von FinePic®, München, und ConsistentHypocrite
Redaktion des HCs: René Stein; Kürzung des PBs: Regina Carstensen
DF · Herstellung: CF
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-29080-1
V001
www.goldmann-verlag.de
Inhalt
TEIL I BEGEGNUNGEN
0. KAPITEL DER ANFANG VOM ENDE UNSERER ENDLICHKEIT
DIGITALE UNSTERBLICHKEIT
DIGITALE SEELE
INS LEERE GREIFEN
1. KAPITEL EINFACH UNSTERBLICH WERDEN?
DAS EWIGE ICH
2. KAPITEL VON VÄTERN UND SÖHNEN
KI IM KINDERZIMMER
PLÖTZLICH DEM TODE NAH
DAS LEBEN FESTHALTEN
DADBOT
DIE VERDOPPLUNG DES VATERS
ERICA HAT EINE SEELE
ASTRO BOY
KAUF DICH JUNG
PATENT AUF DIGITALE KLONE
3. KAPITEL KÜNSTLICHE LIEBE
EINSAME SEELEN
POSTHUMANE GEFÜHLE
4. KAPITEL
INSEL DER SELIGEN
DER ERSTE KUNDE
MAN(N) LEBT NUR ZWEIMAL
IM ANGESICHT DES TODES
DAS LEBEN DANACH
5. KAPITEL
NICHT VERGESSEN WOLLEN
SICH SELBST VERLOREN GEHEN
FALSCHES ERINNERN
COMPUTER-GEDÄCHTNIS
DAS LEBEN SPEICHERN
DATEN LÜGEN NICHT
DER NATUR NACHHELFEN
6. KAPITEL
LEBENDIG BEGRABEN
BOBOK, BOBOK, BOBOK
TÄGLICH TAUSENDE TOTE
FACEBOOK-USER
NETZWERK DER TOTEN
ERSATZ-RELIGION
KIRCHE
70.000 KLONE
GRENZÜBERSCHREITUNGEN
DER MENSCH ALS DREHORGELSTIFT
SEELENVERWANDTE
7. KAPITEL
DIE SEELE IST NICHT TOTZUKRIEGEN
AFFENHODEN UND DER TRAUM VON DER UNSTERBLICHKEIT
VIRALE SEELEN
8. KAPITEL
KÖRPER LOSWERDEN
DER TODFEIND: DAS MÄRCHEN VOM DRACHEN
DAS INSTITUT FÜR DIE ZUKUNFT DER MENSCHHEIT
MAGISCHES DENKEN
METAMORPHOSE
TEIL II
BETRACHTUNGEN
9. KAPITEL
KÜNSTLICHE SPRACHE
PERSÖNLICHE AVATARE
CHINA ALS VORBILD
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ LERNT ZU SPRECHEN
BABYX ODER WILL I AM
10. KAPITEL
KÜNSTLICHES BEWUSSTSEIN
EINE SEELE GIBT ES NICHT
BEWUSSTSEIN MESSEN
LABOR-SEELEN
WIR SIND UNSERE TRÄUME
11. KAPITEL AUTHENTISCHE KÜHE
DAS SCHIFF DES THESEUS
ÜBER DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG DER PERSÖNLICHKEIT BEIM POSTEN
WER WIR WIRKLICH SIND
12. KAPITEL NICHT VERGESSEN KÖNNEN
SPAM-FILTER-GEDÄCHTNIS
UNHEIMLICHE WIEDERBEGEGNUNG
HÖLLE DER UNSTERBLICHKEIT
UNSTERBLICHER RUHM
13. KAPITEL DAS EWIGE LEBEN
GESCHICHTE SCHREIBEN
KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS
VIRTUELLE HOLOCAUST-ÜBERLEBENDE
GOOGLE ODER: WER DIE VERGANGENHEIT KONTROLLIERT, KONTROLLIERT DIE ZUKUNFT
DIGITALER NACHLASS
DIE WIEDERGEBURT DER SEELE
DANKSAGUNGEN
ANHANG
TEIL I
BEGEGNUNGEN
0. KAPITEL
DER ANFANG VOM ENDE UNSERER ENDLICHKEIT
DIGITALE UNSTERBLICHKEIT
Es gibt ein Leben davor und eines danach. Auch für die Glücklichen unter uns, die keine Toten aus dem Familien- oder Freundeskreis zu beklagen haben, hat die Erfahrung der Pandemie den Blick auf unsere Vergänglichkeit entscheidend beeinflusst. Wie kein anderes Ereignis vor ihm hat Covid-19 uns vor Augen geführt, wie verletzlich unsere Körper sind und wie schnell wir selbst oder unsere Liebsten vom Tod betroffen sein können, auch dann, wenn wir das Privileg haben, von unheilbaren Krankheiten, Unfällen, Krieg oder Hungersnot verschont zu bleiben. Der Tod ist mit aller Macht ins kollektive Bewusstsein der Menschen gerückt und mithin bei vielen die Erkenntnis, wie gnadenlos schmerzhaft und überfordernd der Verlust eines geliebten Menschen sein kann, ohne eine tröstende Heilserzählung, an die man glaubt. Nicht nur konnten sich viele Menschen wegen der Schutzmaßnahmen in den Kliniken nicht von ihren sterbenden Partner*innen, Angehörigen und Freund*innen verabschieden, ihnen in den letzten Stunden beistehen und angemessen um sie trauern. Vielen ist erst durch diese schreckliche Erfahrung klar geworden, wie eklatant der Mangel an vor allem kollektiven Formen der Trauer ist, die uns die Religion in Form von Ritualen jahrhundertelang geboten hat. Viele Menschen haben erst in diesem Moment bemerkt, wie wenig sie sich dem erbarmungslos endgültigen Verlust gewachsen fühlen, ohne die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Der fehlende Glaube an eine religiöse Erlösungsgeschichte hat