Wie Begegnung mit Trauernden gelingen kann
»Mein Beileid!« – Menschen geben sich die Hand, umarmen sich, weinen, sind sich nahe. Kleine Geste, große Botschaft! Beileid ist dabei. Beileid trauert. Beileid kommt und bleibt und schweigt.
Nur wo Menschen Beileid erfahren, werden sie irgendwann auch getröstet sein.
Für alle, die Trauernden begegnen und sie begleiten, bietet dieses Werkbuch Mittel und Wege, Formen, Inhalte und Methoden, die dazu ermutigen und dabei helfen, Beileid zu erleben, auszudrücken, weiterzutragen und zu verschenken.
Ein Buch voller Worte, Gesten, Zeichen und Wege, um Trauernden nahe zu sein. Eine Ermutigung, sich auf den Weg zu machen zu Menschen, die zu Tode erschrocken sind.
Eine Handreichung für Trauergruppen und Einzelbegegnungen.
Dr. Ludwig Burgdörfer, geboren 1956, war Dekan an der Stiftskirche in Landau und Leiter des Missionarisch Ökumenischen Dienstes der Evangelischen Kirche der Pfalz. Seit 2004 gibt es Anstöße und bringt Morgengrüße in den Sendern SWR 1 und SWR 4. Obwohl und vielleicht gerade weil er ein lachender Christ ist nimmt er sich viel Zeit für trauernde Menschen.
Ludwig Burgdörfer
Mein Beileid!
Dasein und Anteil nehmen
Ein Werkbuch
für die Begleitung Trauernder
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © Annett Seidler – Adobe Stock.com
ISBN 978-3-641-28780-1
V001
www.gtvh.de
Dieses Werkbuch ist all den Menschen dankbar gewidmet, denen ich auf ihrem Trauerweg begegnet bin.
Inhalt
Geleitwort
Mein Beileid – Dasein und Anteil nehmen
Einführung
Vorbemerkung: Bei Leid
»Mein Beileid!« ist nicht Mitleid.
Lieber Kummer als Lebensaufgabe
Trost- und Trauertraining am Model
Das Gethsemane-Drama
Einmal Emmaus und zurück
Trauer-Werkstatt
Hinführung
Beinahe bei Nähe!
Was langsam heilt, tut lange weh!
Zum weiteren Verlauf
Mit Trauernden in Kontakt kommen
Module für Begegnung und Gespräch
Mein Beileid – Die Werkzeugkiste
Erste Aspekte der Trauer
Thema: Trauerhaus
Thema: Todesanzeigen
Thema: Beileidskarten
Thema: Tränen
Thema: Grab
Thema: Danksagung
Thema: Trauerkleidung
Vokabeln für die Trauer
Thema: Abend und Morgen
Thema: So viele Abschiede schon …
Thema: Alles hat seine Zeit
Thema: Frühling
Thema: Sommer
Thema: Herbst
Thema: Winter
Thema: Jahreslauf
Gefühle in der Trauerwelt
Thema: Mut
Thema: Wut
Thema: Leere
Thema: Schuldgefühle
Thema: Trotz!
Thema: Wehmütiges Erinnern
Thema: Dank
Fragen der Trauer
Thema: Warum?
Thema: Haben wir das verdient?
Thema: Wer ist schuld?
Thema: Wie soll ich weiterleben?
Thema: Was bleibt?
Thema: Wo sind die Toten?
Thema: Gibt es ein Wiedersehen?
Symbole der Trauer
Thema: Uhr
Thema: Baumscheibe
Thema: Fotoalbum
Thema: Rettungsring
Thema: Trauertöne
Thema: Fragezeichen
Thema: Nuss
O-Töne der Trauer
Thema: »Es ist nichts mehr, wie es war!«
Thema: »Ich zweifle an Gott!«
Thema: »Warum sind nicht alle Ampeln rot?«
Thema: »Tagsüber geht’s! Gegen Abend wird es schlimmer! Die Nächte sind grausam!«
Thema: »Pflichten und Aufgaben sind wie ein Geländer!«
Thema: »Mir kann es niemand recht machen!«
Thema: »Ich glaub, ich bin verrückt!«
Zwischenbilanzen
Thema: Feder und Stein
Thema: Trauerkalender
Thema: Fieberkurve
Thema: Symbole-Koffer
Thema: Wer wohnt mit mir im Trauerhaus?
Thema: Wetterkarte
Thema: Bilder einer Einstellung
Bin im Garten (Gethsemane)
Thema: Sich zurückziehen
Thema: Engste Vertraute
Thema: Bitte um Verschonung
Thema: Schwerstarbeit
Thema: Hingabe
Thema: Aufrecht gehen
Thema: Mein Garten Gethsemane
Trauerlieder
Thema: Der Weg (Herbert Grönemeyer)
Thema: Über sieben Brücken (KARAT)
Thema: Ewig (Peter Maffay)
Thema: Amoi seg ma uns wieder (Andreas Gabalier)
Thema: Hinterm Horizont geht’s weiter (Udo Lindenberg)
Thema: Tears in heaven (Eric Clapton)
Thema. So wie du warst (Unheilig)
Trauerproviant (Trosttasche packen)
Thema: Hautcreme
Thema: Kerze
Thema: Taschentücher
Thema: Süßigkeit
Thema: Trauer-Tagebuch
Thema: Seifenblasen
Thema: Perlen des Glaubens
Pausen für die Trauer
Thema: Schlechtes Gewissen
Thema: Zu erschöpft
Thema: Pause passiert
Thema: Ablenkung
Thema: Trost auf Zeit
Thema: Schmerz, lass nach …
Thema: Erträglich
Kraftquellen
Thema: Natur/Garten
Thema: Beileidspost
Thema: Familie/Freunde
Thema: Erinnerungsstücke
Thema: Bewegung
Thema: Gespräch
Thema: Gebet
Abschiede
Thema: Kindheit
Thema: Jugend
Thema: Erwachsen
Thema: Mittelalter
Thema: Herbst des Lebens
Thema: November
Thema: Lebensende
Gegen-Sätze
Thema: Gegen-Satz 1: »War das schon alles?« --- »Das alles war schon!«
Thema: Gegen-Satz 2: Wer bin ich? --- Ich bin wer!
Thema: Gegen-Satz 3: »Wie geht das?« --- »Das geht (irgend)wie!«
Thema: Gegen-Satz 4: Nebel --- Leben
Thema: Gegen-Satz 5: Was soll das? --- Das soll was!
