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«Süddeutsche Zeitung» vom 14. März 2008, S. 18. Wie man zu dieser Zahl gelangt, ist uns nicht ganz klar. Zählen zum Beispiel alle Nägel in der Werkzeugkiste? Wenn die Werkzeugkiste herunterfällt, muss man ja schließlich auch sämtliche Nägel wieder aufheben. Beziehungsweise zwei Jahre lang liegen lassen, bis man sich aufraffen kann, sie wieder aufzuheben. Wenn man tausend Nägel in ein Schraubglas füllt, hat man dann tausend Gegenstände weniger als vorher? Zählt jede Seite in einem 500-Blatt-Paket Druckerpapier? Kann man zwei Bretter zusammennageln und hat dann statt drei Gegenständen nur noch einen? Hilft es, einfach alle 15000 Gegenstände aneinanderzunageln, um so der Unordnung Einhalt zu gebieten?
Wir schreiben dieses Buch aus Notwehr. Und weil die Welt bestimmte Bücher braucht, auch wenn man sie erst mühsam schreiben muss. Wir wollen den vielen Menschen eine Stimme sein, die zwischen den verhärteten Fronten der überfleißigen Arbeitstiere und der überzeugten Nichtstuer leben. Wir möchten uns durchaus nützlich machen – aber zu unseren Bedingungen.
Die bisherige Literatur zum Thema «Dinge geregelt bekommen» teilt sich in zwei Gruppen: Die eine wirft den ohnehin Verzweifelten direkt oder indirekt vor, selbst an ihrer Überforderung schuld zu sein, und präsentiert Lösungsvorschläge, die garantiert zum Erfolg führen, wenn man sich nur gleich ab morgen wirklich zusammenreißt. Die andere Gruppe predigt Entschleunigung, den Ausstieg aus allem Möglichen und das Recht auf Faulheit. Technischer Fortschritt sei keine Lösung, sondern die Wurzel allen Übels. Am Ende steht die resignierte Botschaft, dass man nur beim Rosenzüchten und mit selbst gepresstem Olivenöl wirklich glücklich werden kann.
Wir wollen eine andere Lösung unserer Probleme. Wir kommen mit vielem nicht zurecht, wollen deshalb aber nicht darauf verzichten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Wir möchten keine kräftezehrenden Tricks lernen, wie man sich in das enge, kantige Korsett von Konventionen zwischen Arbeit und Amt hineinpressen kann. Wir wollen einen neuen Standpunkt entwickeln, der das Wort Selbstdisziplin aus dem eigenen Wortschatz so weit wie irgend möglich verbannt. Denn Selbstdisziplin ist eine Kettensäge: Man kann mit ihr ganze Wälder voller Bäume fällen, sich aber auch nebenbei ein Bein amputieren. Mithilfe von Selbstdisziplin kann man sich nachhaltig durch eine Lebensgestaltung unglücklich machen, die überhaupt nicht zu einem passt. Es mag manchmal nötig sein, Dinge zu tun, die einem nicht gefallen, aber erstens ist das noch unbewiesen, und zweitens lebt man glücklicher, wenn man den Anteil dieser Tätigkeiten so gering wie möglich hält. Kurzum, wir wollen das Leben so organisieren, dass man das Leben nicht mehr organisieren muss. Das realistische Minimalziel ist, dass Sie dieses Buch lesen, in Ihrem Leben nichts ändern, sich damit aber besser fühlen als vorher.
Vorab noch ein Wort zur Warnung: Die Ratschläge in diesem Buch sind nicht für alle gleichermaßen geeignet. Nichts ist für alle gleichermaßen geeignet. Ein Umstand spricht aber jedenfalls stark dafür, dass die Grundaussage von «Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin» richtig ist: Wenn es nicht möglich wäre, dass zwei Menschen, die beide den schwarzen Gürtel im Verschieben tragen, gemeinsam unter Anwendung der hier vorgestellten Techniken ein Buch schreiben, würden Sie gerade eine unbedruckte Seite betrachten. Blättern Sie ruhig noch ein Stück weiter. Wenn das Buch nicht zu zwei Dritteln leer ist, haben wir wahrscheinlich recht.
Im Anfang schuf Gott erst mal gar nichts. «Dafür ist auch morgen noch Zeit», sprach er und strich sich zufrieden über den Bart.
Am zweiten Tag sprach Gott: «Ach, es sind ja noch fünf Tage übrig», und sank wieder in die Kissen.
Am dritten Tag wollte Gott schon anfangen, das Licht von der Finsternis zu scheiden, aber kaum hatte er sich auch nur einen Kaffee gekocht, war der Tag irgendwie schon vorbei.
Am vierten Tag dachte Gott ernsthaft darüber nach, jemand anderen die ganze mühsame Schöpfungsarbeit machen zu lassen. Aber es war ja noch niemand da.
Am fünften Tag hatte Gott andere Dinge zu erledigen, die viel dringender waren.