für Millionen von uns den Tod eines geliebten Menschen zu einer unerträglichen Katastrophe werden lassen. Es ist eine der ältesten Fragen der Menschheit: Was geschieht mit uns nach dem Tod? Jahrhundertelang war die Antwort auf diese Frage für die meisten Menschen im Abendland klar. Die Seelen fahren zu Gott in den Himmel auf oder schmoren in der Hölle. Doch wie aktuelle Studien zeigen, glauben immer weniger Menschen in Westeuropa an Gott und das ewige Leben im Jenseits,1 nur noch eine Minderheit betrachtet sich selbst als religiös.2 Andererseits glaubt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung: »Es gibt KEIN Leben nach dem Tod.«3 Offenbar können nur wenige Menschen ohne Aussicht auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod auskommen. Noch fehlt eine neue (weltliche) Heilserzählung. Noch ist es nicht gelungen, den Sinn-Verlust auszugleichen, der für Milliarden von Menschen mit der Abwendung von der Religion entstanden ist. Es klafft eine gewaltige Lücke, was auch den Technologieunternehmen nicht entgangen ist, die die Leerstelle als Chance für die nächste große Geschäftsidee begreifen. In Aussicht stehen Milliarden potenzieller Kund*innen, die offen sind für eine neue zeitgemäße Botschaft, die sie von der Unausweichlichkeit des Todes erlöst. Im Windschatten der digitalen Revolution treten Start-ups aus der ganzen Welt in einen Wettlauf um einen gewaltigen Markt – den Markt der digitalen Unsterblichkeit.
Seit fünfzehn Jahren kommunizieren Menschen rund um die Uhr über Social Media- und Messenger-Dienste. Wir offenbaren in WhatsApp-Konversationen all die unterschiedlichen Facetten unseres Charakters, wir übermitteln unseren Smartphones tägliche Bewusstseinsströme. Von Shenzhen in China über Iaşi in Rumänien bis nach Pasadena in den USA arbeiten Entwickler*innen weltweit daran, aus solchen intimen Daten nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen auszulesen, sondern die Muster unseres Verhaltens mithilfe Künstlicher Intelligenz zu imitieren. Ihr Ziel: unsere Persönlichkeiten über den Tod hinaus am Leben zu erhalten. Was wie das Skript eines Science-Fiction-Films klingt, ist längst auf dem Weg, Realität zu werden. Doch was steckt hinter solchen fragwürdigen Angeboten? Wie genau funktioniert diese Technologie? Was sind es für Personen, die alles daransetzen, digital unsterblich zu werden? Und wie ergeht es denen, die versuchen, ihre Liebsten wiederauferstehen zu lassen – als digitale Klone?
Um diese Fragen zu erkunden, sind wir um die halbe Welt gereist und haben mit Pionier*innen gesprochen, die Unsterblichkeit fernab von religiösen Vorstellungen des ewigen Lebens suchen, haben diejenigen getroffen, die von digitaler Unsterblichkeit träumen und an ihrer Verwirklichung arbeiten: Menschen, die ihre verstorbenen Väter auf dem Smartphone wiederauferstehen lassen. Menschen, die seit Jahrzehnten sämtliche Facetten ihres Lebens aufzeichnen. Menschen, die leichtfertig mit der Hoffnung Hunderter Todkranker spielen, indem sie ihnen ein Leben nach dem Tod in Aussicht stellen. Menschen, die mit der Unterstützung eines gigantischen chinesischen Tech-Unternehmens virtuelle Doppelgänger von sich oder anderen erzeugen. Gesprochen haben wir auch mit Expert*innen führender Hirnforschungszentren der Welt, die daran glauben, dass neuromorphe Computerchips künstliches Bewusstsein erzeugen können, oder Programmierer*innen, die uns Einblicke in die Arbeit künstlicher neuronaler Netze erlauben und uns anschaulich machen, wie synthetische Wesen erschaffen werden können. Wir erzählen von unseren Begegnungen mit Träumer*innen und Macher*innen, Verzweifelten und Euphorischen, Wagemutigen und solchen, die sich vor den Auswirkungen dieses epochalen Wandels fürchten. Mal führt uns unsere Reise an entlegene Orte, mal ins Innere des Menschen, wo wir erkunden, was uns zu den Menschen macht, die wir sind.