Thema: Gegen-Satz 6: Wohin gehe ich? --- Ich gehe wohin!
Thema: Gegen-Satz 7: Was ist von mir übrig? --- Von mir ist was übrig!
Trauerzeiten
Thema: Advent und Weihnachten
Thema: Silvester und Neujahr
Thema: Passion und Ostern
Thema: Himmelfahrt und Pfingsten
Thema: Sommerzeit
Thema: Herbst und Erntedank
Thema: Tod und Ewigkeit
Bei Trost
Thema: Lust und Freude
Thema: Freundschaft
Thema: Tränen
Thema: Schlaf
Thema: Baden
Thema: Wahrheit
Thema: Beten
Bücher
Eric Emmanuel Schmitt, Oskar und die Dame in Rosa
Mitch Albom, Dienstags bei Morrie – Die Lehre meines Lebens
Barbara Pachl-Eberhart, vier minus drei
Esther Maria Magnis, Gott braucht dich nicht − Eine Bekehrung
Benedict Wells, Hard Land
Thea Dorn, TROST – Briefe an Max
Isabel Bogdan, LAUFEN
Zum Abschluss
Nachwort
Dank
Verwendete und empfohlene Literatur
Liste der Geschenke und Symbole
Geleitwort
»Mein Beileid« − schon im Titel weist Ludwig Burgdörfer auf das Ziel seines Werkes hin: Es geht ihm um die nahe Kontaktaufnahme, die persönliche Begegnung zwischen Menschen, die trauern, und Menschen, die sich um Trauernde kümmern. Es geht ihm um diese jeweils einmalige, besondere, besonders emotionale und kognitiv anspruchsvolle Kommunikation an den Rändern des Lebens.
Das Buch liest sich wie ein Lebenswerk, geschrieben in Burgdörfers kreativ-bildhafter, oft verblüffend alltäglicher Sprache. Überraschend auch der Aufbau. Es lädt als Werkbuch in seine große, weite Werkstatt ein, in der er über Jahrzehnte als Pfarrer und Anleiter von Gruppen das Thema Trauerbegleitung bearbeitet und Menschen selbst in unterschiedlichen Widerfahrnissen der Trauer begleitet hat.
Es ist daher so ganz anders als die vielen Bücher zum Thema, die wir kennen. In dieser bunten Vielfaltswerkstatt gibt es zwar auch ein großes Bücherregal, doch das steht im Hintergrund. Ganz am Schluss darf man einen Blick hineinwerfen. Es geht im vorliegenden Buch nicht um theoretischen Diskurs, auch wenn Burgdörfer, wie jeder guter Werkstattmeister, den Entwicklungsprozess seines Arbeitsmaterials, den der Trauerforschung, kennt.
In der über hundertjährigen Geschichte der Trauerforschung gibt es unterschiedliche, einander ablösende Erkenntnisse, die allesamt unser Verständnis von Trauer geprägt haben und prägen. Am Anfang entdeckt Sigmund Freud, dass Trauer eine Reaktion auf einen bedeutenden Verlust ist, die den Menschen in seiner körperlichen, emotionalen und sozialen Existenz trifft. »Trauerarbeit« dient der Bewältigung dieser Verlusterfahrung mit dem Ziel des Loslassenkönnens. Dass dies seine Zeiten braucht, beschreiben die sich daran anschließenden unterschiedlichen und doch auch wieder ähnlichen Phasenmodelle der Trauer, die allerdings in der Folge oft als zu statisch und passiv empfunden werden. Diese Modelle wurden dann durch sogenannte Aufgabenmodelle abgelöst. In diesen Konzepten bewältigen Trauernde und ihre Begleitenden spezifische Aufgaben, um den erlittenen Verlust zu begreifen und sich neuen Aufgaben und Möglichkeiten widmen zu können. Das wiederum wird in der weiteren Entwicklung als zu fordernd erlebt, und wir schauen in der Trauerbegleitung nun in ein buntes Kaleidoskop des Trauerns mit diversen Erlebnisbereichen und Facetten. Aus der Perspektive des eigen schmerzhaften Erlebens entwickelte sich daneben in der hypnosystemischen Trauerbegleitung ein breit ausdifferenzierter Entwurf einer doppelten inneren Bewegung: das Begreifen des Verlustes einerseits und gleichzeitig die Entwicklung einer neuen Beziehungsarbeit mit dem Verstorbenen. Halten und Gestalten ersetzen das zu Beginn der Forschung intendierte Loslassen.
Und das Nachdenken geht weiter und hat das Spielraummodell und das Duale Prozessmodell hervorgebracht. Dies erschließt in einem Schweizer Forschungsprojekt den phänomenologischen Horizont der Trauer- und Empathieforschung. Das alles ist gut zu wissen. Aber die Theorie kann bisweilen spröde und distanziert sein.
Wie wohltuend – Augen, Ohren, Herz und Sinne öffnend – ist dagegen Ludwig Burgdörfers Einladung zum Gang durch seine Werkstatt! Nach kurzen Einstimmungen führt er uns behutsam in diesen Raum mit seinen bald zwanzig Arbeitsecken, alle mit großem Themenschild überschrieben, wohlsortiert, gegliedert und gefüllt mit Texten, Symbolen, Liedern, Geschichten, Gesprächsanregungen, Impulsen zur Gruppenleitung, und was man sonst noch brauchen kann. Dabei hilft das durchgängige Gliederungsprofil den jeweils sieben Schritten durch ein Thema.
Trauer ist ja ein vielfältig komplexer Prozess, der individuell unterschiedlich durchlebt wird, fortschreitet, stagniert, wieder und wieder beginnt. Das vorliegende Werk hat etwas von dieser Struktur. Es beginnt immer wieder neu, geht mit; und ist man durch, will man zurückblättern, wieder beginnen, sich von Bildern, Narrativen und Praxisreflexionen erneut beschenken lassen.
Trauernde werden sich darin auf vielen Seiten selbst begegnen können, tröstende Texte und Symbole heilsam erfahren. Menschen, die Trauernde begleiten wollen, haben hier eine ideenreich sprudelnde Quelle, die in Dürrezeiten Lebenswasser für Leib, Seele und Geist in Fülle ausschüttet.
Ich wünsche diesem Handbuch aus der Werkstatt viele Lesende, die sich gern auf den Weg durch diesen umfassend eingerichteten Werkraum machen. Sie werden daraus reich beschenkt, mit sich selbst und mit andern in Kontakt und ins Gespräch kommen auf dem weiten Feld der Trauer!