Am sechsten Tag überlegte Gott, ob es wohl möglich war, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Es fiel ihm aber nichts Rechtes ein. Schließlich war er allmächtig, was die meisten Ausreden ein bisschen unglaubhaft wirken lässt.
Am Sonntag um fünf vor zwölf schließlich schluderte Gott hastig irgendwas hin: Wasser, Erde, Tag, Nacht, Tiere, Zeugs. Dann betrachtete er sein Werk und sah, dass es so lala war. «Aber für nur fünf Minuten», sagte er, «gar nicht so schlecht!»
Wissenswertes über Prokrastination
«Ein anderes Wort, das gerade erst dabei ist, in die deutsche Sprache einzudringen, und seinen bislang noch geringen Bekanntheitsgrad binnen weniger Jahre erheblich steigern wird, ist die Prokrastination. Der Begriff bezeichnet ein nicht zeitmangelbedingtes, aber umso qualvolleres Aufschieben dringlicher Arbeiten in Verbindung mit manischer Selbstablenkung, und zwar unter Inkaufnahme absehbarer und gewichtiger Nachteile.»
(Max Goldt: «Prekariat und Prokrastination», 2006)
Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne. Ein großer Teil der Menschen draußen auf der Straße und ein noch größerer Teil der Menschen, denen man nicht auf der Straße begegnet, weil sie Besseres zu tun haben, schiebt alle möglichen anstehenden Aufgaben auf. Sie tragen den Müll nicht hinunter, sie tapezieren schon seit Monaten den Flur nicht, sie öffnen die Post selten, sie bringen dieses und jenes Projekt nicht zu Ende, sie rufen nicht zurück und hätten längst die Tabellenkalkulation für das dritte Quartal fertig machen müssen. Trotzdem sind sie nicht unbedingt faul, nicht alle dumm, nicht sämtlich bösartig, obwohl das die häufigsten Unterstellungen sind, mit denen sie zu kämpfen haben. Sie prokrastinieren, ein angenehmeres Wort für Aufschieben. «Cras» (morgen) ist die Wurzel des lateinischen Wortes crastinus (dem morgigen Tag zugehörig). «Prokrastinieren» (im Englischen erstmals 1588 erwähnt) bedeutet also wörtlich übersetzt: für morgen lassen. Und bis morgen kann es noch sehr lange hin sein. Wir haben diese Menschen weitgehend ohne Hintergedanken LOBOs getauft. Das steht für Lifestyle Of Bad Organisation beziehungsweise dessen Anhänger.
Prokrastination ist nicht auf spezielle Tätigkeiten oder Aufgaben begrenzt. Im Prinzip lässt sich alles Machbare aufschieben, sogar vollkommen Unumgängliches kann man bequem unterlassen. Die Konsequenzen sind breit gefächert. Oft passiert nichts. In schlimmeren Fällen steht ein LOBO vor der eigenen Wohnungstür und kann sie nicht aufschließen, weil jemand, der seine Berechtigung aus der kalten Wut des missachteten Apparates herleitet, ein anderes Schloss eingebaut hat. Oder Kolleginnen und Freunde ziehen Konsequenzen und wenden sich ab. Oder Strom, Gas, Wasser, Telefon oder Internet sind plötzlich abgestellt.
Diese Folgen sind der prokrastinierenden Person nicht unbekannt und in der Regel für sie ebenso unbequem wie für die meisten anderen Menschen. Sie weiß auch, dass man den Schaden vermutlich abwenden könnte, wenn man den Stapel Briefe im Flur einfach doch öffnen würde. Dennoch hält sie eine Macht davon ab. Oft wird angenommen, es handle sich dabei um Angst. Das mag manchmal stimmen, scheint aber nicht die Regel zu sein. Der wahre Grund, etwas scheinbar Notwendiges nicht zu tun, liegt in der Natur des Menschen. Tief im Innern wissen wir, dass Notwendigkeiten stets eine Einengung darstellen, die das Wohlbefinden einschränkt. Das Streben nach Glück bringt ein Streben nach weitestgehender Reduktion von Zwängen mit sich, also werden selbst vorgebliche Notwendigkeiten infrage gestellt und praktisch überprüft. Das Ergebnis ist eine unbewusst ablaufende Abwägung: Soll man jetzt einen Moment der sicheren Unannehmlichkeit verbringen – oder später einen weniger wahrscheinlichen, dafür eventuell deutlich problematischeren Moment?