DIGITALE SEELE
Dass wir einmal ein Buch über die Seele schreiben würden, hätten wir beiden Autoren uns auch nicht träumen lassen. Mit religiösen oder spirituellen Ideen haben wir in etwa so viel zu tun wie Donald Trump mit der Relativitätstheorie. Warum wir uns trotzdem mehrere Jahre mit der Seele beschäftigt haben, hat mit einer Meldung zu tun, die im Jahr 2015 weltweit für Furore sorgte: 300 auf Facebook vergebene Likes reichten aus, verkündeten Forscher*innen der renommierten Cambridge University, um die Persönlichkeit eines Menschen besser zu kennen als der Partner oder die Partnerin.4 Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde im Netz. Big Data – das Wundermittel, das die Persönlichkeitsermittlung erlauben soll – wurde zum geflügelten Begriff und ist seitdem in aller Munde. Immer aggressiver erobern Tech-Unternehmen einen Bereich des Menschen, der lange Zeit Gott und Liebenden vorbehalten war: einen Menschen wahrhaftig zu kennen, ihn zu erkennen. Wie aber kommen wir Autoren dieses Buches darauf, dass das, was dank der gewaltigen Datensätze von Menschen, dank Algorithmen und Künstlicher Intelligenz zutage befördert wird, dass das die Seele wäre, genauer gesagt: die digitale Seele?
Auf viele von uns wirkt der Begriff der Seele verstaubt und spekulativ, die Hirnforschung widerspricht ihrer Existenz, und auch die wissenschaftliche Psychologie will schon lange keine Seelenkunde mehr sein. Dennoch ist die Seele bis heute fester Bestandteil unseres täglichen Sprachgebrauchs – oft ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Jemand ist »eine gute Seele« oder »eine Seele von Mensch«. Wir lassen (viel zu selten!) »die Seele baumeln« und geben uns der »Seelenruhe« hin. Zwei Menschen können »ein Herz und eine Seele« sein und ihren »Seelenverwandten« finden. Wenn wir Traumatisches erleben, sorgen wir uns um unser »Seelenheil«. Die Seele soll leiden und erkranken können. Und bisweilen haben wir das Gefühl, unsere »Seele verkauft« zu haben. Während die Seele aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht wegzudenken ist, haben die Neurowissenschaften sie jedoch vollständig aus ihrem Wortschatz verbannt. An die Stelle der Seele ist das Bewusstsein getreten, eine Entität, die sich anhand von Hirnströmen schlichtweg besser messen lassen soll. Aber ob ein Mensch, der im Koma liegt oder hirntot ist, damit also nachweislich kein Bewusstsein mehr hat, ob solch ein Mensch darum auch seine Seele verloren hat? Dem würden die allermeisten von uns wohl entschieden widersprechen. Ob während einer Vollnarkose, im Tiefschlaf oder in der Trance: Wir büßen nicht unsere Seele ein, nur weil unser Bewusstsein vorübergehend außer Kraft gesetzt ist. Die Seele eines Menschen vergeht nicht, nur weil sie nicht zutage tritt.5 Aus der Idee der Seele sind die universalen Menschenrechte und unsere Vorstellungen von der Würde aller Menschen hervorgegangen.6 Die Seele steht für das, was sich hinter allen Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen von Menschen verbirgt. Sie steht für unsere Liebenswürdigkeit, unsere (unerfüllten) Potenziale, für den Teil von uns, der sich nicht so leicht erschüttern lässt durch die Wirrungen des Alltags – und der trotzdem offenbar daran erkranken kann. Die meisten von uns Menschen wollen sich nicht als das begreifen, als was uns die Mehrheit der Neurowissenschaftler*innen nun schon seit einigen Jahrzehnten betrachtet: als ein komplexes, aber letztlich unwillkürliches Zusammenspiel aus biochemischen und neurophysiologischen Prozessen, Hormonen, Hirnströmen und der Welt, die uns umgibt. Für Willensfreiheit, wie wir alle sie uns jeden Tag aufs Neue einbilden, ist da wenig Platz. Für eine Seele noch weniger. Wie wir sehen werden, ist die Hirnforschung allerdings beileibe nicht imstande, die schwierigen Fragen über das Bewusstsein des Menschen zu beantworten. Ebenso wenig kann sie erklären, warum die Mehrheit der Menschen in Westeuropa davon überzeugt ist, eine Seele zu haben, obwohl die meisten Menschen spirituelle Konzepte ablehnen.7 Die Seele scheint mehr zu sein als eine religiöse oder spirituelle Idee. Es fühlt sich einfach auf eine bestimmte Weise an, ich selbst zu sein.
An der Seele hängt nicht zuletzt unser Verständnis von Liebe. Auch die ist schließlich aus Sicht von Neurowissenschaftler*innen nichts weiter als ein Zusammenwirken von Dopamin, Serotonin und Oxytocin.8 Und trotzdem kämen wir nicht auf die Idee, statt »Ich liebe dich« zu sagen: »Du lässt meinen Dopaminspiegel steigen.« Oder: »Du tust meiner Oxytocin-Ausschüttung gut.« Weil wir wohl zu Recht das Gefühl haben, dass die Botenstoffe nicht Auslöser, sondern Teil eines nicht gänzlich erklärbaren Phänomens sind. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.9 Das Gleiche gilt für die Seele. Was sie ist, kann der Verstand nicht erklären, aber Liebende haben wohl nicht ohne Grund das Gefühl, einander ihre Seelen zu offenbaren. Wir sind mehr als die Summe unserer Teile: Diese Überzeugung teilen auch Menschen, die mit Spiritualität nichts am Hut haben. Warum sollte man herumdrucksen, wenn sich für dieses »Mehr« seit Jahrtausenden ein Begriff eingebürgert hat, der das unerklärliche Auftauchen des Geistes auf den Punkt bringt: die Seele. Doch wer beschwört die Seele, wer besingt sie und umsorgt sie, jetzt, da hierzulande immer weniger Menschen einen Fuß in die Gotteshäuser setzen? Es ist eine Leerstelle entstanden, eine »transzendentale Obdachlosigkeit«.10 Und wie immer, wenn irgendwo eine Leerstelle entsteht, ist der Versuch, diese zu füllen, längst im Gange. Doch nicht etwa spirituelle Gurus, neuartige oder fernöstliche Religionsgemeinschaften oder Esoteriker*innen haben die größte Aussicht, der Seele neuen Sinn zu verleihen, sondern ausgerechnet jene Menschen, die glauben, alles in Einsen und Nullen übersetzen zu können: die Apologeten der Digitalität.