Wolfgang Roth, Oktober 2021
Mein Beileid – Dasein und Anteil nehmen
Einführung
Vorbemerkung: Bei Leid
»Mein Beileid!« Menschen geben sich die Hand, umarmen sich, weinen, sind sich nahe. Kleine Geste, große Botschaft! Dabei bleiben aber viele Fragen: Wie begegne ich einem Menschen, der zu Tode erschrocken ist? Gehe ich ihm aus dem Weg? Kann ich einen Besuch wagen? Darf ich da anrufen? Störe ich nicht doch zu sehr? Ist es nicht unhöflich, sich überhaupt zu melden? Und wenn wir uns treffen, spätestens auf dem Friedhof, am offenen Grab, auf der Straße, zufällig im Vorübergehen − wie um Gottes Willen verhalte ich mich? Wie mach ich es richtig?
All diese Fragen und Zweifel sind gelöst mit dem kleinen kurzen symbolischen:
»Mein Beileid!«
Ein Mensch ist gestorben. Der Tod überfällt eine Familie. Jetzt wohnt sie im Trauerhaus und hat ihren Trauerfall. Nachbarn, Freunde, Angehörige hören es und sind betroffen. Weil es die Betroffenen direkt betrifft und weil es immer auch alle betrifft irgendwann, früher oder später, darum wird aus dem vermeintlich völlig privaten Schicksal immer auch ein allgemeines Erschrecken.
Das wird so eindrucksvoll beschrieben in dem Lied von Martin Gotthard Schneider:
Kommt der Tod ins Nachbarhaus …
Kommt der Tod ins Nachbarhaus,
legt sich über uns ein Schatten.
Menschen gehen von uns, die wir kannten,
gar zu Freunden hatten.
Plötzlich löscht ein Leben aus,
kommt der Tod ins Nachbarhaus.
Kommt der Tod ins Nachbarhaus –
gestern konnten wir noch lachen,
heute ist das Spiel verstummt,
man kann nicht einfach weitermachen.
Um uns Trauer, Angst und Graus,
kommt der Tod ins Nachbarhaus.
Kommt der Tod ins Nachbarhaus,
schweigen wir und sind betroffen.
Denn, was können Worte sagen?
Worauf kann der Mensch noch hoffen?
Einen Sarg trägt man hinaus,
kommt der Tod ins Nachbarhaus.
Martin Gotthard Schneider, Kommt der Tod ins Nachbarhaus © Erbengemeinschaft MG Schneider
Trotz Individualisierung und Vereinzelung in Stadt und auf dem Lande gibt es nach wie vor die Sehnsucht nach Anteilnahme und Anteilgabe. Trauer will irgendwie einen Ausdruck finden, will festgemacht und abgearbeitet werden. Wer sich trauernden Angehörigen nahe fühlt, verbunden ist, vertraut womöglich, dem ist es ein Bedürfnis, möglichst bald, nachdem der Tod ins »Nachbarhaus« gekommen ist, sein Beileid dort auszurichten. Dafür gibt es vielerlei Möglichkeiten.
In überschaubaren Dorfgemeinschaften haben sich selbstverständlich die Leute besucht und auch von dem Verstorbenen Abschied genommen. Das ist ja auch deshalb möglich und im wahrsten Sinne naheliegend gewesen, weil die meisten Menschen früher ganz selbstverständlich zuhause gestorben sind und der Tod noch nicht »ausgelagert« in Krankenhäuser, Heime und Hospize gewesen ist. So sinnvoll und unersetzlich diese Einrichtungen heute auch sind, sie haben das Sterben auch in zum Teil unerreichbare Distanzen »evakuiert«.
Aber es gab und gibt natürlich viele andere Wege, wie »Mein Beileid!« auch heute noch ins Nachbarhaus kommt:
Ein Anruf, eine Beileidskarte, ein persönlicher Brief, analog und digital. Die Beerdigungsinstitute sind da längst hervorragende Profis und stellen entsprechende Portale zur Verfügung.
»Mein Beileid!« ist der im Grunde unverzichtbare Reflex des Umfelds der Trauerfamilie auf das, was passiert ist. Kommt da nichts, passiert keine Reaktion, erreicht die Leute kein Zeichen dafür, dass das Unglück rundherum wahrgenommen worden ist: Dann stehen die vermeintlichen Zeitgenossen im Verdacht, selbst auch gestorben zu sein, zumindest mit ihrer ehemals wohl noch vorhandenen Begabung zur Empathie und Anteilnahme.
Ohne »Mein Beileid!« ist der Kontakt zu denen, die in die Trauer gefallen sind, gleich mitgestorben.
So unverzichtbar wie der Gruß am Morgen, am Tag, am Abend auf der Straße und im Treppenhaus, das Gratulieren zum Geburtstag sind diese komprimiertesten Kurzbotschaften gelingenden Miteinanders. Genauso wie »Gute Besserung!«, »Gesundheit!«, »Gute Reise!«, »Auf Wiedersehen!« ist »Mein Beileid!« das genuin unverzichtbare Signal der Nähe und der Weggefährtenschaft.
Die Betroffenen im Trauerhaus warten darauf. Das zumindest ist über Generationen ein wertvolles Stück unserer Trauerkultur gewesen. Aber lange vor Corona schon hat ein Traditionsabbruch in Sachen Beileid begonnen.
In den Todesanzeigen etablierten sich zunehmend konkrete Regieanweisungen, die den ausdrücklichen Verzicht auf »Mein Beileid!« einforderten. Das wurde immer mehr zum Standard. Aus »Mein Beileid!« wurde »Bitte Abstand halten!«.
Das erscheint umso unverständlicher, da sich gleichzeitig das Bedürfnis der Angehörigen nach möglichst individueller Gestaltung der Beerdigung immer mehr gegen traditionelle, eher unpersönlich empfundene Rituale durchgesetzt hat. Dieser Gegensatz von erwünschtem Abstand und biographischer Selbstdarstellung hat inzwischen zu merkwürdigen Szenen kompletter Verunsicherung auf dem Friedhof geführt. Immer öfter konnte man da die bodenlose Verlegenheit der Trauergemeinde erleben, wenn der Sarg abgesenkt das letzte Wort gesprochen war und nun – normalerweise – die lange und langsame Prozession zum Grab beginnen sollte, wo diejenigen, die ihr Beileid aussprechen und mit Erdwurf oder Blumen den Abschied zu begehen gedachten, nun aber plötzlich nicht mehr wussten, wie das Ganze jetzt weitergeht, ausgeht, endet.