Mit der Frage, warum diese Abwägung so oft zugunsten des Aufschiebens ausgeht, befassen sich unterschiedliche Fachbereiche seit den 1980er-Jahren. Woran es liegt, dass dieses Thema bis dahin trotz seiner Allgegenwart nicht erforscht wurde und warum die Wissenschaft die Prokrastination dann doch noch entdeckte, ist eine interessante Frage, die dringend von anderen Menschen als uns untersucht werden sollte. Es könnte damit zu tun haben, dass moralische Urteile allgemein nicht der Weg zu schnellen Forschungsfortschritten sind: Die Medizin- und Psychologiegeschichte ist nicht arm an Beispielen für Erkenntnisbehinderung durch die Idee, die Betroffenen müssten sich einfach nur mal ein bisschen zusammenreißen – Depressionen, Phobien, sexuelle Abweichungen, Essstörungen, sogar Schizophrenie und Autismus galten noch vor nicht allzu langer Zeit als solche Fälle. Vielleicht musste Prokrastination erst als Phänomen erkannt werden, hinter dem mehr und Interessanteres steckt als nur schlechte Manieren. In den letzten Jahrzehnten sind jedenfalls um die 1000 wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Prokrastination entstanden. Insbesondere seit Ende der 1990er-Jahre wurde endlich auch experimentell und mithilfe von Umfragen erforscht, wie sich der Aufschiebetrieb bei Studierenden bemerkbar macht. Untersuchungen an halbwegs repräsentativen Bevölkerungsstichproben sind selten, weil mühsamer durchzuführen, aber auch hier liegen erste Ergebnisse vor.
Einigkeit herrscht darüber, dass zumindest in den bisher untersuchten Ländern große Arbeitsberge herumgeschoben werden: 75 bis 95 Prozent aller Studierenden geben in Umfragen an, wenigstens hin und wieder zu prokrastinieren, fast 50 Prozent verschieben regelmäßig Aufgaben. Bei Studierenden nehmen Prokrastinationstätigkeiten etwa ein Drittel der wachen Tageszeit ein. Nach dem Studium bessert sich die Lage, aber um die 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung prokrastinieren weiterhin regelmäßig. Zumindest zwischen den USA, Großbritannien, Australien, Spanien, Peru und Venezuela lassen sich dabei keine Unterschiede feststellen. Die häufig vorgebrachte These «Wenn man erst mal Kinder hat, kann man es sich gar nicht mehr leisten, irgendwas vor sich herzuschieben» wird von den vorhandenen Untersuchungen nicht gestützt; die An- oder Abwesenheit eigener Kinder spielt offenbar keine Rolle.
«Dass die Sache mit Kindern nicht besser wird, kann ich bestätigen. Kinder sind der beste Grund zum Aufschieben und sind als Rechtfertigung für Aufschieben oder Bleibenlassen auch sozial anerkannt: Was ich trotzdem hinkriege, wird meist umso freudiger begrüßt. Das nutzt sich nach und nach etwas ab und ist auch ungerecht, weil ich im Hinblick auf meine Berufstätigkeit Fremdbetreuung für die Kinder ganz gut organisiert habe. Ich kann jetzt noch 13 Jahre aufschieben, bis auch das letzte Kind aus dem Haus ist.»
(Angela Leinen)
Frauen prokrastinieren genauso viel wie Männer, Verheiratete so viel wie Unverheiratete, Menschen mit Hochschulabschluss auch nicht mehr als andere. In Firmen wird mehr aufgeschoben als unter Selbstständigen. Ob die Prokrastination insgesamt auf dem Vormarsch ist, lässt sich nicht feststellen, denn erstens fehlt es an historischen Daten, und zweitens wäre selbst bei besserer Datenlage kaum zu entscheiden, ob wirklich immer mehr prokrastiniert wird oder ob sich die Einstellung zur Prokrastination geändert hat. Denkbar wäre zum Beispiel, dass es heute leichter fällt als früher, Aufschiebeprobleme einzugestehen.
Ein Hang zur Prokrastination kommt und geht nicht wie Schnupfen, sondern scheint ein recht stabiles Persönlichkeitsmerkmal zu sein. Testpersonen, die man zweimal denselben Prokrastinationstest ausfüllen lässt, erzielen ähnliche Ergebnisse, auch wenn zwischen den beiden Tests Jahre liegen. Aus Zwillingsstudien geht hervor, dass wohl eine genetische Komponente im Spiel ist, denn eineiige Zwillinge ähneln sich in ihren Aufschiebegewohnheiten deutlich stärker als zweieiige. Unter ungünstigen Bedingungen (nämlich vor allem während des Studiums) wird mehr prokrastiniert, aber im Laufe des Lebens ändert sich am Aufschiebeverhalten nicht viel. Im besten Fall entwickelt man gewisse Kompensationsfähigkeiten.
Über die Ursachen der Prokrastination hat man sich in der Forschung bisher nicht geeinigt. Bis auf Weiteres können sich daher alle ein maßgeschneidertes Ursachenportfolio aus den verschiedenen Erklärungsmodellen zusammenstellen. Etwas Besseres als «Prokrastination ist Faulheit» finden wir überall! Aber erwarten Sie sich vom folgenden Überblick nicht zu viel. Die Ursachen für die eigenen Aufschiebegewohnheiten erkennen oder sie zu erkennen glauben, nutzt so gut wie gar nichts.