INS LEERE GREIFEN
Seit ihrem Anbeginn träumt die Menschheit davon, dem Tod zu entkommen. Die Kulturgeschichte ist voller Erzählungen, in denen der Mensch seine Sehnsucht nach der Unvergänglichkeit zum Ausdruck bringt. Zeit seines Lebens kann er sich nicht damit abfinden, eines Tages zu vergehen. Doch während alle Bestrebungen, den Körper eines Menschen vor dem Tod zu bewahren – sei es durch Konservieren und Einfrieren oder die Pille gegen das Altern – , auch heute noch zum Scheitern verurteilt sind, scheint das detailgetreue digitale Klonen seines Wesens, seiner Art zu sprechen und zu handeln, ja vielleicht sogar seiner Art zu denken in diesen Tagen zum Greifen nah.
Im Februar 2013 erschien eine Episode der Science-Fiction-Serie Black Mirror mit dem Titel »Be right back«, zu Deutsch »Wiedergänger«.11 Der Plot der Serie eröffnet ein fesselndes Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, es wäre uns möglich, mit einer längst verstorbenen Person in Kontakt zu treten. Stellen wir uns vor, eine zukünftige Technologie würde es den Menschen ermöglichen, Tote wieder zum Leben zu erwecken, erst auf den Bildschirmen unserer Computer und Smartphones, dann in Fleisch und Blut. Die junge Frau Martha erlebt die Wiederauferstehung ihres verstorbenen Partners Ash. Inmitten des Trauerns über ihren Lebensgefährten erfährt Martha von einem Angebot, das verspricht, mithilfe der unzähligen gesammelten Daten, die Ash im Laufe seines Leben im Netz hinterlassen hat, ihren Liebsten digital wiederauferstehen zu lassen.
Was noch vor wenigen Jahren als reine Fiktion wahrgenommen wurde, wird in diesen Tagen Realität. Im Februar 2020 schauten mehr als 18 Millionen Menschen auf YouTube das neunminütige Video12 einer südkoreanischen Mutter, die zum ersten Mal ihre Tochter wiedersieht, nachdem das Mädchen mehr als drei Jahre zuvor verstorben ist. Dieses Mal handelt es sich nicht um einen Spielfilm. Der südkoreanische Fernsehsender MBC hat den Ausschnitt seiner Dokumentation ins Netz gestellt und weltweit sehr viel Mitgefühl, aber auch Bestürzung über das gewagte Experiment ausgelöst. Die Begegnung von Jang Ji-sung mit ihrer toten Tochter findet in einem Park statt. Jang geht allein den Weg entlang, den sie so oft mit ihrer kleinen Tochter gegangen ist. Die Frau hört, wie eine Stimme ein Lied singt, das sie ihr einmal beigebracht hat: Es ist die Stimme von Nayeon, ihrer Tochter. Hinter einem Holzhaufen springt das siebenjährige Mädchen auf und läuft auf seine Mutter zu: »Mama, wo bist du gewesen?«, fragt das Kind. Die Mutter bricht in Tränen aus. Sie will ihre Tochter berühren, aber sie greift ins Leere. Denn das Mädchen, das dort unmittelbar vor ihr steht und das doch eindeutig ihr Kind ist – das aufgeweckte, neugierige Gesicht, die schulterlangen schwarzen Haare mit dem Haarreif, den sie ihr einmal geschenkt hat, im violetten Kleid, das sie so gerne getragen hat – , das Mädchen, das mit der unverkennbaren Stimme ihrer Tochter Nayeon in diesem Moment fragt, ob Jang Ji-sung an sie gedacht habe, ist nur eine Simulation, ein Avatar ihrer Tochter, wenn auch nahezu perfekt. Und Jang weiß das. Schließlich steht sie in einem Green-Screen-Studio und trägt eine VR-Brille und Handschuhe, die ihre Bewegungen übertragen. Aber Jang will nicht wissen, dass das alles hier bloß virtuelle Realität ist. Sie ist hier, um ihre Tochter wiederzubekommen, wenn auch nur für eine halbe Stunde. Immer wieder versucht die Frau, nach der Schulter ihrer Tochter zu greifen, sie in den Arm zu nehmen. Jangs Mann sitzt ein paar Meter weiter bei ihren anderen beiden kleinen Töchtern und einem wenig älteren Bruder. Hilflos sieht der Mann zu, wie seine Frau durch das Studio geistert. »Ich will dich berühren, nur ein Mal«, sagt sie schluchzend zu ihrem toten Kind, das sie zum Greifen nah vor sich stehen sieht. Ihrem Mann zerreißt der Anblick fast das Herz. Lange hatte das Paar gehofft, Nayeon könnte wieder gesund werden. Bei dem Mädchen war ein seltener Gendefekt diagnostiziert worden, der die Organe schädigte und schließlich zum Tod führte. In diesem Moment jedoch scheint ihre Tochter lebendiger denn je zu sein. Jang sieht sie zu einem Bett gehen, das auf der Wiese steht, umgeben von Dingen, die Nayeon zu Lebzeiten geliebt hat: einem leuchtenden Hasen, einem aufblasbaren Donut mit bunten Streuseln. Nayeon fragt: »Mama, wir werden immer zusammenbleiben, ja? Ich werde mich für immer an dich erinnern, ja?