Bis dann doch irgendjemand sich nicht mehr zurückhalten konnte, zum Grab ging, sich verneigte und verabschiedete, um dann zu den nächsten Angehörigen zu blicken. Und deren Signal ist keineswegs immer abweisend gewesen, sondern oft genug dankbar und erleichtert.
Und so brach sich zu Beginn dieses Umbruches der Beileids-Konvention oft und öfter doch noch die Wiederholung des Gewohnten Bahn, weil der Mensch gerne tut, was er kann. Und er kann gerade in schwierigen Situationen das am besten, was er eingeübt hat. Und so fingen wir an, es zu verlernen, einander »Mein Beileid!« auszusprechen.
Das hat sich schon dadurch dramatisch angebahnt, dass es auf einmal selbst nahen Verwandten nicht mehr erlaubt war, ihren sterbenden Angehörigen in den letzten Stunden am Sterbebett nahe zu sein und beizustehen. Das war natürlich auch Folge der Corona- Pandemie, die gerade in diesem Bereich unseres Zusammenlebens zum Teil dramatische Einsamkeit verursacht hat. Menschen mussten alleine sterben und ihre Angehörigen konnten sie nicht begleiten und sich darum auch nicht verabschieden. Das hat viele Wunden geschlagen und schwer zu überwindende Schuldgefühle ausgelöst. Wir werden sehr sorgsam darauf achten müssen, dass wir nach einer hoffentlich irgendwann überwundenen Pandemie wieder zurückfinden in ein aufmerksames Nahesein an Kranken- und Sterbebetten.
Dem einsamen Sterben folgte dann das auf wenige Menschen und mit Abstand reduziert erlebbare Abschiednehmen auf dem Friedhof. Damit wurden neue beinahe irreparable Bedingungen geschaffen für den bevorstehenden Trauerweg, weil versäumte Nähe und verpasster Abschied nie mehr wirklich nachgeholt und wieder geholt werden können. Es bleiben Bitterkeit, Schuldgefühle, Leere und Traurigkeit. Dem kann nur »Mein Beileid!« liebevoll nachgehen, nahekommen und bleiben und geduldig wartend eine Hilfe sein.
Noch weiß niemand, wie diese Entwicklung weitergehen wird. Was wir aber wissen, ist, dass trauernde Menschen immer und überall im Grunde ihres Herzens auf dem schweren Abschiedsweg nichts nötiger brauchen als »Mein Beileid!«
Das persönliche Zusprechen von aufmerksamem Anteilnehmen und Mitgehen, Dasein und Anteil nehmen ist für jeden Trauerfall geradezu die Voraussetzung, dass daraus ein Trauerweg werden kann, der begehbar wird und ein Ziel hat, in Bewegung versetzt und nicht in Schockstarre erstickt.
Der leicht veränderte Text einer Danksagung dieser Tage mag dies eindrucksvoll unterstreichen:
»In unserer tiefen und fassungslosen Trauer
fühlen wir uns getragen
von der liebevollen Anteilnahme wunderbarer Menschen,
die ihn als fürsorglichen Verwandten, treuen Freund,
hilfsbereiten Nachbarn, engagierten Kollegen kannten und wertschätzten.
All ihre Zeichen des Beileids in mitfühlenden Anrufen,
behutsamen Trauerkarten
und zärtlichen Briefen, den willkommenen Besuchen,
zahlreichen Hilfsangeboten und Botengängen,
vorbeigebrachtem Essen, selbstgebackenem Kuchen,
Geld und Blumenspenden sind für uns tröstlich und kostbar.
Sie stärken uns für eine hoffentlich getröstete Zukunft
in gemeinsamer liebevoller Erinnerung.«
»Mein Beileid!« ist nicht Mitleid
Da besteht ein großer Unterschied. Mitleid ist zwar auch eine beachtliche Form von Anteilnahme. Sie nimmt immerhin wahr, wenn Leid und Tod passieren, und geht nicht achtlos daran vorbei. Mitleid ist durchaus eine menschlich wertvolle Reaktion, denn Mitleid sieht hin, immerhin, es beachtet, beobachtet, beurteilt und bedenkt. Mitleid ist sogar in der Lage, zu deuten, zu ergründen und dem Leid seine Ursachen und Hintergründe zuzuweisen. Selbst wenn das gar nicht gewünscht, angebracht oder zutreffend ist. Mitleid will das aber alles tun, und zwar unbedingt. Unbedingt deshalb, weil es sich abarbeiten und dann abhauen möchte. Was es tut, tut es nicht uneigennützig, sondern um einen gehörigen Anlauf zur Distanzierung zu nehmen, um sich abzusetzen und in Sicherheit zu bringen. Mitleid geht nicht lange mit, ist kurz angebunden – und verschwunden. Mitleid bedauert, Beileid trauert. Mitleid vertröstet womöglich, gibt Ratschläge, die auch als Schläge empfunden werden können. Mitleid kann empfindlich belagern, beschuldigen, beklagen, aber es kann es nicht aushalten, zu bleiben und zu schweigen und zu ertragen, dass es vorerst keine plausiblen Auflösungen und Sinnhaftigkeit gibt. Mitleid kommt vorbei, sieht sich alles an und sieht dann zu, dass es sich davon machen kann, ist vorübergehend zugeneigt, durchaus nicht abgeneigt, aber doch im Grunde auf der Flucht. Es ist wenig geeignet zum verweilenden, bleibenden, vorerst trostlosen Dabeisein. Mitleid will seine Botschaft absondern und dann heißt es: »Nichts wie weg!« Beileid kommt und bleibt und schweigt. Nur wo Menschen Beileid erfahren, werden sie irgendwann auch wieder bei Trost sein können. Darum will dieses WERKBUCH Mittel und Wege, Formen und Inhalte, Methoden und Versuche anbieten, die womöglich dazu ermutigen und helfen, »MEIN BEILEID!« angemessen auszudrücken, weiterzutragen, zu erleben und zu verschenken.
Das könnte für alle, die betroffen zuschauen, wie der Tod ins »Nachbarhaus« kommt, eine Unterstützung sein, wenn sie hier Wörter, Gesten, Zeichen und Wege finden, um Trauernden nahe zu sein und sie zu begleiten. Alles, was dieses Werkbuch anbietet, soll eine Ermutigung sein, sich auf den Weg zu machen und unterwegs zu Menschen zu sein und zu bleiben, die zu Tode erschrocken sind.
Lieber Kummer als Lebensaufgabe
Das geht nicht weg, das geht mit. Und das geht gut.