Den Thesen des Behaviorismus zufolge läuft bei der Prokrastination eine «operante Konditionierung» ab: Man verschleppt zwei-, dreimal eine Aufgabe, stellt fest, dass nichts Schlimmes passiert, und wird auf der Stelle zu einem gewohnheitsmäßig prokrastinierenden Menschen. Dass dieser Mechanismus im Prinzip funktionieren könnte, liegt auf der Hand. Ob Prokrastinierende aber tatsächlich auf diese Art gemacht werden, ist nicht überprüft. Dass Prokrastination sich als stabiles Persönlichkeitsmerkmal zeigt, spricht eher gegen die Theorie.
Aus «Counseling the Procrastinator in Academic Settings», einem Buch von Jane Burka und Lenora Yuen über Prokrastination an Universitäten, erfahren wir, dass Aufschiebeverhalten weder eine schlechte Gewohnheit noch moralisches Versagen darstellt. Aber das ist noch lange kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen, denn stattdessen handelt es sich um «ein komplexes psychologisches Problem, das auf Angst beruht» sowie – beide Autorinnen sind Psychologinnen – um die Folgen traumatischer Kindheitserlebnisse. Der Psychologe und Studierendenberater Henri Schouwenburg merkt allerdings an, dass Versagensangst gern als Ausrede für Prokrastination angeführt wird. Er vermutet, dass Studierende, die unter Versagensangst leiden, besonders häufig professionelle Hilfe suchen und deshalb in der Fachliteratur überrepräsentiert sind. Auch die entgegengesetzte Hypothese, Prokrastination sei das Ergebnis von «Angst vor dem Erfolg», beruht auf Einzelbeobachtungen aus der Psychotherapie. Dagegen spricht, dass es deutlich weniger mühsam wäre, sich erst gar keine großen Aufgaben vorzunehmen, wenn man einfach nur dem Erfolg aus dem Weg gehen will. Einige Fachleute argumentieren außerdem genau umgekehrt: Wer von ängstlicher Natur ist, wird anstehende Aufgaben besonders zügig erledigen, um nicht den Zorn von Behörden und Vorgesetzten auf sich zu ziehen.
Studierende, die sehr viel prokrastinieren, sind manchen Theorien zufolge unbegabter als ihr Umfeld und drücken sich daher vor Aufgaben, mit denen sie überfordert wären. Anderen Theorien nach sind sie überdurchschnittlich begabt und haben herausgefunden, dass sie es sich leisten können, erst in letzter Sekunde mit der Arbeit zu beginnen. Belegt ist bisher keine der beiden Varianten.
In manchen Studien zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Depressionen und Prokrastinationsverhalten. Diesen Studien lässt sich nicht entnehmen, ob das viele Prokrastinieren unglücklich macht oder ob die Depression dazu führt, dass man alles schleifen lässt. Der Wirtschaftspsychologe und Prokrastinationsforscher Piers Steel erklärt: «Der Depressions-Zusammenhang hat offenbar vor allem mit fehlender Energie zu tun, wodurch viele Aufgaben unangenehmer werden.» Auf der anderen Seite kann übergroßer Optimismus dazu führen, dass man die eigene Fähigkeit überschätzt, langes Herumtrödeln kurz vor der Deadline wieder auszugleichen.
Die überraschend beliebte Perfektionismuserklärung lautet in ihrer Kurzfassung: Weil wir den Gedanken nicht ertragen können, unvollkommene Arbeit abzuliefern, tun wir lieber gar nichts. Diese Theorie ist nach neueren Erkenntnissen falsch, Perfektionsbegeisterte neigen sogar etwas weniger als andere Menschen zum Aufschieben.
In vielen Studien zeigt sich, dass langweilige oder unangenehme Aufgaben häufiger aufgeschoben werden. Menschen, die zum Aufschieben neigen, langweilen sich überdurchschnittlich schnell, lassen sich leicht ablenken, sind impulsiver und ungeduldiger. David Ackerman und Barbara Gross kommen in einer Studie aus der Wirtschaftswissenschaft zu dem Schluss, dass Studierende weniger prokrastinieren, wenn eine Aufgabe interessant ist und unterschiedliche Fähigkeiten erfordert, wenn zügiges Anfangen sozial erwünscht ist und belohnt wird und wenn es klare Instruktionen gibt. Angst, anderweitiger Zeitdruck, der gefühlte Schwierigkeitsgrad und die Dauer der Aufgabe hatten in dieser Studie dagegen keinen Einfluss auf das Aufschiebeverhalten.
Eine der ältesten und inzwischen gut belegten Theorien. Es gibt Untersuchungen, denen zufolge aufschiebefreudige Menschen im Schnitt weniger beruflichen Erfolg haben und weniger Geld verdienen als besser organisierte. Womöglich stört sie dieser Umstand nicht so sehr, wie man zunächst annehmen könnte, weil ihre persönliche Erfolgsmesslatte niedriger liegt.