« Zusammenbleiben? Oder für immer erinnern? So ganz genau scheint Nayeon noch nicht zu wissen, wie es für sie und ihre Mutter nach dieser virtuellen Wiederbegegnung weitergehen soll. Jang hockt sich neben das Bett ihrer Tochter, wie sie es wohl zu Lebzeiten so oft gemacht hat, wann immer Nayeon nicht schlafen konnte oder Albträume hatte. »Mama liebt dich so sehr, Nayeon. Wo auch immer du bist, ich werde nach dir Ausschau halten. Ich habe noch Dinge zu tun. Aber wenn ich damit fertig bin, dann werde ich mit dir sein«, sagt sie. »Dann werden wir wieder zusammen sein. Dann wird es uns beiden gut gehen.« »Ich bin müde, Mama«, sagt Nayeon und kuschelt sich in das Kopfkissen. »Mama, bleib bei mir. Mama, auf Wiedersehen.« Ein weiß leuchtender Schmetterling kommt herangeflogen und setzt sich auf den liegenden Körper des Kindes. »Ich liebe dich, Mama«, sagt Nayeon wie im Halbschlaf. »Ich liebe dich auch«, antwortet Jang unter Tränen. Sie streckt noch einmal ihre Hand zu ihrer Tochter aus – und greift doch wieder nur ins Leere. Da breitet sich das gleißend weiße Licht aus, als hätte Jangs Versuch, ihre Tochter zu berühren, das Bild gelöscht. Als es wieder hell wird, ist ihre Tochter verschwunden. Nur der weiße Schmetterling fliegt noch herum, bevor auch er verschwindet und mit ihm alles Licht.
Acht Monate hat das Unternehmen Vive Studios aus Seoul gebraucht, um aus Video- und Tonaufnahmen der Familie die Stimme der verstorbenen Siebenjährigen zu extrahieren, ihr Gesicht und ihren Körper virtuell zu rekonstruieren und mit den computererfassten Bewegungen eines lebenden Kindes zu verbinden. Die Sätze, die die untote Nayeon im virtuellen Park sagt, haben andere Kinder eingesprochen. Anschließend sind diese Stimmen mit der Stimme Nayeons gemischt worden. Um die Persönlichkeit des Kindes zu erfassen, hat sich der Regisseur durch Terrabytes von Handyvideos und -fotos gearbeitet. Nayeon war 2010 geboren worden, also drei Jahre nach Erfindung des Smartphones. Sie hat in einer Zeit gelebt, in der Eltern jeden Tritt und Schritt ihrer Zöglinge aufzeichnen, zumal im technikbegeisterten Südkorea. Was aus all diesen Daten entstehen kann, dafür ist die lebensechte Simulation des koreanischen Mädchens nur ein erster unheimlicher Beweis. Was vor Jahrzehnten als Fantasie in Science-Fiction und Cyberpunk seinen Anfang nahm, wird in den kommenden Jahren zunehmend unser Leben bestimmen und das »Mensch-Sein« grundlegend verändern. Wir erleben einen Tabubruch.
Was passiert, wenn dem Menschen seine letzte Gewissheit genommen wird – die Endlichkeit seines Lebens? Was bedeuten digitale Klone für das Selbstverständnis des Menschen? Können wir es wagen, in den Kreislauf von Leben und Sterben einzugreifen und Menschen (digital) unsterblich werden zu lassen? Was bedeutet es psychologisch für Hinterbliebene, wenn sie nicht loszulassen brauchen, weil sie mit »Verstorbenen« weiterleben können? Wer hat das Recht zu bestimmen, ob Menschen digital wiederauferstehen: die Angehörigen? Die Unternehmen, die die Daten der Verstorbenen besitzen? Was bedeutet es für unsere Gesellschaften, wenn Präsidenten, die schon zu Lebzeiten unaufhörlich twittern, nicht einmal nach dem Tod die Klappe halten müssen? Wer übernimmt die Verantwortung für die digitalen Untoten, die durch das Netz geistern? Was bedeutet es für den Fortschritt, wenn uns künftig Ewiggestrige bevölkern? Und was bedeutet es für das Erinnern selbst, wenn nichts und niemand mehr verloren geht? Wir sind diesen Fragen nachgegangen und zu erstaunlichen Antworten gekommen. Vielleicht ist das alles nur der Anfang: der Anfang vom Ende unserer Endlichkeit.
1. KAPITEL
EINFACH UNSTERBLICH WERDEN?