Neben der Begleitung trauernder Menschen in Gruppen und/oder in Einzelseelsorge habe ich in der Evangelischen Familienbildungsstätte HAUS DER FAMILIE in Landau (Pfalz) auch ein sogenanntes »Trauertelefon« angeboten. Zu immer gleichen Zeiten, in regelmäßigen Abständen konnten sich da Menschen melden, denen es (vorerst) noch nicht möglich war, persönlichen Kontakt aufzunehmen. Diese Anrufe sind oft anonym geblieben, manchmal führten sie zu regelmäßigen Kontakten, fanden mitunter eine Fortsetzung in persönlichen Begegnungen im Rahmen einer »Trauersprechstunde«, und manchmal mündete dieser Austausch auch in der Teilnahme an einer offenen Trauergruppe.
So unterschiedlich die Gesprächsthemen auch gewesen sind, eine Gemeinsamkeit hat sich doch immer wieder in Variationen gezeigt – nämlich die Frage nach dem möglichst schnellen Überwinden der Trauer. Dahinter steckte meist die weitverbreitete Annahme, bei dem massiven Gefühl der Trauer handle es sich um eine Art »Krankheit«, die es bei möglichst fachgerechter »Behandlung« zu heilen gilt. Niemand geht im Umgang mit seiner Trauer wirklich ernsthaft davon aus, dass es sich hier um ein nie mehr ganz zu überwindendes Lebensthema handelt, das zukünftig zum persönlichen Profil und zur biographischen Signatur gehört. Die Trauer kommt mitunter mit einer derart alles überdeckenden Wucht über die Menschen, dass es nur verständlich und menschlich ist, darauf zu hoffen, dass dieses möglichst bald ein Ende nimmt. Dass es aber künftig ein genuiner Bestandteil des Lebens ist und bleiben wird, das möchten die meisten Ratsuchenden nicht hören. Probleme sind dazu da, dass wir sie lösen. Das Problem der Trauer soll demnach auch professionell angepackt und dementsprechend wirksam »entsorgt« werden. Die Idee, die Trauer sei womöglich nicht als Problem zu betrachten, sondern als unverzichtbarer Teil einer Lösung, einer Suche, einer Herausforderung sinnerfüllten Lebens, die erscheint den meisten geradezu abwegig, wenn nicht sogar »verrückt«.
Es ist darum schon gleich bei der Kontaktaufnahme mit Trauernden eine erste ernsthafte Vertrauenskrise, wenn wir es wagen, keine blitzartige »Heilung« in Aussicht zu stellen, sondern damit zu konfrontieren, dass jede Trauer mit viel Geduld und liebevoller Selbstbeteiligung gelingende Horizonterweiterung werden kann.
Dass sie so wenig endlich ist und verloren gehen kann, wie die Liebe, deren Bestandteil sie ja zu werden anstrebt, das zu vermitteln als glaubhaftes, ernst gemeintes und vielversprechendes Angebot, wird die Gratwanderung jeder Begleitung.
Exemplarisch dafür gebe ich Einblick in ein Telefonat. Ich habe es mit einem Mann geführt. Das ist nicht ganz unwichtig, weil die Arten und Weisen zu trauern in der Tat auch zum Teil geschlechtsspezifisch gekennzeichnet sein können. Dazu gehört zweifellos die eher von Männern gestellte Frage nach der Dauer der Trauer.
Männer sind durchaus motiviert zur Trauerarbeit. Sie soll meinetwegen heftig und schmerzhaft sein. Aber sie soll ein möglichst klar anzupeilendes Ziel und vor allem ein Ende haben. Und deshalb gibt es Gespräche wie das Folgende recht häufig:
Anruf beim Trauertelefon. Ein Mann ist dran. Das ist eher selten. Typisch: kein Name, kein Ort. Er möchte anonym bleiben.
Bin ich da richtig bei der Trauer?
Und ob, *sage ich.
Sie machen doch diese Trauergruppen …
Das stimmt, *bestätige ich.
Ich hätte da mal eine kurze Frage:
Sagen Sie mal, wie oft muss ich da hinkommen, bis es weg ist?
Oh, *sage ich.* Das kann man so nicht sagen.
Wieso? Fragt er ungeduldig. Sie müssen sich doch da auskennen und wissen, wie es funktioniert.
Ja, *entgegne ich vorsichtig.* Ich kenne mich da schon ein bisschen aus und deswegen muss ich Ihnen sagen: Das geht gar nicht wieder weg.
Wie soll ich das denn verstehen? reagiert er enttäuscht. Wenn’s nicht klappt, dann brauch ich doch auch gar nicht erst kommen …
Doch schon!, *sage ich,* das klappt schon, das lohnt sich allemal, aber wahrscheinlich ganz anders, als Sie jetzt denken und erwarten. Wenn man einen lieben Menschen verloren hat und um ihn trauert, dann geht das nie wieder ganz weg. Das bleibt da. Es wird nur anders mit der Zeit. Die Trauer geht nicht weg, sie geht mit. Und das geht gut!
Darauf kann ich verzichten! Wehrt er entschieden ab. Ich will nur eins, dass es aufhört. Und zwar bald!
Das verstehe ich, *versuche ich beschwichtigend die Verbindung zu halten,* aber, sehen Sie, wenn etwas so wichtig ist wie Ihre Trauer jetzt, das kann nicht einfach verschwinden wie ein übler Schmerz nach guter Behandlung. Denn die Trauer hebt ja etwas ganz Wichtiges für Sie auf, nämlich Ihre Liebe. Und die soll doch nie verloren gehen, oder?
Das wird sie auch nicht! höre ich ihn sagen.
Wenn wir um jemanden trauern, dann bleibt das immer da, aber es verändert sich, es verändert uns. So, dass wir es irgendwann gut damit aushalten, es besser tragen können …
Stille in der Leitung …. Sind Sie noch da?
Ja, bin ich!
Sie werden sehen, dass Ihre Trauer zu Ihnen gehört. Sie ist ein Teil von Ihnen, aber nicht alles ….
Mein Gott, ist das kompliziert … stöhnt er am anderen Ende.
Wann trifft sich denn die Gruppe?
Freitags, alle 2 Wochen.
Und was kostet das?
Überwindung.