Mithilfe eines Standardfragebogens, des «Time Perspective Questionnaire», lassen sich Testpersonen in vergangenheitsorientierte, gegenwartsorientierte und zukunftsorientierte Menschen einteilen. Studien zeigen, dass die Zukunftsorientierten dazu neigen, mehr zu arbeiten; sie haben mehr Erfolg in Schule und Studium und halten Abgabetermine ein. Wer für den Moment lebt, legt mehr Wert auf Zwischenmenschliches, ist impulsiver, geht mehr Risiken ein und denkt nicht viel über Zukunft oder Vergangenheit nach. Menschen aus dieser Gruppe schieben mehr auf und ziehen Tätigkeiten vor, die sich nicht erst in weiter Zukunft auszahlen. Die Studien sagen nichts darüber aus, wie es zu diesen unterschiedlichen Prioritäten im Leben kommt.
Es gibt einen statistischen Zusammenhang zwischen Prokrastination und ADHS, dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, das mit allen Varianten etwa fünf Prozent der Bevölkerung in den bisher untersuchten Ländern betrifft. Eine Erhebung unter den Autorinnen und Autoren dieses Buches ergibt eine ADHS-Quote von mindestens 50 Prozent, wir können eine Verbindung zwischen dem ADHS-Symptom «hohe Ablenkbarkeit» und Prokrastination daher aus eigener Anschauung bestätigen. Andere Symptome lesen sich ebenfalls wie ein Who’s who der Prokrastinationsbegründungen: eine geringe Aufmerksamkeitsspanne und eine damit verbundene Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen, mangelnde (geistige) Ausdauer, häufiger Wechsel zwischen verschiedenen Aktivitäten und Hyperaktivität oder motorische Unruhe. Man geht mittlerweile davon aus, dass die Ursachen dafür überwiegend genetischer Natur sind. Trotzdem ist umstritten, ob ADHS überhaupt eine Krankheit oder Störung ist – oder eine bloße Häufung verschiedener, vollkommen normaler Eigenschaften. Jedes durchschnittliche Computerspiel und viele Bürojobs erfordern nämlich Aktivitätsfolgen, die für sich betrachtet aussehen wie eine Mischung der genannten Symptome. Sie werden dann unter dem Namen Multitaskingfähigkeit ins Positive gedreht oder werden sogar erwartet, will man nicht als Sonderling dastehen: Es dürfte mäßig erfolgreich sein, der Chefin zu erklären, dass man beim Arbeiten das Telefon nicht gehört hat, weil man eine so wunderbar niedrige Ablenkbarkeit besitzt.
Aus der Verhaltensforschung und Evolutionspsychologie stammt eins der schönsten Erklärungsmodelle: Unter Tieren ist Nichtstun keine Untugend, sondern hilft beim Überleben. Die Evolution sorgt dafür, dass Tiere nicht mehr tun als unbedingt nötig. Untersuchungen der Energiesparstrategien von Tieren zeigen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Energiesparen und Fortpflanzungsvorteilen. Beispielsweise kommt die Energie, die Meeresschildkröten einsparen, indem sie einfach nur auf dem Meeresboden herumliegen, später der Menge und Qualität ihrer Eier zugute. Der Nachweis eines größeren Fortpflanzungserfolgs von Prokrastinierenden ist allerdings bisher nicht erbracht worden. Vielleicht gibt es doch einen wesentlichen, bisher übersehenen Unterschied zwischen Mensch und Meeresschildkröte.
Im Tierreich gibt es ein Phänomen, das der Prokrastination recht nahekommt: die Übersprungshandlung, also das Ausweichen vor einer eigentlich zwingenden Handlung oder Entscheidung. Die Übersprungshandlung galt – durchaus vergleichbar mit der Betrachtung der Prokrastination bei Menschen – als irrational und gewissermaßen als Schaltfehler im Gehirn. Das am häufigsten gebrauchte Beispiel war das der Hähne, die mitten im Kampf beginnen, nicht vorhandene Körner vom Boden zu picken. Über lange Zeit erklärten die Verhaltensbiologen solche Phänomene mit einer Ableitung von Konrad Lorenz’ Instinkttheorie aus den 1930er-Jahren: Die Motivation für die Handlung Kampf sei etwa so groß wie die Motivation für die Handlung Flucht, also werde die Übersprungshandlung Körnerpicken eingeleitet. Die Lorenz-Kritikerin Hanna-Maria Zippelius stellte fest, dass scheinbar irrationale Übersprungshandlungen sehr wohl eine Funktion haben – eine soziale oder kommunikative nämlich: Mit dem Körnerpicken zeigt der Hahn sich selbst und anderen, dass ihm die Bedrohung durch seinen Kontrahenten gering erscheint. Hinzu kommt, dass es durchaus lebenserhaltend und damit sinnvoll sein kann, sich nicht mit Haut und Federn in einen Kampf zu stürzen, sondern diese Tätigkeit erst einmal vor sich herzuschieben.