DAS EWIGE ICH
Am Anfang war eine Website. Eine schlichte grüne Website, auf der eine einzige Frage zu lesen war: Who wants to live forever? Unter dieser Frage war ein Sign-up-Button – für eine so genannte Beta-Version. Einfach anmelden und unsterblich werden? Was sollte das sein? Ein schlechter Scherz? Wir trugen uns ein und warteten ab, was passieren würde. Sie stehen auf der Warteliste!, bekamen wir kurz darauf in einer Antwortmail zu lesen. Eternime – ewiges Ich – ist der Name des Unternehmens, das mit Unsterblichkeit warb. Von Preisen war bisher nicht die Rede. Auch nicht, wie schnell wir mit der Zusendung des Unsterblichkeitstranks (oder was auch immer man uns liefern würde) rechnen konnten. Ganz schön geheimniskrämerisch gab sich die Firma. Wir schickten eine E-Mail, wollten mehr erfahren, doch eine Antwort bekamen wir nicht. Wer weiß, wo unsere Daten, die wir für die Registrierung eingeben mussten, schon gelandet sind? Von der Recherche zu unserem letzten Dokumentarfilm wussten wir bereits, dass Tech-Unternehmen allgemein wenig auskunftsfreudig sind, meist aus Sorge um Ideenklau und Spionage seitens der Konkurrenz. Es geht nicht nur darum, als Erste/r eine Idee zu haben, sondern auch die Idee als Erste/r umzusetzen und auf den Markt zu bringen. Daher geht man einem Kontakt mit Journalist*innen lieber ganz aus dem Weg, anstatt mit einem falschen Wort im falschen Moment das Unternehmen in die Krise zu treiben. Bei einer unserer letzten Recherchen führte das mitunter zu absurden Situationen, in denen Unternehmen die komplette Belegschaft vor uns warnten. Fotos von unserem Team waren plötzlich im Umlauf, und nicht selten drohten uns Mitarbeiter*innen mit Repressalien. Wir waren also einiges gewohnt.
Eternime machte aber wohl überdies ein solches Geheimnis aus seinem Wundermittel gegen die Sterblichkeit, weil das die Fantasie umso mehr beflügelte. Bei uns ging dieser Plan auf: Wir recherchierten weiter und stießen auf das Massachusetts Institute of Technology in Boston in den USA, kurz MIT, wo die Idee ihren Ursprung genommen zu haben schien. Das Institut gehört zu den Spitzenuniversitäten weltweit und ist bekannt für seinen Erfinder*innen-Geist. Simply become immortal, lasen wir auf den Seiten des Instituts. Einfach unsterblich werden – nichts leichter als das. Um Daten ging es, um den digitalen Fußabdruck eines Menschen. Wie der zu Unsterblichkeit führen sollte, verstanden wir nicht. Schließlich war das hier kein Skript für eine Science-Fiction-Serie, sondern ein reales Vorhaben an einer der renommiertesten Universitäten der Welt. Genies, Besessene und wohl auch eine Hand voll Verrückter tummeln sich in Boston, um an Visionen für das nächste Jahrtausend zu tüfteln. Was hier geschieht, ist für Menschen ohne besonderen technischen Hintergrund oft unverständlich und unvorstellbar. MIT-Forscher*innen programmierten unter anderem für die US-Weltraumbehörde NASA ein vollautomatisches Mars-Mobil. Hier wurden Toaster, Kühlschränke oder Turnschuhe »smart« gemacht. Schon 1997 legten die Professoren Nicholas Negroponte (* 1943) und Neil Gershenfeld (* 1959) die Grundlage für das so genannte »Internet der Dinge«, das heute in aller Munde ist. Dass an dieser Brutstätte nun auch die Sterblichkeit überwunden werden sollte und an einem »Eternal me« – einem ewigen Ich – gebastelt wurde, schien trotz der beeindruckenden Liste an Innovationen, die aus Boston kamen, mehr als vermessen. Einfach unsterblich werden – die Mischung aus Understatement und Größenwahn machte uns neugierig. Wenn es durch die Vordertür nicht klappte, jemanden von dem Unternehmen sprechen zu können, mussten wir halt den Hintereingang nehmen. Wir fanden im Netz einen mazedonischen Programmierer und Software-Entwickler, der angab, eine Zeit lang für Eternime gearbeitet zu haben. In einem kurzen Telefonat versuchte er, uns ihre Technologie zu erklären: Da ging es um künstliche neuronale Netze, die dem menschlichen Hirn nachempfunden sind und mit Unmengen an Daten gespeist werden müssen, um menschliche Muster zu reproduzieren. Nach dem Tod eines Menschen sollte der Avatar sprechen, denken und handeln können wie der Verstorbene. Das klang tatsächlich nach Black Mirror. Der junge Mann schwärmte regelrecht von der Arbeit an dem Projekt. Über den Status quo des Unternehmens war er dagegen nicht informiert, weil er schon seit längerer Zeit nicht mehr für Eternime arbeitete. Aber er versprach, uns mit dem CEO der Firma in Verbindung zu setzen. Tatsächlich klappte die Kontaktaufnahme. Schon wenige Wochen später sollte es losgehen. Wir trafen uns mit dem Chef der Firma, um gemeinsam mit ihm über die noch immer geheimnisumwobene digitale Unsterblichkeit zu reden. Unsere Reise begann an einem Ort, den wir nicht auf dem Radar hatten: Rumänien. Marius Ursache, der Gründer des Start-ups, lud uns in die kleine Stadt Iaşi in Nordrumänien ein.