Trost- und Trauertraining am Model
Zwei biblische Anleitungen zum Untröstlich sein
Ehe wir in die reine Praxisbetrachtung einsteigen, soll zunächst der biblische Doppelpunkt davor gesetzt werden. Wie eine Präambel steht vor allem der jesuanische Weg zur Hingabe und zur Anteilgabe. Das Vorzeichen vor der Klammer heißt nämlich: Alles, was wir im Erleben und Erleiden von Abschied, Tod und Trostlosigkeit antreffen, ist bereits im biblischen Befund niedergelegt und profiliert beschrieben. Wir tun also gut daran, diesen Vorgaben die gebührende Achtung zu schenken und mit Respekt und Demut auf das zu schauen, was uns bereits vorgegeben und angezeigt ist, ehe wir uns auf den Weg zu den Untröstlichen machen.
Das Gethsemane-Drama
6 Stationen auf dem Weg zur Hingabe
1. Rückzug
Wer einen schweren Weg antreten muss, kann nicht mehr unbegrenzt Teil der freien Wildbahn des ahnungslosen Lebens der Anderen sein. Die Bedeutsamkeit der Normalität wird da sehr relativ. Der Small Talk zum Bespiel, die schmerzfreie Kommunikation im Vorübergehen, ist plötzlich unerträglich. Angesichts von Angst, Abschied und Trauer drängt es die Betroffenen in Verschon-Räume der Einsamkeit. Das Schutzbedürfnis wächst, die Lärmempfindlichkeit auch. Ehe die Passion passiert, sucht auch Jesus einen Rückzugsort auf. Er wählt den Garten Gethsemane. Im Schutz der uralten Olivenbäume entzieht er sich der Öffentlichkeit und geht in die Konzentration:
Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu seinen Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete.
(Matthäus 26,36)
Im Rückzug braucht es nicht nur Abstand, sondern unbedingt auch Nähe. Die Vielen müssen vom Leib gehalten werden, um Wenige ganz nahe bei sich zu haben. Wir sind nicht die geborenen Solisten, auch nicht im Erleiden von Grenzen aller Art. Wir brauchen immer Menschen, die beistehen, ohne einem zuzusetzen, die aushalten ohne Geschwätzigkeit. Deren Nähe allemal mehr gut- als wehtut. Denen nicht weiter erklärt werden muss. Die gar nicht erst anfangen mit Vertrösten und Verdrängen. Die bereit sind, die Schwerstarbeit der Ausweglosigkeit klaglos mitzuertragen. Die sagen: »Ich mag dich leiden!« Die es gleichsam als Freundschaftsdienst verstehen, das Leiden mitanzuschauen, ohne die Flucht zu ergreifen. Die vom Balkon mitzugehen bereit sind in die Kammer.
2. Nur Drei!
Gut, wenn man Menschen hat, die da sind, wenn es eng wird. Das müssen nicht viele sein. Im Gegenteil. Zum Anteilgeben und Anteilnehmen braucht es nur ganz wenige. Darum heißt es in der Bibel bei Matthäus auch, dass Jesus nicht etwa alle Jünger ganz ins Vertrauen zieht. Er bittet sie, in seiner Nähe zu bleiben, aber mitnehmen in den inner circle tut er nur drei: Petrus und die Söhne des Zebedäus. Das sind Jakobus und Johannes. Sie haben Namen. Sie bleiben nicht anonym. Das ist wichtig, denn ich will die Namen der Menschen in mir aussprechen können, die ich nahe bei mir haben will. Im Gethsemane-Schutzraum öffne ich mich ihnen dann. Rückhaltlos. Wie Jesus. Leid braucht offene Klage. Es muss möglich sein, auszusprechen, wie schlecht es mir geht. Jesus macht das. Macht das vor. So:
Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an, zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod; bleibt hier und wachet mit mir.
(Matthäus 26,37-38)
Wie gut das tut, wenn wir so etwas Großes zueinander sagen können. Wenn Fassaden der Stärke fallen dürfen, wenn die Kulisse der Unverwüstlichkeit nicht mehr aufrechterhalten werden muss. Es braucht dazu viel Mut, diesen Schritt zu gehen. Es ist eine ganz große Stärke, sich zu der unermesslichen Schwäche zu bekennen. Leidenswege, auf denen der Blick in Abgründe der Angst geteilt werden, sind womöglich einer der wertvollsten und gottvollsten und menschlichsten Möglichkeiten unserer Existenz. Wir betreten Heiliges Land, wenn wir uns diese Nähe zutrauen und zumuten.
3. Bitte nicht!
»Da hilft nur noch beten!« Sprichwörtlich liegt das ultimative Greifen nach dem Strohhalm der Hoffnung in der Hinwendung zu Gott. In Gethsemane ist das Gebet zuhause. Wörtlich übersetzt heißt Gethsemane so viel wie »Olivenpresse«, weil es wohl zur Zeit Jesu hier eine Plantage gab, auf der direkt Öl gepresst wurde. Und mit Pressing hat das Drama allemal etwas gemeinsam. Viele Menschen beten, wenn es eng wird. Jesus tut das auch. Und wie. Er wirft sich auf den Boden und sagt:
Mein Vater, ist’s dir möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!
(Matthäus 26,39)
Bitte NICHT! Nicht ich, nicht jetzt! Der Gottessohn und Menschenfreund ist keineswegs von vornherein einverstanden mit dem, was ihm da zugemutet werden soll: Verhaftung, Verhör, Spott und Hohn, Kreuz und Leid, Tod und Sterben. Bitte nicht diesen Kelch!
Wie gut, dass es so in der Bibel steht. Wie gut, das uns da nicht ein Heldenepos vorgezeichnet wird. Jesus reagiert menschlich. Genau wie wir alle. Er bittet um Verschonung. Um was denn sonst? Es ist ihm zu viel, zu bitter. Und damit zeigt er, dass es erlaubt ist, dass Menschen aufbegehren gegen das Leid. Jesus adelt hier das Gebet, das widerspricht. Die Gottesbeziehung hält das aus. Das ist kein praktizierter Unglaube, das ist tragfähige Gottesahnung. Überhaupt nicht gottlos. Im Gegenteil! Ein wesentliches Stück herzinniger Gottesbeziehung ist es, NEIN zu sagen zu dem Kelch des Leids. Wer in seinem Gethsemane auf den Knien liegt, soll das wissen: Es ist ein unveräußerliches Menschenrecht, dem zugemuteten Weg den Gehorsam zu verweigern. Gott zu widersprechen ist keine Majestätsbeleidigung, sondern Ausdruck einer ausgesprochen haltbaren, weil belastbaren Beziehung.