In den Wirtschaftswissenschaften geht man im Unterschied zur Psychologie davon aus, dass Menschen sich nicht selbstschädigend verhalten, sondern stets bemüht sind, ihren Nutzen zu maximieren. Die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zur Erklärung der Prokrastination sind noch relativ neu. Zentral ist dabei der Begriff der Zeitpräferenz: 100 Euro, die man heute haben kann, sind mehr wert als 100 Euro in einem Jahr, heute ausschlafen ist besser als morgen ausschlafen. In Experimenten entscheiden sich die meisten sogar dann für die 100 sofort zu kassierenden Euro, wenn sie stattdessen in einem Jahr 200 Euro haben könnten. (Schlecht getarnt verbirgt sich hier eine Antwort auf die Frage, warum Sparen und Altersvorsorge nicht ganz so beliebt wie Prassen und Verjuxen sind.) Ein – zumindest für uns schmerzlich einleuchtendes – Beispiel der Verhaltensökonomen Dan Ariely und Klaus Wertenbroch lautet: «Lange bevor man sich beispielsweise tatsächlich verpflichtet, ein Buch zu schreiben, wirken die Vorteile einer solchen Tätigkeit überzeugend groß, und die Kosten scheinen gering. Deshalb nehmen Autoren solche Aufgaben auf sich. Aber mit dem Näherrücken der Deadline verändert sich die Kosten-Nutzen-Wahrnehmung. Die Autoren erkennen immer deutlicher die Kosten (nämlich die zur Fertigstellung benötigte Zeit), während der Nutzen immer unklarer scheint.» Auf dieser Überlegung fußen die folgenden Modelle:
Da die zur Verfügung stehende Zeit begrenzt ist, arbeiten Menschen an dem, was ihnen den größten Nutzen bringt. Leider ist nicht immer ganz klar, was das ist. Wenn mit Aufgabe A ein größerer Nutzen einhergeht und sie zu einem früheren Termin fertig sein muss als Aufgabe B, fällt die Entscheidung leicht. Nun kommt es im Alltag häufig vor, dass Aufgabe B zwar weniger sinnvoll ist, aber vor A fertig sein muss («erst Fahrrad reparieren, dann Diplomarbeit schreiben»). Weil der Nutzen, der sich aus Aufgabe A ergibt, so weit in der Ferne liegt, sieht er kleiner aus als der Nutzen von Aufgabe B. Das führt dazu, dass Aufgaben mit weit entfernter oder fehlender Deadline und Aufgaben, deren Nutzen sich erst später zeigt, zugunsten unwichtiger, aber dringender Aufgaben vernachlässigt werden.
Wir müssen uns ständig zwischen unterschiedlichen Beschäftigungen entscheiden. Unsere Beweggründe für diese Entscheidungen lassen sich in einer einfachen Formel ausdrücken: Nutzen = (Erfolgswahrscheinlichkeit mal Wert) geteilt durch (Verspätungsempfindlichkeit mal Wartezeit). Je höher der Nutzen, desto leichter fällt die Entscheidung für eine bestimmte Tätigkeit. «Erfolgswahrscheinlichkeit» beschreibt, wie wahrscheinlich die Tätigkeit zu einem bestimmten Ergebnis führt, «Wert» gibt an, wie erfreulich dieses Ergebnis ist. Die Wartezeit gibt an, wie lange man durchschnittlich warten muss, um das Ergebnis einer Tätigkeit genießen zu können. Je länger diese Wartezeit, desto weniger erstrebenswert erscheint die ganze Angelegenheit. Während der Nutzen einer Beschäftigung wie «im Bett herumliegen und Serien gucken» kaum schwankt, wächst der Nutzen anderer Beschäftigungen wie «arbeiten und Geld verdienen» mit dem Näherrücken der Deadline. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die Geldverdien-Kurve die Herumliege-Linie schneidet, also der Nutzen der zu erledigenden Aufgabe den Nutzen aller Alternativen übersteigt. Jetzt springt man aus dem Bett und fängt an zu arbeiten. Ungeklärt bleibt hier wiederum, wie es zu den individuell unterschiedlichen Werten für die Verspätungsempfindlichkeit kommt.
In diesem Modell wird jeder Mensch von einem kurzsichtigen und einem langfristig planenden Wesen bewohnt. Die beiden haben viele Interessen gemeinsam, handeln aber unabhängig voneinander. Die kurzfristig planende Persönlichkeit sorgt für das Wohlergehen in Gegenwart und naher Zukunft. Die langfristig planende Persönlichkeit ist bereit, momentane Bequemlichkeiten zugunsten größerer zukünftiger Vorteile zu opfern. Was von außen betrachtet wie das unlogische Verhalten einer einzigen Person wirkt, ist in Wirklichkeit das vollkommen rationale Verhalten zweier unterschiedlicher Unterpersönlichkeiten. Aus Magnetresonanztomografie-Studien geht hervor, dass für impulsive, schnelle Entscheidungen tatsächlich andere Teile des Gehirns zuständig sind als für die langfristige Planung. Die Rollenverteilung zwischen den beiden Persönlichkeiten ist allerdings nicht rein schwarz-weiß: Das impulsive Ich fordert nicht immer nur schnellen Sex und ungesundes Essen, sondern ist durchaus auch in der Lage, zum Beispiel durch spontanes Unterschreiben eines Ökostromvertrags das langfristig planende Ich zu steuern.