Warum, fragen wir, bevor wir alles über sein Start-up Eternime wissen wollen, treffen wir ihn in Iaşi und nicht in Boston? Rumänien ist schon seit Langem ein Geheimtipp für Start-ups der Tech-Szene. Marius ist hier aufgewachsen, die Lebenshaltungskosten sind um ein Vielfaches niedriger als in den Tech-Hotspots der Welt, und Marius findet hier gut ausgebildete Software-Entwickler. Wenn es nach Marius gegangen wäre, hätten wir ihn trotzdem nicht in Rumänien, sondern in den USA treffen sollen: Nach einem Medizinstudium und einem Master in Theaterwissenschaften (!) wagte er einen kompletten Richtungswechsel, gründete eine Design- und Software-Agentur, dann ein Fintech-Start-up und ergatterte einen der begehrten Plätze beim so genannten Entrepreneurship Development Program für junge Unternehmer*innen am MIT. Als die renommierte Universität dazu aufrief, innovative Geschäftsideen einzureichen, war er verrückt genug, mit der abgefahrensten Idee, die ihm gekommen sei, daran teilzunehmen: »Es mag sich merkwürdig anhören, aber alles begann mit dem Gedanken: Was wäre, wenn wir mit Toten skypen könnten? Was wäre, wenn wir ewig leben könnten? Was wäre, wenn wir unsere Erinnerungen in einem Avatar aufbewahren könnten, der aussieht wie wir, der unsere Stimme und unsere Erinnerungen hat? Was wäre, wenn dieser Avatar schließlich mit anderen Menschen interagieren könnte?« Zu seiner Überraschung seien viele Kommiliton*innen und Professor*innen innerhalb des Instituts von seiner Idee fasziniert gewesen, und schnell versammelte sich ein Team um Marius, das die Chance nicht verpassen wollte, Teil einer revolutionären neuen Tech-Idee zu sein. Hier tummelten sich Cracks aller Disziplinen. Der perfekte Nährboden, um in Nullkommanix ein paar Demo-Programme aus dem Boden zu stampfen. Sie entwickelten eine erste Beta-Version des Konzepts und schalteten eine Website mit der simplen Frage: Wer will unsterblich werden? Interessierte sollten sich auf dieser Website registrieren können. Laut Marius meldeten sich innerhalb weniger Stunden einige hundert Interessent*innen an, wenige Tage später sei die Zahl auf Zehntausende angestiegen. »Wir hatten über 40.000 Leute, die sich in den ersten Tagen angemeldet haben, darunter solche, die nicht mehr lange zu leben hatten, Menschen mit Krebs im Endstadium. Wir waren völlig überfordert.« Viele herzzerreißende Anfragen von schwerkranken Menschen hätten sie erhalten. Menschen, deren letzte Hoffnung Marius’ Unternehmen gewesen sei, so sagt er. Zu spät habe er erkannt, dass seine »verrückte Idee« für viele dieser Menschen die vielleicht letzte Hoffnung war. Die Anfragen stellten ihn vor ein Dilemma: Natürlich war die überwältigende Resonanz der Traum eines jeden Entrepreneurs. Dass seine Idee offenbar einen Nerv traf, motivierte ihn dazu, sich ernsthaft mit ihrer Realisierung auseinanderzusetzen. Doch die Hoffnungen der schwerkranken Menschen erzeugten einen enormen Druck. Zu diesem Zeitpunkt hatte Marius nichts Handfestes vorzuweisen. Die hohen Kosten für die Entwicklung von künstlichen neuronalen Netzen, die lernfähig sind und die Verhaltensmuster der Verstorbenen aus einem großen Datensatz auslesen können, ließen sein Vorhaben bei nüchterner Betrachtung mehr als vermessen erscheinen. Er hatte schwerkranken Menschen die Möglichkeit genommen, mit dem Leben abzuschließen, und sie stattdessen aufgewühlt und verwirrt. Als Marius uns von dieser Zeit erzählt, wird er nachdenklich und still. Mit gesenktem Blick erinnert er sich an die Anfragen, die er nie vergessen wird: »Einige Leute schrieben uns, dass sie nur noch wenige Wochen zu leben hatten. Sie wollten so schnell wie möglich Zugang zu Eternime. Sie wollten die wenige Zeit nutzen, um Erinnerungen für ihre Familien und für ihre Liebsten zu bewahren. Es fiel mir sehr schwer, ihnen zu antworten. Ich konnte es einfach nicht. Was hätte ich ihnen sagen können? Dass das alles ein verrücktes Experiment am MIT war? Dass wir eigentlich keine Ahnung hatten, wie wir das alles stemmen sollten?« Er würde das heute anders machen, versichert er uns – verantwortungsbewusster und überlegter vorgehen. Aber die Geschwindigkeit, mit der die Unternehmung damals losging, habe keine Zeit für größere Reflexionen gelassen. Auch die Presse stürzte sich auf sie: All die großen Tech-Magazine, wie Fast Company oder Wired, begannen über uns zu berichten.13 Es fühlte sich surreal an.« Doch es kam, wie es früher oder später kommen musste: Nach dem ersten Rausch folgte der Absturz. Durch den Medienrummel und die Menge der Anfragen, die in kürzester Zeit auf ihn einprasselten, blieb die Arbeit am Projekt auf der Strecke. Die Stimmung im Team verfinsterte sich. Das Geld wurde knapper, seine Teamkolleg*innen sprangen der Reihe nach ab, bis er schließlich allein dastand – ohne Ressourcen, ohne Investor*innen und schließlich ohne Zukunft für seine Idee. Er verließ das MIT und die gerade erst eroberte schöne neue Welt der erfolgreichen Start-up-Unternehmer*innen genauso schnell, wie er hineingeraten war, um nach Rumänien zurückzukehren. Es sollte ein halbes Jahr dauern, bis er sich von dieser Bruchlandung erholte. Marius fühlte sich wie ein Versager: Mit fast vierzig Jahren wieder bei seinen Eltern zu wohnen, die ihm noch Taschengeld zusteckten, war für ihn, der gerade noch nach den Sternen zu greifen geglaubt hatte, eine Zumutung. Hinzu kamen die Gewissensbisse gegenüber den Menschen, die womöglich immer noch auf die Unsterblichkeit warteten. Warum er die Website trotzdem nicht abschaltete? Er konnte nicht aufhören zu glauben, dass es ihm vielleicht doch noch gelänge.