4. Überfordert
Menschen begleiten im Trauergarten Gethsemane fordert über die Maßen. Es überfordert auch, weil es gilt, das Unbegreifliche in den Griff zu bekommen. Und das ist nur bedingt möglich. Überforderung ist kein Defizit, sondern ein Qualitätsmerkmal der Trauerbegleitung, weil es abbildet und unmissverständlich markiert, dass es bei Grenzgängen der Seelennot immer über das hinausgeht, was wir potenziell zu leisten imstande sind. Es ist ein Teil angewandter Professionalität, das anzuerkennen und geschehen zu lassen. Mitleiden, Not sehen, Sterben erleben, das bedeutet immer auch eine Überdosis an Betroffenheit. In der Nähe bleiben, das frisst alle Energie auf. Auch bei den drei Freunden, die im Epizentrum der Verzweiflung bei Jesus sind. Sie fallen vor purer Erschöpfung in den Schlaf. Die Bibel gewährt den Einblick in diesen Teil des Dramas und sagt:
Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
(Matthäus 26,40)
Beharrlich präsente Trauerbegleitung ist immer nur begrenzt möglich und braucht den barmherzig demütigen Blick auf das unvermeidliche Versagen im Verzagen.
5. Widerwillig wollen
Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!
(Matthäus 26,39)
So lautet das finale Hingabegebet Jesu. Aber man beachte: Es gibt da noch immer zwei Willen. Nicht nur den einen. Das hat etwas mit Würde und Recht zu tun. Das bedeutet viel für die Gottesbeziehung. Sie fordert nämlich keinen willenlosen Untertanen, sondern gesteht das Recht auf eigenwilliges, widerwilliges Wollen zu. Hier wird kein vorbehaltloses Einverständnis propagiert, schon gar keine völlige Übereinstimmung. Das Gerücht, Jesus sei in selbstloser Kapitulation gegenüber seinem himmlischen Vater willenlos ergeben, darf als solches enttarnt werden. Und schon taugt die Geschichte zum tatsächlich belastbaren, dunkelheitstauglichen Trost. Weil es so etwas gibt wie das komplett widerwillige Vertrauen in Gottes unbegreiflichen anderen Willen für mich. Jesus stürzt sich mit seinem Widerwillen in den Gotteswillen. Und das lässt er seine Leute bis heute im VATER UNSER unaufhörlich wieder-holen: »Dein Wille geschehe!« Damit ist und bleibt es (auch Gott gegenüber) ein Recht auf das Beibehalten eines gegenteiligen Willens im Seelen-Gethsemane jedes einzelnen Menschen. Die Hingabe und das Vertrauen werden dadurch nicht etwa verweigert, sondern authentisch und profiliert. Dazu zu ermutigen ist eine Bringschuld jedweder Trauerbegleitung.
6. Selbstbestimmter Aufbruch
Jesus bleibt nicht in Gethsemane und versteckt sich darin. Dieser Garten ist kein Wohnort, sondern nur ein vorübergehendes Trainingslager für bahnbrechendes selbstbestimmtes Weitergehen. Kein Fluchtpunkt, sondern Sammelpunkt der Klärung. Nachdem sich Jesus durchgerungen hat zur widerwilligen Hingabe in Gottes Willen, wird der eben noch Zitternde und Zagende ganz stark und selbstbewusst. Er wartet nicht passiv, bis die Passion passiert. Im Gegenteil: Er sagt zu seinen Leuten:
Steht auf, lasst uns gehen!
(Matthäus 26,46)
Es ist ein Unterschied, ob sich jemand geschlagen gibt, sich in sein Schicksal kraftlos fügt, oder ob er aufsteht und aufrecht dem Unvermeidbaren entgegengeht. Stolz, entschlossen, bereit. In der Begleitung todkranker Menschen und ihrer Angehörigen kann man mitunter eine solche Dynamik und Entschlossenheit miterleben. Wenn Menschen abschiedlich werden und entschlossen aufbrechen, dann umgibt sie auf einmal eine Aura der Souveränität, die niemand aufhalten kann und soll. Da kommt es sogar vor, dass sie liebevoll klammernde Angehörige wegschicken, ablehnen und klar abgewendet zugehen auf die andere Seite der Wirklichkeit und uns damit zu Hinterbliebenen machen. In diesem Hoheitsgebiet entsteht ein Tabu, das jede Rückrufaktion untersagt. Sie ist unumkehrbar wie eine schwere Geburt, weil sie nichts anderes ist.
Einmal Emmaus und zurück
Trauerschritte zwischen Jerusalem und Emmaus
Jesus als Trauerbegleiter to go
1. Zum Davonlaufen
Am selben Tag gingen zwei, die zu den Jüngern von Jesus gehört hatten, nach dem Dorf Emmaus, das zwölf Kilometer von Jerusalem entfernt lag. Unterwegs unterhielten sie sich über alles, was geschehen war.
(Lukas 24,13-14, GNB)
Karfreitag ist vorbei. Jesus ist tot. Die Hoffnung ist mit ihm gestorben. Und obwohl die Frauen am Ostermorgen bereits die verwirrende Nachricht vom leeren Grab in Umlauf gebracht haben, finden die beiden die ganze Lage einfach zum Davonlaufen. Sie haben resigniert. Das Sterben des Freundes hat alle Lebensperspektiven zerstört. Und weil sie von alledem nichts mehr sehen und hören wollen, schon gar nichts von dem unglaubwürdigen Gerücht eines leeren Grabes, laufen sie weg. Wer in die Trauer gefallen ist, sieht keinen Stern mehr leuchten, erlebt den Weltuntergang. Und da ist Weglaufen eine nur natürliche Fluchtreaktion. Sie ist psychohygienisch wertvoll und absolut nötig. Ein Glück, wenn jemand diese Bewegung auf Abstand nicht ganz alleine machen muss. Zu zweit hoffnungslos sein, das ist erträglicher, denn sie können miteinander reden. Reden gegen den hoffnungslosen Trauerfall, das ist eine erste Möglichkeit im Umgang mit der Trauer. Wirklich helfen tut es scheinbar gar nichts. Aber es ist allemal besser, als sich einsperren zu lassen. Trauer hat das Recht zum Weglaufen, zum Distanzieren, zur Flucht. Der Ort des Geschehens kann so abstoßend sein, dass frisch verletzte Hinterbliebene mit Abstand laufend am besten klarkommen. Um nicht ganz verrückt zu werden, dürfen sie abrücken vom gewohnten Weg der Normalität, den es ohnehin nicht mehr gibt.