Die kanadische Autorin Margaret Atwood hat öfter in Interviews über ihren Hang zur Prokrastination gesprochen, den sie durch innere Zweiteilung handhabt:
Margaret Atwood: Ich bin mit einem anderen Namen aufgewachsen, dadurch hatte ich zwei zur Auswahl. Ich hatte eine doppelte Identität. Also ist Margaret fürs Schreiben zuständig und die andere für den ganzen Rest.
Adam Grant: Atwoods anderes Ich heißt Peggy.
Atwood: Das ist eine schottische Koseform von «Margaret».
Grant: Wenn du mit dir selbst redest, benutzt du dann beide Namen?
Atwood: Na klar.
Grant: Im Ernst?
Atwood: Du siehst ja, was mir das für Möglichkeiten eröffnet.
Grant: Unterhalten sich Margaret und Peggy in deinem Kopf?
Atwood: Nein, sie führen ziemlich getrennte Leben. Peggy macht die Wäsche. Ein paar Überschneidungen gibt es schon. Manchmal macht Peggy die Wäsche, und Margaret denkt währenddessen über das Schreiben nach. Margaret entscheidet, was geschrieben wird. Die Entscheidung, wann geschrieben werden soll, ist manchmal ein Tauziehen.
(Margaret Atwood, interviewt von Adam Grant für den Podcast «WorkLife», März 2020)
Die Tatsache, dass es derart viele Modelle gibt, deutet darauf hin, dass Prokrastination entweder aus vielen verschiedenen Quellen entspringt oder die Wissenschaft das Thema noch nicht so ganz im Griff hat. Vermutlich ist beides richtig. Und vielleicht stellt sich auch nach weiteren Jahren der Prokrastinationsforschung heraus, dass sich alles anders verhält. Nämlich zum Beispiel wie in dieser Theorie von Jochen Reinecke: «Ich bin Dezember 1995 in die Eisenacher Straße zu Berlin gezogen, in eine schmucklose Neubauwohnung, die unbeschreibbare Vorhänge und Gardinen enthielt. Von 1995 bis 2000 schaffte ich es nicht, diese zu entfernen, geschweige denn durch etwas Schmückenderes zu ersetzen. Januar 2001 zog ich um. Manchmal gehe ich an der alten Wohnung vorbei, die Vorhänge und Gardinen sind immer noch da. Möglicherweise handelt es sich um Prokrastinationserzeuger.»
Da sie je nach Situation und Fragestellung zwanzig bis fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung betrifft, ist Prokrastination wohl kein Ausnahmezustand, sondern der Normalfall. Soll man sie überhaupt als problematisch betrachten – und wenn ja, ab wann? Wo liegt die Grenze, ab der die sympathische Trödelei zum Problem für einen selbst und andere wird? Kann man kurzerhand die oberen fünf oder zehn Prozent der in der jeweiligen Studie gefundenen Prokrastinierenden für krank erklären? Das wäre schön für alle, die ihr Geld mit Psychotherapie verdienen, ist aber ziemlich willkürlich. Die Beraterinnen Jane Burka und Lenora Yuen stellen fest: «Prokrastination, in der man sich gemütlich eingerichtet hat, unterscheidet sich von problematischer Prokrastination darin, wie belastend man das eigene Aufschiebeverhalten wahrnimmt.» Allerdings taugt auch Leidensdruck als Abgrenzungskriterium nur bedingt, weil er oft genug durch dubiose Ansichten der Mitmenschen erzeugt wird: Wer einer sexuellen Minderheit angehört und in einem repressiven Land lebt, leidet zwar vermutlich. Das Problem ist aber nicht die sexuelle Orientierung, sondern der Wohnort.
Der Psychologe und Studierendenberater Norman Milgram (nein, nicht der mit dem Milgram-Experiment) zieht die Grenze dort, wo Chancen vertan werden: «Wenn wir prokrastinieren, verschwenden wir Zeit, verpassen Gelegenheiten und leben kein authentisches Leben.» Das Verschwenden von Zeit gilt aber zum Glück bisher noch nicht als Anzeichen für Therapiebedarf, genauso wenig wie das Führen eines inauthentischen Lebens, und zumindest in reicheren Ländern sind viele Menschen von Chancen derart umstellt, dass man zwangsläufig für jede Gelegenheit, die man ergreift, andere verpasst. Wer sehr viel aufschiebt, nutzt vielleicht nur ein Prozent der vorhandenen Möglichkeiten. Wer gar nichts aufschiebt, nutzt stattdessen zwei Prozent. Die restlichen 98 Prozent sind unausgeschöpftes Potenzial, und zwar bei allen Menschen. Jede unserer Entscheidungen hat sogenannte Opportunitätskosten, also Kosten, die dadurch entstehen, dass wir in der Zeit, in der wir Sport treiben, nicht Klavier spielen lernen können. Wir können nicht alle 130 Millionen Bücher lesen, die es gibt. Wenn wir uns wirklich ranhalten, schaffen wir im Leben ein paar Tausend. Dann bleiben immer noch ungefähr 129000995 ungelesene Bücher. Jedes Jahr kommen 100000 Neuerscheinungen auf Papier dazu, jede Sekunde zigtausend neue Fotos, Videos und Texte im Netz, ganz zu schweigen von den hundert Dingen, die man einmal im Leben gemacht haben sollte, und den eintausend Orten, die man gesehen haben muss. Das Problem lässt sich nicht durch mehr Zusammenreißen und härtere Arbeit lösen. Unser Leben ist zu kurz für fast alles.