Roca, sein bester Freund, unterstützte ihn. Roca ermutigte Marius, seine Idee weiterzuverfolgen, und sie entwickelten einen Businessplan. Wie Marius glaubte auch Roca, dass man mit einer guten Technologie die Welt verändern konnte. Schnell war Marius wieder motiviert. Er versuchte, sein kleines Start-up auf solidere Beine zu stellen, organisierte sich neue Kontakte im Umfeld der Tech-Universitäten der USA, wo man Fehlschläge eher verzeiht, weil es zu viele Geschichten von Pionieren gibt, die es mit ihrer bahnbrechenden Business-Idee erst beim vierten oder fünften Anlauf geschafft haben.
Marius war bereit, es erneut zu wagen, doch kurz bevor er sich tatsächlich nach San Francisco aufmachen wollte, erhielt er einen Anruf, der sein Leben auf den Kopf stellen sollte. »Eine Freundin rief mich an und sagte, Roca habe einen Autounfall gehabt.« Er war noch am Unfallort verstorben.
Der Tod seines besten Freundes ließ Marius noch fester an seine Idee glauben: »Vor dem Unfall war es ein verrücktes Experiment, ein interessantes Projekt mit technischen Herausforderungen, aber jetzt ist es eine Lebensaufgabe.«
Nach dem Tod von Roca blieb Marius in Rumänien. Und die digitale Unsterblichkeit? »Wir sind wieder auf Kurs«, sagt Marius. Mittlerweile gibt es immerhin schon mal eine App, die automatisch alle möglichen Informationen über die Nutzer*innen sammelt, wie Facebook-Posts, Kalendereinträge, Bewegungsprofile, alle möglichen Daten von Fitnessarmbändern und anderen Wearables, Fotos, Videos, und so weiter. Noch ist die App nur zugänglich für eine kleine Gruppe von Tester*innen. Doch Zweifel, ob die Arbeit an Eternime richtig ist, scheinen komplett verflogen zu sein. »Mir wurde klar, dass wir nicht wissen, wie wir mit dem Tod umgehen sollen. Wir versuchen, vor ihm wegzulaufen. Wir versuchen zu vergessen, weil wir denken, dass das unser Trauma heilen würde. Ich denke aber, dass die Erinnerung der Schlüssel ist. Wir können unser Gedächtnis positiv beeinflussen. Es gibt da diesen Neurowissenschaftler namens David Eagleman, der behauptet: ›Wir sterben drei Mal. Zuerst sterben wir, wenn wir uns nicht um uns selbst kümmern können. Das zweite Mal, wenn man uns unter die Erde bringt, und das dritte Mal, wenn unser Name zum letzten Mal gesprochen wird.‹14 Die ersten beiden Tode können wir nicht wirklich bekämpfen, aber ich denke, dass wir dank technologischen Fortschritts den dritten Tod verhindern können.« Auch wenn es für ihn noch immer schwierig ist, genügend Startkapital an Land zu ziehen, gibt Marius nicht auf. »Leider ist der Tod ein Tabuthema. Viele große Investoren schrecken davor zurück, in eine solche Idee zu investieren, weil niemand offen über den Tod redet«, erzählt er uns. Aber das werde ihn nicht hindern, weiterhin gegen die Windmühlen zu kämpfen.
Wir nehmen Abschied. Es hat uns beeindruckt zu sehen, was Marius in Rumänien aufgebaut hat. Dass er es geschafft hat, aus dem tragischen Verlust seines besten Freundes Kraft zu schöpfen und die Trauer in etwas Lebensbejahendes zu überführen, imponiert uns. Schon lange ist Eternime keine reine Geschäftsidee mehr. Es geht hier nicht um Allmachtsvorstellungen oder eine Boykotthaltung gegenüber dem Tod. Vielmehr sucht Marius einen offenen, reflektierten Umgang mit dem Tod. Wenn man so will, ist Roca längst unsterblich geworden: Jedes Jahr erzählen sich seine Freund*innen Geschichten über ihn, singen seine Lieblingslieder. Kann eine digitale Anwendung auf dem Smartphone das gemeinsame Trauern der Hinterbliebenen ersetzen? Kann es die Trauerbewältigung erweitern und ergänzen? Sind das Gespräch mit den Toten am Telefon und das Sich-Erinnern auf dem Bildschirm nicht sehr einsame Prozesse? Ob seine Technologie am Ende Heilsbringerin oder Übeltäterin sein wird, lässt sich in diesem Augenblick nicht sagen, zu nah liegt Gutes und Schlechtes beieinander.
Um auf diese Fragen Antworten zu finden, müssen wir die Menschen treffen, die weiter sind als Marius, die schon jetzt Schöpfer*innen von digitalen Klonen sind oder andere Ansätze verfolgen, überall in der Welt.