2. Kein Durchblick
Als sie so miteinander sprachen und alles hin und her überlegten, kam Jesus selbst hinzu und ging mit ihnen. Aber sie erkannten ihn nicht; sie waren wie mit Blindheit geschlagen.
(Lukas 24,15-16)
Wer die Hoffnung verloren hat, weil ein geliebter Mensch gestorben ist, hat erst einmal keinen Durchblick mehr. Von Blindheit geschlagen, nehmen Betroffene nur noch sehr selektiv wahr, was um sie herum geschieht.
Da kann es sein, dass Menschen in ihre Nähe kommen und sie nehmen es nicht wahr. Geleisteter Beistand in den ersten Wochen der Trauer passiert oft unbemerkt. Nachbarn bringen tagelang etwas zu essen, stellen es hin und gehen. Es werden Besorgungen erledigt, Kinder versorgt, Tiere gefüttert, ganze Haushalte am Laufen gehalten, ohne dass die unmittelbar Betroffenen es tatsächlich beachten oder gar honorieren. Wer den Kopf hängen lässt, niedergeschlagen ist und gebeugt, kann die Sterne nicht sehen, dem fällt nichts mehr auf oder ein, sieht und hört nicht mehr gut, ist blind für Zuwendung und achtsame Nähe. So ist das. Und es ist keine bewusste Entscheidung oder Ablehnung. Es ist Trauermauer. Beim Begleiten trauernder Menschen kann man lange Zeit komplett übersehen werden.
3. Wieder-holen
Jesus fragte sie: »Worüber redet ihr denn so erregt unterwegs?« Da bleiben sie stehen und blickten ganz traurig drein und der eine − er hieß Kleophas – sagte: »Du bist wohl der Einzige in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen geschehen ist!« – »Was denn?«, fragte Jesus. »Das mit Jesus von Nazareth«, sagten sie. »Er war ein Prophet; in Worten und Taten hat er vor Gott und dem ganzen Volk seine Macht erwiesen. Unsere führenden Priester und die anderen Ratsmitglieder haben ihn zum Tode verurteilt und ihn ans Kreuz nageln lassen. Und wir hatten doch gehofft, er sei der erwartete Retter, der Israel befreien soll. Aber zu alledem ist heute schon der dritte Tag, seitdem dieses geschehen ist. Und dann haben uns auch noch einige Frauen, die zu uns gehören, in Schrecken versetzt. Sie waren heute früh zu seinem Grab gegangen und fanden seinen Leichnam nicht mehr dort. Sie kamen zurück und erzählten, sie hätten Engel gesehen, die hätten ihnen gesagt, dass er lebt.«
(Lukas 24,17-23, GNB)
Wenn die Trauer nicht zu Wort kommt, dann erstickt sie daran. Trauer will, muss, soll reden. Nicht nur einmal. Sie darf wieder-holen, was doch unwiederbringlich ist. Sie muss es tun. Darum ist es ein Akt der Barmherzigkeit, Räume zu eröffnen, in denen viel Platz ist für das empörte Aussprechen des Unfassbaren. Trauernde sind oft von Menschen umgeben, die ihnen signalisieren, dass sie es nicht noch einmal hören wollen, das ganze Geschehen. Die Trauer braucht aber das Recht auf unendliches Wieder-Holen, wie die Wunde den Verbandswechsel. Das ist zwar schmerzhaft, aber für die Wundheilung einfach unverzichtbar. Also erlaubt die Trauerbegleitung, die Wunden immer wieder auszupacken, zu zeigen, zu beklagen und zu versorgen. Jesus, als das scheinbar ahnungslose Gegenüber, lässt dafür ganz viel aufmerksame Erlaubnis. Unterbundene Klage, ausgebremstes Entsetzen, unterdrückte Wut machen krank, weil sie kränken. Es ist ein gutes Trauerrecht, sich immer und immer wieder zu empören. Trauer muss ausreden dürfen. Sie will nicht unterbrochen werden.
Angedeutete Osterhoffnung bleibt (zumindest vorerst) unerhört und bedeutungslos. Trauer in der Unmittelbarkeit gerade erlebter Tragik will und kann nichts wissen von einer möglichen Wende zu etwas Gutem. Sie hat ihr Ergebnis und will sich nicht von vermeintlich anderen Fakten irritieren lassen. Wer trauert, darf die Hoffnung los sein. Und wer begleitet, muss das ertragen und erst einmal unwidersprochen teilen, anerkennen, stehen lassen. Die Resignation hat ein Recht darauf, hin und wieder das Geschehen zu dominieren. Und Jesus wartet ab, bis die ganze Flutwelle der untergegangenen Hoffnung aufgewühlt und abgerollt ist. Erst dann sagt er etwas. Er geht mit, obwohl die Jünger im Grunde in die »falsche Richtung« gehen. Er hält sie nicht auf, er weiß es nicht besser und er schlägt deshalb auch nicht voreilig schleunigst den Rückweg vor. Er ist einfach mitreisend dabei, ohne sich in den Weg zu stellen. Das bedeutet für unsere Trauerbegleitung:
Jeder Trauerweg ist ein intensives Repetitorium, das entrüstetes, unzähliges Darstellen und Beschreiben des Unfassbaren anberaumt und ermöglicht. So passiert ein wertschätzendes Aufnehmen und Aufhorchen, das zunächst völlig unkommentiert einfach nur eine Bühne bietet für die gebührende Inszenierung der erlebten Enttäuschung. Trauerbegleitung ist bereit, Umwege zu gehen, weitgehend still dabei zu sein, auf Widerspruch erst einmal zu verzichten. Sie hält lange den Mund und alle einseitige Sichtweise aus. Sie ist nicht voreilig. Sie will nichts besser wissen. Sie hat keinen demonstrativen Vorsprung. Sie verzichtet auf jede Arroganz einer abschließenden Bewertung. Sie deutet nicht von oben herab. Sie hält den bedeutsamen Augenblick alternativlosen Trauerns solidarisch aus. Sie hat keine Angst, in den Abgrund zu schauen. Aber sie springt nicht auch mit hinein. Sie kann warten. Sie hält sich bereit.
4. Angebot machen
Da sagte Jesus zu ihnen: »Was seid ihr doch schwer von Begriff! Warum rafft ihr euch nicht endlich auf zu glauben, was die Propheten gesagt haben? Musste der versprochene Retter nicht dies alles erleiden und auf diesem Weg zu seiner Bestimmung gelangen?« Und Jesus erklärte ihnen die Worte … durch die ganzen Heiligen Schriften.
(Lukas 24,25-27, GNB)