Der Prokrastinationsforscher Clarry H. Lay schlägt als Maßstab für Erfolg im Leben die «zeitnahe Umsetzung von Plänen» vor: Wenn immer wieder große zeitliche Lücken zwischen Plänen und ihrer Verwirklichung klafften, sei das kein gutes Zeichen. Auch dieses Symptom ist derart häufig, dass es sich wohl eher nicht zur Identifikation von Problemfällen eignet. In anderen Worten: Selbst extreme Formen der Prokrastination sind ziemlich normal, wenn man mit «normal» das bezeichnen will, was Millionen andere Menschen auch tun.
Schreckensszenarien. Im Fachbuch «Procrastination and Task Avoidance» heißt es: «Aus unserer klinischen Erfahrung heraus können wir feststellen, dass das Konfrontieren der Betroffenen mit Schreckensszenarien so gut funktioniert wie in anderen Bereichen der Verhaltensänderung auch – nämlich wenig bis gar nicht. Das gilt insbesondere dann, wenn jemand sowohl geringe Gewissenhaftigkeit als auch große Ängstlichkeit an den Tag legt. Tadel, gutes Zureden, Drohungen und andere laienhafte Techniken sind offenbar genauso wirkungslos.»
Angstlösende Medikamente. Der Prokrastinationsforscher Joseph R. Ferrari und sein Team berichten aus ihren Erfahrungen mit Studierenden, dass angstlösende Medikamente die Situation «in der Regel verschlimmern, vermutlich, indem sie die Angst zu stark reduzieren und in den Betroffenen eine ‹Mir doch egal›-Haltung hervorrufen».
Psychotherapie. Als dieses Buch zum ersten Mal erschien, gab es noch sehr wenig Fachliteratur, der man irgendetwas über die Wirksamkeit von Therapien entnehmen konnte. Die Forschungslage hat sich seitdem etwas verbessert. (Die Anzahl der Studien steht allerdings nach wie vor in keinem sinnvollen Verhältnis zur Anzahl der Selbsthilfebücher voll angeblich wirksamer Strategien.) Einem Überblicksartikel von Wendelien Van Eerde und Katrin Klingsieck aus dem Jahr 2018 zufolge sind die Erfolgsaussichten gar nicht so schlecht, vor allem bei einer Verhaltenstherapie. Außerdem kann es passieren, dass im Rahmen einer Therapie zufällig ein behandelbarer Grund für das Prokrastinieren entdeckt wird, zum Beispiel eine Aufmerksamkeitsstörung (siehe Kapitel TODO). Leider ist es schon für organisierte Menschen ausgesprochen mühsam, einen Therapieplatz zu bekommen. LOBOs sollten hier auf einen längeren Vorgang gefasst sein und sich weder Vorwürfe noch Sorgen machen, wenn es ein paar Jahre dauert.
Bewährte Prokrastinationstätigkeiten über Bord werfen. Gibt man aufgrund guter Vorsätze die sozialen Medien oder das Seriengucken auf, um sich ganz der «eigentlichen Arbeit» zu widmen, wächst sofort eine neue Beschäftigung nach und füllt die Lücke. Im schlimmsten Fall handelt es sich dabei um ein Multiplayer-Onlinespiel. Das neue, funkelnde Spielzeug verschlingt alle verfügbare Zeit, und für die Arbeit bleibt nichts mehr übrig. Während man die frühere Gewohnheit halbwegs im Griff hatte und seine Arbeit halbwegs um sie herum anordnen konnte, muss das neue Prokrastinationsinstrument seinen Ort erst finden. Es dauert viele Wochen oder Monate, bis man wieder so arbeitsfähig ist wie zur Zeit der sozialen Medien oder des Serienguckens.
Gleich ab morgen alles ganz anders machen. Jeder Mensch braucht zwar, wie wir aus der Gute-Vorsätze-Forschung erfahren, im Schnitt vier bis fünf Anläufe zur Verwirklichung eines Vorsatzes. Klappt es aber nach dem zehnten Mal immer noch nicht, ist das ein Anzeichen dafür, dass der ganze Lösungsansatz verfehlt ist. Vielleicht passt das Kamel wirklich nicht durch das Nadelöhr. Vielleicht genügt es, wenn das Kamel außen um die Nadel herumgeht.